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Nach dem Umzug in die Großstadt ist für Lennart und seinen Falken Cosmo alles anders. Lennart wird das Gefühl nicht los, dass er beobachtet wird. Und wirklich: Beim Training holt Cosmo plötzlich eine winzige Kamera-Drohne vom Himmel. Lennart und die technikbegeisterte Vietnamesin Mai, genannt Mia, beschließen der Sache auf den Grund zu gehen und stoßen dabei auf die geheimnisvolle Firma PEREGRIN. Als klar wird, dass die Firma ein heimtückisches Verbrechen plant, setzen die Kinder alles daran es zu verhindern. Ein höchst spannendes Duell zwischen Drohne und Falke beginnt! In diesem packenden Thriller sind Spannung und Action vorprogrammiert!
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Seitenzahl: 303
Falcon
Gefahr aus der Luft
eISBN 978-3-96129-108-3
Edel:Kids Books
Ein Verlag der Edel Germany GmbH
Copyright © Edel Germany GmbH, Neumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edel.com
Projektkoordination und Lektorat: Mia König
Text: Andrea Rings
Covergestaltung: Isabelle Hirtz
Layout und Satz: Uhl + Massopoust, Aalen
Herstellung: Frank Jansen
ePub-Konvertierung: Datagrafix GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Ein schriller Schrei durchdrang die Stille. Gebannt sahen die Leute nach oben. Der Falke stürzte sich vom Dach, flog die Beute an, die der Junge an einem Seil über seinem Kopf schwang, um sie dann blitzschnell wegzuziehen. Der Vogel sauste an ihm vorbei, ganz nah über die Köpfe der Zuschauer hinweg, wendete, kehrte zurück und streifte den Strohhut eines alten Mannes. Die Glöckchen an seinen Füßen klingelten kurz, und schon nahm er wieder Höhe auf, landete auf einem Baum und schrie erneut sein durchdringendes »Eeek-eeeek-eeeeek«. Das Publikum applaudierte begeistert. Oben auf dem Baum hob und senkte der Falke aufgeregt den Kopf.
Wenige Meter darunter, auf der obersten Stufe der kleinen Tribüne, standen ein Mann und eine Frau und klatschten ebenfalls Beifall. Auf der Wiese dahinter war ein Festzelt aufgebaut.
»Unglaublich«, sagte der Mann, »jetzt weiß ich, warum Lennart unbedingt wollte, dass ich zur Feier komme.«
»Es ist ein besonderer Tag für ihn. Für uns alle.« Sie zeigte auf ihren Sohn, der wieder das Federspiel schwang. »Das erste und einzige Mal, dass er Cosmo vorführen will.«
Wieder sauste der Falke durch die Luft.
Plötzlich hatte die Frau ein merkwürdiges Sirren im Ohr. Sie drehte sich um, die Sonne blendete, und sie hob die Hand, um ihre Augen zu schützen. Da war etwas, es stand in der Luft wie eine Libelle. Es hatte glitzernde Flügel, aber es war größer und machte ein unnatürliches Geräusch. Als sie einen Schritt darauf zuging, flog es blitzschnell davon.
Der Mann stieß die Frau an, er sprühte vor Begeisterung. »Sieh doch, Johanna! Genau wie sein Vater! Weißt du noch, damals im Studium? Robert war so versessen auf Greifvögel, er hätte fast seine Botanik-Prüfung versemmelt.« Im nächsten Moment erlosch das Feuer in seinen Augen. »Wie er uns immer von seinem Traum erzählte, eine Auffangstation für verletzte Wildvögel aufzubauen«, fügte er leise hinzu.
»Und nun feiern wir schon Zehnjähriges! Wir sollten endlich den Sekt aufmachen.« Sie presste die Lippen zusammen, es war offensichtlich, dass ihr nicht nach Sekt zumute war.
»Es tut mir sehr leid für euch. Robert war mein bester Freund. Wenn ich nur etwas tun könnte.«
Sie zuckte die Schultern. »Das kann wohl nur die Zeit heilen. Aber es tut gut, dass du gekommen bist, Sam.«
Der Junge hatte Futter auf seinen Handschuh gelegt und stieß einen Pfiff aus, um den Falken anzulocken.
Johanna verfolgte weiter das Geschehen unten, während sie redete. »Dein Artikel im Wildlife-Magazin war großartig. Lennart ist so stolz, weil er dabei sein durfte.«
»Die eigentlichen Stars sind doch die Kinder und ihre Vögel«, sagte Sam bescheiden. »Es war nicht mal meine Idee. Robert wollte diesen Artikel schreiben und hat die Kinder ausfindig gemacht. Ich habe nur seine Arbeit beendet.«
»Wir hatten sogar eine Anfrage vom Fernsehen, aber ich wollte das nicht. Diese Vorführung heute ist nur für die Fans und Förderer der Station.«
Jetzt trug der Junge den Falken auf dem Handschuh umher und hielt dabei die Lederbändchen an den Füßen des Vogels fest umschlossen. Er ging auf das Publikum zu, sprach mit den Kindern und lachte. Ein kleines Mädchen durfte an den Falken herantreten und sich neben ihm fotografieren lassen.
»Es ist schön, ihn fröhlich zu sehen.« Johanna hatte einen warmen Glanz in den Augen. »Er hat es nicht leicht, Robert fehlt ihm sehr. Er musste im letzten Jahr viele Aufgaben übernehmen, bis wir einen neuen Leiter für die Station gefunden hatten.«
»Hat er noch diese Migräneattacken? Weiß man mittlerweile, wie es zu dem Unfall kam?«
Sie schüttelte den Kopf. »Im Polizeibericht stand ›Unfall aus ungeklärter Ursache‹, und Lennart kann sich immer noch nicht erinnern. Es ist alles zu viel für ihn, auch die Verantwortung für den Falken. Oft denke ich, wir haben ihm keinen Gefallen getan, als wir diese enge Verbindung zuließen.«
»Wie kannst du nur so was sagen, Johanna! Das Tier ist sein Ein und Alles, es hilft ihm über den Tod seines Vaters hinweg.«
»Du hast ja recht. Ich mach mir einfach Sorgen, er ist erst dreizehn und trägt schon so viel Verantwortung.«
Das Publikum begann erneut zu klatschen, die beiden Erwachsenen auf der Treppe auch. Der Junge mit dem Falken verbeugte sich nach allen Seiten und suchte den Blick seiner Mutter. Sie warf ihm eine Kusshand zu.
»Da gibt es noch etwas, das mich beunruhigt«, sagte Sam. »Es muss nichts zu bedeuten haben, aber es ist besser, du weißt davon.«
Der Applaus verebbte. Johanna sah ihn interessiert an.
»Vorgestern hat ein Mann eines der Mädchen angesprochen, die wir in dem Artikel vorgestellt haben. Er war als Polizist verkleidet und wollte das Mädchen und ihren Vogel mitnehmen. Sie konnte davonlaufen, aber das Tier wurde schwer verletzt. Es musste sogar eingeschläfert werden.«
»Das tut mir ehrlich leid, Sam. Aber das kann auch nur ein Zufall gewesen sein.«
»Ich mach mir Sorgen.«
»Musst du nicht«, sagte sie und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, »wir werden das alles hier bald hinter uns lassen. Nächste Woche schon, der Umzugswagen ist bestellt.«
»Ihr geht weg von hier?« Er suchte ihren Blickkontakt.
»Ja, ich kann es selbst kaum glauben. Ich habe die Stelle in Berlin angenommen, die Taurus Nolan mir angeboten hat. Energiegewinnung aus Algen. Da kann ich viel bewegen, ich konnte nicht Nein sagen.«
»Und das erzählst du mir erst jetzt? Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr mich das freut. Endlich sind wir wieder Kollegen, das wird großartig! Wie früher im Studium.«
Sie lächelte. »Ja, ich freue mich auch sehr.«
»Was wird denn aus Cosmo, wenn ihr nach Berlin geht?«
»Wir können ihn mitnehmen. Ist alles organisiert, sonst wäre Lennart niemals bereit gewesen, mitzukommen.«
»Verstehe. Er war nicht begeistert.«
»Nein. Ich hoffe trotzdem, der Umzug tut ihm gut.«
»Vielleicht kann er uns mal im Institut besuchen. Ich stecke da zurzeit in einem Projekt, das ihn bestimmt interessieren wird.«
Gerade bahnte sich der Junge einen Weg durch die Menge. Seine Augen leuchteten, er kam mühelos mit dem Tier auf der Faust die Stufen hinauf. Der Falke trug jetzt eine Haube.
»Selbst wenn ihr hier weggeht«, sagte Sam mit gesenkter Stimme, »seid vorsichtig. Es gibt möglicherweise gefährliche Leute, die sich für Lennart und Cosmo interessieren.«
Johanna schüttelte unwillig den Kopf. Sie war schon ganz bei ihrem Sohn, der nun auf sie zukam. »Du warst großartig! Ihr wart beide großartig!«, begrüßte sie ihn.
»Ja, nicht wahr?« Lennart strahlte. »Cosmo ist ein Komiker. Habt ihr gesehen, wie er sich jedes Mal verneigt hat, wenn die Leute applaudierten?«
»Du könntest mit ihm im Zirkus auftreten«, sagte Sam. »Oder ihn als Model für Filmaufnahmen vermieten.«
»Nie im Leben! Er ist doch ein Wildtier!«
Lennart bedankte sich dafür, dass Sam gekommen war, aber er hatte keine Zeit. Er wollte den Falken zurück in seine Voliere bringen. Die beiden Erwachsenen sahen ihm hinterher.
»Ich muss leider los«, sagte Sam und beugte sich herab, um Johanna einen Kuss auf die Wange zu geben. »Vergiss nicht, was ich gesagt habe«, flüsterte er in ihr Ohr. »Berlin ist groß und gefährlich, passt gut auf euch auf. Und wenn etwas Merkwürdiges passiert, ruf mich an.«
Sie zog ihre Strickjacke enger um die Schultern. Für einen Moment meinte sie wieder das fremde Sirren hinter sich zu hören, doch als sie sich umdrehte, war da nur eine dicke Hummel.
Lennart wartet mit Cosmo am Eingang, bis er von einem Mann abgeholt wird, der sich als Harro Smolek vorstellt. Das ist also der alte Falkner, der seinem Vater vor vielen Jahren beigebracht hat, wie man mit Greifvögeln umgeht. Hier ist er als Hausmeister angestellt. Ein seltsamer Kauz, trägt eine Weste mit der Aufschrift Security und redet nicht viel. Er geht einfach los, durch einen Glasgang auf eine schwere Metalltür zu. Lennart sieht ihn verstohlen von der Seite an, es gibt keinen Zweifel, Smolek hat ein Glasauge. Nicht das Lennart das stören würde, aber er wüsste gern, warum der alte Falkner ein Auge verloren hat. Vielleicht hat ihm ein Vogel das Auge ausgepickt, ein Seeadler oder ein Habicht. Im Umgang mit Greifvögeln muss man viel Vertrauen haben, das ist mal Fakt. Schließlich kommen sie sehr nah ans Gesicht heran.
Als hätte er seinen Gedanken zugehört, dreht Cosmo ihm den Kopf zu, und obwohl er eine Haube trägt und nichts sieht, streift er kurz mit dem Schnabel Lennarts Kinn. Sofort hat Lennart ein warmes Gefühl in seinem Brustraum, das sich über den ganzen Körper ausdehnt. Berlin war nicht seine Idee, aber sie werden es schaffen, irgendwie. Hauptsache, sie können jeden Tag zusammen sein.
Smolek führt sie in eine alte Fabrikhalle. Dabei heißt das Gelände sehr modern My Guard Storage. Die Glasdächer haben Sprünge, doch die grauen Fertiggaragen darin sehen ganz neu aus. Sie wirken wie in Reihen angeordnete Strandhäuser. Eins wie das andere, sie unterscheiden sich nur durch die Nummern, die in großen roten Ziffern auf den Garagentoren stehen. Auf dem Boden liegen überall dicke Kabelstränge, vermutlich Strom- und Datenleitungen.
»Das ist das einfachste Geschäft der Welt«, erklärt der Alte, »wir leben alle im Überfluss. Die Häuser und Wohnungen sind vollgestopft, niemand will seine Sachen wegwerfen oder verschenken. Könnte man ja noch mal brauchen. Also mieten die Leute Stauraum. So teuer ist das nicht, einige lassen sogar monatlich abbuchen und tauchen nie wieder auf.« Er schüttelt den Kopf. »Die brauchen das Zeug gar nicht.«
Ein Typ mit einer Schubkarre kommt ihnen entgegen, er transportiert damit Elektronikware in Originalverpackung. Webcams, Mikrofone, elektronisches Spielzeug.
»Manche nutzen den Raum auch als Außenlager für ihr Geschäft.«
»Und wozu die Leitungen?«
»In einigen Garagen stehen Server oder Messgeräte oder was auch immer.« Er zeigt auf ein Codeschloss mit einem Tastenfeld, darunter steht ein Firmenname mit einem Logo. Die Firma heißt PEREGRIN, sie haben eine Kamera im Logo.
»Die sind hier für die Sicherheit zuständig«, sagt Smolek. »Machen Objektschutz und Überwachungstechnik. Haben selbst auch Räume angemietet und lagern hier ihr Zeug. Was genau da drin ist, geht uns aber nichts an. Solange der Inhalt nicht explodieren kann.« Er lacht in sich hinein, als wäre das ein guter Scherz gewesen, und Lennart will nicht weiter nachfragen.
Ob hier illegale Dinge vor sich gehen? Der Typ mit der Schubkarre hat sie angestarrt, als wäre es ihm gar nicht recht, wenn sie seinen Elektronikkram sehen. Ob er mit gestohlenen Waren handelt? Lennart merkt selbst, wie seine Fantasie mit ihm durchgeht. Eigentlich gibt es doch keinen Grund für solche Vermutungen. Sicher liegt es daran, dass er sich hier in Berlin noch so fremd fühlt.
Nachdem sie das Ende der Halle erreicht haben, folgt die nächste Halle und dann noch eine. Überall die gleichen Garagen, aus einigen dringt Licht, sie hören Leute telefonieren, einmal heult eine Bohrmaschine auf.
Endlich kommt der Alte zum Stehen, er atmet schwer und mit einem deutlichen Pfeifton.
»Deine«, sagt er und deutet auf die letzte Garage in der Reihe, sie trägt die Nummer 300. »Damit du es nicht zu weit zu dem Vogel hast.«
Lennart ist überrascht. »Meine? Zahlt meine Mutter dafür?« Was soll er nur mit einer Garage anfangen?
»Papperlapapp! Ich kannte deinen Vater gut, und dein Vogel wird dafür arbeiten.« Er zieht ein kleines Metallschild aus der Hosentasche und klebt es unter das Tastenfeld. Nicht zu fassen, da steht: »Lennart Wiesner«!
»Nun schau nicht so ungläubig! Als Code hab ich deinen Geburtstag gewählt. Kannst du jederzeit ändern, wenn du willst.« Er gibt tatsächlich Lennarts Geburtsdatum ein, die Kontrollleuchte wechselt von Rot auf Grün, und das Garagentor setzt sich in Bewegung. In dem Raum geht von selbst Licht an, drinnen stehen eine Gefriertruhe und ein altes Ledersofa. »Sind Eintagsküken drin, in der Truhe. Was du sonst noch brauchst, musst du dir selbst besorgen. Strom ist hier, Wasser gibt’s draußen bei der Voliere.«
Sieht so aus, als hätte der alte Smolek an alles gedacht. Nur eine Sache versteht Lennart nicht. Was meint er damit, dass Cosmo arbeiten soll? Aber er traut sich nicht, nachzufragen.
»Ist das okay für dich?«
»Ja, klar, natürlich.« Eigentlich ist nicht alles klar, aber wie soll er den alten Falkner überhaupt ansprechen?
»Nicht so schüchtern, du kannst Harro zu mir sagen. Ich hab deinen Vater gut gekannt, seine Eltern hatten damals den Schrebergarten neben meinem.« Er zieht ein Foto aus der Brusttasche und reicht es Lennart. »Behalt das, ich will eh ausmisten.«
Das Foto ist so vergilbt, als wäre es jahrelang dem Licht ausgesetzt gewesen. Es zeigt einen Jungen, nur mit Badehose und einem viel zu großen Lederhandschuh bekleidet. Er hält einen Wüstenbussard auf der Faust, streckt stolz die Brust heraus und strahlt über das ganze Gesicht.
»Mein Vater?« Lennart kann es kaum glauben.
Harro nickt. »Hat mir sehr leidgetan«, sagt er leise und lässt das Garagentor runterfahren. »Komm, ich zeig dir das Außengelände.«
Sie gehen zu einer schweren Metalltür, und wieder gibt der Alte eine Nummer ein. »Heißt ja nicht umsonst My Guard Storage«, erklärt er, »die sind hier sehr auf Sicherheit bedacht.«
Die Sonne blendet, als die Tür aufgeht. Vor ihnen liegt eine freie Fläche, es riecht nach Asphalt. Das Grundstück wird nach allen Seiten durch eine Mauer begrenzt, weit hinten stehen mehrere Container, rechts vor der Mauer gibt es drei Volieren. Große Drahtkäfige, sie sehen professionell aus und haben im hinteren Teil geschlossene Rückzugsräume für die Vögel. Lennart ist auf einmal erleichtert, bei dem Gang durch die Hallen hat er schon befürchtet, Cosmo müsste in einem geschlossenen Raum untergebracht werden, womöglich in einer der Garagen.
Aber diese Volieren sind perfekt, sie sind sogar noch größer als die in der Auffangstation seines Vaters. Vorne haben sie ein Edelstahlgitter mit einer Tür, alles wirkt stabil und sicher, Licht und Luft können ungehindert hinein.
Zwei Käfige sind leer, in der linken Voliere sitzt eine Schnee-Eule. Sie wirkt ein bisschen zerrupft und hat nur ein Auge geöffnet.
»Sag jetzt nichts«, brummt Harro, »das ist Berta. Die hatte ich schon, da hat Harry Potter noch am Daumen genuckelt.«
Diesmal kann Lennart über den Witz grinsen.
»Ist das alles?«, fragt er.
»Was meinst du?«
»Sie wollen Falkner sein? Mit einer alten Schnee-Eule?«
»Die anderen sind tot. Hat keinen Sinn mehr, sich neue anzuschaffen. Die Tiere würden mich überleben, und was würde dann aus ihnen?« Harro zeigt auf das Dach der Halle, aus der sie gerade gekommen sind. »Machen sich ganz schön breit, die verdammten Tauben, aber jetzt haben wir ja einen Jäger.«
In seinem gesunden Auge blitzt Jagdfieber auf. »Nimm ihm doch die Haube runter.«
Lennart zieht dem Falken die Lederhaube ab, sofort dreht Cosmo den Kopf in den Wind und schüttelt das Gefieder zum Zeichen, dass er bereit ist für die Jagd. Das also ist sein neues Revier.
Harro betrachtet ihn mit Kennerblick und versucht, ihm die Füße zu kraulen, aber Cosmo hackt sofort nach ihm. »Schönes Tier. Eine Nachzucht?«
»Wir haben ihn als Jungtier verletzt bekommen, er war nicht beringt.«
Der Alte stößt einen Pfiff aus. »Ein Wanderfalke aus der freien Natur! Du hast ihn von Anfang an?«
Lennart nickt. »Wir haben versucht, ihn auszuwildern. Hat nicht geklappt.«
»Wir müssen ihn auf mich anmelden, du bist noch zu jung.«
»Schon klar.« Natürlich weiß Lennart, dass er offiziell gar keinen Falken halten darf. Er hat weder den Jagd- noch den Falknerschein, beide kann man erst mit sechzehn machen. In der Auffangstation war das kein Problem, es war jederzeit ein Anleiter da.
Harro öffnet die Voliere und geht hinein. »Wir müssen ihn erst mal ans Gelände gewöhnen.«
Lennart weiß, was er meint. Eine neue Umgebung ist immer ein Risiko. Wenn die Tiere in der Luft sind, entscheiden sie jedes Mal eigenständig, ob sie zum Falkner zurückkommen wollen. Doch sie müssen den Weg auch finden.
Der Alte kommt mit der Langleine, aber Lennart schüttelt den Kopf. »Das ist er nicht gewohnt, er fliegt nur von der Faust.«
»Okay, du bist der Chef, es ist dein Risiko.« Harro zieht seinen Handschuh über, schnappt sich zwei Eintagsküken und geht los. Nach knapp zwanzig Metern dreht er sich um und hebt die Hand mit dem Futter. »Dann lass ihn mal fliegen, Jungfalkner!«
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+++ Auslesung Kameradrohne XE27 erfolgreich + Registrierung 2 Personen und 1 Vogel + Identifizierung 1 Person erfolgreich + autorisierte Person HM01harrosmolek + 1 Person unbekannt + Identifizierung eingeleitet + kein unbefugtes Eindringen vermutet + Vogelerkennungssoftware aktiviert + Vogel erfolgreich identifiziert als WFCm2014 + Kontrolle empfohlen + Alarmstufe 2 +++
Mia hat die Nase voll von diesem Typen, der seit Stunden den Internetzugang im Späti ihrer Eltern blockiert. Ausgerechnet am Prime Day! Da zählt jede Minute, wenn man gerade dabei ist, die Komponenten für einen neuen Rechner zusammenzustellen.
»Wird Zeit, dass ich ein eigenes Büro bekomme«, meckert sie ihre Mutter an und wirft dem Kunden einen bösen Blick zu.
»Er gehört zu Onkel Phongs Leuten, die umsonst …« Ihre Mutter flüstert es nur, den Rest kann Mia sich denken. Sie kennt diese Typen. Früher hatten sie einen brutalen Gesichtsausdruck, heute tragen sie Anzug und Krawatte, und ihre feingliedrigen Finger huschen nur so über die Tastatur. Sie zwingen Leute, geschmuggelte Zigaretten oder Waren zu überteuerten Preisen abzunehmen, und versprechen dafür Schutz. Seit Neuestem installieren sie sogar Kameras, damit sie den Warenverkehr und die Einnahmen besser überwachen können. Natürlich wird es so dargestellt, als sei das eine ganz besondere Dienstleistung. Zum Glück hält Onkel Phong seine Familie größtenteils aus seinen Geschäften raus, doch kleine Gefälligkeiten erwartet er schon. Wie zum Beispiel den kostenlosen Internetzugang für seine Leute.
Neugierig stellt sie sich hinter den Mann. Auf dem Bildschirm sieht man die Aufnahme aus einem anderen Späti. Sie kann den Kassenbereich genau sehen, die Frau hinter der Theke ist auch Asiatin. Oft sind das fleißige Leute, die mit der gesamten Familie arbeiten müssen und den Laden bis Mitternacht offen halten. Davon können sie dann gerade so leben, denn die angeblichen Beschützer kassieren den Löwenanteil der Einnahmen.
»Ist was?«, fragt der Typ mit einem scharfen Unterton.
Mia stemmt die Hände in die Hüften. »Nö, wollte nur mal sehen, wen Sie heute so erpressen.«
Er sieht ihre Mutter an. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr euch eine derart freche Göre leisten könnt. Auch wenn Phong dein Schwager ist.«
»Mai …«, sagt ihre Mutter streng.
»So heiß ich nicht!«
In dem Moment kommt ihr Vater von hinten in den Laden, er trägt eine Kiste mit Chips und Keksen. »Was ist hier los?«
»Deine Tochter Mai riskiert eine große Lippe«, sagt der Typ, dessen Laptop das Lan-Kabel belegt. »Sie ist schlecht gelaunt, weil ich euren kostenlosen Service nutze.«
Was für ein Idiot! Mia könnte ihm sofort an die Gurgel gehen. »Ich heiße Mia, und den Namen hab ich mir selbst ausgesucht. Das bedeutet nämlich die Widerspenstige.«
Ihr Vater verdreht die Augen. »Kommst du bitte mit nach hinten, Mai.« Es ist eine Aufforderung, keine Frage.
Der unsympathische Typ ruft ihnen hinterher: »Ja, mach ihr klar, wie schlecht ihre Aufsässigkeit bei deinen Kunden ankommt.«
Mia folgt ihrem Vater ins Hinterzimmer. Er schließt die Tür, damit niemand im Laden hören kann, was gesprochen wird.
»Heute ist Prime Day, und ich brauch noch Sachen für den neuen Rechner, die sind bis zu vierzig Prozent günstiger«, sprudelt es aus ihr heraus, »da kommt dieser Schutzgeldfuzzi von Onkel Phong und blockiert über Stunden unser Internet!«
Ihr Vater verschränkt die Arme. »Er hat leider recht. Du riskierst eine große Lippe, das wird sich dein Onkel nicht gefallen lassen. Wenn er sein Gesicht verliert, haben wir nichts zu lachen.«
»Aber …«
»Nichts aber. Das muss aufhören.«
»Ich denke, ich soll mit dem neuen Rechner eine Internetseite für den Späti einrichten und unseren Steuerkram darüber regeln.«
»Ja, schon.«
»Dann brauch ich auch gutes Netz. Unser WLAN funktioniert nicht mal.«
Ihr Vater schüttelt den Kopf. »Man kann nicht immer mit dem Kopf durch die Wand. Du musst ein wenig klüger sein, Mai.«
Wie sie es hasst, so genannt zu werden. Mai bedeutet Mandelblüte, das klingt brav und lieblich, geradezu ekelhaft. Zum Glück kennt an ihrer Schule niemand diesen Namen. Sie hat allen erklärt, in ihren Unterlagen sei ein Buchstabendreher. Und im Wing Tsun-Verein hat sie einfach die Anmeldepapiere gefälscht. Ist keinem aufgefallen.
»Ich glaube, es ist besser, wenn du keinen neuen Rechner im Laden aufbaust.«
Was soll das denn schon wieder? Der alte Laptop hängt sich ständig auf, es war ausgemacht, dass sie endlich den Rechner mit Octa-Core-Prozessor bekommt, von dem sie seit Ewigkeiten träumt. Ihre Eltern haben versprochen, die Hälfte der Kosten zu übernehmen, wenn sie ihn auch für den Laden einsetzt.
»Mach nicht so ein Gesicht«, sagt ihr Vater lächelnd, »ich habe mir überlegt, wir haben doch diese Garage gemietet. Da ist es warm und trocken, wir lagern da nur Spielsachen und Elektronik. Im Prinzip könnte man dort einen Computerarbeitsplatz einrichten. Ist nicht sehr komfortabel, aber ruhig.«
»Ehrlich?« Mia spürt, wie ihr Tränen in die Augen steigen. Ihr Paps ist doch der Beste. »Ein eigenes Büro für mich?«
Als er nickt, fällt sie ihm um den Hals. »Du wirst sehen, ich bau dir die tollste Internetseite, die ein Späti je gehabt hat. Und dann richte ich dir einen Warenkorb ein, und wir bieten einen Lieferservice an. Die kaufen das Zeug wie verrückt, und mit dem Online-Geschäft werden wir ganz unabhängig von der Familie, dann sind wir frei.«
Er klopft ihr auf den Rücken. »Es gefällt mir, wenn du dich für unser Geschäft einsetzen möchtest. Aber mach dir nicht zu viele Hoffnungen, die Familie gehört nun mal dazu. Und egal was du tust, es wird jemanden geben, der versucht, dir das Leben schwer zu machen. Du musst deinen Verstand einsetzen und deinen vorlauten Mund hüten.«
Mia löst sich von ihrem Vater und schaut ihm in die Augen. »Und immer schön brav und lieblich sein, nicht wahr? Fleißig und gut erzogen.«
»Natürlich, so verlangt es die Tradition, meine kleine Mandelblüte. Klugsein bedeutet auch, nicht aus der Deckung zu gehen, im Hintergrund zu bleiben.« Er tippt mit dem Finger auf die Lippen und schaut sich im Raum um.
Gibt es hier auch Kameras? Oder Abhörsysteme?
»Ein Büro in einer Garage kann eine kluge Entscheidung sein«, sagt er bedeutungsvoll. »Und außerdem wirst du dann unsere Kunden weniger nerven«, fügt er lächelnd hinzu.
Mia ist sprachlos, eigentlich hat sie geglaubt, ihre Eltern würden sich die Erpressungen ihres Onkels ohne Widerstand gefallen lassen.
»Eins musst du mir versprechen, mein Kind.« Wenn er so redet, erwartet er von ihr eine Verbeugung und keine Widerworte.
»Ich höre, mein Vater.«
»Wir haben dir einmal den Namen Mai gegeben. Auch wenn er dir nicht gefällt, dürfen wir als deine Eltern dich immer noch so nennen.«
»Ja, Vater«, sagt Mia folgsam, »ich würde mich freuen, wenn du mich so nennst.«
Lennart sitzt im Bus, aber wenn er ehrlich ist, hat er mal wieder keine Ahnung, ob es der richtige ist. Berlin ist einfach nur riesig. Die Menschen strömen so selbstverständlich durch die U-Bahn-Stationen, als würden sie von einer unsichtbaren Macht gelenkt. Er ist anscheinend der Einzige, der gar keine Orientierung hat. Dabei war er früher bei den Pfadfindern derjenige, der sich am besten im Wald zurechtfand. Anfangs hat seine Mutter ihn noch zu den Hallen gefahren, doch seit sie ihre neue Arbeit angefangen hat, versucht Lennart allein seinen Weg durch die Stadt zu finden. Manchmal braucht er nur eine halbe Stunde, an anderen Tagen kommt er erst am Mittag bei Cosmo an. Immerhin sieht er auf diese Weise eine Menge von Berlin. Es ist erstaunlich, wie viele Anzeichen für Wildtiere es in der Stadt gibt. Kein Wunder, Berlin ist die Stadt mit der höchsten Greifvogeldichte Deutschlands. Vielleicht findet Cosmo hier sogar eine Partnerin.
»Scheint ja lustig zu sein, was du da in den Wolken beobachtest.«
Eine kleine Asiatin in Latzhose und weißem T-Shirt sieht ihn herausfordernd an. Sie sitzt auf der anderen Seite des Ganges, neben ihr auf dem Platz steht ein Karton. Ihre schwarzen Haare hat sie zu einem wilden Knoten hochgebunden, die Hose ist voller Farbflecken, und die Schnürsenkel der Turnschuhe hängen lose heraus.
Lennart sieht sich um, der Bus ist fast leer. »Du meinst mich?«
Sie nickt und trommelt auf ihren Karton. »Und wo steigst du aus?«
Wenn er das wüsste. Dieser Bus fährt mindestens vier Stationen an, die irgendwo in der Nähe der Halle liegen.
»Du bist ganz schön neugierig.«
Sie zuckt die Schultern und sagt nichts mehr.
An der nächsten Haltestelle steigt vorn ein Jugendlicher ein, er hält eine Bierflasche in der Hand und schaut sich mit einem aggressiven Blick um. Morgens um halb zehn. In Wahrheit ist Lennart extra in den Bus eingestiegen, weil er genau solchen Typen in der U-Bahn aus dem Weg gehen wollte.
Der Typ kommt schwankend durch den Gang auf sie zu, dabei blickt er mit jedem seiner Schritte links und rechts zwischen die Sitze. Noch etwa fünf Sitzreihen, alle sind leer. Lennart fühlt nach dem Supertool in seiner Hosentasche, aber was nützt ihm in dieser Situation ein Taschenmesser? Er schaut auf die Anzeigetafel, während er im Sitz nach unten rutscht. Wie war die Durchsage? Noch drei Stationen? Soll er vorher aussteigen?
Auf einmal sitzt die kleine Asiatin neben ihm.
»Du bist kein Opfer«, sagt sie leise. »Setz dich gerade hin und rede mit mir.« Plötzlich lacht sie so laut auf, als habe er den besten Witz der Welt erzählt. »Und dann haben diese Verrückten auch noch einen Preis dafür bekommen, stell dir das mal vor!«
Lennart hat überhaupt keine Ahnung, wovon sie redet, aber die kurzen, leisen Befehle rütteln ihn auf. Er streckt den Rücken durch und sieht angestrengt aus dem Fenster, denn jetzt zeigt sie hinaus, als hätte sie dort etwas entdeckt.
»Hast du das gesehen? Da steht einer mit einem Eselskarren am Taxistand. Och, war der süß, der Esel. Mit Puschelohren.« Sie hält ihre Hände an die eigenen Ohren, wackelt mit ihnen und kichert albern.
Natürlich war da nirgendwo ein Esel zu sehen. Selten hat Lennart einen solchen Quatsch gehört, trotzdem bemüht er sich mitzulachen. Der Typ mit der Bierflasche torkelt vorbei, den Blick nach vorn gerichtet.
»Der ist auf der Suche nach einem Opfer«, sagt das Mädchen wieder mit leiser, klarer Stimme. »Niemals auf den Boden schauen, das macht dich nur klein. Am besten tust du so, als hättest du ihn nicht gesehen und wärst grad total beschäftigt. Wer Opfersucher freundlich ignoriert, wird nicht zum Opfer.« Sie sieht ihm in die Augen. »Alles klar?«
Als er nickt, holt sie ihren Karton rüber und setzt sich wieder neben ihn. »Ich könnte Hilfe beim Tragen brauchen.«
»Hm.« Irgendwo hier muss er raus. Die nächste oder übernächste Haltestelle.
Sie sieht ihm forschend ins Gesicht. »Kein Plan? Ich dachte mir, dass du dich nicht auskennst. Du hast schon unsicher gewirkt, bevor der Typ aufgetaucht ist.«
»Ich will zu einer Lagerraumhalle.«
Sie grinst. »My Guard Storage?«
»Du kennst die?«
Sie grinst nur noch mehr. »Das Schicksal meint es gut mit mir. Du trägst meinen Karton, und ich zeige dir den Weg. Abgemacht?« Sie hebt die Hand zum Abklatschen, aber Lennart schlägt nicht ein. Er fühlt sich überrumpelt.
Sofort zieht sie die Stirn in Falten. »Hast du ein Problem mit mir?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Na, dann. Komm!«
Sie steigen an der richtigen Haltestelle aus, jetzt erkennt er die Umgebung auch.
»Ich heiße übrigens Mia«, erklärt sie, während sie zielstrebig losstürmt. Der Karton ist verdammt schwer, kein Wunder, dass sie einen Träger gesucht hat. Auch wenn sie toll reagiert hat, als der Betrunkene aufgetaucht ist, ein bisschen aufdringlich ist sie schon. Andererseits kennt er niemanden hier, und sie ist vermutlich in seinem Alter. Auch wenn man das schwer schätzen kann, so klein und dünn, wie sie ist.
»Soll ick mir ’n Namen für dich ausdenken?« Sie hat unverkennbar einen Berliner Akzent.
Wieder fühlt er sich überrumpelt, aber er nennt ihr seinen Namen. Bestimmt werden sie sich nie im Leben wiedersehen, was soll er groß erzählen. Sie sagt auch nichts mehr, und Minuten später kommen sie am My Guard Storage an. Mia macht keine Anstalten, ihm den Karton aus den Händen zu nehmen.
»Ich muss zu Halle drei«, sagt sie. »Und du?«
Hätte er sich denken können.
Neben der Eingangstür sitzt ein Obdachloser. Er stickt mit Goldfäden auf einem großen, schweren Stoffstück und muss vermutlich aufpassen, dass er nicht aus Versehen die verfilzten Zotteln seines Bartes festnäht. »Ich sage euch, die dunkle Zeit ist angebrochen«, verkündet er mit lauter Stimme. »Hütet euch vor den Augen, die überall lauern. Findet die Brücke in euer tiefstes Inneres, und macht euch auf die Suche nach der Freiheit. Nur dann könnt ihr den Schlüssel nutzen, den ihr bekommen habt.«
Mia rollt die Augen, gibt den Code ein und hält Lennart die Tür auf. »Den nennen alle nur Sticker«, erklärt sie drinnen. »Der redet immer so ein geschwollenes Zeug.«
Sie kennt sich also aus. Jetzt ist Lennart doch neugierig. »Was war noch mal in dem Karton, und was genau machst du hier?«
»Mein neuer Computer«, sagt sie lässig, »vielmehr ein paar Einzelteile dazu.«
Während sie durch die Hallen gehen, erzählt sie davon, welche Komponenten sie noch einbauen muss und was für ein Glück es ist, hier superschnelles Internet zu haben. Sie ist dreizehn, genau wie er, und scheint eine Menge Ahnung von Technik zu haben.
»Und du so? Was machst du hier?«
»Ich hab einen Vogel, um den ich mich kümmern muss.«
Sie sieht ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, fragt aber nicht weiter. Als sie an ihrer Garage ankommen, stellt er den Karton ab, während sie das Garagentor öffnet. Drinnen herrscht ein wildes Durcheinander. Auf dem kleinen Schild unter dem Codeschloss steht »Chung Linh – Kiosk, Spätkauf, Import, Export«.
»Danke fürs Tragen.« Sie kann also doch freundlich sein und sogar ein bisschen lächeln.
»Gern geschehen. Man sieht sich.«
Er will weitergehen, doch sie hält ihn am Ärmel fest. »Zeigst du mir deinen Vogel?« Sie wartet seine Antwort nicht erst ab, sondern schiebt schnell den Karton in die Garage und lässt das Tor runterfahren.
Auch wenn Lennart sie wieder ein bisschen aufdringlich findet, freut er sich über ihr Interesse. Er ist sogar gespannt, was sie sagt, wenn sie Cosmo das erste Mal sieht.
Als sie auf die Außenfläche gehen, rennt Mia sofort auf die Volieren zu. »Boah, ich dachte erst, du hast einen Papagei oder so. Und dann fiel mir ein, dass der alte Smolek eine Schnee-Eule hat.« Mit aufgerissenen Augen steht sie vor der Voliere und zeigt auf Cosmo. »Das ist er? Das ist dein Vogel?« Sie ist total aufgedreht und neugierig. »Krass, ein echter Raubvogel! Was ist das für einer? Was frisst der so? Wo hast du ihn her? Darf er hier auch fliegen? Wie heißt er?« Sie legt ihre Hände an das Drahtgitter, steckt ihre Nase hindurch und kann sich gar nicht sattsehen.
Lennart gefällt ihre Begeisterung, er macht sie mit Cosmo bekannt. »Wanderfalken sind mit mehr als dreihundert Stundenkilometern die schnellsten Tiere der Welt«, erklärt er ihr. »Sie fangen ihre Beutevögel im Flug. Seit Cosmo hier auf die Jagd geht, sind die Tauben schon viel vorsichtiger geworden. Er muss jedes Mal größere Kreise ziehen, um Beute zu finden.« Er zeigt auf die Hochhäuser rundherum. »Dabei kann Cosmo die Gefahren noch nicht abschätzen, die in einer solchen Stadt lauern. Vielleicht gibt es hier verrückte Greifvogelhasser, die sich mit Armbrust oder Luftgewehr auf die Lauer legen.«
Mia sieht ihn mit großen Augen an.
»Zu Hause auf dem Land haben wir oft erlebt, dass Tiere in der Auffangstation abgegeben wurden, die absichtlich verletzt oder getötet wurden. Und das hier ist eine Millionenstadt!«
»Das ist wirklich krass.«
»Ich habe jedes Mal Angst, wenn ich ihn fliegen lasse.« Lennart wundert sich, wie offen er mit ihr darüber reden kann. »Aber es wäre auch schrecklich, wenn Cosmo immer nur eingesperrt leben müsste.«
Mia nickt verständnisvoll. »Der verrückte Sticker würde jetzt wieder einen Vortrag über Freiheit halten«, sagt sie nachdenklich. »Es muss sich unglaublich anfühlen, wenn man einfach so in den Himmel aufsteigen kann.« Mit einer schwungvollen Geste hebt sie einen Arm in die Luft und schaut hinterher, als ob sie wirklich etwas hochgeworfen hätte. Auf einmal wirkt sie ganz träumerisch. »Stell dir vor, du könntest da oben deine Runden über Berlin ziehen und die Welt von oben sehen. Ganz frei und unbeschwert. Niemand überwacht dich, niemand hat Macht über dich.«
Was sie wohl damit meint? Wird Mia überwacht? Hat jemand Macht über sie? Bisher hat Lennart einen ganz anderen Eindruck von ihr. Sie kommt ihm vor wie eine Person, die immer ihren Willen durchsetzt.
Jetzt sieht Mia ihm direkt in die Augen. »Und wenn man wollte, könnte man einfach so davonfliegen. Im Grunde können wir alle jederzeit verloren gehen. Es gibt keine Sicherheit, hier in Berlin verschwinden jeden Tag Kinder.«
Lennart denkt an seine Versuche, sich in Berlin zurechtzufinden. »Eben im Bus war ich ziemlich planlos.« Er lacht. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich in den letzten Tagen fast verloren gegangen wäre.«
»Aber nur fast«, gibt sie lächelnd zurück, »und jetzt weißt du ja, wen du nach dem Weg fragen kannst. Ick bin Berlinerin.«
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Als Lennart zwei Tage später die Tür zum Hof öffnet, spürt er sofort die Unruhe bei Cosmo, anders als sonst. Der Falke hat die Flügel angehoben, sein Schnabel ist halb geöffnet, seine Augen verraten äußerste Konzentration.
»Hey, Cosmo, was ist los? Hast du Besuch von einem Wanderfalkenweibchen gehabt? Oder hat Harro sich als Vogelscheuche verkleidet?«
Er bindet sich die alte, speckige Futtertasche um, in die er drei Eintagsküken gesteckt hat. Sie verströmt immer noch diesen typischen Ledergeruch wie früher, als er noch ein kleiner Junge war. Damals trug sein Vater die Tasche, und er durfte beim Füttern in der Auffangstation helfen.
Als er die Tür der Voliere öffnet, fliegt der Falke sofort auf seine Faust. Sorgfältig legt Lennart die Lederbänder in den Handschuh und umschließt sie, dann nimmt er den Vogel mit auf die Freifläche. Eine Weile gehen sie hin und her, Cosmo dreht ständig den Kopf und beobachtet alles ganz genau. Er wirkt nervös, eigentlich ist das untypisch für ihn.
»Weißt du, Cosmo, es ist seltsam hier in Berlin. Nicht nur du fühlst dich fremd, mir geht es genauso. Mir fehlt unser Zuhause, die Station, meine Freunde aus der Schule. Ich hab keine Ahnung, wie ich hier klarkommen soll, aber meine Mutter ist richtig glücklich mit ihrem neuen Job. So habe ich sie seit einem Jahr nicht mehr erlebt. Ich will ihr das nicht kaputtmachen.«
Endlich wird der Vogel ruhiger. Lennart holt die Haube hervor und hält sie ihm hin, damit der Falke sie sehen kann. »Eigentlich brauchst du die hier nicht, du sollst nur weiterhin daran gewöhnt bleiben. Sonst wird es irgendwann schwierig, dich zu transportieren.«
Wie so oft hat er den Eindruck, Cosmo würde jedes Wort verstehen, denn jetzt streckt er sogar den Kopf vor. Er hat kein Problem mit der Haube.
Lennart streift sie ihm über und geht weiter mit ihm umher. »Heute ist Harro mal nicht dabei. Er hat in den Hallen zu tun und weiß mittlerweile, dass wir beide klarkommen.« Cosmo sitzt still auf seiner Faust. Es tut gut, mit ihm zu reden. »Meine Mutter meint, ich soll zu einem Therapeuten gehen. Wegen meiner Migräne und weil ich mich nicht daran erinnern kann, was damals passiert ist. Dabei hat der Arzt gesagt, das sei ganz normal. Vielleicht kommt die Erinnerung nie zurück. Es ist typisch für Unfallopfer, wenn sie die Minuten vor dem Crash vergessen. Hat irgendwas mit dem Kurzzeitgedächtnis zu tun.«
In diesem Moment fliegt ein Schwarm Tauben auf.
»Hey, da ist Arbeit für dich.«
Er zieht die Haube ab, der Falke reckt den Kopf und sieht sich aufmerksam um.
»Alles klar?«
Cosmo schüttelt sich und schlägt kurz mit den Flügeln, um zu zeigen, dass er bereit ist. Sie sind ein eingespieltes Team.
Lennart atmet tief ein. Jedes Mal, wenn er den Falken mit Schwung in die Luft wirft, muss er all seinen Mut zusammennehmen. Noch ein Atemzug, dann schleudert er den Arm nach vorn und lässt die Bändchen frei. Er hört das vertraute Flattern, sieht den Vogel aufsteigen, fühlt die grenzenlose Freiheit, als würde er selbst fliegen.
Die Tauben schlagen wild mit den Flügeln. Sofort erkennen sie den Feind und beginnen, eng zu kreisen. Der Falke fliegt höher, die dunkelgrauen Querstreifen auf der hellen Unterseite sind noch gut zu erkennen. Er dreht einen Kreis, dann noch einen, ein typischer Spähflug. Normalerweise dauert er nicht lange. Sobald der Jäger seine Beute im Visier hat, folgt der reißend schnelle Steilflug hinab. Die Tauben sollen keine Chance haben, sich in Sicherheit zu bringen.
Diesmal ist es anders. Cosmo fliegt weiter Runden, er gibt Warnlaute von sich, ein durchdringendes, scharfes »Eek-eek-eek-eek«, kein normales Jagdgeschrei. Die Tauben sind längst weg, nur der Greifvogel ist noch am Himmel. Er schraubt sich höher und höher, seine Schreie werden immer kürzer und schriller. Irgendetwas stimmt hier nicht! Die Anspannung steigt, ein Gefühl von Bedrohung, als wäre da etwas am Himmel, von dem Gefahr ausgeht. Doch sosehr er sich auch bemüht, Lennart sieht nichts Ungewöhnliches.
Ausgerechnet heute ist Harro nicht dabei. Bisher hat die Jagd hier problemlos geklappt, aber die Luftjäger sind nun mal empfindlich gegen jede Art von Störung. Was, wenn Cosmo vor irgendetwas Angst hat und sich nicht traut, zurückzukommen?
Lennart holt ein Eintagsküken aus der Tasche, schwenkt es lockend durch die Luft und klemmt es im Handschuh ein. Der Falke reagiert nicht, er ist schon so weit weg, dass er seine Pfiffe wahrscheinlich nicht mehr hören kann. Aber er müsste doch das gelbe Küken erkennen. Schließlich können Falken viel besser als Menschen sehen, sie erspähen Tauben in einer Entfernung von acht Kilometern.