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Man nennt ihn den Drachen, aber Natalie Kaleta traut sich in seine Höhle. Die junge Galerie-Assistentin sollte eigentlich nur einige Kunstwerke bei Ronan Mitchell abholen. Nun verbringt sie jedoch das Wochenende bei dem für seine Launen bekannten, attraktiven Künstler, da ihr Wagen einen Abhang hinuntergerutscht ist. Tatsächlich ein Glück für beide, denn sie verbringen sehr genussvolle Nächte … Aber Natalie träumt von einem Mann und eigenen Kindern. Ronan dagegen zuckt schon bei dem Wort »Familie« zurück. Ob Natalie den Drachen zähmen kann? »Sexy, gefühlvoll und gute Unterhaltung.« Kirkus Reviews »Natalie ist charmant, witzig und eine wunderschön menschliche Protagonistin, ihre Verbindung zu Ronan ist einzigartig.« Publishers Weekly
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Seitenzahl: 444
Zum Buch:
Ronan hat sich für ein Leben in der Einsamkeit der Berge entschieden. Hier kann er seine Kunst erschaffen und hat Ruhe vor seinem berühmten Vater, der ihn und seine Brüder mit überzogenen Erwartungen quält. Außerdem kann er hier vergessen, dass seine Eltern ihm seine wahre Mutter verschwiegen haben und er nur ein Halbbruder ist. Als er aber der lebensfrohen und fröhlichen Natalie begegnet, verspürt Ronan wieder Lust, unter Leute zu gehen und nach Happily Inc zu fahren. Solange es bei einer Beziehung ohne Verpflichtungen bleibt, tut Natalie ihm gut. Sie darf sich nur nicht mehr von ihm versprechen …
Zur Autorin:
Die SPIEGEL-Bestsellerautorin Susan Mallery unterhält ein Millionenpublikum mit ihren Frauenromanen voll großer Gefühle und tiefgründigem Humor. Mallery lebt mit ihrem Ehemann und ihrem kleinen, aber unerschrockenen Zwergpudel in Seattle.
Lieferbare Titel
MIRA® TASCHENBUCH
Copyright © 2019 by MIRA Taschenbuch in der HarperCollins Germany GmbH
Copyright © 2018 by Susan Mallery, Inc. Originaltitel: »Why Not Tonight« erschienen bei: HQN Books, Toronto
Covergestaltung: bürosüd, München Coverabbildung: www.buerosued.de Lektorat: Stefanie Kruschandl
ISBN E-Book 9783955768812
www.harpercollins.de Werden Sie Fan von MIRA Taschenbuch auf Facebook!
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
Als ich neun Jahre alt war, gingen meine Eltern mit mir zum Augenarzt, der mir sagte, ich würde ab jetzt eine Brille tragen müssen. Ich war am Boden zerstört und habe geschluchzt, wie nur ein kleines Mädchen mit gebrochenem Herzen es tut, das glaubt, nun würde ihm nie wieder jemand sagen, dass es hübsch sei.
Als ich fünfzehn war, habe ich meinen Vater überzeugt, mir Kontaktlinsen zu kaufen. (Und ich schäme mich nicht, zuzugeben, dass ich seine Schuldgefühle wegen der Scheidung als Druckmittel eingesetzt habe, um meinen Willen durchzusetzen.) Die Ordnung im Universum war wiederhergestellt, auch wenn Kontaktlinsen eine echte Qual sind, das kann ich euch sagen.
Eine LASIK-Operation später benötigte ich weder Kontaktlinsen noch Brille. Aber meine Sehstärke ließ im Laufe der Zeit nach, und jetzt brauche ich wieder eine Brille zum Autofahren und um mich in größeren Menschenmengen zurechtzufinden. Es ist genügend Zeit vergangen, sodass es mir nichts mehr ausmacht, sie zu tragen, aber ich habe mich immer gefragt, warum es nicht mehr Heldinnen in Liebesromanen gibt, die eine Brille tragen. Auch auf dem Buchcover. Nun, jetzt gibt es wenigstens eine. Diese Geschichte ist für euch alle da draußen, die ebenfalls eine Brille tragen. Möget ihr immer wissen, wie schön ihr seid.
Natalie Kaleta fuhr in die Berge hinauf, bereit, den Drachen am Bart zu packen und aus seiner Höhle zu ziehen. Sie war mutig, sie war furchtlos, sie war auf einer Mission. Nur, hieß es wirklich »den Drachen am Bart packen«? Hatten Drachen überhaupt Bärte? Und wenn ja, galt das dann nur für die männlichen Drachen, oder mussten die Mädchen sich auch mit einem Bart herumschlagen? Das wäre ziemlich unfair.
Okay, dieses Drachenbart-Thema war also höchst fraglich, aber bezüglich der Höhle war sie sich sicher. Drachen hatten Höhlen. Cool aussehende Höhlen mit geheimen Zimmern und verborgenen Schätzen und vielleicht sogar einem Kronleuchter, weil der in einer Höhle super aussehen und sein Licht von den Schuppen des Drachen wunderbar reflektiert würde.
Wobei der Strom natürlich ein Problem war. Ein Drache konnte ja schlecht den örtlichen Energieversorger anrufen und sich eine Leitung legen lassen. Wie sollte er mit seinen Klauen die Telefonnummer eintippen? Und wie würde er überhaupt für das Telefon bezahlen?
Kerzen gingen. Drachen waren groß genug, um die Kerzen an einem Kronleuchter zu entzünden und bei Bedarf zu ersetzen … trotzdem, wenn ein Drache kein Telefon kaufen konnte, wie sollte er dann Kerzen kaufen? Er könnte sie natürlich selbst herstellen. So schwer war das nicht. Natalie hatte einmal einen Kurs besucht, als sie in Betracht gezogen hatte, Kunstwerke aus Wachs herzustellen.
Okay, also ein Kronleuchter mit Kerzen, ein bartloses Drachenmädchen und kein Telefon.
Mit dieser Vorstellung war Natalie zufrieden. Sie bog von der Hauptstraße ab, als ihr Navi es ihr sagte, und fuhr weiter in die Berge hinauf. In den Regen. Wobei Regen nicht ansatzweise die Wassermengen beschrieb, die vom Himmel fielen. Monsun wäre passender. Es war Ende August und somit immer noch jene Zeit, in der es in der Wüste wie verrückt regnete.
Natalies klappriger, fünfundzwanzig Jahre alter Volvo schnaufte, als die Straße steiler wurde. Sie schaltete runter, sprach stumme Worte der Ermutigung und wünschte sich, der Drache möge ihrem Auto einen kleinen Schubs geben … oder sie auf seinem Rücken mitnehmen.
»Du schaffst das«, versicherte sie ihrem Wagen und hoffte, dass das nicht gelogen war, denn sie wollte nicht im Regen – oder überhaupt – am Straßenrand liegen bleiben. Ehrlich, wann war es schon passend, mit dem Wagen im Nirgendwo zu stranden?
Erneut bog sie auf Anweisung ihres Navis rechts ab. Die Straße wurde enger und der Regen stärker.
Das macht keinen Spaß, dachte sie und fuhr aus Rücksicht auf den Motor ihres Wagens langsamer. Sie hätte sich nicht freiwillig melden sollen, um nach Ronan zu sehen. Nur – irgendwer musste es ja tun. Seit mehr als einer Woche hatte niemand etwas von ihm gehört, und er reagierte auch nicht auf ihre Nachrichten.
Es war nicht ungewöhnlich, dass Ronan Mitchell sich tagelang zu Hause in seiner Arbeit vergrub, aber normalerweise antwortete er immer, wenn sie ihm eine Nachricht schickte. Als Teilzeit-Managerin der Willow Gallery war Natalie für alle einheimischen Künstler verantwortlich. Das waren genau drei. Nick, Mathias und Ronan. Die ersten beiden machten nie irgendwelche Probleme, aber Ronan war eine riesige, irgendwie gut aussehende Nervensäge.
Sicher, seine Arbeit war umwerfend. Was er mit Glas anstellen konnte – wie er den Eindruck von Bewegung erschuf –, das war unglaublich. Doch er war nicht besonders freundlich, und, was für sie noch schlimmer war: Wenn er verschwand, so wie jetzt, schottete er sich vollkommen ab. Manchmal musste sie ihm sogar eine Nachricht schreiben, um zu erfahren, ob er zu Hause war und schmollte oder ob er tot war. Aber auf diese Nachrichten bekam sie immer eine Antwort. Nur in den letzten fünf Tagen nicht.
Niemand hatte etwas darüber gehört, dass er auf Reisen war. Ronan reiste nicht gern, und wenn er es mal tat, dann nur geschäftlich. Daher wussten in solchen Fällen alle in der Galerie, wo er war. Doch das war diesmal nicht der Fall. Seine Brüder hatten auch keine andere Erklärung für dieses spurlose Verschwinden als Ronans üblichen Drang, sich von der Welt zurückzuziehen – oder, wie sie es nannte, das Schmollen des brütenden Künstlers.
Sie hatte versucht, ihre Chefin zu überreden, nach ihm zu sehen. Atsuko hatte allerdings nur gelacht und gesagt, dass Natalie ihr die Benzinkosten in Rechnung stellen solle, falls sie tatsächlich hinfuhr. Was sie gerade tat. Während sie sich durch den strömenden Regen den Berg hinaufkämpfte, wünschte sie sich, es gäbe wirklich Drachen. Oder breitere Leitplanken, für den Fall, dass ihre Reifen den Grip verloren.
»Nur noch ein kleines Stück«, flüsterte sie.
Sie war erst ein paar Mal bei Ronan gewesen. Einmal, um einige Pakete abzuliefern – ja, mit dem Job als Büroleiterin einer Galerie ging eine wahnsinnige Verantwortung einher –, und einmal, um eines seiner Kunstwerke für die Galerie abzuholen. Beide Male hatte er sie nicht in sein wunderschönes Haus gebeten. Wenn sie es heute schaffte, den Berg hochzukommen, würde sie darauf bestehen, eine Führung zu bekommen … und einen Snack. Das war ehrlich gesagt das Mindeste, was der Mann tun konnte, nachdem er nicht zugegeben hatte, tot zu sein.
Außer, er war es doch.
Daran wollte Natalie nicht denken. Aber aus welchem Grund hatte Ronan sich dann nicht gemeldet? Vielleicht ist er verletzt, dachte sie. Nur, wäre das besser? Wenn er so schwer verletzt war, dass er ihr keine Nachricht schicken konnte, dann könnte da eine Menge Blut sein. Und auch wenn sie eine sehr patente Frau war, mit Blut kam sie nicht gut zurecht.
»Mir geht es gut«, sagte sie sich und schluckte die Galle hinunter, die in ihr aufstieg. »Da ist kein Blut. Nur Regen. Sieh doch!«
Sie umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen und fuhr weiter. Der Regen rauschte die Straße hinunter, und am Himmel leuchteten Blitze auf. Sie verlangsamte das Tempo noch mehr, weil ihr Auto sich lauthals beschwerte. Irgendwo im Motorraum fing es an zu klopfen. Dann flammte eine unheilvolle rote Lampe im Armaturenbrett auf.
Sie war sich ziemlich sicher, schon in der Nähe seines Hauses zu sein. Bei dem starken Regen sah alles anders aus, aber wenn sie sich nicht irrte, müsste hinter der nächsten Kurve …
Natalie schrie auf, als ihr Wagen in eine Schlammlawine geriet und langsam von der Straße rutschte. Die Panik hatte sie noch nicht ganz erfasst, da prallte der Wagen auch schon gegen etwas Hartes. Ihr Körper zuckte, der Motor erstarb, und dann gab es nur noch das Geräusch des fallenden Regens.
»Das kann nicht gut sein«, murmelte sie und zog den Schlüssel aus dem Zündschloss. Anschließend löste sie den Gurt, blinzelte durch den dichten Vorhang aus Regen. War das Ronans Haus? Ja, offenbar schon. Sie schien es bis zu seiner Einfahrt geschafft zu haben, bevor dann das Unglück geschehen war.
»So ein Mist.«
Sie war gegen einen Baum gedrückt worden. Einen großen Baum, der vermutlich eine ziemlich große Delle in ihrem klapprigen Fahrzeug hinterlassen hatte. Auch wenn Atsuko angeboten hatte, Natalie die gefahrenen Meilen zu ersetzen, würde ihre Chefin wohl kaum bereit sein, die zusätzlichen Kosten für die Reparatur zu übernehmen. Außerdem hatte Natalies Lieblingsmechaniker ihr beim letzten Werkstattbesuch gesagt, dass man für das Auto nichts mehr tun könne und es eine ordentliche Beerdigung verdient habe.
Woran sie arbeitete. Also nicht an der Beerdigung, sondern daran, sich ein neues Auto zuzulegen. Sie hatte Ersparnisse, die jedoch noch nicht ganz reichten. Egal. Erst einmal musste sie es schaffen, zum Haus zu kommen, ohne weggespült zu werden.
Natalie schaute zu dem Regenschirm, den sie mitgebracht hatte, und wusste, dass er vollkommen nutzlos war. Also zog sie den Reißverschluss ihres leichten Mantels zu, schnappte sich ihre Handtasche und öffnete die Wagentür.
Sofort prasselte der Regen auf sie ein, doch das war nichts im Vergleich zu dem kalten, nassen Schlamm, der um ihre Knöchel wirbelte. Sie schrie auf und wollte zum Haus rennen, nur ging das leider nicht. Bei jedem Schritt musste sie mühsam den Fuß aus dem Matsch ziehen, bevor sie ihn wieder aufsetzen konnte. Der Schlamm sickerte in ihre Stiefeletten und spritzte an ihren Beinen hoch. Hinzu kam, dass die Temperaturen bei dem Sturm stark gefallen waren und Natalie nun vor Kälte zitterte.
Innerhalb weniger Minuten war sie bis auf die Haut durchnässt. Die Haare klebten ihr am Kopf, Wasser rann von ihrer Brille, und nach ungefähr fünf Schritten verlor sie einen Schuh.
»Verdammt sollst du sein, Ronan Mitchell«, rief sie in den Sturm hinein. »Du bist besser tot, denn sonst bringe ich dich eigenhändig um.«
Das Haus, eine riesige Festung aus Stein, das normalerweise aussah, als wäre es aus der Bergflanke gewachsen, war bei der Sintflut kaum zu erkennen. Natalie ging weiter, denn wenn sie stehen blieb, würde sie vom Wasser bergab geschwemmt werden. Sie kämpfte sich zur Haustür durch und drückte auf die Klingel, bevor sie anfing, an die Tür zu hämmern.
Ohne Vorwarnung wurde die Tür geöffnet, sodass Natalie beinahe ins Haus fiel. Ronan Mitchell starrte sie mit weit aufgerissenen Augen und verwirrter Miene an.
»Da draußen tobt ein Unwetter, Natalie. Was machst du hier?«
»Ein Unwetter? Wirklich? Ist mir gar nicht aufgefallen, als ich von der Straße gerutscht und auf meinem Weg hier herauf beinahe ertrunken wäre. Wow. Ein Unwetter! Wer hätte das gedacht?«
Er packte sie am Arm und zog sie ins Haus. »Ich weiß, du bist sauer. Denn du bist sonst nie sarkastisch. Was ist passiert?«
»Was passiert ist?«, fragte sie, während sie auf seinen Fußboden tropfte. »Das ist nicht die Frage.« Sie versuchte, sich die Feuchtigkeit aus dem Gesicht zu wischen, bis ihr auffiel, dass ihre nassen Haare die Quelle des konstanten Wassernachschubs waren. »Die Frage ist: Warum bist du nicht tot?«
Ronan starrte sie eine Sekunde lang an. »Hast du dir den Kopf gestoßen?«
»Nein. Habe ich nicht. Ich bin gegen einen Baum gedrückt worden, was übrigens nicht meine Schuld war. Das war der Schlamm.« Sie fing an, sichtlich zu zittern; ohne Zweifel kam das vom Schock und von der Klimaanlage im Haus. »Du bist nicht an dein Telefon gegangen. Ich habe dir Nachrichten geschickt, dann habe ich dich ungefähr elf Mal angerufen. Alle haben sich Sorgen gemacht, und da die anderen alle wichtiger sind als ich, wurde mir die Aufgabe übertragen, hier raufzufahren und nach dir zu sehen.«
»Ich habe mein Handy im Studio in der Stadt gelassen. Genauer gesagt: in meinem Spind.« Er zuckte mit einer Schulter. »Deshalb hast du es vermutlich nicht klingeln gehört, als du mich angerufen hast.«
»Im Studio?« Ihre Stimme wurde lauter. »Du hast dein Handy bei der Arbeit gelassen, und deshalb musste ich den ganzen Weg hierherkommen?«
Er zuckte wieder mit einer Schulter. »Sorry.« Dann sah er sie von oben bis unten an. »Du bist durchnässt und zitterst. Komm, trocknen wir dich erst einmal.« Er drehte sich um und ging den langen Flur hinunter.
Natalie versuchte, ihm zu folgen, als ihr auffiel, dass sie nur noch einen Schuh hatte. Sie zog ihn aus und ging Ronan barfuß, tropfend und zitternd hinterher. Nicht gerade der beste Moment ihres Lebens.
»Das ist alles deine Schuld«, sagte sie, als sie ihn eingeholt hatte. »Du hättest …«
»Ich habe kein Festnetz.«
»Dann hättest du eine E-Mail schicken können«, konterte sie triumphierend. »Als dir aufgefallen ist, dass du dein Handy vergessen hast, hättest du einem von uns eine E-Mail schreiben sollen.«
»Ich dachte nicht, dass es wichtig wäre. Es waren doch nur ein paar Tage.«
»Fünf. Es ist fünf Tage her, seit dich irgendjemand gesehen hat.«
Er sah sie unter erhobenen Augenbrauen an.
»Ach bitte. Ich weiß das nur, weil es mein Job ist, das zu wissen. Bilde dir bloß nichts ein.«
Es war nicht so, dass sie Ronan nicht attraktiv fand. Er war groß und muskulös, hatte hellbraunes Haar und grüne Augen. Eine Frau musste schon sehr … nun, sie wusste nicht, was eine Frau sein musste, um sein gutes Aussehen nicht zu bemerken. Aber das durfte er niemals erfahren.
»Glaubst du, mir macht es Spaß, für dich und deine Brüder den Babysitter zu spielen?« Sie versuchte, hochmütig und genervt zu klingen, was nicht leicht war, weil sie und ihre Stimme so sehr zitterten. »Wenn ihr einfach auftauchen und eure Arbeit erledigen würdet … Aber neiiiin. Du musst ja hier draußen in den Bergen leben wie ein Troll.«
Sie folgte ihm in ein großes Schlafzimmer, das von einem riesigen Bett und einem offenen Kamin dominiert wurde. Gerade wollte sie mit ihrer Beschwerde fortfahren, dass das alles seine Schuld sei, da erblickte sie an einem Spitzfenster ein großes Stück Glaskunst. Vor Staunen blieben ihr die Worte im Hals stecken.
Die Statue musste mindestens zweieinhalb Meter hoch sein und erstrahlte in sämtlichen Blauschattierungen. Teils Kobold, teils Elfe und unglaublich weiblich, schien die Kreatur vor dem Betrachter herumzuwirbeln. Ihre Füße wirkten, als würde sie jeden Moment anfangen zu tanzen, während die Flügel sie in der Luft zu halten schienen. Sie war kurvig und nackt, dabei unglaublich sinnlich und wie aus einer anderen Welt.
Natalie tapste mit nassen Socken über den Holzfußboden zu dem Kunstwerk und streckte ihre Hand aus, ohne es zu berühren. Das Gesicht der Statue war wunderschön – alle Konturen stark ausgeprägt, wie um zu betonen, dass sie nicht menschlich war. Die Haare waren kurz und stachelig, die Lippen auf eine Weise geöffnet, dass Natalie beinahe erwartete, sie singen oder zumindest sprechen zu hören.
»Kein Wunder, dass du keine Freundin hast«, sagte sie, bevor sie sich zurückhalten konnte. »Wer könnte es schon mit ihr hier aufnehmen?«
»Wir hatten aber nie Sex«, entgegnete er trocken und ein wenig amüsiert.
»Du hättest sie anatomisch korrekt machen sollen.« Natalie umrundete die Statue, bewunderte den Schwung der Linien und wünschte sich, sie hätte nur ein Viertel von Ronans Talent. »Auch wenn die Position es schwer machen würde. Trotzdem, sie wäre es wert.«
»Sagst du eigentlich immer, was du denkst?«
Sie überlegte kurz. »Vermutlich schon. Ich bemühe mich, nie gemein oder verletzend zu sein, aber ansonsten neige ich nicht zur Selbstzensur. Das ist mir zu viel Arbeit.«
»Komm jetzt. Du musst dich aufwärmen.«
Erst als sie das große Bad mit der Dampfdusche und einer Badewanne, die locker Platz für vier Personen bot, betrat, wurde ihr wirklich bewusst, dass das hier sein Badezimmer war. Was bedeutete: Das davor war sein Schlafzimmer gewesen.
Und ja, sie fand Ronan sehr attraktiv, und sie hatte schon den einen oder anderen unartigen Tagtraum über ihn gehabt. Aber … sollten sie sich zuerst nicht ein wenig unterhalten?
»W…was machst du da?«, fragte sie, als er ein paar Knöpfe auf einer kompliziert aussehenden Tastatur außen an der Dusche drückte.
»Ich sorge dafür, dass dir wieder warm wird. Warte hier.«
Er verschwand und kehrte kurz darauf mit einem T-Shirt, Socken, einem Sweatshirt und einer Jogginghose zurück.
»Das wird dir alles viel zu groß sein, aber du musst ja etwas anziehen, während deine Sachen trocknen. Wir waschen sie, wenn du fertig bist.«
»Ach ja?«
Er kehrte zu der Tastatur zurück und drückte noch einen Knopf. Nach ein paar Sekunden begann das Wasser zu fließen, und die Dusche füllte sich mit Dampf.
»Ich lass dich jetzt allein«, erklärte er. »Gönn dir eine ausgiebige Dusche. Wenn du dich aufgewärmt hast, findest du mich in der Küche.«
Nicht im Bett? Der Gedanke kam ohne Vorwarnung, und Natalie fragte sich, ob sie sich vielleicht doch den Kopf gestoßen hatte. Bestenfalls betrachtete Ronan sie als eine Mischung aus nützlicher Büroeinrichtung und kleiner Schwester. Schlimmstenfalls fand er sie einfach nur nervig. Und nervige Frauen hielten Männer grundsätzlich nicht für besonders attraktiv. Außerdem war da noch die Elfe. Wer konnte schon mit ihr mithalten?
»Wie schalte ich die Dusche wieder aus?«, fragte sie.
Er zeigte auf einen roten Knopf mit der Aufschrift Aus.
»Oh. Okay. Das schaffe ich.«
»Ich habe vollstes Vertrauen in dich. Und nun geh duschen.«
»Du musst mich nicht so herumkommandieren. Ich habe es nur gut gemeint, als ich hier raufkam, um nachzusehen, ob du tot bist. Und ich habe keine Ahnung, was ich getan hätte, wenn hier eine Leiche gelegen hätte. Also ist das alles eigentlich deine Schuld. Du hättest eine E-Mail schicken können.«
»Das hast du bereits erwähnt.« Er zeigte auf die Dusche. »Los jetzt.«
Sie wies zur Tür. »Raus mit dir.«
Er grinste schief. »Ja, Ma’am.« Dann drehte er sich um und ging.
»Nervensäge«, murmelte sie, als sie ihr nasses, schlammbespritztes Kleid über den Kopf zog und auf den Boden fallen ließ. Dann legte sie ihre Brille auf den Rand des Waschbeckens. Doch sie sagte das Wort ohne besonderen Nachdruck, und als Natalie unter die Dusche trat, merkte sie, dass sie lächelte.
Ronan schloss die Badezimmertür hinter sich, bevor er das Schlafzimmer durchquerte. Im Türrahmen blieb er stehen und schaute noch einmal zu dem Kunstwerk am Fenster zurück. Selbst im düsteren Licht heute wirkte es beinahe lebendig.
Er hatte die Figur erschaffen – hatte die verschiedenen Teile entworfen, die das Ganze ergaben, hatte mit den Farben gespielt, bis er die richtige Kombination gefunden hatte, und hatte sie mit Hilfe seiner Brüder aus Glas zum Leben erweckt. Sie war eines seiner besten Kunstwerke. Etwas, worauf er stolz sein konnte. Daran sollte er sich festhalten, denn etwas Besseres würde er vermutlich nie erschaffen. In den letzten Monaten war ihm klar geworden, dass er womöglich nie wieder etwas erschaffen würde. Sein Talent – worin auch immer das bestanden hatte – war weg. Und er hatte keine Ahnung, wie er es zurückholen sollte.
Seufzend wandte er sich vom Fenster ab und ging in die Küche. Dort setzte er Teewasser auf und ging dann in die gut gefüllte Speisekammer, um zu sehen, ob seine Teilzeithaushälterin etwas hinterlassen hatte, das Natalie schmecken würde. Er entschied sich für eine Dose Hühnersuppe und füllte sie in eine Schüssel, um sie in der Mikrowelle zu erhitzen.
In den Bergen zu wohnen hatte seine Vorteile – zum Beispiel Ruhe und Frieden und nur sehr selten einen spontanen Besucher. Die Kehrseite war, dass es in der Nähe keinen Lieferservice gab, und wenn das Wetter schlecht wurde – was ein oder zwei Mal im Jahr passierte –, war er entweder hier oben oder unten in der Stadt gefangen.
Er nahm seinen Laptop und loggte sich schnell in die Webseite von Happily Inc ein. Kopfschüttelnd betrachtete er die Landkarte für die Gegend. Es gab bereits mehrere Straßen, die durch Schlammlawinen und herabfallende Steine blockiert waren. Er hatte das Gefühl, dass Natalie für eine Weile sein Gast sein würde.
Rasch schrieb er seinem Bruder Nick eine E-Mail, um ihm zu sagen, was passiert war und dass Natalie sich in Sicherheit befand. Dann schaute er aus dem Fenster in den strömenden Regen hinaus. Er hatte keine Ahnung, wie Natalie es in ihrem Wagen den Berg hinaufgeschafft hatte. Die Kiste war alt und lief kaum noch. Er konnte nicht fassen, dass irgendjemand sie bei diesem Wetter ausgerechnet in diesem Auto hier heraufgeschickt hatte. Wenn er das nächste Mal in der Stadt war, würde er ein ernstes Wörtchen mit seinen Brüdern und Atsuko, der Besitzerin der Galerie, reden. Sie sollten sich besser um Natalie kümmern.
»Du siehst grimmig aus.« Natalie betrat die Küche. »Habe ich mit meiner Anwesenheit eine Störung des Kraftfelds verursacht? Störe ich deine männliche Energie?«
Er musste lächeln. »Ich bin durchaus in der Lage, deine Energie abzulenken«, erklärte er.
»Na, na. Frauen stören die männliche Energie schon seit Jahrhunderten. Das ist Teil unseres Zaubers.«
»Hast du gerade ›na, na‹ als Teil deiner Argumentation benutzt?«
»Das habe ich. Und es war effektiv.«
»Ach, so nennen wir das also?«
Er beobachtete, wie sie durch die Küche schlenderte. Trotz ihrer Kurven waren ihr die geliehenen Sachen viel zu groß. Er war knapp eins neunzig und sie kaum eins sechzig. Sie musste die Jogginghose mit einer Hand festhalten, und das Sweatshirt reichte ihr bis zur Mitte der Oberschenkel.
Die Dusche hatte alle Spuren von Make-up fortgespült, sodass Natalie nun sehr jung und verletzlich aussah. Ihr Haar war feucht und lockig. Es fiel ihr in kleinen Ringeln auf die Schultern.
»Ehrlich gesagt ist es ein Wunder, dass du in einem Stück hier angekommen bist«, erklärte er ihr. »Ich kann nicht glauben, dass meine Brüder und Atsuko dich bei diesem Unwetter hier hochgeschickt haben. Der Schrotthaufen auf Rädern, den du fährst, ist nicht sicher.«
Sofort wirkte sie schuldbewusst. »Nun ja, eigentlich sollte ich Nicks Truck nehmen, der einen Allradantrieb hat. Aber der ist so groß, und ich fühle mich nicht wohl, ihn zu fahren, also habe ich es gelassen. Sei nicht sauer auf sie. Sie wussten es nicht.« Sie hielt inne. »Jetzt wissen sie es vermutlich schon.«
Na, immerhin – jetzt musste er seine Brüder nicht verprügeln. Früher hätte er eine Konfrontation mit einem oder allen von ihnen nicht gescheut. Aber in letzter Zeit zog er es vor, sich zu distanzieren – wegzugehen, statt zu handeln. Abstand zu halten. Das war sein neues Mantra. Und es zeigte ziemlich genau, an welchem Punkt er sich in seinem Leben gerade befand.
Natalie schob ihre rote Brille hoch und schnupperte. »Ist das Suppe? Hast du für mich gekocht?«
»Ich habe eine Dose geöffnet.«
»Was für ein Kerl.« Sie setzte sich auf einen Hocker an der Kücheninsel und grinste. »Du darfst sie jetzt servieren.«
»Wirklich? Das lässt du zu?«
Sein Scherz brachte ihm ein Lächeln ein.
Natalie war einer dieser Menschen mit sonnigem Gemüt. Sie hatte immer gute Laune, freute sich immer über das, was das Leben ihr bot. Er schätzte, er könnte das nervig finden, doch das tat er nicht. Wenn er mit ihr zusammen war, fühlte er sich besser. Es gefiel ihm, zu wissen, dass es in ihrem Leben keine Tragödien gab. Sie war fröhlich, lustig und talentiert, auch wenn sie bei dem letzten Punkt vermutlich widersprechen würde. Laut ihrer eigenen Aussage spielte sie nur ein wenig mit Papier herum, mehr nicht.
Doch er sah das anders. Natalie war eine talentierte Künstlerin, die aus Papier und gefundenen Objekten einzigartige Werke erschuf. Und auch wenn der Erfolg noch etwas auf sich warten ließ – Natalies Zeit würde kommen.
Er stellte ihr eine Schüssel mit Suppe und eine Tüte Cracker hin. Nachdem er heißes Wasser in einen Becher gegeben hatte, bot er ihr eine Auswahl verschiedener Teebeutel an. Sie wählte einen aus und ließ ihn in das dampfende Wasser fallen. Ronan lehnte sich an den Tresen.
»Du bist ziemlich gut ausgerüstet«, merkte sie an, nachdem sie die Suppe probiert hatte. »Cracker, Tee, Suppe. Ich weiß aber, dass du nicht einkaufen gehst.«
»Meine Haushälterin sorgt dafür, dass die Speisekammer und die Gefriertruhe immer gut gefüllt sind. Sie kümmert sich auch um die Wäsche.«
Draußen heulte der Wind. Natalie schaute zu den Lampen empor. »Die flackern nicht einmal. Hast du einen eigenen Generator?«
Er nickte. »Wasser und Strom beziehe ich aus der Stadt, aber wenn das Wetter sehr schlecht ist, können die Leitungen tagelang ausfallen.«
»Und da sagt man, kein Mensch wäre eine Insel.«
Sie aß noch einen Löffel Suppe, bevor sie die Cracker-Tüte öffnete. Nachdem sie ein paar in ihre Suppe geschüttet hatte, bot sie ihm die Packung an. Er nahm sie und aß eine Handvoll.
»Wo hast du deine Sachen gelassen?«, wollte er wissen.
»Im Badezimmer.«
»Wenn du aufgegessen hast, starten wir eine Maschine Wäsche. Es sollte nicht lange dauern – nicht, dass du irgendwo hinkönntest.«
Er schaute zum Fenster. Es war schon spät am Nachmittag, und der Regen schien nicht nachzulassen. Laut Wetterbericht sollte das Unwetter am Morgen vorbei sein. Je nachdem, ob und wo es Schlammlawinen gegeben hatte, würden die Straßen noch mehrere Tage lang unpassierbar sein. Und selbst wenn sie nicht blockiert waren, würde er Natalie auf keinen Fall mit ihrem Schrotthaufen den Berg hinunterfahren lassen, bevor er nicht wusste, dass die Wege geräumt waren.
Sie folgte seinem Blick. »Du glaubst, ich wäre hier gefangen, aber ich denke nicht. Es geht nur bergab. So fährt mein Auto am besten.«
»Du wirst nirgendwo hinfahren, bis der Regen nicht aufgehört hat und ich die Gelegenheit hatte, die Straßen zu überprüfen.«
Eine Sekunde lang dachte er, sie würde ihm die Zunge herausstrecken. Doch stattdessen rümpfte sie nur die Nase und sagte: »Du warst schon immer der herrischste der Mitchell-Brüder. Aidan und Del kenne ich zwar nicht so gut, aber trotzdem. Was dich, Nick und Mathias angeht, bist du Mr. Oberbefehlshaber. Du hältst dich zwar für einen grüblerischen Typen, aber das bist du nicht. Du schmollst und bist herrschsüchtig.«
»Mr. Oberbefehls…«
»…haber. Ja, so nenne ich dich in Gedanken. Jetzt weißt du es.«
Er war nicht sicher, was er mit dieser Information anfangen sollte. »Trotzdem fährst du bei dem Unwetter nicht nach Hause.«
»Gefangen in der Drachenhöhle.«
Bevor er fragen konnte, was sie damit meinte, strahlte sie ihn an. »Zumindest gibt es im Eingangsbereich einen Kronleuchter. Der ist sehr schön. Ich hatte gedacht, er wäre vielleicht mit Kerzen bestückt, aber Glühbirnen sind auch nett.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du da redest.«
Sie lächelte. »Das hast du selten. Ist schon gut, ich springe ziemlich flink zwischen den Themen hin und her.«
»Soll das heißen, ich kann das nicht?«
»Du kannst schnell sein, vermutlich sogar schneller als ich, aber flink ist etwas anderes.«
Er wusste einfach nicht, was er von ihr halten sollte. Vor zwei Jahren hatte Natalie angefangen, als Büroleiterin in der Willow Gallery zu arbeiten und ihn und seine beiden Brüder zu hüten. Sie behielt das Inventar im Auge, verfolgte die Verkäufe und bezahlte die Künstler, wenn ihre Stücke verkauft worden waren.
Er hatte sie schon immer anziehend gefunden. Sie war hübsch und sexy, und es war lange her, dass es eine Frau in seinem Leben gegeben hatte. Aber je besser er sie kennenlernte, desto mehr schätzte er ihre fröhliche Art. Er war überhaupt kein fröhlicher Typ und wollte nicht das Risiko eingehen, Natalie zu ändern. Gott bewahre, dass sie ihm irgendwann ähnlich wurde und genauso eine negative Sicht auf das Leben bekam! Also versuchte er, ihr im Studio aus dem Weg zu gehen, und behielt sein Interesse an ihr für sich.
Sie hier zu haben ist kein Problem, sagte er sich. Es war ja nur vorübergehend. Er würde die Unterbrechung genießen, dankbar für die Ablenkung sein und Natalie, wenn das Unwetter vorbei war, wieder ihrer Wege gehen lassen.
Eine Windböe ließ die Fenster klirren.
»Ich werde husten und prusten und dir dein Haus zusammenpusten«, sagte sie lachend. »Ich bin froh, dass das hier ein Steinhaus ist und nicht eines aus Stroh.«
»Ich auch.«
Ein Blitz erhellte den spätnachmittäglichen Himmel und tauchte die Küche in grelles Licht. Sofort folgte ein Donnerschlag, der das ganze Haus erschütterte. Sie zuckten beide zusammen und drehten sich abrupt um, als sie ein Krachen hörten.
Natalie sprang auf die Beine. »Was war das?«
Bevor er noch sagen konnte, dass er keine Ahnung hatte, ertönte ein lautes Ächzen, dann ein Rumpeln, als würde ein Teil des Berges abgerissen.
Ronan ging zur Vorderseite des Hauses. Natalie folgte ihm. Er zog die Tür in dem Moment auf, als ein dreißig Meter hoher Baum umfiel, während der Boden unter ihm wegrutschte. Wie in einem Dominoeffekt fingen die umstehenden Bäume an zu schwanken, dann wurden sie wie in Zeitlupe von der Schlammlawine in die Schlucht gerissen.
Der Lärm war ohrenbetäubend. Die gesamte Erde bebte. Die letzten Bäume erzitterten und verharrten einen Moment, als hätten sie sich noch nicht entschieden, in welche Richtung sie fallen wollten. Ronan sah die Fallstrecke, machte einen Schritt vor und hielt dann inne. Es gab nichts, was er tun konnte – nichts, was irgendjemand tun konnte. Der letzte Baum wankte noch eine Sekunde, dann fiel er zu Boden. Das Einzige, was ihm im Weg stand, war ein sehr klappriger, fünfundzwanzig Jahre alter Volvo. Der Baum stürzte auf Natalies Wagen und drückte ihn platt, bevor Baum und Auto den Berghang hinunterrutschten.
»Heilige Scheiße«, murmelte Natalie und fing dann an zu lachen. »Hast du das gesehen? Das war unglaublich.«
Er verspürte einen Anflug von Besorgnis. Bisher hatte er Natalie immer für lustig gehalten. Hatte er da geistige Instabilität mit Humor verwechselt?
Sie sprang ins Haus zurück und grinste ihn an, als er die Tür schloss.
»Du weißt schon, dass du gerade deinen Wagen an den Berg verloren hast, oder?«
Sie drehte sich einmal im Kreis, in einer Art von Tanz. »Er ist weg, er ist weg, er ist weg.« Dann wirbelte sie zu ihm herum und klatschte in die Hände. »Ich freue mich so.«
»Das ist keine normale Reaktion auf das, was gerade passiert ist.«
Sie hörte auf herumzutanzen und atmete tief ein. »Mein Versicherungsmakler hat mir gesagt, ich solle die Vollkaskoversicherung, oder wie auch immer das heißt, für meinen Wagen kündigen, weil er so alt ist und sich das nicht mehr lohnt. Nur wollte ich das nicht, weil es mir irgendwie … gemein vorkam. Als hätte ich das Auto aufgegeben.«
Diese Reaktion bereitete ihm nicht weniger Sorgen. »Du wolltest die Gefühle deines Autos nicht verletzen?«
»Ganz genau.« Ihr Lächeln kehrte zurück. »Jetzt müssen sie mir dank des Totalschadens den Wert meines Wagens ersetzen. Ich habe schon angefangen, für ein neues Auto zu sparen – also zumindest ein für mich neues –, aber ich habe noch nicht genug zusammen. Ich wollte es bar bezahlen und nicht finanzieren. Doch mit dem Geld von der Versicherung kann ich mir endlich ein neues Auto kaufen. Hurra! Ich hoffe, ich finde ein rotes.«
Sie fing wieder an zu tanzen. Ronan blickte aus dem Fenster in das Chaos aus Regen, Schlamm und umgefallenen Bäumen hinaus. Sie steckten hier fest, bis die Straßenwacht in die Berge kam, um alles aufzuräumen. Und wenn er sich Natalie so ansah, dann wusste er: Es würden ein paar sehr, sehr lange Tage werden.
Ronan schien die Herrlichkeit dieses Augenblicks nicht zu verstehen, also versuchte Natalie gar nicht weiter, es ihm zu erklären. Ihr Auto zu verlieren war fantastisch, aber wenn er das nicht kapierte, würde sie sich eben allein freuen.
»Ich habe der Gemeindeverwaltung geschrieben, während du im Bad warst«, erklärte er ihr. »Innerhalb der nächsten Stunde sollte ich eine Rückmeldung über den Zustand der Straßen erhalten, aber wenn diese Bäume umgefallen sind, fürchte ich, dass es andere auch getan haben.«
»Also hänge ich hier fest.« Sie drehte den Gedanken in ihrem Kopf hin und her. »Flippst du deswegen aus?«
Er grinste schief. »So schnell flippe ich nicht aus.«
»Dann kommen wir wohl klar.« Sie machte sich keine Sorgen, weil sie bei Ronan bleiben musste. Er war an sich ein netter Kerl, und sie hatten zu essen und einen Generator, also war alles gut.
Er zeigte ihr die Waschküche, die so viel schöner war als die in ihrem Wohngebäude.
»Ich kriege schon raus, wie das funktioniert«, erklärte sie ihm und beäugte die Laken in dem Wäschekorb neben der glänzenden Waschmaschine. »Ich packe die einfach dazu, um die Trommel vollzumachen. Wenn du also wieder an deine Arbeit zurückkehren willst …«
Er musterte sie ein paar Sekunden, dann nickte er. »Ich bin für ein paar Stunden in meinem Atelier«, sagte er. »Danach können wir uns überlegen, was wir zum Abendessen machen wollen.«
Sie hatte gerade eine Suppe und Cracker gehabt, würde also für eine Weile keinen Hunger haben. Nicht, dass sie jemals Nein zu einer Mahlzeit sagen würde, aber trotzdem. »Klingt super.«
Sie sah ihm nach, als er ging, dann steckte sie ihre feuchten Sachen in die Waschmaschine, gab ein paar Bettlaken sowie Waschmittel dazu und schaltete die Maschine an. Erst dann fragte sie sich, ob er sich wirklich wieder an die Arbeit gemacht hatte. In letzter Zeit hatte er nichts produziert. Sie wusste nicht, ob sie die Einzige war, der das aufgefallen war, oder ob seine Brüder es ebenfalls bemerkt hatten. Ist seine mangelnde Schaffenskraft wohl der Grund dafür, warum er sich in den letzten Monaten zurückgezogen hat? fragte sie sich. So talentiert zu sein wie er und dann nicht arbeiten zu können, das musste … Nun, sie konnte sich ehrlich gesagt nicht vorstellen, wie das sein musste. Vermutlich war es das Traurigste überhaupt. Das kreative Talent zu verlieren war ihre Definition von Grausamkeit.
Die Klappe der Waschmaschine schloss mit einem befriedigenden klick. Natalie betrachtete sie einen Moment, dann sah sie auf dem Display, dass sie siebenundvierzig Minuten hatte, bis der Waschgang vorüber war. So lange konnte sie auf keinen Fall hier stehen bleiben und ihre Wäsche beobachten.
Das Richtige wäre, sich irgendwo ruhig hinzusetzen, vielleicht ein Spiel auf dem Handy zu spielen oder sich anderweitig um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Doch das brennende Verlangen, das große, faszinierende Haus zu erkunden, war so viel größer. Ich werde einen Bogen um die allzu persönlichen Dinge machen, versprach sie sich. Nur eine schnelle Tour durch die öffentlichen Räume sollte aber in Ordnung sein.
Sie ging in Küche zurück und von dort in den Eingangsbereich, weil sie ganz vorn anfangen wollte. Die zweiflüglige Haustür war riesig. Sie sah aus, als wäre sie aus einem alten Schloss gerettet worden – wobei es davon im südwestlichen Bereich des Landes nicht gerade viele gab. Mit den Händen strich sie über das Holz und stellte sich kurz vor, wie Barbaren die Tür mit einem Rammbock aufbrachen.
Die Eingangshalle war groß und rund. Von der Decke im zweiten Stock hing ein riesiger Kronleuchter. Er schien aus der gleichen Ära zu kommen wie die Haustür und war aus Schmiedeeisen, was den mittelalterlichen Eindruck noch verstärkte. Zu ihrer Rechten führte eine Wendeltreppe ins obere Stockwerk hinauf. Zu ihrer Linken befand sich der kurze Flur, der in die Wohnküche führte. Direkt gegenüber von ihr gab es eine halb geöffnete Tür, hinter der sich ein ziemlich prosaisches, aber notwendiges Gäste-WC befand.
Sie ging den Flur zu ihrer Rechten hinunter. Er führte in ein wunderschönes Esszimmer mit einem großen Tisch und acht Stühlen. Ronan war nicht der Typ, der große Dinnerpartys gab, also konnte sie sich nicht vorstellen, dass er diese Möbel gekauft hatte. War das Haus möbliert gewesen, als er es erworben hatte?
Sie kehrte in die Küche zurück, die einfach nur riesig war. Moderne Edelstahleinbauten von bekannten Marken und wundervolle Arbeitsplatten aus Quarz. Die Fliesen an den Wänden bestanden aus Glas – in sämtlichen Farben von Grau über Blau und Grün bis hin zu Gelb. Je nachdem, wo sie stand, schienen die Farben miteinander zu verschwimmen oder einzeln herauszustechen. Wie, zum Teufel, machte man so etwas?
»Puh«, murmelte sie, als sie ihre Hand gegen die kühlen Fliesen drückte. Ronan war ein begnadeter Glaskünstler. Bestimmt hatte er die Fliesen selber gemacht.
Die zur Speisekammer gehörende Tür hatte eine Glasscheibe, durch die Natalie den eingebauten Weinschrank und eine Menge Regale sehen konnte. Nachdem sie einen Blick über ihre Schulter geworfen hatte, um sicherzugehen, dass sie immer noch allein war, öffnete sie einen der Oberschränke und sah einen Stapel Geschirr. Eigentlich war das nichts Aufregendes. Jeder besaß Geschirr. Nur war dieses hier ganz besonders.
Sie nahm einen der Teller heraus und betrachtete ihn. Das Muster – das dem der Glasfliesen ähnelte – war ihr nicht vertraut, aber sie erkannte die Handschrift des Künstlers. Mathias hatte das Geschirr gemacht, Ronans Bruder. Mathias verkaufte alle möglichen Geschirrteile, Servierplatten, Hängelampen und Waschbecken aus geblasenem Glas. Zu ihren Aufgaben in der Galerie gehörte es, seine Arbeiten zu katalogisieren, aber diese Stücke hatte sie noch nie zuvor gesehen. Hatte er sie extra für seinen Bruder angefertigt? Und wenn ja, wann? Auch wenn die beiden sich nicht vollkommen entfremdet hatten, konnte sie sich nicht vorstellen, dass Ronan seinen Bruder um so etwas gebeten hatte.
Sie stellte den Teller zurück und wandte sich dem Fernsehzimmer zu. Das war definitiv ein Männerraum – das große schwarze Sofa stand einem Fernseher in Kinoleinwandgröße gegenüber. An den Wänden hingen ein paar Bilder, aber was ihre Aufmerksamkeit erregte, war der geschnitzte Bär in der Ecke. Er war lebensgroß und unglaublich realistisch. Das Einzige, was ihn davon abhielt, furchteinflößend zu wirken, war der Kaffeebecher, den er in einer Pranke hielt. Sie ging näher heran und sah eine Plakette am unteren Ende, auf der Vern stand.
Natalie lachte und berührte das Holz. Den Künstler, der diesen Bären erschaffen hatte, kannte sie genauso gut wie den, der das Geschirr gemacht hatte. Es war Nick, der dritte der Mitchell-Brüder.
Sie musste zugeben, dass sie ein wenig verwirrt war. Sie hätte schwören können, dass Ronan beinahe keine Verbindung mehr zu seinen Brüdern hatte. Wenn er im Studio neben der Galerie war, sprach er kaum mit ihnen, und er verbrachte auch mehr und mehr Zeit allein hier oben. Und doch hatte er ihre Arbeiten in seinem Haus.
Mit einem tiefen Seufzer drehte sie sich um und ging in die Eingangshalle zurück. Sollte sie die Treppe hinaufgehen oder erst einmal den langen Flur erkunden? Das mit Schnitzereien verzierte Treppengeländer war jedoch zu verlockend, um ignoriert zu werden, also ging sie nach oben und fand sich in einem – wie sie annahm – Gästezimmer wieder. Es gab ein großes Doppelbett, eine Kommode mit einem Fernseher darauf und einen kleinen Schreibtisch. Das angrenzende Badezimmer war mit Shampoo und Seife bestückt. Wie ein Hotel.
Sie unterdrückte einen Aufschrei, als sie sich im Spiegel sah. Beim Trocknen hatten sich ihre Haare gelockt, und nun standen sie in braunen Kringeln von ihrem Kopf ab. Ah, was gäbe sie nicht für einen Föhn und ein paar Stylingprodukte.
Wieder unten, ging sie den langen Flur entlang. Sie kam in ein Büro mit einem großen Schreibtisch und vielen Büchern. Ohne Zweifel sitzt Ronan gern hier und zählt sein Geld, dachte sie grinsend. Es war nur noch eine weitere Tür übrig, und sie wusste, dass die in Ronans Schlafzimmer führte. Die Verlockung flüsterte ihr ins Ohr, aber sie ignorierte sie. Sich ein wenig umzuschauen war in Ordnung, aber sie wollte ja nicht herumschnüffeln. Außerdem hatte sie vorhin schon einen kurzen Blick auf das Zimmer erhascht und wusste, wie es aussah, auch wenn sie gern noch mehr Zeit damit verbracht hätte, Ronans Mitbewohnerin, die Elfe, zu bewundern. Entschlossen, ein höflicher Gast zu sein, kehrte sie zum Eingangsbereich zurück, schnappte sich ihre Handtasche und ging in die Küche.
Am Tisch holte sie einen flachen Kunststoffbehälter aus ihrer Tasche, öffnete ihn und blätterte durch die verschiedenen bunten Papierbögen, bis sie einen in einem tiefen Grünton fand. Eine Sekunde musterte sie ihn, dann fing sie an, ihn zu falten.
Keine zwei Minuten später hatte sie einen Origami-Drachen vor sich stehen. In der Waschküche piepte die Waschmaschine und verriet ihr, dass sie fertig war. Natalie stand auf, packte ihre Sachen und die Bettlaken in den Trockner und ging dann in Ronans Büro, um den Drachen auf den Schreibtisch zu stellen.
Zurück in der Küche, fielen ihr zwei Türen ins Auge. Eine führte zur Garage, die andere in einen weiteren Flur. Nein, das stimmte nicht ganz. Es war ein überdachter Gang, doch anstelle von normalen Wänden waren diese aus Glas und gaben auf beiden Seiten den Blick auf die sturmgepeitschte Landschaft frei. Der Boden bestand aus Stein.
Während sie dem Weg folgte, fiel ihr auf, dass das Glas gebogen war. Am anderen Ende des Ganges gab es eine weitere Tür. Mit einem Schloss. Sie legte eine Hand auf die Klinke, die sich leicht nach unten drücken ließ, und öffnete die Tür zu einem kleineren Vorraum. Weitere Türen. Eine davon stand offen, die andere war geschlossen. Sie trat an die offene Tür und warf einen Blick in einen sakralen Raum.
Ronans Atelier war enorm groß – vermutlich mehrere hundert Quadratmeter – und hatte unglaublich hohe Decken. Es gab zwei Öfen, und überall lagen Werkzeuge herum. Drehbänke, Mülleimer, Materialien zur Glasherstellung. An der gegenüberliegenden Wand hing eine Zeichnung seines aktuellen Auftrags in Originalgröße.
Auf der linken Seite der Zeichnung befand sich ein wunderschöner Schwan, auf der rechten ein genauso faszinierender Drache. Die drei Meter dazwischen zeigten, wie die eine Kreatur sich in die andere verwandelte. Schon auf dem Papier sah das Kunstwerk höchst beeindruckend aus. Aber später, als Glasskulptur, würde es pure Magie sein, da war sie sich sicher.
Im Studio in der Stadt gab es eine ähnliche Zeichnung. Sie wusste, dass Teile des Kunstwerks schon fertig waren, aber nicht alle. Was daran lag, dass Ronan in letzter Zeit nicht mehr arbeitete. Und auch hier waren beide Öfen kalt und dunkel.
Eine Sekunde zu spät fiel ihr ein, dass es noch weitaus zudringlicher war, ungefragt in Ronans Atelier zu spazieren als in sein Schlafzimmer. Er war Künstler, und das hier war …
»Natalie?«
Sie zuckte zusammen und drehte sich um. Ronan trat aus den Schatten – attraktiv und düster.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er.
Zu ihrer Erleichterung wirkte er weder wütend noch besorgt darüber, dass sie in seinem Atelier war. Sie brachte ein Lächeln zustande.
»Ja. Ich habe die Wäsche gewaschen. Lief super.« Autsch! Das war ja wohl das Dümmste, was sie hätte sagen können. Aber er hatte sie erschreckt.
»Ich habe mit dem Leiter der Straßenwacht gesprochen. Der Weg den Berg hinunter ist gesperrt. Sie versuchen, ihn so schnell wie möglich frei zu räumen, aber erst muss der Sturm vorbeiziehen. Und außerdem haben die Hauptstraßen Priorität.«
Er hielt inne, als würde er auf eine Reaktion von ihr warten. Sie spielte seine Worte im Kopf noch einmal ab, bevor sie ihre Bedeutung erkannte: In nächster Zeit würde sie nirgendwo hingehen.
»Also hänge ich hier fest. Das tut mir leid. Du findest das bestimmt nervig.«
Seine Miene wandelte sich von besorgt zu fragend. »Du hast gerade dein Auto verloren und kannst jetzt nicht nach Hause. Ich denke, du solltest diejenige sein, die das nervig findet.«
»Mir geht es gut. Dein Haus ist toll, und wir haben Strom und was zu essen. Für mich ist das wirklich kein Problem.«
»Ich hätte mehr Ansprüche erwartet.«
Sie lachte. »Von mir? Ernsthaft?«
»Nein, wenn ich’s mir genau überlege … Du scheinst die Dinge immer so zu nehmen, wie sie kommen. Ich habe oben ein Gästezimmer. Fühl dich wie zu Hause.« Er zögerte. »Es tut mir leid, dass ich mein Handy im Büro gelassen habe. Ich wollte nicht, dass du hier hochkommen musst, dann dein Auto verlierst und hier festhängst.«
»Lass das Auto los.« Sie grinste über ihren Wortwitz. »Du weißt, was ich meine. Das ist wirklich ein Glücksfall. Jetzt kann ich mir ein neues kaufen. Und das wird rot, so viel steht fest. Knallrot, wenn es das gibt. Wie auch immer, ich richte mich dann mal oben ein.«
»Wollen wir um sieben Uhr essen?«, fragte er, bevor sie ging.
»Klar.« Beinahe hätte sie angefügt: »Danke, dass du fragst«, hielt sich dann aber doch zurück. Er hatte sie nicht zu einem Date eingeladen – er bekochte einen uneingeladenen Gast. Sie war zwar keine Fremde, denn sie kannten sich über ihre Arbeit, aber dennoch bezweifelte sie, dass er sich wahnsinnig über ihre Anwesenheit freute. Das Einzige, was sie mit Sicherheit über Ronan wusste, war, dass er es liebte, allein zu sein.
Mit einem kleinen Winken wandte sie sich zum Gehen. Seit dem Verlust ihrer Mom vor sieben Jahren hatte sie ausreichend Zeit für sich allein gehabt. Und allein zu sein gefiel ihr überhaupt nicht. Menschen sollten zusammen sein, vorzugsweise umgeben von denen, die sie liebten. Natalie hatte keine Familie, aber sie gab ihr Bestes, um sich etwas Ähnliches aufzubauen. Ronan hatte seine Brüder so nahe bei sich leben, und doch verbrachte er so wenig Zeit mit ihnen. Was für eine Verschwendung.
Nicht mein Problem, sagte sie sich. Sie war hier nur ein vorübergehender Gast, mehr nicht. Er hatte kein Interesse an ihrer Meinung, also würde sie die für sich behalten. Wirklich. Großes Pfadfinderehrenwort.
Ronan fühlte sich in seinem eigenen Haus fehl am Platz. Es war ihm unbegreiflich, wie eine zierliche, anspruchslose Frau so eine Wirkung haben konnte, doch obwohl er Natalie weder sah noch hörte, wusste er, dass sie da war, und das verstörte ihn. Er war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihr aus dem Weg zu gehen, und dem Drang, sie zu suchen und … und …
Diesen Weg schlägst du besser nicht ein, ermahnte er sich. Sie war sein Gast. Und einen Gast belästigte man nicht, das wusste er – wenn er im Moment auch sonst nicht viel wusste.
Wann war das passiert? Wann hatte er die Welt der normalen Menschen verlassen und war eine Art einsiedlerischer Sonderling geworden? Das war nicht geplant gewesen. Als er dieses Haus gekauft hatte, war er davon ausgegangen, dass seine Brüder ständig herkämen und sie gemeinsam hier abhängen würden. Er hatte gedacht, sie würden zum Arbeiten herkommen, als Abwechslung zur Arbeit in Atsukos Studio. Doch das war nicht passiert. Stattdessen hatte er sein Haus zu einer Art Zufluchtsort gemacht. Zumindest anfangs. Jetzt war es kaum mehr als ein selbstauferlegtes Gefängnis.
Das ist viel zu dramatisch, dachte er und holte einen Auflauf heraus, den seine Haushälterin ihm dagelassen hatte. Der würde für zwei Personen reichen und sah aus wie etwas, das Natalie mögen würde.
Er las das Etikett mit den Zutaten und der Backanweisung durch. Der Auflauf enthielt Hühnchen. Natalie aß doch Fleisch, oder nicht? Er war sich ziemlich sicher, mehr als einmal gesehen zu haben, wie sie herzhaft in einen Hamburger biss. Und mit der Suppe vorhin hatte sie auch keine Probleme gehabt. Wenn man bedachte, dass sie schon seit mehreren Jahren in der Galerie arbeitete, sollte er eigentlich mehr über sie wissen als nur, dass sie attraktiv und vielleicht ein kleines bisschen sexy war. Und ganz sicher sollte er keine Angst davor haben, mit ihr zu reden. Guter Gott, was stimmte nur nicht mit ihm? Wenn es um Frauen ging, war er stets beliebter als sein Zwillingsbruder gewesen. Er hatte Mathias in der Highschool gezeigt, wie man sich einem Mädchen nähern musste. Aber wie so viele andere Dinge war ihm auch diese Fähigkeit abhandengekommen. Er konnte nicht sagen, wann genau das passiert war – er hatte nicht darauf geachtet –, aber sein Selbstvertrauen war verschwunden.
Er schaltete einen der beiden Öfen ein, ging erneut zum Kühlschrank und holte die Zutaten für einen Salat heraus. Normalerweise aß er keinen Salat, aber seine Haushälterin ließ ihm trotzdem jede Woche Gemüse da. Frauen mochten doch Salat, oder? Frauen …
Er schluckte, als ihm wirklich bewusst wurde, dass Natalie ihr Auto verloren hatte, in seinem Haus festsaß und er es ihr überlassen hatte, sich um die Wäsche zu kümmern. Er hatte sie nicht gefragt, wie es ihr ging, hatte sich nicht mit ihr zusammengesetzt und eine Unterhaltung angefangen oder sonst etwas. Er war einfach gegangen, wie so eine düstere Figur aus einem Schauerroman.
Er fluchte. Was stimmte nur nicht mit ihm? Er hatte es doch nicht mit einer Außerirdischen zu tun. Und er wusste, wie eine Frau funktionierte – grundsätzlich jedenfalls. Kurz: Er musste sich zusammenreißen – oder zumindest so tun als ob.
Natalie rauschte in die Küche. Sie hatte wieder ihr Kleid an.
»Alles okay?«, fragte er und überlegte, ob sie sich wohl in seinem Haus umgesehen hatte, als sie vorhin allein gewesen war. Falls ja, wäre das nicht schlimm. Er hatte keine Geheimnisse. Zumindest keine, die er in Schubladen aufbewahrte. Es gab nicht mal ein anrüchiges Magazin, das sie finden könnte.
»Jetzt, wo ich wieder meine Sachen trage, geht es mir sehr viel besser. Auch wenn ich es zu schätzen weiß, dass du mir etwas zum Anziehen geliehen hast.« Sie rümpfte die Nase. »Was du wohl weiterhin tun musst, solange ich hier bin. Ich sollte mir wirklich mal angewöhnen, eine Übernachtungstasche einzupacken, wenn ich losfahre. Aber gut. Hinterher ist man immer schlauer.« Sie hob eine Hand. »Bitte entschuldige dich nicht wieder wegen des Autos. Das ist wirklich ein glücklicher Zufall für mich.«
Das würde er zwar nie verstehen, aber so oft, wie sie das inzwischen gesagt hatte, musste er es ihr wohl glauben. Das eigentliche Problem war vermutlich, dass er seit Jahren keine Geldsorgen mehr gehabt hatte, weil sich seine Kunstwerke so gut verkauften. Daher hatte er vergessen, wie es war, auf etwas wie ein neues Auto sparen zu müssen.
Er fragte sich, ob es in Ordnung war, ihr anzubieten, den Wagen zu ersetzen. Doch dann dachte er, dass er dieses Thema womöglich nicht ansprechen sollte, solange sie in seinem Haus gestrandet war. Vielleicht wusste er nicht mehr, wie man mit einer Frau redete, aber er wusste, dass man besser nichts sagte, was besagte Frau möglicherweise verstörte. Und ein »Hey, lass mich dir ein neues Auto kaufen« fiel definitiv in die Kategorie »seltsam und unangebracht«.
»Deine Haare gefallen mir«, sagte er stattdessen, denn jede Frau mochte Komplimente, oder?
Sie stöhnte. »Die Locken? Ehrlich? Ich hasse sie. Ich hasse sie aus vollem Herzen.« Sie ballte ein paar Strähnen in ihrer Faust zusammen. »Als Kind waren sie die reinste Folter. Was ist das nur mit Grundschuljungs und Mädchen mit Locken? Ich wurde ständig aufgezogen.«
»Du warst anders, und sie fanden dich hübsch.«
»Ach bitte.« Sie setzte sich auf einen der Hocker am Tresen. »Ich war als Kind nicht hübsch.«
»Warum sagst du das? Du bist jetzt hübsch. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass das früher anders war.« Er hob die Augenbrauen. »Vertrau mir. Wenn ein Junge in der Grundschule ein Mädchen aufzieht, liegt das daran, dass es ihn nervös macht.«
»Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll«, gab sie zu.
»Das wäre das erste Mal.«
Natalie lachte. »Willst du damit sagen, dass ich viel rede?«
»Ja, aber es ist ein nettes Hintergrundgeräusch.«
»Hintergrundgeräusch? Das hast du nicht wirklich gesagt.« Sie schaute sich um. »Leider gibt es hier nichts, womit ich dich bewerfen kann. Jemand, der so nervtötend ist wie du, sollte überall Dekokissen herumliegen haben.«
»Doch, das habe ich gesagt. Aber ich meinte das so: Wenn ich im Studio in der Stadt bin und du mit Mathias oder Nick sprichst, erleichtert mir eure Unterhaltung das Arbeiten.«
»Oh. Das ist natürlich etwas anderes. Mir gefällt der Gedanke, dass ich dir die Arbeit erleichtere. Ich wusste nie, was du von mir denkst.« Sie sah ihn fragend an. »Ist das hier die weiche Seite von Ronan Mitchell?«
Ihm fiel auf, dass er sich nicht mehr so unbehaglich fühlte wie zuvor. Was eine Erleichterung war. Es wäre schlimm, wenn er wirklich alles verloren hätte, was er einst gewesen war. Um ehrlich zu sein, genoss er das Geplänkel mit ihr.
»Ich habe meine Tiefen.«
»Darauf wette ich.« Sie glitt vom Barhocker. »Was gibt es zum Abendessen?«
»Einen Auflauf, den die Haushälterin dagelassen hat. Und ich habe alle Zutaten für einen Salat da.«
»Nein danke. Ich bin kein großer Fan von Salat. Ich liebe das Dressing, aber außer zu besonderen Gelegenheiten versuche ich, dem Grünzeug aus dem Weg zu gehen.« Sie ging zum Kühlschrank, öffnete die Tür und schaute hinein. »Hey, sieh mal!« Sie hielt ihm eine Dose hin. »Biskuits zum Aufbacken. Okay, sie sind nicht wirklich selbstgemacht, aber trotzdem lecker.« Mit einem Blick auf den zweiten Ofen fügte sie an: »Du hast sogar einen zweiten Ofen, also kann ich sie gleichzeitig aufbacken. Das ist ein Zeichen.«
»Offensichtlich.«
Er holte das Backblech heraus und stellte sich dann auf die andere Seite der Kücheninsel, um Natalie bei der Arbeit zuzusehen. Abgesehen von der Haushälterin war sie die erste Frau, die sich länger in seinem Haus aufhielt. Ein weiterer Beweis dafür, was für eine jämmerliche Gestalt er inzwischen war.
Vor seinem Umzug nach Happily Inc hatte er geglaubt, hier könne er seine Vergangenheit hinter sich lassen und wieder er selber sein. Er hatte nicht erkannt, dass er diese Vergangenheit einfach mitgeschleppt hatte und sich seitdem damit beschäftigte – oder besser gesagt nicht beschäftigte. Seit beinahe vier Jahren hatte er keine feste Beziehung mehr gehabt. Er hatte sich von allen losgesagt, an denen ihm etwas lag, und noch dazu konnte er neuerdings nicht arbeiten.
Bei dieser inneren Aufzählung musste er trotz allem laut lachen.