Fabian und Sebastian - Wilhelm Raabe - E-Book

Fabian und Sebastian E-Book

Wilhelm Raabe

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Beschreibung

Die 15-jährige Waise Konstanze Pelzmann, aus der Kolonie Niederländisch-Indien in das verschneite industrialisierte Deutschland verpflanzt, macht sich in der Geburtsstadt ihres Vaters gegen den Willen des Onkels Fabian dreimal auf und bringt zwei älteren einsamen Männern Trost ...

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Fabian und Sebastian

Wilhelm Raabe

Inhalt:

Fabian und Sebastian

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Fabian und Sebastian, W. Raabe

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Germany

ISBN:9783849633509

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Wilhelm Raabe – Biografie und Bibliografie

Namhafter Romanschriftsteller, der zuerst unter dem Namen Jakob Corvinus auftrat, geb. 8. Sept. 1831 zu Eschershausen im Herzogtum Braunschweig, studierte in Berlin seit 1855 Philosophie und widmete sich unmittelbar nach seinen Studienjahren der Literatur, in die er mit dem lebendigen, jugendfrischen Idyll »Die Chronik der Sperlingsgasse« (Berl. 1857; 41. Aufl. 1905, auch illustriert) und den Erzählungen und Phantasiestücken »Halb Mähr, halb Mehr« (das. 1859) eintrat. Es folgten dann großenteils in mehreren Auflagen: »Ein Frühling« (Braunschw. 1858); »Die Kinder von Finkenrode« (Berl. 1859); »Nach dem großen Kriege«, Geschichte in zwölf Briefen (das. 1861); »Der heilige Born. Blätter aus dem Bilderbuche des 16. Jahrhunderts« (Prag 1861); »Unsers Herrgotts Kanzlei«, historischer Roman (Braunschw. 1862, 2 Bde.); »Verworrenes Leben«, Skizzen und Novellen (Glog. 1862); »Die Leute aus dem Walde« (Braunschw. 1863, 3 Bde.); »Drei Federn« (Berl. 1865); »Der Hungerpastor«, Roman (das. 1864, 3 Bde.; 25. Aufl., das. 1906); »Ferne Stimmen«, Erzählungen (das. 1865); »Abu Telfan, oder die Heimkehr vom Mondgebirge« (Stuttg. 1867, 3 Bde.); »Der Regenbogen«, sieben Erzählungen (Stuttg. 1869, 2 Bde.); »Der Schüdderump«, Roman (Braunschw. 1870, 3 Bde.); »Der Dräumling« (Berl. 1872); »Deutscher Mondschein«, vier Erzählungen (Stuttg. 1873); »Christoph Pechlin, eine internationale Liebesgeschichte« (Leipz. 1873, 2 Bde.); »Meister Autor, oder die Geschichten vom versunkenen Garten« (das. 1874); »Horacker« (Berl. 1876, 11. Aufl. 1906); »Krähenfelder Geschichten« (Braunschw. 1879, 3 Bde.); »Wunnigel« (das. 1879); »Deutscher Adel« (das. 1880); »Alte Nester« (das. 1880); »Das Horn von Wanza« (das. 1881); »Fabian und Sebastian« (das. 1882), »Prinzessin Fisch« (das. 1883); »Villa Schönow« (das. 1884); »Pfisters Mühle« (Leipz. 1884); »Zum wilden Mann« (das. 1885); »Unruhige Gäste« (Berl. 1886); »Im alten Eisen« (das. 1887); »Das Odfeld« (Leipz. 1888); »Der Lar, eine Oster-, Pfingst-, Weihnachts- und Neujahrsgeschichte« (Braunschw. 1889); »Stopfkuchen, eine See- und Mordgeschichte« (Berl. 1891); »Gutmanns Reisen« (das. 1892); »Kloster Lugau« (das. 1894); »Die Akten des Vogelsangs« (das. 1896); »Gesammelte Erzählungen« (das. 1896–1900, 4 Bde.); »Hastenbeck« (das. 1899). In seinen größern wie seinen kleinern Erzählungen verbindet R. frischen und echten Humor mit einer elegischen und bittern Darstellung des Lebens, einen energischen Realismus mit einer gewissen phantastischen, traumhaften Erfindung. Am stärksten treten seine Eigentümlichkeiten wohl in den Romanen: »Der Hungerpastor«, »Abu Telfan« und »Der Schüdderump« hervor; wahrhafte Genialität des Humors offenbart auch die kleine Meistererzählung »Horacker«. In den spätern Dichtungen (»Pfisters Mühle«, »Stopfkuchen« u. a.) liebte er eine barocke Einkleidung, Einschachtelung der Erzählung, die ihren tiefen und gediegenen dichterischen Gehalt mehrverhüllte als heraushob. R. siedelte 1862 von Wolfenbüttel nach Stuttgart über und nahm 1870 seinen dauernden Wohnsitz in Braunschweig; 1901, zu seinem 70. Geburtstag, der ihm viele Auszeichnungen brachte, wurde er von der philosophischen Fakultät der Universität Göttingen zum Ehrendoktor ernannt. Vgl. Gerber, Wilhelm R. (Leipz. 1897); Schriften von W. Jensen (Berl. 1901), W. Brandes (2. Aufl., Wolfenb. 1906), Eug. Wolff (Berl. 1902), Hans Hoffmann (das. 1906).

Fabian und Sebastian

Erstes Kapitel

Wenn es allen auf die äußeren Umstände oder was man so den Zubehör nennt, ankäme, so wäre dieses eines von den hellsten Büchern in dieser Welt und würde wie ein buntfarbigster Lichtblitz über den dunkeln Ozean von Druckerschwärze fallen, der jedes Leben jetzt doch ohne alle Frage mehr oder weniger umflutet, wenn er es nicht gar ganz überschwemmt. Und welch ein süß begehrens- und lesenswert Buch würde dies werden können, wenn wir es nur für die jungen Kinder in dieser Welt zu schreiben hätten! Da ist kein Sack, welchen der gute Knecht Rupert, der Pelzmärtel und Weihnachtsmann mit sich schleppen kann, so groß und umfangreich, daß er ihn nicht unter dem Dache, unter welches wir jetzt die alten Kinder dieser Erde zu führen gedenken, bis zum Rande vollstopfen konnte, mit allen Wundern in Zucker für die Feier jener Nacht, in der einmal der Ruf erklang: Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!

Pelzmann und Kompanieklingt heimlich und warm genug, die Firma steht aber nicht so angeschrieben in goldenen Lettern über dem Eingangstor des Geschäftes, denn sie hat’s wirklich nicht nötig. Wenn sich je eine Fabrik eine gute Stätte auf den Zungen der Unmündigen, im Munde der Mündigen zubereitet hatte, so war es diese. Tausende und aber Tausende von leckenden, schmatzenden, zuckerschaum- und schokoladebekrusteten Kindermäulchen verkünden und verbreiten seit mehreren Menschenaltern ihr Lob und ihren Preis; doch, wie gesagt, nicht allein die Kleinen, sondern auch die Großen halten viel von Pelzmann und Kompanie, sowohl an der Börse wie an den Frühstückstischen. Fassen wir uns kurz, so bedeuten die Worte Pelzmann und Kompanie eine der größesten und wohlberüchtigtsten Schokoladen- und Konfitürenfabriken Deutschlands.

Was nun die Kompanie anbetrifft, die auch heute noch an den Namen der Inhaber hängt, so hat sie freilich nicht das geringste mehr zu bedeuten. Ein sicherer Herr J. J. Doppelmeier gab vor langen Jahren zum Beginn des Geschäftes weniger seine Tätigkeit und sein kaufmännisches Wissen als ein nicht unbeträchtliches Kapital her. Doch beide, sowohl der stille Kompagnon wie das lautklingende Kapital, sind längst in den Büchern gestrichen, und gegenwärtig –

Doch das wird sich ja nun finden, oder besser, die Leser werden allgemach selber herausfinden, wer gegenwärtig Pelzmann und Kompanie sind!

Von sehr süßen Sachen könnte die Rede sein, und an einem lieblichen Trost durch das Ganze hin und an ein paar beruhigenden Worten, und zwar aus einem Kindermunde zum Schluß soll’s auch nicht fehlen; aber vor einem sauersüßen Anfang stehen wir und können nichts dafür – wie immer.

Am dreizehnten Februar feiern heuer die Oldenburger und die Meininger ihren Bußtag, am siebenundzwanzigsten desselbigen Monats die aus dem Königreiche Sachsen. Am sechsundzwanzigsten März begehen ihn Sachsen-Altenburg, Gotha und Hannover, am einundzwanzigsten April die Preußen und die Hamburger, am zweiundzwanzigsten September die Bremer oder Bremenser und am zwanzigsten Oktober die Hannoveraner zum zweitenmal. Am sechzehnten November sitzen die Braunschweiger im Sack und in der Aschen, am neunzehnten desselbigen Mondes setzen sich die Sachsen ebenfalls zum zweiten Male hinein und sicherlich nicht, ohne ihre Gründe zu haben. Am dritten Dezember schlagen sich die Thüringer im allgemeinen an ihre Brüste und, weil sie sich selber doch am besten kennen, an desselbigen Monden Fünfzehntem, weiß Gott, die Hannoveraner zum dritten Mal; aber – am Tage Fabians und Sebastians, ganz vernünftigerweise an dem Tage, an welchem der Saft wieder in die Bäume schießen soll und welchen sehr seltsamerweise kein deutscher Volksstamm oder angestammter Bruchteil des deutschen Volkes sich zum In-sich-Gehen ausgesucht hatte, ging die Buße Herrn Sebastian Pelzmann an. Am zwanzigsten Januar 187* ging Herr Sebastian wenn nicht schon in sich, so doch seinem wirklichen Soll und Haben im Leben mit außergewöhnlichem Unbehagen näher und fragte einen Doktor der Medizin dabei um Rat, welches letztere der Menschheit an ihren Buß- und Beichttagen nicht selten wohl anzuraten wäre.

Der Schnee lag hoch, und es hatte bis in die Dämmerung hinein geschneit. Dann war es klar geworden, und nunmehr glitzerten die Sterne herrlich, aber gleichgültig bei acht bis neun Grad Kälte auf die weißen Dächer der Stadt hernieder. Auf wie manche Bußnächte der armen kurzlebigen Menschen haben diese ewigen Sterne auch schon herabgesehen im Sommer wie im Winter, bis es zwölf schlug, ein neuer Tag kam und alles beim alten fand, allen Reuetränen, Seufzern und guten Vorsätzen zum Trotze! Wie oft haben sie schon am zwanzigsten Januar, am Tage Fabians und Sebastians, den Saft von neuem in die Bäume steigen sehen auf einem ihresgleichen, nämlich auf diesem, gleich ihnen selber durch die ewige Finsternis schimmernden Sterne – Erde genannt! Das ›Tout comme chez nous‹ wird da eben nicht minder am Platze sein wie – anderswo!

Wir befinden uns in dem Speisezimmer eines wohlhabenden Mannes, und daß bei diesem wohlhabenden Manne soeben zu Nacht gespeist worden war, ließ sich auch nicht verkennen. Es ist nicht immer der Beichtstuhl, wo dem Menschen das Bedürfnis kommt, einmal wirklich wahr über sich zu werden und sich zu geben, wie er ist. Gut Essen und Trinken tut oft nicht weniger dazu, und die Beichtväter und barmherzigen Brüder tragen nicht immer den Chorrock, die härene Kutte und den Strick um den Leib, sondern ziehen gottlob nicht selten die Serviette unterm Kinn weg und legen sie sanft auf den Stuhl nebenan mit einem:

»Nur weiter. Immer die alte Geschichte! Wohl, ich höre, ich merk’, ich verstehe!«

Es gab nun wohl keine zwei größeren Gegensätze als die, welche sich in den beiden Männern ausprägten, die hier eben ihr Abendessen eingenommen hatten miteinander und die wir hiermit die Ehre haben unseren Lesern vorzustellen –

Herr Medizinalrat und Hofmedikus Baumsteiger, Leibarzt Ihrer Hoheit der Prinzeß Gabriele Angelika – Herr Sebastian Pelzmann, jüngerer Chef der berühmten Firma Pelzmann und Kompanie! Ersterer als Wirt, letzterer als Gast. Beide über die Fünfzig hinaus; eine Zahl, über die sich der erstere jedoch weggekugelt zu haben schien, während der andere sich unbedingt durch sie gezwängt hatte, um dünn genug auf der Schattenseite dieser bedenklichen Lebenszeitscheide zum Vorschein zu kommen und zum Exempel in diesem Moment unruhigen Schrittes im Zimmer auf und ab zu laufen, während der Tischgenosse sich nur etwas behaglicher in seinem Sessel zurückgelehnt hatte, zur Seite auf dem Tische in einem Zigarrenkistchen mit dem feinen Gefühl des Weisen tastete und hier, wie meistens überall, in Beziehung auf sein Wohlsein das Richtige traf.

»Willst du dich wirklich nicht wieder setzen, lieber Pelzmann? Ich versichere dich, du besserst weder in dir noch um dich das geringste durch dieses spasmodische und wirklich bis jetzt noch ziemlich überflüssige Gezappel. Als einen Spasmophilos habe ich dich freilich von jeher im Behaglichen wie im Unbehaglichen gekannt. Also – nur weiter, und rede dich aus. Nicht tot zu kriegen!«

»Ich bitte dich, laß mich!« rief der andere. »Ich spreche wahrhaftig von diesen Dingen immer noch ruhiger an eine Windfahne gebunden wie auf den weichsten Kissen, die du mir unterschieben könntest. Ich bin ein nervöser Narr und bin es immer gewesen. Was ist das nun, wenn einem Temperament wie dem meinigen von euch Vernünftlern geraten wird, die Zeiten walten zu lassen, um Ruhe zu bekommen? Eine erkleckliche Zahl von Jahren habe ich doch nun wohl allgemach um mich aufgebaut, aber welch inneres Behagen und Genießen schützt das? Lächerlich! – Es war eben dein altes Vergnügen, einen neuen Namen für mich zu erfinden und deine ewige Redensart dranzuhängen. So – kriege mich tot in dieser Hinsicht, und ich werde dir danken wie nie für ein ander Rezept. Eine Mauer! Wahrhaftig, eine schöne, feste Mauer baut die Zeit um mich auf. Ein Mückenflügel wirft sie um! der jämmerlichste Tagesverdruß im Geschäft sie über den Haufen! – Da rede ich zu dir wie zu einem Beichtiger, weil du mir wie gewöhnlich einen guten Wein vorgesetzt hast und weil – weil – wir aneinander gewöhnt sind und du mich kennst; – weil – du weißt, wer ich bin und wie ich mein Leben geführt habe – führen mußte, und was alles um euere abgeschmackte Mauer von behaglichem An-sich-kommen-Lassen herumliegt. Alter Freund, deine Weinkarte war wirklich tadellos, und ich beichte dir: Ich hatte auf deine Mauer gerechnet und mich für allen späteren Komfort darauf verlassen, und nun – da ist der Mückenflügel mit seinem Wehen! Um des Himmels willen, Baumsteiger, was soll ich mit dem Mädchen anfangen? wie wird dies Kind mir meine Existenz auf den Kopf stellen? Eine Welt von Verwirrung dringt da über euere abgeschmackte Mauer auf mich ein, und als ob ich der Narren nicht schon genug im Hause hätte, drängt jetzt auch das auf mich los. Ich habe mich wenigstens immer gegeben, wie ich bin; und so sage ich es ganz offen, Baumsteiger, ich wollte, diese Kreatur wäre geblieben, wo der Pfeffer wächst.«

»Der Kakao, willst du sagen«, warf der Hofmedikus ein.

»Und meinem verehrten Herrn Bruder habe ich selbstverständlich auch für dies Vergnügen, zum größten Teil wenigstens, zu danken. Oh, hätte ich nur eine Ahnung davon gehabt, in welcher Art die Korrespondenz da die letzten Jahre hinüber und herüber hinter meinem Rücken geführt worden ist!«

»Hm«, brummte Baumsteiger, »das muß man euch lassen: ein hartköpfiges und damit zuweilen auch mitten im Weichen, ja Breiigen und Fließenden sonderbar steif hinstehendes Geschlecht seid ihr, ihr Pelzmänner. Ja, ja, der brave Melancholikus und Attrappenonkel hat doch auch seinen Willen und weiß ihn immer noch von seinem Hinterhaus aus durchzusetzen. Der muntere, vergnügte Luftflieger, der Lorenz, hatte sich deiner brüderlichen Zuneigung nie in sehr hohem Grade zu erfreuen; aber diese energische Art und Weise, wie du deine Abneigung nunmehr auf sein Kind überträgst, hat in der Tat etwas Imponierendes. Andere, weniger steifnackige Burschen würden es wenigstens erst abwarten, wie die Kleine ausfällt; ich zum Exempel, der ich doch auch ein Ziemliches auf komfortable Lebensgewohnheiten halte und mir nicht gern meine Kreise in dieser Beziehung verstören lasse.«

»Ja du!« rief der Fabrikant und warf sich jetzt endlich wieder auf den Sessel hin, von dem er vorhin aufgesprungen war, um seiner verdrießlichen Stimmung freiern Spielraum nach außen zu verschaffen. »Wer hat dich denn je in deinem Leben so gestört und aufgehalten, wie ich es alle Zeit, so lange ich denken kann, durch meine Verwandtschaft – lebende und tote – wurde? Es ist doch wahrhaftig kein Vergnügen, in einer Familie von lauter Phantasten den einzigen klaren, vernünftigen Kopf auf den Schultern zu tragen und bei jedem Schritte vorwärts erst eine burleske Hanswurstiade oder sentimentale Simpelei aus dem Wege räumen zu müssen! Wer hat dessenungeachtet das Haus Pelzmann und Kompanie wieder hingestellt, wie es heute steht und hoffentlich, während ich lebe, stehen bleiben wird? Ich, ich allein! – Und wer hat stets sein möglichstes getan, es zu ruinieren? Meine Herren Brüder, der Fabian wie der Lorenz; und ein jeder von ihnen auf seine besondere Weise, als ob es nicht schon an einer genug und übergenug wäre!«

»Richtig! Sie verließen sich eben auch darauf, daß das Haus Pelzmann nicht tot zu kriegen sei, und so nahmen sie es eben auch für das, als was es so vielen anderen Kindern und sonstigen naschhaften Sachverständigen gilt. Nämlich für die größeste und wundervollste Weihnachtspuppen- und -kuchenbude der Welt. Sie hatten Vergnügen an eueren Süßigkeiten als solchen und waren ziemlich schlechte Rechenmeister, Buchführer und Bilanzzieher, der arme selige Lorenz sowohl wie mein ganz spezieller Freund, unser Attrappenonkel, der am liebsten selber an jedem Tage im Jahre als Weihnachtsmann mit dem Sacke umginge und eure angenehmen Fabrikate gratis an das Geschlecht Adams und Evas austeilte. Schade, daß der Mann nicht Buchhändler geworden ist! Der würde die schöne deutsche Literatur endlich auf den Strumpf gebracht haben.«

»Und sich in die Konkursliste und an den Bettelstab. Ich bitte dich, Baumsteiger, ärgere du mich nicht auch jetzt noch mit dem Narren, dem Fabian! Dies Übel bin ich gewohnt, wie der Mensch ja auch ein hölzern Bein allgemach gewohnt wird, und es ist mir wenigstens gelungen, diese Imbezillität so unschädlich als möglich zu machen. Bleiben wir bei dem Lorenz oder vielmehr seiner Hinterlassenschaft. Bei allem, was sich –«

»Unter Debet und Kredit eintragen läßt, was soll ich mit dieser Hinterlassenschaft anfangen? Nicht wahr, so heißt die Klemme, in der wir festzusitzen glauben?« fragte Hofmedikus Baumsteiger mit einem höchst eigentümlichen und jedenfalls sehr klugen und vielsagenden Blick auf seinen Gast. »Hm, der Attrappenonkel – «

»Eine Deutsch-Holländerin!« rief Herr Sebastian Pelzmann, auf nichts achtend ringsumher, nur mit sich selber und mit dem Anfang seiner Buße an diesem Abend des Tages Fabian und Sebastian, wo – der Saft wieder in die Bäume geht, beschäftigt.

»Gar nicht tot zu kriegen!« sagte Baumsteiger. »Fünfzehn wundervolle tropische, exotische Mädchenfrühlinge alt, alter Kenner!«

»Jawohl! Auf der Insel Sumatra geboren und wahrscheinlich annähernd so alt, wie du angibst. Jawohl, nette tropische Zustände wird die exotische Pflanze im Hause zur Blüte bringen!«

»Solltest du wirklich nicht dem Onkel Fabian, der sie sich, wie du sagst, heimtückischerweise von seinem Hinterhause aus hinter deinem Rücken verschrieben hat, einfach die Verantwortlichkeit für alles überlassen können?«

Der Onkel Sebastian wehrte mit beiden Händen die Möglichkeit hiervon in einer so energischen Weise ab, daß er fast das Gleichgewicht auf seinem Stuhle verlor.

»Was würde aus dem Hause Pelzmann und Kompanie werden, wenn ich dem nur für acht Tage die Verantwortlichkeit für etwas anderes als die Modellkammer allein überließe? Aus einem Narrenhause ein Tollhaus! O liebster Freund, wer verteilt diese Nerven in dieser nichtsnutzigen Welt? Du bist mein Schulgenosse, mein Hausarzt, und ich rede gegenwärtig zu dir wie zu einem Beichtvater, und es scheint dir in deiner philosophischen Gelassenheit nur ein Nachtischbehagen mehr zu sein, mir gleichfalls noch auf die Nerven zu fallen. So seid ihr aber allesamt, ihr gemütlichen Herren, die ihr es in eurem stoischen Behagen nie zugeben könnt, daß ihr euch wohl in eurer Haut fühlt auf diesem widerwärtigen, langweiligen, abstehenden Erdenball.«

Ein Diener trat in diesem Augenblick herein und brachte ein Billett des Inhalts:

»Bester Medizinalrat, wir bitten dringendst!!!

Ihre Fredegunde Gräfin zum Stuhle, geb. Freiin von Raschlauffen.«

Von philosophischer Gelassenheit war nach Einsichtnahme der zierlichen Schrift an dem Medizinalrat, Hofmedikus und Leibarzt Ihrer Hoheit der Prinzeß Gabriele Angelika, Dr. med. Baumsteiger, nicht das mindeste mehr zu bemerken. Er wartete es kaum ab, daß sich die Tür wieder hinter seinem Diener geschlossen hatte, um in höchst unstoischer Weise loszubrechen.

»Da!« ächzte er, den erlauchten Hülferuf dem Gastfreunde mehr hinschleudernd als zureichend. »Der Satan hole die alten Weiber! Na, nicht wahr, wir saßen hier ja wohl ganz behaglich? – Wohl in meiner Haut? Du lieber Himmel! – Jawohl, kriege du das mal tot! Den Magen verdirbt das sich und zwar ganz speziell an euren nichtsnutzigen Geschäftskünsten und Präparaten alle Augenblicke. Leibarzt bin ich da zu aller sonstigen Plage und frage dich, mon cher, ob es da noch viel zärtlicher Verwandtschafts- und Freundschaftsbeziehungen bedarf, um mich tagtäglich dahin zu kriegen, mich und mein Dasein auf deinem ›abstehenden‹ Erdball zu allen Teufeln zu wünschen.«

Er zog die Glocke:

»Anspannen, Georg! – Dich, Pelzmann, werde ich vor deiner Haustür absetzen. Schade darum! Du gerietest mir in der Tat allgemach in eine psychologisch und physiologisch ungemein interessante Stimmung. Ich hätte gern noch ein paar ruhige Minuten länger deinen Reueanwandlungen gegenüber sowohl als dein Mitmensch wie dein Hausarzt den innigen Anteil nehmenden Beichtiger agiert.«

»Reueanwandlungen?« murrte Herr Sebastian. »Dummes Zeug! – Körperlich verstimmt fühle ich mich, und somit seit einiger Zeit in der Laune, in verlorenen Momenten für allerlei Lebenserfahrnisse auch einmal nach eurer philosophischen Methode nach dem Wie, dem Warum und dem Wozu zu fragen. Diese Störung eben kommt mir übrigens ganz recht, den Platz in deinem Wagen nehme ich an, und – wenn es dir gefällig ist, reden wir unterwegs von anderen Dingen.«

Hofmedikus Baumsteiger warf noch einmal einen verstohlenen Blick auf seinen Gast, und dieser Blick tut uns wiederum zur Evidenz dar, daß der Mann kein geringer Seelenkundiger, kein unfeines Menschenkind und – seit langer Zeit nicht nur der Hausarzt, sondern auch der Hausfreund bei Pelzmann und Kompanie und letzteres nicht nur im Vorderhause, sondern auch im Hinterhause war.

Zweites Kapitel

Ziemlich im Mittelpunkt der Stadt ist die große Süßigkeitenfabrik der Firma Pelzmann und Kompanie gelegen, ein stattlicher Komplex von Gebäuden, Höfen und Schornsteinen. Von den letzteren ragen die beiden höchsten, die des Kesselhauses, hoch über die Dächer hinaus und qualmen auch in diesem Augenblick noch leise zum klaren Winternachthimmel empor. Nach einer der belebtesten Straßen zu erstreckt sich das alte Wohnhaus der Familie, in dem sich auch die Kontore befinden und dessen Erdgeschoß in seiner halben Länge durch des Onkels Fabian Wunderladen für den städtischen Einzelverkauf eingenommen wird. Die Kontore des Onkels Sebastian liegen dem Hofe zu, nur aus den Fenstern eines sehr eleganten Privatkabinetts sieht man ebenfalls in die Hochstraße hinein. Dabei aber hat er den ganzen oberen Stock des Vorderhauses inne, führt daselbst ein gesellschaftlich ungemein bewegtes und jedenfalls sehr nervöses Leben weiter und gibt dort dann und wann seinen Freunden anerkannt lobwürdige Diners unter Vermittlung einer ganz vorzüglichen Köchin, die ihn seit langen Jahren an einer seiner stärksten Seiten fest zu nehmen weiß und die ihn fast noch mehr tyrannisiert als er das übrige Haus – das Geschäft und die Fabrik eingeschlossen.

Nur selten setzt der Bruder Fabian, der zu allem übrigen auch nicht einmal Whist spielt, sondern höchstens nur dann und wann eine Partie Schach im Café Zusi, den Fuß in diese Räume. Sein Reich, das heißt, was ihm von seinem Teil an dem Reich Pelzmann und Kompanie geblieben ist, liegt ganz nach der entgegengesetzten Seite, nämlich über die eigentliche Fabrik hinaus in den nach einer engen, dunkeln, unbetretenen Gasse gelegenen Hintergebäuden, welche zum Teil auch von den Magazinen des Geschäftes eingenommen werden und außer einem großen Torwege für die Wagen ein merkwürdig verstohlenes und geheimnisvolles Schlupfpförtchen für den Attrappenonkel haben.

»Er hat sich das nach seinem Geschmack so ausgesucht«, sagt der Bruder Sebastian. »Ich setze nur selten einen Fuß dahin; denn eine einzige Geburtstagsgratulation genügt immer, um mir die Lust zum Wiederkommen für ein Jahr gründlich zu vertreiben. Daß an einem Menschen irgend etwas verloren geht; ein Professor, ein Pinsler oder ein Musikante, will ich mir zur Not noch gefallen lassen, denn das kommt alle Tage vor. Aber daß an einem Menschen alles verdorben wird, was die Menschheit zu präsentieren vermag, das ist mir denn doch zu – enorm; und da müssen Sie sich die Wissenschaft bei meinem Herrn Bruder lieber selber mal ansehen. So bloß zu glauben ist das nicht!«

Ja, wenn das nur so leicht gewesen wäre, sich die Wirtschaft des Herrn Fabian Pelzmann mit eigenen Augen anzusehen! Eine ziemliche Reihe von Kammern und sonstigen Gemächern versperrte er durch einen Schlüssel; und die Leute und Besucher, die den Weg zu ihm aus der Fadengasse die enge steile Treppe hinauf zu seiner Haupttür gefunden hatten, waren darum häufig noch lange nicht hinter der letzteren. Sie hatten erst eine ziemliche Zeit zu pochen, ehe ihnen geöffnet wurde, und auch dann war es noch sehr fraglich, ob sie gebeten wurden, näher zu treten, oder ob nicht das Geschäft oder die Höflichkeitsvisite freundlich oder aber etwas kurzab auf dem Vorsaal erledigt wurde. Die anständigsten, respektabelsten Menschen der Stadt hatten leider diese Erfahrung machen müssen und sich mit mehr oder weniger lächelndem Ingrimm auf dem Rückwege treppab selber das Versprechen gegeben: dem »eigentlich doch auch halbverrückten Flegel« nimmer so wiederzukommen, sondern sich zu jedem ferneren notwendigen Verkehr mit ihm stets der Stadtpost zu bedienen. Daß der kuriose Herr dessenungeachtet eine merkwürdig lange Reihe von Bekanntschaften besaß, die er gleich einließ, konnte die Gefühle der Abgewiesenen gegen ihn nicht milder machen. Gott sei Dank, wir haben freien Zutritt zu ihm, dürfen mitbringen, wen wir wollen, und machen ihm jetzt den ersten Besuch, das heißt, wir gehen vielmehr mit ihm nach Hause und erreichen seine Tür so ziemlich um dieselbe Stunde, wo der Bruder Sebastian im Speisezimmer des Hofmedikus anfängt, auf und ab zu laufen.

Um diese Zeit schneite es noch, wenn auch mäßiger denn zuvor; und Herr Fabian kam wie eines seiner eigenen mit Zucker bestreuten Fabrikate vor seiner Schlupftür in der Fadengasse an. Er hatte dazu auch die erste Spur in die weiße, reinliche, weiche Decke des wenig betretenen Durchganges zu stapfen, und als er unter der Tür sich schüttelte und seinen Filzhut kurzweg an den Pfosten schlug, sagte er dazu, in den durch den Lichtschein der Gaslaterne über seinem Haupte flimmernden Flockentanz blinzelnd:

»Sehr nett! – Seht mal, das kann sie ja auch unmöglich schon kennen?! – Guck, da haben wir ja schon wieder etwas, was dem Kinde vielleicht einmal einen Spaß macht! Artet sie nach mir, so hat sie, warm eingewickelt, seinerzeit sogar ihr Vergnügen dran. Warm einwickeln muß man sie freilich, die kleine Malaiin! Ich werde mir das lieber gleich heute abend noch notieren, denn hier kenne ich mich und weiß, zu wie vielen Dummheiten ich im gegebenen Moment fähig bin, gerade – wie ihr seliger Vater, der arme Lorenz. Nun, Knövenagel, wo steckst du denn?«

»Hier, Herr Pelzmann! Sie haben mir doch Vorsichtigkeit anbefohlen, und laufen taten Sie auch nach Ihrer gehorsamsten Art und Weise. Da kommen Sie denn einmal selber mit sich mit, als ob Sie nicht noch dazu mir aufgeladen hätten in fünfzig Läden, als ob nicht bloß Ihnen, sondern auch jedem beliebigen Dromedare und Lasttier, von mir selbstverständlich nicht zu reden, der Odem von unserem Herrgott gratis zugegeben wäre! Na, Gott sei Dank, da sind wir heil und in Sicherheit mit aller Bagage, natürlich bis auf das eine Paket, was Sie der Vorsicht wegen selber tragen wollten, – na, was habe ich denn gesagt?! Na, wer hat denn nun schon wieder einmal recht gehabt?! Sie oder ich?!«

Also schnarrte Knövenagel, der Attrappenonkel aber griff sich hastig erst mit der rechten Hand unter den linken Arm und sodann mit der linken Hand unter den rechten Arm. Und immer hastiger und verzweiflungsvoller griff er an sich herum und in sämtliche Taschen seines etwas schäbigen schokoladefarbigen Oberrocks. Er fuhr sogar, um ein Gepäckstück von nicht geringem Umfang noch an sich selber zu erwischen, in die Taschen seiner schokoladefarbigen Hosen, sah sich sodann ratlos um im Lichtkreis der Laterne vor seiner Tür und endlich – jedoch nur von der Seite – auf Knövenagel, und dazu ächzte er dann sehr verlegen und verdrießlich: »Das weiß doch der liebe Himmel!«

Ob es nun der liebe Himmel wirklich wußte, wissen wir nicht; aber mit einem wahrhaft satanischen Gegrinse und ununterbrochenem teuflisch-schadenfrohen Kopfnicken stand Knövenagel unter seiner glücklichen und sicher heimgebrachten vielartigen Last im hohen Schnee und kostete seinen Triumph bis zum Äußersten durch.

»Und wenn Sie nun auch umkehren wollten und bis morgen früh herumlaufen, so finden wir bei der weißen Emballage und dem Schnee und der Menge unnötiger Umwege doch nichts wieder; also schließen Sie nur ruhig das Haus auf und setzen Sie sich wie gewöhnlich morgen als abhanden gekommen ins Blatt, Herr Pelzmann. Ich sage es ja immer und immer: bei den hunderttausend Devisen, die wir allewig im Kopf haben, kann uns dies ja gar nicht anders attrappieren. Und, bitt’ ich Sie, wozu hatten Sie denn mich als Ihr angeborenes Kamel hinter sich, wenn Sie selber als solches mir vorauflaufen wollten? Nicht wahr, es war ja wohl das Aquarium für die Goldfische und unser Fräulein, was Sie absolut selber tragen wollten?«

»Nur der Zerbrechlichkeit wegen« brummte Herr Fabian kleinlaut.

»Recht schön! Na, denn laden Sie es ja nur recht vorsichtig ab, und wenn wir endlich oben sind, auf daß es mir ja nicht noch zuletzt zu Schaden kommt und es Ihnen damit geht wie mit dem netten Toilettespiegel neulich, wo Sie für ihn keinen weichern Platz wußten als das Sofa, und natürlich fünf Minuten nachher für sich selber auch nicht. Da saßen wir denn darauf und können noch vom Glück sagen, daß der liebe Gott gnädig über die Splittern waltete; aber unser zukünftiges gnädiges Fräulein besieht ganz gewiß nicht mehr ihr hübsches Gesichte in ihnen. Schade aber, daß Sie nicht wieder einmal Ihr eigen Gesicht betrachten konnten, sondern sich bei der Affäre wie immer auf meines verlassen mußten.«

Auf diese boshafte Erinnerung hin suchte der Attrappenonkel nicht weiter nach einer Rechtfertigung im leichten Schneegestöber der Fadengasse. Er schloß jetzt möglichst rasch die Tür auf und seufzte:

»Halt den Mund, Alter, ich sage mir alles selber! Stehe still, bis ich Licht gemacht habe. Vorsichtig jetzt auf der Treppe und für mich mit, Knövenagel!«

»Wem sagen Sie das, Herr Prinzipal?« fragte Herrn Fabians biederes Faktotum gröblich und stand auf dem engen Flur, ohne sich zu rühren, bis sein gutmütiger Herr das Haus wieder geschlossen und einen kleinen Handleuchter ertastet und angezündet hatte.

Sie erreichten beide glücklich ohne weiteren Verlust das Wohnzimmer des Herrn Fabian, der auch hier die Lampe anzündete, während Knövenagel »krummbuckelig«, ohne sich zu rühren, stand und endlich nur bemerkte:

»Nun, denn laden Sie mich ab; und wenn Sie unten im Modelliersaal mal wieder ein neu Modell für’n Schiff der Wüste brauchen, dann schicken Sie mich nur dreiste runter. Es ist doch die Menschenmöglichkeit, was wir alles wieder zusammengeschleppt haben, und alles doch so bloß auf den blauen Dunst hin.«

»Auf den blauen Dunst?«

»Auf unser gnädiges Fräulein meine ich; denn da kommt es doch wohl einzig und allein darauf an, ob es unseren Ordnungssinn hier im Hintergebäude oder den von unserm Herrn Bruder da vorn mit sich bringt von seiner Affen- und Meerkatzeninsel. Setzen Sie nur mal den Fall, es wird so, wie es das Unglück will, nämlich unsere Nichte artet gar nicht nach uns hier im Hinterhaus, sondern hält uns sofort, nachdem sie aus der Droschke gestiegen ist, für ganz dasselbige, als was man uns da vorne taxiert – na, was denn?! Herr Pelzmann, ich habe Sie schon manchmal wie Moses auf den Ruinen von Jerusalem sitzen sehen und meistens nicht so viel Mitleiden mit Ihnen gehabt, als es sich wohl schickte; aber käme dies hier so heraus, wie es wohl kommen kann, und wir hätten unsere ganze Freude an dem Kinde einzig und allein schon bei allen diesen unnötigen Einkäufen für es vorweggenommen, so – könnten Sie mir wirklich leid tun.«

»Ich mir auch!« sagte der Onkel Fabian leise, und da er sich in diesem Augenblicke über den Tisch und ein außergewöhnlich sicher umwickeltes Paket vorbeugte, fällt der Lampenschein voll auf sein Gesicht und zeigt es uns in seiner ganzen ängstlichen Freude an seiner Welt, seinem Mißtrauen gegen sich selber und der ganzen passiven Hartnäckigkeit bei der Verfolgung und im Festhalten dessen – was er sich einmal vorgenommen oder zusammengeträumt hatte.

»Es kann aber nicht sein! Sie ist ja Lorenz’ Kind!« rief er plötzlich hell und in der fröhlichsten Gewißheit. »Ärgere mich also nicht länger mit deinen gewöhnlichen dummen, melancholischen und mir dann und wann doch verdrießlichen Anmerkungen. Behalte gefälligst deine menschenfeindliche Weisheit für dich oder komme mir damit lieber morgen oder übermorgen. Und jetzt nimm die Lampe und leuchte mir; ich meine, allgemach macht das Nest doch schon einen ganz netten Eindruck, und das Kind wird sich gewiß ganz behaglich darin finden.«

Die letzten Worte wurden bereits nicht mehr in dem Wohnzimmer des Attrappenonkels gesprochen, sondern in dem Gemache, welches er zum Wohnort für das unbekannte Nichtchen nach langem Überlegen auserkoren und zu dessen weicher Ausstattung er nunmehr seit Wochen bereits selber als ein närrischer alter Vogel Federn und Flaumen zusammengetragen hatte und zwar so gut es ihm – seine pekuniären Mittel erlaubten und manchmal sogar etwas über dieselbigen hinaus. Und man mußte es ihm lassen: er hatte in der Tat jetzt schon die Berechtigung gewonnen, sich selber zu loben. Keine Mutter, die für ein lange abwesendes Lieblingskind eine Heimstätte ausschmückte, hätte ihre Sache besser machen können; und wenn Herr Fabian Pelzmann bei dem kommenden verwandten jungen Gast nur halbwegs die Anerkennung fand, die er verdiente, so durfte er dreist seinen Herrn Bruder reden und seinen Knövenagel brummen lassen: er hatte dann wahrhaftig wieder einmal etwas, was manchem lächerlich vorkommen mochte, zu seinem innersten Behagen durchgesetzt.

»Hm, hm, hm!« brummte Knövenagel, die Lampe auf einem zierlichen Schreibtische niedersetzend, während sein Herr sofort anfing, die Ausstattung des Zimmerchens durch die eben nach Hause gebrachten Einkäufe zu vervollständigen; »ich sage es immer, daß die Leute unten im Geschäft, im Kesselhause, im Klappersaale und in den Magazinen ganz recht in ihrer Unverschämtheit haben, wenn sie uns nennen, wie sie Sie betitulieren, Herr Prinzipal. Der Attrappenonkel sind wir und bleiben wir, darauf richten Sie sich gefälligst nur immerhin ruhig ein: diese Devise werden wir bis an unser selig Ende nicht wieder los, und zwar mit Recht! Wozu wir sonst noch es gebracht haben –«

»Hm«, sagte auch Herr Fabian, durchaus nicht symbolisch einen Nagel in die Wand schlagend, »ich hoffe wahrhaftig eben, daß sie endlich einmal ein neues Sobriquet für mich ausfindig gemacht hätten. Laß sie reden und reich mir lieber mal die Kneifzange her, Knövenagel. Um einen guten Zoll zu weit links!«

»Nach rechts, wie mir von meinem Standpunkte aus scheint, Herr Pelzmann.«

Der Attrappenonkel sah über die Schulter zurück auf sein Faktotum und zwar mit einem ganz besonderen Blick.

»Ja, wenn du das meinst«, sagte er, »so laß die Zange nur. Ich werde dann doch den Nagel wahrscheinlich wieder einmal an der richtigen Stelle auf den Kopf getroffen haben.«

Da kam plötzlich sowohl in dem Blick wie in dem Tone eine so freundliche aber unerschütterliche Lebensüberlegenheit zum Vorschein, daß es jedem, der den Mann bisher nur von seinen komischen Seiten gekannt hatte, wie eine Offenbarung aufgehen mußte, daß dann und wann die allerschärfsten und allerverständigsten Leute, zum Beispiel der liebe Bruder, Herr Sebastian Pelzmann, und der Herr Hofmedikus Baumsteiger nicht das geringste gegen den »Attrappenonkel« auszurichten vermochten, sondern ihn einfach seine Wege gehen lassen mußten.

»Entschuldigen Sie, Herr Prinzipal«, sagte Knövenagel ganz geduckt; wir aber schließen mit diesem Worte dies Kapitel. Es wird draußen nahe an neun Grad Kälte, und bis jetzt hat Herr Fabian in dem Nestchen, welches er dem »armen kleinen Mädchen« oder, wie Knövenagel sich ausdrückt, »unserem zukünftigen Fräulein von der Affen- und Meerkatzeninsel« zurichtet, den Ofen daraufhin noch nicht studiert, ob er zieht oder vielleicht heimtückischerweise sogar raucht. Man kann eben nicht gleich an alles denken. Zu bemerken wäre wohl noch, daß Herr Fabian der ältere von den zwei Brüdern war, aber seit Jahren nicht mehr der erste Chef des Hauses Pelzmann und Kompanie.

Drittes Kapitel

Am anderen Morgen beleuchtete eine helle, klare Wintersonne die Welt und war in der großen Fabrik alles im gewohnten lebendigsten Gange. Kein Rad und Rädchen versagte seinen Dienst in dem merkwürdigen Getriebe, und von den zwei- bis dreihundert Arbeitern und Arbeiterinnen, die das Haus Pelzmann und Kompanie beschäftigte, wußte ein jeder und eine jede, wofür sie in der Welt waren.

In der Schreibstube kritzelte die scharfe Feder des Herrn Sebastian ununterbrochen über das Papier, und ein gut halb Dutzend anderer Federn folgte ihr in fliegender Hast. Niemand sah auf.

In dem Kesselhause arbeiteten die Dampfmaschinen, überall durch immer andere Säle anderes Räderwerk in Bewegung setzend. Es glühen die Röstöfen, es rasselt die Mühle, in den Trichtern der Walzmaschinen verschwinden ununterbrochen Karrenladungen der gebräunten Bohnen, um als dickflüssige Kakaomasse von dem »Melangeuer« oder der hydraulischen Presse weiter verarbeitet und im »Klappersaal« im tollsten Lärm von auf und ab, hin und her fliegenden Platten und Tafeln in bekanntere Formen gerüttelt und geschüttelt zu werden.