Fans des unmöglichen Lebens - Kate Scelsa - E-Book

Fans des unmöglichen Lebens E-Book

Kate Scelsa

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Drei Außenseiter, eine wunderbare Freundschaft und eine komplizierte Liebe ...

Mira, Jeremy und Sebby sind alle Außenseiter aus unterschiedlichen Gründen. Jeremy wurde Opfer einer Mobbingkampagne, Mira musste die Schule wechseln, und Miras bester schwuler Freund Sebby hat Probleme in seiner Pflegefamilie. Als Jeremy Mira und Sebby kennenlernt, tut sich für ihn eine neue Welt auf – und er verliebt sich Hals über Kopf in den faszinierenden Sebby. Wenn sie zusammen sind, kann das Leben Jeremy, Mira und Sebby nichts anhaben. Doch langsam merkt Jeremy, wieviel Verletzlichkeit sich hinter der zerbrechlichen Fassade der anderen verbirgt …

»Ein wunderbarer Jugendroman über erste Liebe und die transformierende Kraft von Freundschaft für alle Fans von »Das also ist mein Leben«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 364

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



KATE SCELSA

Aus dem amerikanischen Englisch von Catrin Frischer

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2015 by Kate Scelsa

Published by Arrangement with Kate Scelsa

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Fans of the Impossible Life« bei Balzer + Bray,

an imprint of HarperCollins Publishers, New York.

© 2020 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem amerikanischen Englisch von Catrin Frischer

Lektorat: Friederike Zeininger

Umschlaggestaltung: semper smile, München;

Umschlagmotiv: © semper smile, München

he ∙ Herstellung: TW

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-16717-2V001www.cbj-verlag.de

Für Amanda und Mom und Dad

»Genau der richtige Ort, um einen Topf voll Gold zu vergraben«, sagte Sebastian. »Am liebsten würde ich an jedem Ort, an dem ich glücklich war, etwas Wertvolles vergraben. Und wenn ich dann alt, hässlich und traurig bin, könnte ich zurückkommen, es wieder ausgraben und mich erinnern.«

Evelyn Waugh, Wiedersehen mit Brideshead

Hier bist du schon mal gewesen.

Die Straße windet sich nordwärts durch New Englands dunkle Wälder. An den Straßenrändern ragen weiße Dünen auf, die aussehen wie der Mond.

Du kannst zurückkommen. Obwohl ihr einander so unfassbar tief verletzt habt. Auch nachdem das Unmögliche genau das geworden ist. So weit, weit entrückt, dass es selbst im Traum unerreichbar ist.

Die Liebe erinnert sich an die Orte, die sie berührt, an denen sie eine unsichtbare Spur auf euren Körpern hinterlassen hat. Verfolge sie zurück. Du kannst ihr folgen bis zurück zu ihnen.

Jeremy

Am ersten Tag meines zweiten Highschooljahres war mir irgendwie die Fähigkeit, einen Schlips zu binden, abhandengekommen. Es war genau so ein Schlips, wie ich ihn jeden Tag getragen hatte, seit der achten Klasse, in der die männliche Belegschaft der St.-Francis-Schule die Clipkrawatten hatte hinter sich lassen müssen. An diesem Morgen war das Ding jedoch wie ein Fremdkörper in meinen Händen.

»Jeremy?«, rief mein Dad von unten. Der Wecker auf meinem Nachttisch zeigte 7:49 an. Ich würde mich verspäten.

Dad kam die Treppe hoch und steckte den Kopf zur Tür herein.

»Willst du einen Thermosbecher Kaffee mitnehmen?«, fragte er. »Dave hat unten gerade eine Kanne frisch gebrüht.«

»Nein danke.«

»Sicher?«

»Ja doch.«

»Alles in Ordnung?«

»Ich krieg das nicht hin«, sagte ich.

Er guckte auf den unordentlichen Knoten, der unter meinem Kragen hing.

»Soll ich helfen?«

Ich nickte. Er kam zu mir, löste den Knoten, den ich gemacht hatte, und band die Krawatte neu. Ich beobachtete sein Gesicht, während er sich konzentrierte. Seine Lippen bewegten sich ein wenig, so als würde er versuchen, sich an etwas zu erinnern.

»Danke«, sagte ich.

»Kein Problem«, sagte er. Als er fertig war, trat er einen Schritt zurück und betrachtete seine Arbeit. »Sehr adrett.«

»Diese Uniform trage ich schon seit zehn Jahren.«

»Es ist eine adrette Uniform.«

Er blieb noch einen Moment stehen, und ich wandte mich unter dem Vorwand, etwas in meinen Rucksack zu stecken, von ihm ab. Reden wollte ich nicht. Und ich wollte nicht, dass er irgendwas über diesen Morgen sagte.

Die Katze rettete mich, sie schlich sich zur Tür rein und wuselte mit ihrem riesigen, flauschig weißen Körper zwischen unseren Beinen herum.

»Dolly Parton, die Katze ist da, um dich zu verabschieden«, sagte Dad. Er nannte sie immer »Dolly Parton, die Katze« – als könnte sie sonst mit der echten Dolly Parton verwechselt werden.

»Danke, Dolly Parton, die Katze«, sagte er. »Willst du Jeremy zu seinem ersten Tag in der zehnten Klasse nicht ein Lied singen?«

Dad ging den Flur runter und schmetterte. »And aiiiiie … will always love miiiau …«

Den Rucksack vor den Füßen setzte ich mich aufs Bett. Dort landete Dolly Parton, die Katze neben mir, drückte den Kopf in meine Hand und forderte von mir, die Ohren gekrault zu kriegen.

»Wird Zeit, wieder zurückzugehen«, sagte ich.

Eine Viertelstunde später hielt Dad am Fuß des Hügels, auf dem das Hauptgebäude von St. Francis lag. Der heilige Franziskus, Schutzpatron kleiner und großer Kreaturen, hatte wahrscheinlich keine private Mittelschule im Sinn, als er mit ausgestreckten Armen vor den hungrigen Waldvögeln stand. Aber hier in Moutain View, New Jersey, war das seine Bestimmung.

»Soll ich mit dir reingehen?«, fragte Dad mit Blick auf die Menge, die sich vor dem ersten Klingeln auf dem Rasen vor der Schule versammelt hatte, die Mädchen in ihren blauen Polohemden und blau-grünen Kilts, die Jungs in Baumwollhosen, blauen Oberhemden und blau-grünen Krawatten – wie ich.

»Nein«, sagte ich. »Schon in Ordnung.«

»Du gehst direkt in Peters Büro?«

»Ja.« Ich schulterte meinen Rucksack.

»Okay«, sagte Dad. »Dann bis heute Abend. Ich bin um sechs zu Hause.«

Ich stieg aus, schlug die Autotür zu und drehte mich noch mal zu ihm um. Er hielt den Daumen hoch und fuhr los. Einen Augenblick lang blieb ich stehen, dann atmete ich tief durch und ging den Hügel hinauf zum Schulgebäude, durch die Eingangstür und den vertrauten Flur entlang zu Peters Büro.

Er saß er am Schreibtisch und machte was am Computer, als ich reinkam. Er schaute auf, sah mich und lächelte.

»Schön, dass du wieder da bist, Jeremy«, sagte er.

Mira

Erste Schultage waren noch nie leicht. Dieser war keine Ausnahme. Mira hatte gedacht, es könnte eine Hilfe sein, Sebby dabeizuhaben an diesem Morgen, aber schon als sie sich an der Bank unten am Hügel trafen, auf dem das Hauptgebäude von St. Francis lag, wusste sie, dass es ein Fehler gewesen war, ihn einzuladen. Er erinnerte sie an ihr anderes Leben, ihr wahres Leben, und das gehörte nicht hierher.

Für September war es ein ungewöhnlich warmer Tag, die Wolle vom Rock ihrer Schuluniform lag heiß und kratzig auf ihren Beinen. Die Strumpfhose, die sie darunter trug, damit ihre Schenkel nicht aneinanderscheuerten, wenn sie anfing zu schwitzen, machte es auch nicht besser. Es war das Wetter, das sich hartnäckig in Visionen von idealisierten Sommern der Kindheit hielt. Blauer Himmel, strahlender Sonnenschein, 28 Grad. Ein Tag für Eis und Wasserrutschen, einer, an dem man mit einem Eis am Stil in der Hand im Gras einschlief.

»Sollte es hier nicht ein großes schmiedeeisernes Tor geben, damit das Gesindel draußen bleibt?«, sagte Sebby. Er hatte den Kopf in ihren Schoß gelegt und spielte mit den Falten ihres Kilts.

»Ich glaube, das Gesindel sind wir«, sagte sie.

»Genau.«

Hätte sie sich selbst ein Outfit für diesen Tag aussuchen können, wäre es vielleicht leichter gewesen. Das Seidengewand mit den Puffärmeln womöglich, rot mit weißem Bambusmuster, dazu ein neongelber Gürtel und grüne Halbschuhe. Pinker Lippenstift, silberner Nagellack.

Dann hätte sie wenigstens das Gefühl gehabt, beschützt zu sein. »Shuffleboard Grandma goes Glam«, eine ihrer ästhetischen Visionen, hätte als Rüstung gedient. Oder vielleicht auch das A-förmig geschnittene durchgeknöpfte Chiffonkleid, das mit einer Schleife im Nacken gebunden wurde, dazu eine leichte Strickjacke, »Bibliothekarinnen-Chic«. Damit hätte sie ihre Rückkehr zu akademischen Studien zelebrieren können.

Aber die Uniform war dazu gedacht, jegliche Individualität auszuradieren, Vorbeugung gegen alles, das für einen »unangemessenen Aufzug« gehalten werden könnte, und zwar bei denen, »die die Institution St. Francis repräsentierten«, wie im Handbuch für Schüler erklärt wurde. Also hatte sie getan, was sie konnte. Silberner Nagellack, aber kein Lippenstift. Aus dem Zusammenhang gerissen verlor ein Lippenstift in schrillem Pink den ironischen Touch, fand sie. Die Haare hatte sie sich mit einer bis in den Nacken hängenden Schleife zu einem unordentlichen Knoten mitten auf dem Kopf gebunden, grellgrün auf ihrer braunen Haut. Die Locken ragten in alle Richtungen aus der Schleife heraus, zur Flucht bereit, was Miras tiefen Wunsch verriet, hier abzuhauen, so schnell sie nur konnte.

An ihrer alten Schule hatte sie anziehen können, was immer sie wollte. Aber das war eine staatliche Schule gewesen. Mountain View High – oder MouVi, wie die Kids sie nannten (zumindest die, denen es da so gut gefiel, dass sie ihrer Schule einen niedlichen Spitznamen geben mochten) – war die Schule, in der Mira die letzten zehn Jahre verbracht hatte. Aber MouVi war nicht bereit gewesen, auf Miras »besondere Bedürfnisse« einzugehen. Das hatten sie ganz klargemacht. Und nach neunmonatiger Abwesenheit war St. Francis der Kompromiss gewesen.

»Guck dir diese Arschlöcher an.« Sebby beobachtete die Schüler, die den Hügel hochstiegen.

»Betrachte sie als leicht verarschbares Material«, sagte Mira. »Jede Menge Spaß für dich.«

»Wenn’s zu leicht ist, macht es keinen Spaß.« Er setzte sich auf. »Keinerlei Herausforderung. Wie soll ich mich da verbessern?«

»Du könntest ja mal versuchen, zur Schule zu gehen. Ist echt hipp, habe ich gehört.«

»Ich gehe zur Schule. Wie kannst du es wagen!«

»Und wie kommst es dann, dass du gerade mit mir abhängst?«

»Ich lasse sie gern im Ungewissen darüber, wann ich tatsächlich am Unterricht teilnehme. Aber was soll’s, du weißt doch, dass Schule eigentlich nicht so mein Ding ist.«

»Na ja, ich glaub, mein Ding ist es auch nicht.«

»Aber du hast so viel Potenzial.«

Sie verdrehte die Augen.

»Mit dieser Einstellung wirst du es nicht weit bringen im Leben«, sagte er.

»Oh Gott, ich weiß nicht, ob ich das packe.«

Er griff nach ihrer Hand und schaute ihr in die Augen. »Du schaffst das …«, versicherte er ihr und machte eine wirkungsvolle Pause, »alles, was auch immer du dir vornimmst.« Dann fing er an, wie irre zu lachen.

»Okay, danke.«

»Warte, ich bin noch nicht fertig. Du kannst alles erreichen … was du dir erträumst.«

»Nein, du bist fertig.«

Sie stand auf, hängte sich ihre abgetragene Armeetasche aus dem Secondhandladen über die Schulter. Die hatte sie auch in ihrer alten Schule benutzt, die Flicken und Buttons aus dieser Zeit waren aber entfernt.

»Keine Slogans, Logos oder Bilder auf Kleidung oder Schulsachen«, verkündete das Handbuch von St. Francis. »Bitte alle Spuren von Individualität löschen. Unterwirf dich gefälligst dem Regime der seelenlosen Drohnen.«

»Wie wär’s denn, wenn ich danach streben würde, diesen Tag ohne Nervenzusammenbruch zu überstehen?«, sagte sie.

»Das wäre wohl ein Anfang.« Er stand auf und küsste sie auf die Wange. »Tu ja nicht so, als wärst du nicht für Großes bestimmt, mein Liebling.«

Mira war von sich selbst beeindruckt, weil sie es schaffte, sich den ganzen Morgen vom Zimmer der Schulkrankenschwester fernzuhalten. Den Unterricht überstand sie, indem sie still in den hinteren Reihen saß. Es war gar nicht schwer, unbemerkt durchzurutschen im Trubel der Wiedersehensfreude des ersten Schultages, in der die alten Schüler neue Frisuren, Schuhe und im Laufe des Sommers aufgenommene Angewohnheiten verglichen.

Die Mittagspause war aber eine ganz andere Geschichte. Da wurde naturgemäß Interaktion verlangt. Die Cafeteria bestand aus zwanzig großen runden Tischen, die dazu dienten, eine Population aus Schülern und Schülerinnen in eine selbst mandatierte Hierarchie aufzuteilen, die auf einem komplizierten Algorithmus aus gemeinsamer Vergangenheit, gleichen Interessen und gleichem Status beruhte. Und so fand Mira sich mit einem noch feuchten Tablett Essen in den Händen wieder, das ganz bestimmt nicht den rigorosen Anforderungen des von ihrer Mutter ausgeklügelten Diätplanes entsprach, schaute über die sonnendurchflutete Cafeteria im ersten Stock hinweg und versuchte eine langsam aufsteigende Panikattacke abzuwehren. Die Anti-Selbstmord-Fenster standen einen Spaltbreit offen, damit der warme Wind hereinkonnte, die jüngeren Schüler schauten sehnsüchtig zu den Schülern der oberen Klassen, die, wenn sie keinen Unterricht hatten, »Freigangprivilegien« genossen. Wie im Gefängnis verdiente man sich so was durch Jahre guter Führung.

Eine merkwürdige Retterin in Gestalt ihrer Nachbarin Molly Stern erschien an Miras Seite.

»Miranda! Oh mein Gott!« Molly bedachte sie mit so etwas wie einer halben Umarmung, denn sie versuchte die Tabletts, die sie beide hielten, nicht ins Wanken zu bringen.

»Hi. Hallo, Molly«, sagte Mira.

»Meine Mutter hat gesagt, sie meine gehört zu haben, dass du dieses Jahr nach St. F. kommst, aber sie war sich nicht sicher – und ich wollte mir keine Hoffnungen machen, solange nicht absolut sicher war, dass es tatsächlich so ist.«

»Tja, hier bin ich«, sagte Mira. »Es ist tatsächlich so.«

Molly wohnte in derselben Straße wie Mira, in einem Haus, das riesig war, selbst für die Begriffe ihrer McMansion liebenden Nachbarschaft. Als Kinder hatten sie manchmal am Nachmittag zusammen gespielt, Limonadenverkauf oder Malen mit Straßenkreide. Selbst damals hatte Molly etwas Verzweifeltes an sich gehabt. Sie hatte drei ältere Brüder, die berüchtigt dafür waren, Leuten mit Straßenhockeybällen die Fensterscheiben einzuwerfen. Irgendwas in Mollys Gesicht hatte immer gezeigt, dass sie das Schicksal verdächtigte, sie ungerechterweise in ein Leben ohne Schwester gelockt zu haben – und das würde sie ihm nie ganz verzeihen.

Sie hatten sich aus den Augen verloren, als Molly in St. Francis eingeschult wurde und Mira ihrer älteren Schwester auf die Mountain-View-Grundschule folgte. Im Laufe der Jahre hatte Mira Molly zwar gelegentlich auf der Straße gesehen, aber seit die Pubertät zugeschlagen hatte, war dies der erste richtige Blick, der ihr vergönnt war. Mollys Nase war immer noch zu groß, das Gesicht hatte sich ihr nicht angepasst, aber um einen Ausgleich zu schaffen, hatte Molly sich eine gewaltige Mähne herangezüchtet. Um ihren Hals baumelten ein paar Brillanten an einer Kette, so wie es bei vielen St.-Francis-Mädchen beliebt war.

»Du musst dich unbedingt zu uns setzen.« Darauf bestand Molly, die Mira am Arm packte und zu einem Tisch führte, an dem man ganz davon in Anspruch genommen war, ein Exemplar der Cosmo herumzureichen.

»Meine Damen«, sagte Molly, nachdem sie sich auf zwei praktischerweise freie Stühle gesetzt hatten, »das ist Miranda. Wir kennen uns schon ewig.«

Sie sah Mira an, die das bestätigen sollte.

»Einfach nur Mira jetzt.«

»Was?«

»Einfach Mira. Kein Mensch nennt mich noch Miranda.«

»Aber früher haben wir das immer getan«, sagte Molly. »Der Limonadenstand Molly und Miranda. Weißt du noch? Oh mein Gott, wir waren ja so süß. Wir wohnen in derselben Straße«, ließ Molly die Tischrunde wissen.

»Na, jetzt bin ich einfach Mira«, sagte Mira noch mal.

»Oh, na ja, ich liebe Spitznamen. Ich wünschte, ich hätte einen, aber mein Name ist schon so kurz. Nur Molly! Ich bin nie anders genannt worden.«

Sarah, die blonde, perfekt frisierte inoffizielle Anführerin dieses speziellen Mittagstisches, kicherte fies und flüsterte Anna, ihrer Vize, einem indischen Mädchen mit straffem Pferdeschwanz und selbstgefälligem Dauergrinsen, ein höhnisches »Nur Molly!« zu.

Das Mädchen auf Miras anderer Seite streckte ihr die Hand zu einer formellen Begrüßung hin.

»Ich bin Rose«, sagte sie.

Sie trug das Haar kurz und schwarz gefärbt und hatte eine streng wirkende Brille mit eckigem großem Rahmen auf.

»Hey.« Mira schüttelte ihr die Hand.

»Wie läuft dein erster Tag so?«, fragte Rose.

»Ganz okay«, sagte Mira. »Ich hatte gerade Englisch bei Mr Sprenger.«

»Den nennen alle Peter«, sagte Rose.

»Oh mein Gott, was hast du für ein Glück, dass du Peter hast«, sagte Molly. »Das ist der absolut heißeste Typ.«

»Ein guter Lehrer ist er auch«, sagte Rose.

»Vermutlich«, sagte Molly. »Bei mir läuft das ja immer so: ›Was hast du gesagt, Peter? Ich war so beschäftigt damit, dein Gesicht anzustarren.‹« Sie sah nach Bestätigung suchend in die Runde. »Ist doch so?«

Aber Sarah hatte andere Themen im Sinn.

»Du bist also im ersten Jahr?«, fragte sie Mira.

»Irgendwie schon«, sagte Mira. »Ich habe das letzte Schuljahr in Mountain View nicht zu Ende gemacht, also muss ich einen Haufen Sachen nachholen. In Englisch und Geschichte haben sie mich ins zweite Jahr gelassen, aber in allen anderen Fächern sitze ich in den Kursen fürs erste Jahr.«

»Sie ist ja so was von nicht im ersten Jahr«, sagte Molly. »Sie ist älter als ich. Du solltest echt im dritten Jahr sein.«

»Ich bin sechzehn«, sagte Mira, die schon befürchtete, die anderen könnten sie, weil Molly so einen nachdrücklichen Ton angeschlagen hatte, für eine Mittdreißigerin halten.

»Wow«, sagte Sarah. »Mountain View, na so was? Hast du ein Stipendium bekommen, um hier aufgenommen zu werden?«

Ehe Mira antworten konnte, hatte Molly sich schon eingemischt. »Nicht zu fassen, dass ich dich so lange nicht gesehen habe«, sagte sie. »Als wir noch klein waren, haben wir so viele verrückte Sachen in unserer Straße gemacht. Nicht wahr?«

Molly hatte die schreckliche Angewohnheit, alles, was sie sagte, mit einer Frage enden zu lassen, so als könne sie sich in nichts sicher sein, bevor sie nicht eine Meinungsumfrage im ganzen Saal vorgenommen hatte.

»Jede Menge Limonadenstände«, sagte Mira.

»Was ist also passiert?«, fragte Sarah.

»Mit den Limonadenständen? Keine Ahnung. Es wurde Winter?«

»Nein, in Mountain View«, sagte Sarah. »Molly sagte, du hättest einen Haufen Probleme gehabt.«

Molly fing an, nervös an einer Tüte Chips herumzufummeln.

»Ehrlich, Sarah, das habe ich nicht gesagt.«

»Oh, tut mir leid. Ich dachte, ich hätte genau diese Worte von dir gehört, bevor du eben losgezogen bist, um sie an unseren Tisch zu holen.« Sarah guckte Anna mit gespielter Verwirrung an. »Da habe ich wohl etwas missverstanden.«

Anna kicherte fies.

»Ich war krank«, sagte Mira.

»Richtig im Krankenhaus und so?«, sagte Sarah.

Das war zu viel für Molly. »Sarah, du bist wirklich unhöflich. Das ist Mirandas erster Tag.«

»Und da darf ich ihr keine Fragen stellen? Ich mache doch nur Konversation.«

Mira stand auf. »Ich muss mir was anderes zu essen holen.« Sie nahm ihr Tablett. »Dieser gegrillte Käse ist wie Plastik.«

»Oh.« Molly klang enttäuscht. Die Aufnahme in die Gruppe war offenbar nicht ganz so abgelaufen wie geplant.

»Na, hoffentlich geht es dir jetzt besser, Mira«, sagte Sarah mit einer zuckersüßen Stimme, die noch zwei Tische weiter zu hören war. »Und du bist nicht mehr krank.« Das letzte Wort sagte sie so, als sei es so etwas wie ein wahnsinnig komischer Euphemismus.

»Danke«, sagte Mira.

Sie hielt auf den Mülleimer zu und ließ den Rest ihres Mittagessens hineinfallen, ihr feuchtes Tablett stellte sie obendrauf, dann ging sie durch die Cafeteriatür hinaus.

Unten marschierte sie den Flur entlang zum Krankenzimmer. Dort reichte sie der Schulkrankenschwester ihr ärztliches Dauerattest, gab sich der durchhängenden Annehmlichkeit der Pritsche hin und versuchte nicht zu weinen.

Jeremy

Abgesehen von Peter redete an diesem ersten Schultag niemand mit mir. Nicht, dass ich jemandem die Gelegenheit dazu gegeben hätte. Mit gesenktem Kopf zählte ich die Minuten bis zum Ende jeder Stunde, denn ich wusste, dass ich lediglich sagen können musste, dass ich den Tag überstanden hatte.

Als ich nach der Schule nach Hause kam, stand die Eingangstür offen. Ich ging rein.

»Dave?« Ich schlüpfte aus den Schuhen und stellte sie auf ihren Platz im ordentlich bestückten Schuhregal neben der Tür.

»Ich bin in der Küche«, rief Dave zurück.

Ich ließ meinen Rucksack unten an der Treppe fallen und folgte dem Duft von frisch gebackenem Brot. In der Küche legte Dave gerade Kekse auf ein Backblech.

»Hi«, ich setzte mich auf einen Hocker ihm gegenüber. »Du bist schon da?«

Er zuckte mit den Schultern. »War nicht viel los bei der Arbeit.«

»Du bist nicht hier, um nach mir zu sehen?«

»Ich bin hier«, sagte er und zog das Tuch von einem frischen Laib im Brotkasten, »um dir was zu essen zu machen.« Er schnitt eine dicke Scheibe weiches Brot ab und verteilte frische Pfirsichmarmelade darauf. Marmelade einkochen war sein neues Hobby. Der halbe Keller war zurzeit voll mit farbenfrohen Marmeladengläsern, die er gar nicht schnell genug verschenken konnte. Dad meinte, wenn das so weitergehe, müsse er einen Stand am Straßenrand aufmachen.

Dave reichte mir das Brot auf einem Teller.

»Danke«, sagte ich.

»Die Kekse sind in zehn Minuten so weit«, sagte er.

»Kuchen und Brot?«

»Sag deinem Vater nichts davon. Er glaubt ohnehin schon, dass ich uns alle mästen will.«

»Und das ist nicht so?«

Dave lächelte. »Iss.«

Ich nahm einen Bissen. Das Brot war noch warm. »Aber du zwingst mich nicht, über meinen Tag zu reden?«, sagte ich mit noch vollem Mund.

Er nahm das Backblech und schob die Kekse in den Ofen.

»Willst du über deinen Tag reden?«, fragte er, schloss die Ofentür und stellte den Küchenwecker.

»Nein«, sagte ich.

»Na dann, okay.«

Er schnitt sich Brot ab, strich Marmelade drauf und wir saßen schweigend da und aßen.

Mira

Erst als die Schulkrankenschwester leise andeutete, ob Mira vielleicht »versuchen wolle, wieder in den Unterricht zurückzugehen«, gab sie zögernd ihren Platz auf der Pritsche auf und schaffte es, ihren ersten Tag zu Ende bringen. Noch vier Unterrichtsstunden, dann würde sie in den Bus steigen, einen Fensterplatz beanspruchen und mit starrem Blick der neuen Route folgen, die sie von nun an nehmen würde, zweimal täglich, fünf Tage die Woche. Sie zählte die am Fenster vorüberziehenden Querstraßen bis nach Hause. Nichts war ihr je so weit weg vorgekommen.

Der Bus ließ sie an ihrer Einfahrt raus, die Doppeltüren schlossen sich mit einem »pst« hinter ihr.

In dieser Straße war ihr Haus das einzige Relikt aus der Zeit, bevor die Leute in der Nachbarschaft angefangen hatten, gefakte Herrenhäuser zu erbauen, die bis an die Grundstücksgrenzen gingen. Kunstvolle Kronleuchter wurden für alle sichtbar in riesigen Dielenfenstern ausgestellt. Das Haus von Miras Familie mit dem Weidenschaukelstuhl auf der umlaufenden Veranda wirkte, als sei es aus dem Savannah der Zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts geflohen. Ihre Mutter fand, das habe Charme. Mira fand, es wirke einsam. So als habe es seine Freunde überlebt.

Sie atmete tief durch – das war ein Versuch, sich von diesem Tag zu reinigen und an etwas Positives zu denken, das sie ihrer Mutter berichten konnte. Ihre Mutter stand auf positives Denken. Miras Stärke war das nie gewesen. Das Schwesternzimmer würde sie mit keinem Wort erwähnen. Sollte ihre Mutter doch glauben, dass sie diesen Tag aufrecht durchgestanden hatte.

Mira stieg die Treppe zum Haus hoch. Vermeiden ließ es sich nicht. Sie wohnte hier. Irgendwann würde sie reingehen müssen.

»Mira? Bist du das?«, rief ihre Mutter, als die Haustür hinter Mira zuknallte.

»Jaha.«

Mira ging nach hinten durch, zu der Computernische vor der Küche, wo ihre Mutter in diesen Tagen normalerweise anzutreffen war. Vor vierzehn Monaten hatte die Anwaltskanzlei, für die sie das letzte Jahrzehnt gearbeitet hatte, beschlossen, sie lieber freizustellen, als sie zur Partnerin zu machen. Unglücklicherweise handelte es sich um dieselbe Kanzlei, für die auch Miras Vater arbeitete – und der war Partner. Nach ihrer Entlassung verklagte Miras Mutter die Firma wegen Geschlechterdiskriminierung, und seither wurde das Thema Arbeit – etwas, das ihre Eltern immer verbunden hatte – tunlichst umgangen.

Heute trug ihre Mom Sweatpants und ein T-Shirt, das die Teilnahme an irgendeinem 5000-Meter-Lauf verkündete. So als müsste der Beweis erbracht werden, dass sie einmal ihre gesamte Zeit mit 5000-Meter-Läufen verbracht hatte, statt im Pyjama vor einem Computerbildschirm immer bleicher zu werden. Ihr krauses Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der ihr üppig den Nacken runterquoll. Das war ihr Judenafro, sagte sie.

Auf dem Kaminsims im Wohnzimmer stand ein gerahmtes Foto von Miras Eltern aus ihren gemeinsamen Zeiten an der juristischen Fakultät der Columbia-Universität, beide zogen komische Gesichter, das Haar ihrer sehr weißen Mutter war auftoupiert, passend zu dem Afrolook, mit dem sich ihr Dad damals präsentierte. Mira liebte dieses Bild von den beiden.

»Lass dich anschauen«, sagte Miras Mutter.

Mira zog einen Stuhl in die Computernische und unterzog sich der Inspektion.

»Also?«, sagte ihre Mutter. »Erzähl mir alles.«

»War okay.«

»Nur okay?«

Mira seufzte. Sie hatte nicht genug Energie, diesen Tag durchzustehen und dann auch noch darüber zu reden.

»Ich bin müde«, sagte sie.

»Müde-müde? Oder einfach müde?«

»Müde-müde.« Das war ihr Code. Schien besser zu sein als andere Worte, die mit der Last von Diagnosen im Schlepp daherkamen. Als ob sie gerade mal ein richtig gutes Mittagschläfchen brauchte, um sich wirklich besser zu fühlen.

»Auf einer Skala von eins bis zehn«, sagte ihre Mutter.

»Elf«, sagte sie.

Ihre Mutter guckte sie an, als versuche sie sich zu erinnern, welche Einheit positiver Ansprachen sie schon eine Weile nicht mehr zur Anwendung gebracht hatte.

»Was?«, sagte Mira.

»Elf heißt, wir brauchen einen Termin bei Kelly.«

»Nein, Mom, bitte. Ich halte mich an die Diät. Dann muss ich bloß wieder diese grauenhaften Pferdevitamine runterwürgen.«

Kelly war die ganzheitliche Ernährungsberaterin, zu der Miras Mutter sie gebracht hatte, nachdem im letzten Frühjahr die Medikamente abgesetzt worden waren. Nach den Tabletten hatte Mira sich unruhig und beklemmt gefühlt, so als ob ihr Kopf versuchte, ihr Hirn an seinem Platz festzuhalten, was irgendwie nicht gelingen wollte. Kelly war der Kompromiss gewesen.

»Entweder Kelly oder Dr. Hellman. Du hast die Wahl.« Pferdepillen oder Zappeldrogen.

»Gib mir doch einfach die Chance, mich an diesen Laden zu gewöhnen, okay? Hast du gedacht, da drinnen wäre eine ganz besondere Luft, die mich ratzfatz total gesund macht?«

»Ich will nur Bestätigung, dass du der Schule eine Chance gibst.«

»Mach ich. Ich habe alle meine Kurse besucht, bis auf Sport.«

»Mira …«

»Mom …« Sie versuchte den Ton ihrer Mutter zu treffen, versuchte, das hier in eine spielerische Unterhaltung zu verwandeln und nicht in eine weitere panische Sitzung zum Thema »Was wir als Nächstes ausprobieren sollten«.

Ihre Mutter seufzte. »Ich will einfach nur sichergehen, dass wir wirklich alles tun, was wir können.«

»Erste Schultage sind schwer. Gib mir ein bisschen Zeit.«

»Okay. Ich hab’s verstanden. Aber nächste Woche haben wir einen festen Termin bei Kelly, und den lassen wir nicht ausfallen, okay?«

»Klar, Mom.«

»Was hast du heute gegessen?«

»Weiß nicht. Nichts. Ich hatte keinen Hunger.«

Kopfschüttelnd wandte sich ihre Mutter wieder dem Computer zu. »Das geht nicht, absolut nicht. Dein Blutzucker, Mira. Sonst haben wir uns doch all die Arbeit mit dem glykämischen Index umsonst gemacht. Morgen gebe ich dir dein Mittagessen mit.« Sie klickte sich durch die allergenfreien Rezepte auf ihrer liebsten Kochwebsite. »Sieh mal. Vegane, glutenfreie Quiche.«

»Was genau macht das zur Quiche?«

»Na, die Form, vermute ich mal. Es hat die Form von Quiche.«

»Hört sich cool an.«

»Spar dir deinen Sarkasmus.«

»Hört sich ekelhaft an.«

»Danke für deine Ehrlichkeit.«

»Mom, du willst keine Ehrlichkeit. Ich war ehrlich, als ich gesagt habe, dass ich müde bin, und du hast total überreagiert.«

»In Ordnung. Wir fangen noch mal von vorn an, okay?«

»Okay.«

»Also, hast du heute neue Freunde gefunden?«

»Am ersten Schultag findet man nicht so einfach ›neue Freunde‹.«

»Aber kam dir irgendjemand nett vor? Hast du Molly Stern gesehen?«

»Oh ja. Molly Stern habe ich so was von gesehen.«

»Und?«

»Na, sie ist Molly Stern. Was willst du hören? Sie ist wie ein Mensch gewordenes Streifenhörnchen.«

»Bist du ganz sicher, dass du jetzt nicht einfach nur ein Snob bist?«

»Ich. Seit wann bin ich denn ein Snob?«

»Molly ist vielleicht nicht besonders cool oder sonst was«, sagte ihre Mom. Automatisch verdrehte Mira die Augen. »Aber sie ist ein nettes Mädchen, und sie könnte dir dabei helfen, dich einzugewöhnen.«

»Ich sollte sie demnach benutzen, um mich einzugewöhnen, und sie dann fallen lassen, wenn ich ›coole‹ Freunde gefunden habe?«

»Du weißt, dass ich das nicht gemeint habe.«

»Das hast du aber gesagt.«

»Wenn du bei den Leuten, die du kennenlernst, nur halb so kompliziert bist, ist es erstaunlich, dass du überhaupt Freunde hast.«

»Ich hab keine. Weißt du doch.« Mira stand auf. »Sebby ist nicht vorbeigekommen, oder?«

»Nein«, sagte ihre Mutter. »Aber kein Besuch, solange deine Hausaufgaben nicht erledigt sind.«

Mira grunzte.

»Ich nehme doch an, dass du Hausaufgaben hast?«

»Haufenweise.«

»Mira …«

»Was?«

»Du gibst dieser Schule doch eine Chance, nicht wahr?«

»Ja. Mach ich. Versprochen.«

»Okay.«

»Okay.« Mit übertriebener Anstrengung schulterte Mira ihre Schultasche. »Ich schlafe jetzt eine halbe Stunde, dann mache ich meine Hausaufgaben, und dann finde ich einen Haufen neuer Freunde, einverstanden?«

»Stell dir den Wecker«, rief ihre Mutter ihr hinterher, als Mira die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufging. »Dein Vater hat gesagt, er kommt zum Abendessen nach Hause. Er will alles über deinen Tag hören.«

Eine Stunde nachdem der Wecker zu klingeln aufgehört hatte, wachte Mira auf. Ihr graute vor dem bevorstehenden Wiederkäuen ihres Tages für ihren Vater beim Abendessen und sie rief Sebby an. Ihn zu erreichen war nicht immer leicht, weil auf seinem billigen Handy normalerweise kein Guthaben mehr war, was nur hieß, dass er es nicht geschafft hatte, sich eine Guthabenkarte unter den Nagel zu reißen. Das hieß leider, dass er am sichersten zu erreichen war, wenn man bei ihm zu Hause anrief.

Beim ersten Klingeln wurde der Hörer abgenommen.

»Bei O’Connor. Stephanie am Apparat.«

Mira stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, zum Glück war es nicht Sebbys Pflegemutter, eine Frau, die es für sündhaft unhöflich hielt, den Hörer an jemanden weiterzureichen, bevor sie sich nicht mindestens zehn Minuten lang nach Gesundheit und Wohlergehen sämtlicher Familienmitglieder des Anrufers erkundigt hatte.

»Hey, Stephanie. Hier ist Mira. Ist er zu Hause?«

»Weiß nicht, Mira. Was ist es dir wert? Aua!«

Die unverkennbaren Geräusche geschwisterlicher Aggression wurden von dem Ausruf »Gib mir den Hörer, du miese Made!« begleitet, dann folgte ein schmollendes »Das sag ich!« und schließlich war Sebbys Stimme am anderen Ende der Leitung zu hören.

»Tut mir leid, Babe, hier wimmelt es von kleinen Maden.«

»Das ist eklig, Sebby.«

»Ist die Wahrheit. Sie hinterlassen dünne Schleimspuren. Bleib dran.«

Im Hintergrund hörte man Kinder kreischen und ein Baby weinte.

Dann war es still.

»Ich bin im Vorratsschrank, echt wahr«, sagte er.

»Was macht ihr denn dort?«

»Big Momma ist der letzte Mensch auf der Welt, der noch ein Telefon mit Schnur hat. Die reicht nur bis zur Speisekammer.« Sebby nannte seine Pflegemutter Big Momma, was er zum Brüllen komisch fand, weil Tilly O’Connor so dünn war, dass sie ihre Gürtel in der Kinderabteilung kaufen musste.

»Nein, ich meine, was soll das Gekreische?«

»Neue Lieferung. Zwillinge.«

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Doch, doch. Das ist purer Wahnsinn hier.«

Tilly war von Beruf Pflegemutter, sie nahm Kinder in Not auf, die ihr durch eine Dienststelle der Kirche vermittelt wurden. Mindestens zwanzig Kinder hatte sie schon betreut, seit ihr Mann vor neun Jahren bei einem Unfall auf einer Baustelle gestorben war. Zurzeit lebten noch drei andere Kinder in ihrem Haus, zwei Jungs und Stephanie, alle jünger als Sebby.

»Wow. Zwillinge. Das ist ja der Jackpot für Tilly.«

»Und weißt du was: Sie steckt Stephanie zu mir ins Zimmer, weil sie Platz für zwei Gitterbettchen braucht.«

»Oh nein.«

»Du sagst es. Ich und Klein-Stephanie – wir werden uns hier so richtig nahekommen.«

»Darf Tilly so was?«

»Der Staat sagt, das geht klar, solange jeder sein eigenes Bett hat. Glaub mir, ich hab mich erkundigt, weil ich wissen wollte, ob ich anonym Anzeige erstatten kann.«

»Vielleicht findet sie, dass du einen guten Einfluss hast.«

»Vielleicht sollte ich ihr sagen, dass ich ein gottloser Homo bin, und mich hier rausschmeißen lassen.«

»Damit scherzt man nicht, Sebby.«

»Nein, reiß ja keine Witze über gottlose Homos, wenn du in der Speisekammer der frommen Hausherrin festsitzt. Das ist einfach zu paradox, um witzig zu sein.«

»Und da rufe ich an und will mich über meinen Tag beschweren.«

»Ach ja? Wie war’s?«

»Grauenhaft.«

»Irgendwelche besonderen Vorfälle.«

»Na ja, kleine Panikattacke im Krankenzimmer.«

»Das war’s?«

»Das war’s.«

Das Geschrei war wieder da. »Hier drinnen ist er! Er versteckt sich im Schrank, damit er keinen Ärger kriegt!«, kreischte es.

Sebby seufzte. »Hörst du? Ist kein Witz.«

»Ist schon ein bisschen witzig«, sagte Mira.

»Ich mach besser Schluss. Ich muss einen Termin machen, weil ich mir Dauerohrstöpsel implantieren lassen will.«

»Wir reden morgen weiter.«

»Bye, Babe.«

»Bye, Sebs.«

Mira beendete das Gespräch und legte sich wieder auf ihr Bett. Sie schaute an die Wand über ihr. Dort hingen ausgebreitete Nylonflügel an einem Haken, wie die Trophäe einer erfolgreichen Feenjagd.

Unter diesen Flügeln wünschte sie sich, es möge sich alles zum Guten wenden. Für sie beide.

Jeremy

Zwei Wochen nach Schuljahresbeginn beschloss Peter, es mir nicht mehr nachzusehen, dass ich nie ein Wort mit jemandem wechselte.

Meine Mittagspausen hatte ich in seinem Büro verbracht. Was Dave mir zu essen eingepackt hatte, lag ein wenig wackelig auf meinem Skizzenbuch in meinem Schoß, während ich mich in einen Kunstband aus der Bibliothek vertiefte. Das war das Beste am ganzen Tag. Die einzige Störung waren Schüler, die ab und zu Peters Aufmerksamkeit suchten, unter dem Vorwand, über ein Referat oder ein Sonderprojekt sprechen zu müssen.

Peter war der meist bewunderte Lehrer an der St. Francis, mindestens zehn Jahre jünger als seine Kollegen und der einzige, der sich von den Schülern beim Vornamen nennen ließ. Ein langes Gesicht, blassbraune Haare und ein Körper, der sich mit raumgreifender Selbstsicherheit durch die Gänge bewegte, aufrecht genug, um Autorität zu vermitteln, aber lässig. Offen.

Saß ich allein in Peters Büro, wenn andere Schüler kamen, wurde ich eifersüchtig beäugt, und alle fragten sich, wieso ich mir einbildete, mich so in seinem Zimmer einnisten zu können. Dann fiel ihnen der Grund wieder ein, ein Ausdruck von Unbehagen oder Mitleid schob sich über ihre Gesichter wie eine Wolke und ich wendete mich wieder meinem Skizzenbuch zu und ließ sie ziehen.

An diesem Tag steuerte ich Peters Büro an, sobald es zur Mittagspause geklingelt hatte. Wie üblich stand seine Tür offen, ich ließ meine Sachen auf den Boden fallen und machte es mir gemütlich, holte einen Keks aus der Tasche, den Dave mir morgens eingepackt hatte, und aß ihn, wobei ich das Buch mit den impressionistischen Gemälden vollkrümelte, das die Bibliothek gerade reinbekommen hatte.

»Jeremy, Alter.« Peter trat hinter mir ein und warf sein Lunchpaket auf den Schreibtisch. »Wie läuft’s denn so?«

»Gut.« Ich versuchte die Kekskrümel zusammenzufegen.

»Stört’s dich, wenn ich mich zu dir setze?« Er nahm auf der anderen Seite vom Schreibtisch Platz.

»Ist dein Büro«, sagte ich.

»Gut, dass du da bist. Ich wollte dir was zeigen.« Er zog ein Blatt Papier aus dem Regal hinter seinem Rücken und hielt es mir vor die Nase.

»Anmeldung für neue Klubs«, las ich.

»Das Angebot für die Klubs nach der Schule soll erweitert werden, und da dachte ich, dass du vielleicht Interesse hättest, einen Kunstklub zu gründen.«

»Ich?«

Er legte das Blatt auf mein aufgeschlagenes Buch.

»Vielleicht was für die Schüler, die mehr Zeit im Zeichensaal verbringen möchten, als ihnen im regulären Unterricht zur Verfügung steht.«

Da war was dran, die derzeitigen Malkurse konnte man eigentlich vergessen. Ein zutiefst frustrierter ehemaliger Kunstmaler war dazu herangezogen worden, den ewig gleichen Unterricht in perspektivischem Zeichnen und Farblehre abzuspulen. Ich versuchte immer, jede Aufgabe so schnell wie möglich zu erledigen, um wieder an die Zeichnungen gehen zu können, die ich sowieso schon den ganzen Tag machte.

»Glaubst du, die Schule würde uns den Zeichensaal zur Verfügung stellen?«

»Für einen Klub bestimmt.«

Ich nahm das Papier und sah es mir genauer an. Zur Hälfte bestand es aus Zeilen für die Unterschriften und E-Mail-Adressen interessierter Mitschüler.

»Und du willst, dass ich den Klub gründe?«

»Lass dir zehn Unterschriften von x-beliebigen Mitschülern geben – und du hast einen Klub. Ich stehe euch mit Rat zur Seite.«

Ich merkte, dass meine Hände anfingen zu schwitzen, als ich auf das Papier guckte. Zehn Leute. Mit zehn Leuten hatte ich in der ganzen letzten Woche nicht geredet.

»Für deine Collegebewerbung wäre das auch wichtig«, sagte Peter. »Einen Klub zu gründen zeugt von Eigeninitiative.« Er nahm sein Lunchpaket und wickelte ein Thunfischsandwich aus dem Papier.

»Aber bei mir ist nichts mit Eigeninitiative«, sagte ich.

»Hör mal, ich weiß, dass du gern mehr Zeit im Zeichensaal zur Verfügung hättest – und wenn du dafür eine kleine Führungsrolle übernehmen musst, dann ist das eben der Eintrittspreis.«

»Du versuchst doch bloß, mich dazu zu bringen, mit Leuten zu reden, oder?«

Er lächelte und biss von seinem Sandwich ab, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und sah mich kauend an.

»Ich werde in eine Falle gelockt«, sagte ich.

»Besorg die Unterschriften, dann sehen wir weiter«, meinte er. »Es wird nicht wehtun, das verspreche ich.«

»Leicht gesagt.« Ich schob das Blatt hinten in mein Skizzenbuch.

»Gar nicht leicht gesagt, ich hab den Mund voll Thunfisch.«

Ich hatte Freunde, bevor das alles passiert ist. Oder zumindest Leute, mit denen ich redete. Simon zum Beispiel, den Science-Fiction-besessenen Schachspieler aus der Mittelstufe, der nach der achten Klasse weggezogen war. Und Ahmed, der frischgebackene Kapitän des Mathe-Teams, der jetzt ausschließlich mit den anderen Mitgliedern des Mathe-Teams abhing. Aber das war alles vor dem letzten Frühjahr gewesen. Jetzt fielen mir nicht mal zehn Leute ein, die mir den Gefallen tun würden, ein blödes Stück Papier zu unterschreiben.

An diesem Tag saß ich in Peters Englischunterricht und starrte auf das Unterschriftenblatt, zwanghaft zog ich es immer wieder zur Hälfte aus meinem Skizzenbuch – und dann schob ich es schnell wieder rein.

In Peters Kurs waren hauptsächlich Schüler meiner Stufe, also Leute, die schon im letzten Jahr in den Peter-Kult eingeführt worden waren und jetzt wiederkamen, weil sie mehr davon wollten. Fast alle meldeten sich im Unterricht zu Wort, weil sie Peter unbedingt mit einem schlauen Beitrag beeindrucken wollten. Die nervigste Schleimerin aus dem Peter-Fanklub war Talia, die immer früh zum Kurs kam, damit sie an dem großen runden Tisch, den Peter für seinen Klassenraum bevorzugte, auch ja den Platz direkt neben Peter bekam. Sie war winzig, hatte eine Kommandostimme und weißblondes Haar, das sie eher konservativ zu einem Zopf geflochten trug, der ihr über den Rücken baumelte.

Am heutigen Tag belehrte Talia uns darüber, dass man Kurt Vonneguts Schlachthof 5, die uns verordnete Sommerlektüre, unmöglich lesen konnte, ohne zuvor William Faulkners Schall und Wahn gelesen zu haben. Peter, der sich ständig über seine Schüler zu amüsieren schien, war der Einzige, der ihr zuhörte.

»Man kann Vonnegut nicht wirklich verstehen, wenn man die Anspielungen nicht versteht«, sagte sie gerade.

Talia und ich waren beide Lebenslängliche in St. Francis. Wir waren eine seltsame Spezies. Lebenslängliche fingen im St.-F.-Kindergarten im Grundschulgebäude an und zogen durch die Stadt, um in die Mittelschule und schließlich in die Highschool aufzusteigen. Nach zehn gemeinsamen Jahren in einer so kleinen Institution wussten wir alle viel zu viel übereinander. Irgendwann in der dritten Klasse hatte eine Art Klaustrophobie eingesetzt, die offenbar nur schwer wieder loszuwerden war.

Wenn also jemand Neues in diese Welt vorgegebener Machtstrukturen kam, jemand, der aussah, als wäre eine gewisse Leere nichts Unbekanntes für ihn, dann würde diese Person auffallen. Oder mir auffallen. Mir fiel sie auf.

»Mira.« Am ersten Schultag, als wir uns am Tisch reihum vorstellten, hatte sie ihren Namen gesagt. Ihr lockiges Haar war mit einer Schleife zusammengebunden, gedankenverloren klopfte sie mit silbern lackierten Fingernägeln auf den Tisch.

Ich war so entschlossen, nicht in die bekannten Gesichter zu gucken, dass ich den Blick immer auf sie richtete, wie ich irgendwann bemerkte. Auf ihren Hinterkopf morgens im Geschichtskurs. Auf sie, wenn sie nachmittags in Peters Unterricht mir schräg gegenübersaß, auf ihre Locken, die auf ihrer Mission, aus der Ordnung auszubrechen, im Laufe des Tages gut vorangekommen waren. Sie war die einzige andere Person, die genauso still war wie ich. Während ich dasaß und zeichnete, arbeitete sie oft ziemlich unverhohlen an Hausaufgaben für ihre anderen Kurse. Das offene Algebrabuch vor ihr wurde nur halb von ihrem Englischheft verdeckt.

Auch nach der Schule hatte ich sie gesehen, sie rannte dann immer den Hügel runter, um sich mit einem schlaksigen Jungen in Straßenklamotten zu treffen, der dort jeden Tag auf der Bank auf sie wartete. Die Nachmittagssonne strahlte von hinten auf seine blonden Haare und versah ihn mit einem Heiligenschein.

Ich widmete mich meinen Skizzen, immer wieder unterbrochen von verstohlenen Blicken auf die Anmeldeliste. Jedes Mal, wenn ich das Blatt wieder in meinen Skizzenblock schob, hoffte ich, es würde für immer verschwinden. Ein Bild von mir ganz allein im Zeichensaal zuckte mir durch den Kopf. Ob sie mir wohl einen Klub für nur eine Person zugestehen würden?

Talia beharrte noch immer »auf diesem direkten literarischen Einfluss«, als ich von meinem Skizzenbuch aufschaute und merkte, dass Mira mich ansah – oder zumindest den Raum, den ich gerade einnahm. Eigentlich sah sie nichts Bestimmtes an. Aber dann sah ich sie an, wie sie mich ansah. Es dauerte eine Weile, ehe ihr Blick die zufällige Überschneidung der Sichtfelder registrierte. Ich spürte, wie ich vor Verlegenheit erstarrte. Aber dann lächelte sie, neigte den Kopf ein wenig in Richtung Talia, die irgendwie immer noch redete, und verdrehte die Augen. Ich lachte, eher geschockt, weil sie mich bemerkt hatte, als sonst was – dass jemand bereit war, für mich einen Witz zu machen. Das Mädchen neben mir guckte giftig auf meine Zeichnung und Miras ungeniert aufgeschlagenes Algebrabuch. Mira lächelte und widmete sich wieder ihren Hausaufgaben.

Die letzte Stunde dieses Schultages zog sich unendlich, weil ich beschlossen hatte, Mira zu bitten, den Zettel für den Kunstklub zu unterschreiben.

Mein letzter Kurs fand im Biosaal im ersten Stock statt, von wo aus man einen ausgezeichneten Blick auf den Parkplatz und einige der Oberstufenschüler hatte, die das Privileg genossen, ihre Stundenpläne selbst zu gestalten – und es so einfädeln konnten, dass sie in der letzten Stunde »Lernzeit« hatten. Lehrer, die diese Lernzeit in der letzten Stunde betreuten, waren berüchtigt dafür, die Schüler früher gehen zu lassen, denn das bedeutete, dass auch sie früher gehen konnten. Ein Augenblick der Wahrheit – und Eingeständnis, dass keiner von uns in diesem Gebäude festsitzen wollte.

Noch fünfzig Minuten Fruchtfliegenvortrag, dann würde ich aus dem Klassenraum stürzen, mir Jacke und Rucksack aus dem Spind schnappen und mich durch die Schülermassen drängeln, die sich vor dem Haupteingang stauten, raus in die einladende Nachmittagsluft. Mit dem Formular in der Hand stand ich da und mein Blick suchte die aus dem Gebäude quellenden Gruppen von Leuten ab. Ich entdeckte sie nicht. Die Bank unten am Hügel war leer.

Ich guckte auf das Blatt Papier in meiner Hand. Wie kam ich darauf, dass sie unterschreiben würde? Weil sie neu war? Weil sie es nicht besser wusste? Glaubte ich etwa, dass sie noch nicht mitgekriegt hatte, dass ich unsichtbar war?

Ich hatte den Rucksack abgenommen, mich hingehockt und den Reißverschluss aufgemacht, um das Formular reinzustecken, als sie an mir vorbeiging, der Kilt ihrer Schuluniform zog ganz nah an meinem Gesicht vorbei. Ich schaute auf und sah ihren unverwechselbaren wirren Haarknoten, der heute mit einer lila Schleife zusammengebunden war – zu der auch ihr Lippenstift passte.

»Mira!« Ich kauerte noch immer über meinem Rucksack.

Sie drehte sich um. »Ja?«, sagte sie.

»Äh, Mira ist doch richtig, oder?«, sagte ich und stand auf.

»Jap.«

»Ich bin Jeremy – aus deinem Englischkurs.«

»Ja. Ich weiß. Was ist denn?«

»Oh, äh, ich … sammele Unterschriften für die Gründung eines neuen Klubs. Es ist ein Kunstklub. Für jeden, der nach der Schule gern noch Zeit im Zeichensaal verbringen möchte. Ich brauche zehn Unterschriften und hab überlegt, ob du vielleicht … äh, ob du dich eventuell eintragen möchtest?«

Ich zog das Formular wieder aus dem Rucksack und hielt es wie ein Schild vor mich.

»Ich hab Kunst nicht belegt«, sagte sie.

»Das macht nichts. Du musst nicht unbedingt mitmachen. Ich brauche nur zehn Unterschriften von irgendwelchen Schülern.«

Mira nahm mir das Blatt ab.

»Hast du einen Stift?«

Ich zog einen aus meiner Hemdtasche. Klappte das tatsächlich? Musste ich nur fragen?

»Brauchst du meine E-Mail-Adresse auch?«

Ich guckte das Formular an, als hätte nicht ich die letzten drei Stunden nonstop draufgestarrt.

»Ja, glaub schon. Dann kann ich allen, die sich eintragen, einfach eine Nachricht schicken und sie wissen lassen, ob es klappt.«

Sie nahm Stift und Papier und versuchte es sich zum Schreiben auf die Hand zu legen.

»Oh, hier.« Ich zog ein Buch aus meinem Rucksack und hielt es ihr als Unterlage hin.

Sie unterschrieb, setzte ihre E-Mail-Adresse dazu, nahm mir das Buch ab und gab mir den Zettel zurück.

»Was ist das?«, fragte sie und schlug das Buch auf. Es war ein Band über die Arbeiten meines Lieblingskünstlers Nick Cave, ein Geburtstagsgeschenk von Dad und Dave.

»Oh, das ist ein Künstler. Er macht diese irren Kostüme.«

Sie blätterte sich durch Bilder von Leuten, die von Kopf bis Fuß von Plüschtieren und bunten Fransen bedeckt waren.

»Das mag ich am liebsten.« Ich zeigte auf ein Foto von einem kleinen Strichmännchen, das aus der Höhle seines eigenen Körpers lugte, sein Gesicht war in der Schwärze des hölzernen Kokons nicht zu erkennen.