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Die Handlung umfasst zeitlich etwas mehr als vier Monate zwischen Ende August 2015 und Anfang Januar 2016. Die Flüchtlingswelle in Deutschland erreicht ihren Höhepunkt und die Stimmung im Land kippt, so auch in einer 5.000-Einwohner-Gemeinde mit ihren gutsituierten Bewohnern im Berliner Speckgürtel. Fünf dort lebende Familien sind eng befreundet, so scheint es zumindest. In ihrer Beziehung untereinander geht es aber nicht nur um gemeinsame Erlebnisse und Feiern. Die Welt dreht sich um Konsum, um das Mithalten- und Übertreffen-Wollen und um die Pflege der eigenen Perfektion in der öffentlichen Wahrnehmung. Die Ankündigung des Baus einer Flüchtlingsunterkunft an prominenter Stelle führt innerhalb des Ortes und des Freundeskreises schließlich zur Spaltung. Die einen beschwören die Gefahren durch muslimischen Zuzug herauf, die anderen gründen voller Elan eine Flüchtlingsinitiative. Durch die Ausnahmesituation des Jahres 2015, denen sich der Ort, seine Institutionen und Bewohner stellen müssen, geraten übliche Gepflogenheiten, die dörfliches Leben ausmachen, ins Wanken. Die dunklen Geheimnisse der Protagonisten kommen durch unerwartete, emotionsgeladene Situationen erst schemenhaft und dann immer klarer ans Licht. Jedes einzelne Mitglied des Freundeskreises hat in dieser Krise so sehr mit sich selbst zu tun, dass Respekt und Empathie nahezu vollständig auf der Strecke bleiben. Keiner sieht das Unheil kommen, obwohl es sich zunächst leise, dann immer sichtbarer andeutet. Und irgendwann ist es zu spät.
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Seitenzahl: 340
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Über den Autor:
Martin Glania, geboren 1967 in einer Stadt nahe Offenbach, ist ein Spätstarter in Sachen Literatur und Belletristik. Nach kaufmännischer Ausbildung und berufspädagogischem Studium in Hessen hat es ihn in den Berliner Raum verschlagen, wo er mit Familie seit Jahrzehnten lebt. Genau dort spielen auch die Handlungen seiner Romane. Nach „Bis zum Abpfiff“ aus dem Jahr 2020 folgt jetzt mit „Fassade“ erneut ein Roman, der Berlin braucht und gleichzeitig meidet.
Zur Vermeidung von Missverständnissen:
Dieses Buch ist ein Roman, in dem Menschen spielen, die vom Autor frei erfunden wurden. Ähnlichkeiten von Handlungen und Personen mit der konkreten Realität sind nicht gewollt und rein zufällig. Gleichwohl ist der Roman eingebettet in eine Zeit, die er versucht realistisch widerzuspiegeln. Erwähnte prominente Personen werden hierzu originalgetreu zitiert. Das ist kein Zufall, sondern sorgfältig recherchiert. Die Einbettung solch konkreter Zitate wiederum unterlag der künstlerischen Freiheit des Autors.
Für Mama
Das sind sie …
Prolog
Freunde
Wir schaffen das
Wahrheit und Lüge
Zwischen allen Fronten
Erwärmende Musik und kalte Füße
Wieder vereint?
„Ich liebe dich“
Lulu99
Umarmungen
„Orbicularis oculi?“
„Feierliche“ Tage und das „frohe“ Neue
Orientierung kann schnell verloren gehen – gerade in unruhigen Zeiten. Auf den folgenden 260 Seiten wird das einigen der Protagonisten passieren.
Orientierung kann aber auch dem Lesenden verloren gehen. Daher möchte ich dafür sorgen, dass dies nicht passiert und vorab fünf Familien vorstellen. Sie leben unweit voneinander in einem um die Jahrtausendwende entstandenen Neubaugebiet im Berliner Speckgürtel. Und sie bilden einen festen Freundeskreis:
**Michaelis**
Familie Michaelis, Vater Bernd (51) und Mutter Franziska (49), unter Freunden die Franzi, – er an einer Berliner Hochschule tätig, sie im Hotelmanagement. Der wohlgelungene Nachwuchs besteht aus Magdalena (17), Patrizia (15) und Konstantin (13). Die Kinder lassen sich von Gleichaltrigen gerne auch Maggi, Pat und Tino nennen, was dem Vater nur bedingt gefällt. Bernd würde seiner Familie trotzdem und mit einem an Arroganz grenzenden Selbstverständnis zehn von zehn Sternen geben.
**Kriechmann**
Familie Kriechmann ist da ziemlich ebenbürtig: André (48) und Anja (46) stehen für Beamtenkarrieren im höheren Dienst, die Kinder Emily (15) und Lukas (13) für Sportlichkeit und Ehrgeiz. Niemand vergibt hier Sterne – man weiß, was man kann. Aber Bernd – ein paar Häuser weiter – tut das trotzdem und gönnt den Kriechmanns acht von zehn – zwei Sterne Abstand müssen sein.
**Winkler**
Ob Bernd hingegen der Familie Winkler überhaupt Sterne geben würde, ist fraglich. Kann man die als Bauhandwerker, Udo (46), oder Schichtarbeiterin im Pflegedienst, Verena (45), genannt Schnecki, überhaupt erreichen? Und Sohn Tom mit seinen pubertären 16 Jahren kann da schon gar nichts herausreißen.
**Rosenzweig**
Dahingegen sind nach Bernds Leistungsskalierung für die Familie Rosenzweig schon sechs von zehn Sternen drin. Schließlich ist die jüdische Familie angesehen, fleißig, erfolgreich und immer bereit, etwas zurückzustehen. Michael (50) arbeitet als Dozent, Daniela (44), die allseits beliebte Danny, im Sozialamt. Jakob (12) und Aaron (9) sind wie ihre Eltern: auf ihre eigene Art erfolgreich und unauffällig.
**Wójcik-Müller**
Und dann sind da noch die alleinstehende Polin Elena Wójcik-Müller (38) und ihr Sohn Damian (11). Elena ist zwar polnischer Abstammung, sie möchte aber ganz unpolnisch Elly genannt werden. Und noch etwas ist wichtig: Man muss sie einfach mögen – nicht nur wegen ihrer Grübchen. Sie hat sich mit ihrem Sohn bestens in den Freundeskreis integriert.
**Blatter**
Außerhalb dieses aus fünf Familien bestehenden Freundeskreises stehen Geli und Karsten Blatter, 40 und 43 Jahre alt: Sie bedeutungslos, naiv und anhimmelnd, er attraktiv, sportlich und natürlich Chef.
So weit, so schlecht. Mit den Protagonisten sind in ihrem kleinbürgerlichen Umfeld die Voraussetzungen für die langweiligste Geschichte aller Zeiten geschaffen – eigentlich …
7. Januar
Es ist einer der Tage, an dem sicher ist, dass die Sonne keinen Moment scheinen wird. Es ist ein kalter Tag, einer der Tage, an dem das Minus dominiert – jede Sekunde, jede Minute und jede Stunde. Erbarmungslos.
Bei mir dominiert das Minus schon lange – nicht erst in dem Moment, als ich den Brief geschrieben und auf den Küchentisch gelegt habe. Nein, es ist seit Monaten kalt. Es ist kalt in meiner Seele. Sehr kalt. Es ist eine Kälte, die lodert und klirrt zugleich. Die meine Gedanken vereinnahmt, die guten mir stiehlt und gegen böse austauscht.
Ich lasse sie seit einiger Zeit gewähren. Weil mir die Kraft fehlt. Weil mir niemand hilft oder ich nicht möchte, dass mir jemand hilft. So genau weiß ich das nicht. Ich weiß nur, dass es weh tut. Und ich weiß, dass ich die Schmerzen nicht mehr ertragen kann. In meiner Seele, die lodert und klirrt zugleich.
Also gehe ich den Weg erneut. So wie schon mehrfach in den letzten Wochen. Und ich spüre: Heute ist alles anders. Heute werde ich gewinnen. Meine Schmerzen besiegen. Und egoistisch sein. Ja, egoistisch!
Meine Zuversicht beflügelt mich. Sie lässt mich die Treppen des Rohbaus mit Leichtigkeit bewältigen. Alle vier Stockwerke. Sie lässt mich auf das Mauerwerk steigen – zwischen den stabilen Verstrebungen des Dachstuhls hindurch. Und sie lässt mich ohne Angst in die Sehnsucht schauen: nach unten in den betonierten Kellereingang des künftigen Mehrfamilienhauses.
Dann mache ich das, was ich mir vorgenommen habe, bevor ich zusammen mit meiner Musik in den Ohren den erlösenden Schritt nach vorne gehe. Noch einmal nachdenken. Und noch einmal beten. Gott um Verzeihung bitten an diesem Tag, an dem sicher ist, dass die Sonne keinen Moment scheinen wird.
Mehr als 4 Monate zuvor, 27. August
Sie lag nahezu regungslos neben ihm. Ihre Augen waren geschlossen. Die Mundwinkel zeigten kaum merklich nach oben und sie wirkte erfüllt. Ihr Körper, den er eben noch bewundert und gespürt hatte, war jetzt wieder bedeckt und entzog sich seinen Augen. Es genügte ihm aber, ihr von Zufriedenheit erfülltes Gesicht zu betrachten: ihre langen Wimpern, ihre kleine Nase und ihre winzigen Grübchen, die sich durch die heraufgezogenen Mundwinkel auf ihren Wangen besonders deutlich abzeichneten. Sie hätte mit jedem Sex haben können, aber sie wollte ihn – und das seit Monaten.
Heute war sie einen Schritt weitergegangen. Sie hatte ihm ihre Liebe gestanden. Leidenschaftlich hatte sie das getan. Und trotzdem glaubwürdig. Ihn machte das stolz, denn er war eitel. Ihn beunruhigte das aber auch, denn er war verheiratet. Glücklich verheiratet. Das sagte er jedenfalls. Immer wenn ihn jemand fragte. An Nachmittagen wie diesem fragte aber niemand.
„Wie soll es mit uns weitergehen?“ Ihre Stimme war bezaubernd. Und sie klang trotz des zweifelnden Inhalts verliebt. Allerdings war es die verbotene Frage. Eine der wenigen, auf die er keine Antwort hatte. Und Antworten hatte er ansonsten immer. Aber eben nicht auf diese Frage. Er wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Nicht wissen war eigentlich kein Problem für ihn – zu eloquent meisterte er sein Leben in fast allen Lagen. Jetzt war das anders. Nach Eloquenz riechende Floskeln passten in diesem Moment ganz und gar nicht.
Sie wartete ein paar Sekunden, sah ihn ob der ausbleibenden Antwort strafend an und setzte sich auf die Bettkante, während sie die Bettdecke um sich legte. Einen Blick auf ihren Körper, den sogar sie selbst trotz ihrer Bescheidenheit als attraktiv bezeichnen würde, verwehrte sie ihm damit. Und sie hakte nach: „Sag mir, was du denkst.“
„Du faszinierst mich.“ Er machte eine kurze Pause. „Du bringst mein Leben ins Wanken.“
Sie dachte kurz nach. Und sie filterte gedanklich das Positive aus seiner Antwort heraus. Sie beschloss, dass ihr diese zwei kurzen Sätze reichten und sie lächelte. ‚Ins Wanken bringen‘ klingt ziemlich gut und das sollte erst einmal genügen. Für heute zumindest. Ohne die Decke mitzunehmen stand sie auf und ging in Richtung Hotel-Bad. Damit war ihm nun wieder ein Blick auf ihren mit dezenten Wölbungen versehenen Hintern vergönnt. Sie wusste ganz genau, was das schon wieder bei ihm auslösen würde. Sie kannte ihn. Inzwischen kannte sie ihn gut. Und sie wusste, dass er eines Tages alles für sie aufgeben würde.
**Winkler**
Verena Winkler hob die Hand, um an die Tür zu klopfen. Zuvor hatte sie sich noch am Namensschild vergewissert, dass sie richtig war: „Margot Brinkmann Schuldnerberaterin N-Z“. Hier hatte die blonde Mitvierzigerin um 16.00 Uhr einen Termin, den sie nach absolvierter Frühschicht zeitlich gut erreichen konnte und auch pünktlich erreicht hatte. Der Weg hierher war ihr schwergefallen. Aber sie wusste keinen Ausweg mehr. Und sie konnte noch nicht einmal mit ihrem Mann darüber sprechen. Udo sah keinen Anlass, sich Sorgen zu machen. Vielleicht schaute er auch bewusst weg bei diesem Thema. Also nahm es Verena selbst in die Hand. Sie klopfte zweimal etwas zaghaft an die Tür.
„Hallo, Verena.“ Es war eine bekannte Stimme, die sie in ihrem Rücken hörte. So bekannt, dass sie ihr durch Mark und Bein ging. Die Stimme gehörte zu Daniela. Und Daniela war nicht irgendwer. Sie war eine ihrer besten Freundinnen. Verena wäre am liebsten im Boden versunken.
„Hallo, Danny.“ Ihre Stimme verriet Unsicherheit. „HIER arbeitest du? Ich dachte …“. Dass die dunkelhaarige, leicht untersetzte Mitvierzigerin Daniela hier nicht als Kundin oder Besucherin war, das war offensichtlich. Mit eleganter Hose, Bluse und einer Akte in der Hand war klar, dass sie hier ihre Brötchen verdiente. Verena wusste nur, dass ihre Freundin seit vielen Jahren beim Sozialamt beschäftigt war – offenbar im selben Gebäude wie die Schuldnerberatung. ‚Na toll‘, dachte Verena.
„Wir haben unsere Büros auf der anderen Seite …“ Daniela deutete mit einem Handzeichen den Gang entlang. Ihr war klar, wie unangenehm die Situation für Verena sein musste. Und auch für sie selbst war dieses zufällige Treffen eher peinlich. Trotzdem oder gerade deshalb wollte sie die Situation so nicht stehen lassen. „Übrigens. Zimmer 212. Mein letzter Kunde ist schon raus, ich bin aber noch eine Stunde hier.“ Daniela zögerte kurz. „Kommst du gleich mal vorbei?“ Sie machte noch einmal eine kurze Pause. „Aber nur, wenn du Zeit hast.“ Sie wollte ihrer Freundin unbedingt die Möglichkeit geben, Nein zu sagen. Es wäre vielleicht für beide Seiten das Beste.
„Das ist lieb von dir, aber ich habe es nachher supereilig – sorry, Danny. Vielleicht ein andermal.“ Verena ging auf Daniela zu und drückte ihr ein nachträgliches Begrüßungs-, aber jetzt wohl eher ein Abschiedsküsschen auf die Wange. „Wir sehen uns ja morgen Abend.“
„Ja, stimmt! Ich freu mich!“ Daniela lächelte etwas verlegen, drehte sich um und machte sich auf den Weg – offenbar in Richtung ihres Arbeitsplatzes.
„Herein.“ Erst jetzt kam das Signal aus dem Büro, die Tür öffnen zu dürfen.
Verena saß der Schreck über die zufällige Begegnung noch im Nacken. Sie riss sich zusammen, ergriff die Türklinke, da fiel ihr noch etwas ein. „Danny!“ Verena wartete, bis ihre Freundin stehen blieb und sich umdrehte.
„Ja, Schnecki.“ Daniela nannte sie manchmal liebevoll so – wie auch der gesamte Freundeskreis.
„Danny.“ Verena fielen die Worte offenkundig schwer – gerade auch, weil sie jetzt ihre Stimme dämpfte. „Udo weiß übrigens von nichts … Also, dass ich hier bin, meine ich.“
Die beiden Freundinnen sahen sich einen Moment in die Augen. Verena konnte dem allerdings nur kurz standhalten. Sie spürte wie so oft in letzter Zeit, dass sie erschöpft war. Die Probleme der letzten Woche mit Arbeit, Familie und Finanzen, das morgens auf der Waage dokumentierte fehlende dicke Fell und jetzt auch noch diese unheilvolle Begegnung.
War da ein Vorwurf in Danielas Blick? Weil sie ihr nichts von den Problemen erzählt hatte? Wie lange kannten sie sich? Zehn Jahre … oder zwölf? Wie oft waren sie gemeinsam im Urlaub gewesen? Wie oft hatten sie sich schon gegenseitig den Rücken eingecremt? Jetzt quälte Verena auch noch dieses Schamgefühl.
„Klar.“ Nach Danielas knapper Antwort trafen sich die Augen der beiden Freundinnen erneut. „Klar, Schnecki. Von mir erfährt er nichts.“ Nun kam ein Lächeln hinzu, erst bei Daniela, dann bei Verena.
„Herein“, quoll es ungeduldig und dieses Mal etwas lauter durch die viel zu große Ritze zwischen Fußboden und Behördentür.
**Michaelis**
Bernd Michaelis kam an diesem Tag überpünktlich nach Hause. Er hatte es seiner Frau versprochen, die als Hotelmanagerin – wie so oft – Veranstaltungen am frühen Abend organisieren musste. Aber Bernd wusste, dass seine Kinder das nicht ausnutzen würden. Und er fühlte sich bestätigt, als er die Tür seines SUV in der im Haus integrierten Tiefgarage öffnete. Da waren Laute einer Violine vernehmbar, die an sein Ohr drangen – mit der bekannten Melodie des 1. Satzes von Mozarts Kleiner Nachtmusik. Das war sofort zu erkennen.
Und es war ebenfalls hörbar, dass da jemand sein Instrument beherrschte. Seine Tochter Magdalena hatte das Geigespielen mit sieben Jahren begonnen. Schon ein halbes Jahr später klang das Aufeinandertreffen von Bogen und Saite nach Musik. Keine quietschenden Töne, die manche musikliebende Familie in Nah und Fern über Jahre ertragen musste. Auch das hatte im Hause Michaelis besser funktioniert als andernorts – wie so vieles.
Die positiven Folgen waren unübersehbar: Als vorläufigen Höhepunkt durfte sie in einem außergewöhnlich guten Jugendensemble als eine der beiden Violinistinnen mitspielen. Und das bei der Mozart-Darbietung im Rahmen der Deutschen Meisterschaften der Jugend-Kammermusikensemble, dessen Finale demnächst in Berlin anstand.
Bernd hatte zu seiner ältesten Tochter eine besonders innige Beziehung. Nie hatte Magdalena Probleme bereitet. Immer war sie leistungswillig und sie lieferte stets ab. Ihre Eltern zu enttäuschen – das kam für die Älteste des Michaelis-Nachwuchses nicht in Frage. Daher war bei ihr die Pubertät auch ungewöhnlich glatt verlaufen.
„Wunderbar.“ Bernd war mittlerweile oben im Haus angekommen, um die Kinder zu begrüßen. Bei Magdalena steckte er nur kurz den Kopf durch den Türspalt und zeigte neben dem von sich gegebenen Adjektiv auch mithilfe des nach oben gerichteten Daumens, was er von der musikalischen Übung hielt. Um gleich danach mit Mimik und Gestik zu signalisieren: ‚Mach so weiter. Ich will gar nicht stören‘ und die Tür wieder zu schließen.
Es war ein schönes Gefühl für Bernd zu wissen, dass alle seine drei Kinder ihn mochten und zu ihm aufsahen. Seine Meinung zählte. Er hatte einen guten Umgang mit Magdalena sowie ihren beiden Geschwistern Patrizia und Konstantin gefunden. Die Kinder wussten, dass ihr Vater ein angesehener und beruflich erfolgreicher Mann war. An der Universität war er der Kanzler und damit der Leiter der Verwaltung, außerdem Mitglied des Präsidiums. Das brachte ihm in seinem Freundeskreis den Namen ‚Kanzler‘ ein, was er nach außen nicht, aber im Geheimen schon, mochte. Auch seine Kinder fanden es cool, dass ihr Vater von Beruf Kanzler war. Und ab und zu kokettierten sie damit – besonders der 13-jährige Konstantin.
„Guten Abend, junger Mann“. Tino hatte seinen Vater bereits gehört, was ihn offensichtlich dazu veranlasste, sein Cello wieder zwischen die Beine zu nehmen. Diesen Schachzug durchschaute Bernd allerdings, nachdem er das Zimmer seines Sohnes betreten hatte. „Schön, dass du so fleißig übst“, sagte er mit einem Augenzwinkern. Beide Seiten wussten Bescheid. Schließlich war Tino kein begeisterter Musiker.
„Wenn überhaupt, dann Schlagzeug“ hatte er sich vor Jahren mal gewehrt. Aber das kam für Dr. Bernd Michaelis nicht infrage. „Musikinstrument, habe ich gesagt“, hatte er damals geantwortet.
„Hausaufgaben fertig, Konstantin?“
Bernd sprach ihn immer mit vollem dreisilbigen Namen an. Aus Prinzip. Er wusste genau, dass sein Sohn lieber ‚Tino‘ genannt werden wollte – wie von seinen Freunden auch. Bernd hasste allerdings Abkürzungen. Konstantin hatte sich daran gewöhnt.
„Klaro, Dad.“ Wie viele Jungs in diesem Alter kam er mit relativ wenigen Worten aus und bestritt sein Leben dennoch oder gerade deshalb erfolgreich. Angesichts seiner guten Schulleistungen und seiner grundsätzlich positiven Einstellung zum Lernen gab es auch überhaupt keinen Anlass, an der Wahrheit dieser Aussage zu zweifeln.
„Gut so.“ Bernd macht eine kurze Pause. „Ich glaube, du bist heute mit Abendessen dran.“
Die Gesichtszüge von Konstantin trübten sich ein. „Jaja, ich weiß.“
„18:00 Uhr, abgemacht?“
Tino nickte und Bernd wusste, dass er in einer halben Stunde pünktlich an einem fertig gedeckten Abendbrottisch würde sitzen können. Er lächelte zufrieden in sich hinein und schloss die Tür.
Immer wenn seine Frau am frühen Abend noch nicht da war, machte Bernd einen Rundgang durch die Kinderzimmer. Er holte sich damit stets die Bestätigung, die er brauchte. Er wollte sich einmal mehr davon überzeugen, dass seine Kinder wohl geraten waren. Täglich wollte er das bestätigt sehen. Und er wollte auch, dass dieser Eindruck nach außen getragen wurde.
Familie Michaelis machte tatsächlich den Eindruck einer Musterfamilie. Alle Kinder waren hübsch, gepflegt und trugen Kleidung der oberen Preisklasse. Alle waren dunkelhaarig und hatten blaue Augen – genau wie die Eltern. Das machte die Familie auch optisch zu etwas Besonderem. Man spürte nicht nur, dass sie eine Einheit waren, man sah es auch. Zumal alle groß und natürlich schlank waren. Selbst die Geheimratsecken von Bernd – fast der einzige Makel im Erscheinungsbild der Gesamtfamilie – schienen sich in den letzten Monaten zurückzuentwickeln. Wie immer das auch funktionieren mochte.
„Hallo, Patrizia.“ Auch das Zimmer seiner mittleren Tochter betrat Bernd ohne anzuklopfen. Bereits von außen hatte er die Musik gehört, die offenbar verhinderte, dass sein Annähern rechtzeitig registriert wurde. Bernd blickte als erstes in die großen, blauen Augen seiner Tochter. Dann registrierte er ihre zerzausten, dunklen Haare. Mehr konnte er nicht sehen. Denn Patrizia saß auf ihrem Bett und hatte die Bettdecke bis zur Nasenspitze nach oben gezogen – gerade eben, das spürte ihr Vater.
„Hallo Dad.“ Patrizias Augen verloren sich bei diesen Worten im Raum. Sie war zu unsicher, um ihren Vater direkt anzusehen. Der registrierte das allerdings nicht – wohl aber die eigenartig gewölbte Bettdecke zu den Füßen seiner Tochter. ‚Bitte nicht‘, dachte er, während er mit drei großen Schritten zum Bett ging und die Bettdecke wegzog.
Der junge Mann darunter erschrak. Er war lediglich mit einer Boxershort und einem T-Shirt bekleidet. Sein Kopf hatte offenbar eben noch seitlich auf Pats Bauchnabel gelegen, die nur einen BH und einen äußerst knappen Slip trug. Die Situation war ziemlich eindeutig, auch wenn sie nicht verriet, wie weit die beiden jungen Menschen bereits gegangen waren oder noch gegangen wären.
Bernd brauchte angesichts der Szenerie gerade mal eine Sekunde bis zum Brodeln. Er war nicht in der Lage, seine Emotionen zurückzuhalten. Er packte den vielleicht 16-Jährigen am Oberarm und zog ihn mit antrainierten Kräften seines rechten Arms aus dem Bett seiner Tochter. „Was ist denn hier los?“, brüllte er. Dann blickte er in das Gesicht des jungen Mannes. „Tom? Du? Ich glaub‘ s ja nicht. Mach, dass du hier rauskommst.“
Bernd hatte richtig gesehen. Bei dem jungen Mann handelte es sich um Tom Winkler, dem Sohn seiner Freunde und Nachbarn. Tom, der sich hektisch und umständlich mit hochrotem Kopf seine Jeans anzog, hatte keinen guten Ruf – und das war noch gelinde ausgedrückt.
„Darüber werden wir noch reden. Hast du gehört, Tom?“ Eine Antwort erwartete Bernd hierauf nicht. Er ergänzte vielmehr in bedrohlichem Ton: „Das wird Folgen haben.“
Und in Richtung seiner Tochter sagte er etwas leiser, aber keineswegs weniger wütend: „Und wir reden sowieso noch.“
Bernd schnaufte und entschloss sich, das Zimmer zu verlassen. Er war sich sicher, dass Tom jetzt gehen würde. Er betrat das gegenüberliegende Bad und schloss sich dort ein, um zumindest akustisch registrieren zu können, wann seine Tochter wieder alleine war. Dabei betrachtete er sich im Spiegel oberhalb des großzügigen Waschtisches.
Er war rot angelaufen und ins Schwitzen geraten. Bernd zog sich sein Jackett aus und schnaufte noch einmal durch. Wieder betrachtete er sich im Spiegel, während er durch Türgeräusche zur Kenntnis nahm, dass der zumindest aus seiner Sicht ungebetene Gast die Szenerie und kurze Zeit später das Haus verlassen hatte. Bernd registrierte seinen eigenen zumindest für wenige Sekunden erleichterten Gesichtsausdruck. Und er registrierte noch etwas anderes. Da waren rote Farbspuren an seinem Hemdkragen.
‚Oh Mann.‘ Hektisch zog er sein Jackett wieder an und fuchtelte mit den Armen herum. Ja, auch mit Jackett war die Verfärbung am Hemdkragen bei manchen Bewegungen zu sehen. ‚Oh Mann, oh Mann!‘
Er verließ das Badezimmer und sah Patrizia mit flehendem und ängstlichem Blick in ihrer Zimmertür stehen. „Wir sprechen uns später“, sagte er in einem Ton, der für die leicht verdutzte Pat jetzt nicht mehr so bedrohlich klang. Sie antwortete mit einem zaghaften „Okay“, während ihr Vater ins Schlafzimmer abbog, dort ein T-Shirt herauskramte, um anschließend den Weg nach unten in die Waschküche zu nehmen.
**Rosenzweig**
„Schatz, was gibt´s?“ Michael Rosenzweig war neugierig geworden nach der SMS seiner Frau mit dem Inhalt ‚Ich muss dir nachher was erzählen.‘ Daniela war gerade aus ihrer dünnen Sommerjacke geschlüpft, so dass ihre weiblichen Rundungen zur Geltung kamen. Nur zu Hause zeigte sie sich in engen Shirts. Ansonsten trug sie stets zumindest ein Jäckchen, das ihre überdimensionierten, aber wohl proportionierten Formen versteckte.
„Erst mal eine Begrüßung, Schatz.“ Mit ihren 1,55 Meter schmiegte sie sich an ihren Mann, stellte sich auf die Zehenspitzen und setzte ihm seinen Kopf herunterziehend einen langen Kuss auf den ansonsten etwa 30 cm höher liegenden Mund.
„Du bist so schön glatt.“ Daniela hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass der spärliche bis fehlende Bartwuchs ihres Mannes für sie nur positive Seiten hatte. Mit der Innenfläche der rechten Hand strich sie über seine linke Wange. „Schatz, ich bin so froh, dass ich dich habe.“ Michael schaute etwas verwundert und Daniela ergänzte: „Und ich bin so froh, dass wir keine Probleme haben.“
„Wer hat denn Probleme?“ Michael schaute seine attraktive Frau, die seit Jahren genau nach seinem Geschmack eine Kurzhaarfrisur trug, neugierig an. Daniela hatte schon des Öfteren Dinge bei der Arbeit erlebt, die sie zu Hause erzählte. Normalerweise machte sie das ohne Namensnennung. Sie war sehr pflichtbewusst und bestand eigentlich immer auf Anonymität. Schließlich erlebte sie im Sozialamt ziemlich Persönliches, was eigentlich niemanden etwas anging.
„Udo und Verena! Die beiden haben offenbar Probleme.“ Daniela erschrak über ihre eigene Offenheit. „Aber niemandem weitererzählen. Du weißt schon.“ Sie machte eine kurze Pause. „Versprichst du mir das?“
„Natürlich.“ Michael machte jetzt einen besorgten Gesichtsausdruck, ohne dass die Neugier in seiner Mimik verschwunden war. „Hast du die beiden im Amt getroffen?“
„Schnecki war bei der Schuldnerberatung. Sie wollte gerade ins Gespräch, da bin ich ihr über den Weg gelaufen. Wäre ich doch nur einfach vorbeigegangen.“
Michael schaute weiter erwartungsvoll. „Und?“
„Naja, sie wollte sich offenbar beraten lassen.“ Wieder machte Daniela eine Pause. „Aber wirklich niemandem weitererzählen!“
„Okay.“ Michael dachte kurz nach. „Aber vielleicht hat sie nur eine Freundin besucht…“
„Ja klar, das kann sein. Aber in diesem Fall … Du musst dir mal vorstellen … Ihr war das voll peinlich … Und mir übrigens auch. Die Situation war eindeutig. Und am Ende hat sie mir noch gesagt, dass Udo nichts davon weiß. Also nicht weiß, wo sie gerade ist.“
„Krass! Dann haben die Beiden ja wirklich Probleme. Finanziell auch noch. Mist!“
Daniela ergriff wieder das Wort. „Verena und Udo verdienen zwar beide Geld, aber vermutlich kommt bei Udo nicht viel rum.“ Sie blickte fragend und wissend zugleich. „Hätte er doch damals nur seinen Meister gemacht.“
„Stimmt. Ich glaube auch, dass Udo in seinem Job nur wenig verdient. Als Installateur halt… Sein Chef stopft sich vermutlich die Taschen voll. Es wird ja immer mehr gebaut. Jetzt auch noch für die Flüchtlinge. Aber vermutlich hat Udo nichts davon.“
Daniela nickte zustimmend und ergänzte: „Und Schnecki arbeitet zwar Schicht. Aber nur Teilzeit – wegen Tom. Ist ja ihre Sache. Vielleicht haben sie sich übernommen mit dem Haus. Ist ja wirklich riesig – für die drei.“
„Ja, die haben bestimmt einen Wahnsinnsabtrag zu stemmen.“ Der Gesichtsausdruck von Michael verriet, dass er sich wirklich große Sorgen machte. Die Rosenzweigs mochten die Winklers – zumindest galt das für die Erwachsenen. Die Kinder hatten dagegen eher wenig miteinander zu tun. Tom Winkler war deutlich älter als der Rosenzweig-Nachwuchs und ging auf eine Oberschule im Nachbarort. Bei den Söhnen von Michael und Daniela, Jakob und Aaron, die noch die Grundschule besuchten, lief hingegen alles auf eine Gymnasialempfehlung hinaus. Es gab damit im Alltag eher wenig Berührungspunkte. Außer bei den gemeinsamen Freundeswochenenden.
Immer wenn die befreundeten Familien, zu denen neben Rosenzweigs und Winklers auch Michaelis, Kriechmanns und Wójcik-Müllers gehörten, zusammen wegfuhren, wurde darauf geachtet, dass auch die Kinder möglichst zueinander fanden. Das klappte eigentlich gut, auch wenn vor allem Tom Winkler das eine oder andere Mal ausgeschert war – gerade in den letzten beiden Jahren.
„Was hältst du eigentlich von dem Gerücht, dass Tom Hasch vertickt?“ Michael hatte unversehens das Thema gewechselt.
Daniela sah ihren Mann halb überrascht und halb strafend an. „Glaubst du an so was?“
Ein wenig fühlte sich Michael schon ertappt. Aber er legte trotzdem nach: „Also, ich habe mich kürzlich mit Udo unterhalten. Und er hat sich schon gewundert, wie viel Geld sein Sohn bereits gespart hat. Demnächst wird er wohl mit Moped vorfahren.“ Daniela hakte nicht ein, also erzählte Michael weiter. „Naja. Und dann hat Jakob kürzlich von Tino gehört, dass er am Bahnhof …“
„Schätzchen, das geht mir ein wenig zu weit.“ Danny war es ein Bedürfnis, ihren Mann zu unterbrechen. „Ganz ehrlich. Das haben die Kinder erzählt. Und ein Moped ist auch nicht so teuer.“
Michael war vom Einwand seiner Frau alles andere als überzeugt. „Mag alles sein. Ich finde aber schon, dass die Puzzleteile ziemlich gut passen. Darüber rede ich ja auch nur mit dir.“
Daniela sah ihren Mann nun ziemlich streng an. „Und das gilt natürlich auch für meine Geschichte. Die kennst du ja jetzt aus erster Hand. Und morgen sehen wir die beiden ja. Also kein Wort. Sonst könnte es kompliziert werden.“ Daniela sammelte sich gedanklich. „Udo weiß nichts. Nur Verena und ich haben dieses Geheimnis. Und du weißt auch nichts!“
Michael nickte. Er wandte sich dem Kaffeevollautomaten in seinem Rücken zu und wählte drei Bohnen von fünf. Wohl war ihm jedenfalls nicht bei dem Gedanken, die Winklers am nächsten Tag auf Andrés Geburtstag zu sehen. Dann spürte er, wie die Arme seiner Frau ihn von hinten umschlangen und sich ihre Brüste seinem Rücken anschmiegten. Und er vernahm, dass das Strenge aus ihrer Stimme gewichen war.
„Lass uns auf andere Gedanken kommen. Du weißt ja. Donnerstag. Sturmfrei.“ Ihr Ton war jetzt verführerisch. Michael besann sich kurz. Auf Anstrengung hatte er sich jetzt gar nicht eingestellt. Aber er hatte schon mehrfach in den letzten Wochen abgelehnt.
„Jetzt? Nach dieser Nachricht?“
„Komm ja nicht auf die Idee, nein zu sagen.“ Danny meinte es offenbar ernst.
Michael sammelte sich kurz und erkannte, dass er keine Chance hatte. „Ich liebe es doch, wenn du so ankommst. Und ich werde dich verwöhnen.“ Er ergriff Dannys rechte Hand, führte sie zu seinem Mund und drückte auf deren Innenseite einen Kuss, der im Ansatz ein wenig feucht war. Dann gab er ihr einen Klapps auf ihren prallen, aber wohlproportionierten Hintern. „Wenn du mehr willst, mir nach.“
Michael ließ ihre Hand los und ging schnellen Schrittes Richtung Treppenhaus, nahm jeweils zwei Stufen auf einmal und konnte sich der Verfolgung seiner Frau sicher sein. Und er wusste auch, dass er später auf dem Weg nach unten das eine oder andere Kleidungsstück finden würde.
**Michaelis**
„Na, der Tom, der Kleinkriminelle.“ Bernd hatte einen hochroten Kopf. „Der Drogendealer.“
„Du meinst jetzt aber nicht den Tom von Udo und Verena?“ Franziska war gerade von der Arbeit gekommen und angesichts des Gemütszustandes ihres Mannes etwas überfordert.
„Na wen denn sonst? Natürlich meine ich Tom Winkler.“
„Und der dealt mit Drogen? Woher weißt du das?“
„Das weiß doch jeder. Gefühlt jeder. Natürlich darf das keiner weitererzählen.“
„Also Beweise hast du nicht?“ Franzis Stimme war etwas provozierend – die Frage erst recht.
„Ja, soll ich mir vielleicht eine Portion Hasch bei ihm kaufen? … Oder eine Packung oder ein Kilo oder wie immer man das nennt.“ Bernd schaute seine Frau verständnislos und auch ein wenig verächtlich an. „Würde dir das als Beweis reichen?“
Franziska schaute angesichts der etwas niveaulosen Äußerung Ihres Mannes leicht irritiert. Aber sie wahrte Contenance. „Okay, lassen wir das. Wir müssen schon irgendwie sachlich bleiben. Du hast Tom also aus Pats Bett geschmissen?“
„Ja, klar. Das war die einzig richtige Maßnahme. Ich hab dem Typen noch ein paar Worte erzählt. Ich hoffe, der traut sich so schnell nicht mehr hierher.“
„Und was sagt Pat dazu?“ Franziska versetzte sich in die Lage ihres mittleren Kindes. Sie konnte das. Sie war stets empathisch und das war eine ihrer großen Stärken. Bernd hingegen konnte und wollte das nicht. Für ihn war immer die eigene Perspektive wichtig. Ein Hineinversetzen in Patrizias Rolle hätte ihm ohnehin große Schwierigkeiten bereitet. Schließlich war sie diejenige, die auch mal ausscherte – zumindest aus seiner Sicht.
„Also, was sie sagt... keine Ahnung. Wichtig ist ja erst mal, dass wir den Typen verscheucht haben.“
„Mensch, Bernd, denk doch mal nach. Die sind vielleicht verliebt. Dann ist es doch gar nicht so einfach, etwas zu verbieten.“
Bernd rutschten unversehens die Mundwinkel herunter. „Erzähl keinen Mist. Unsere Tochter und der Drogendealer. Der Missratene. Verliebt. Was ist denn verliebt? Dir ist wirklich nicht mehr zu helfen.“
Das saß. Franziska wandte sich von ihrem Mann demonstrativ ab. Kein Blick, keine Antwort. ‚Wem ist eigentlich nicht zu helfen?‘, fragte sie sich, während ihr Mann, als hätten sie sich über das Wetter unterhalten, die Fernbedienung in die Hand nahm. 20.00 Uhr. ARD. Das musste sein.
Währenddessen versuchte er noch, die Wogen zu glätten. „Sorry, Schatz, für meinen Ton. Es war ein anstrengender Tag. Und der Schock von vorhin sitzt mir noch in den Gliedern. Tut mir echt leid.“
„Schon gut.“ Es war nicht herauszuhören, ob Franziska die Entschuldigung ihres Mannes annahm oder nicht. Sie war jedenfalls froh ob der zuletzt gemäßigten Worte, schließlich wollte sie nicht den ganzen Abend streiten.
Bernd ergriff aber noch einmal das Wort: „Aber pass auf, Franziska.“ Bernd nannte seine Frau nie Franzi, wählte aber schon das eine oder andere Mal einen Kosenamen. Nicht allerdings, wenn ihm die jeweils folgenden Worte wichtig waren. „Pass auf. Morgen bei Andrés Geburtstag erfährt keiner etwas davon. Wirklich keiner. Ich würde mich in Grund und Boden schämen, wenn das morgen rumginge. Wir und die Winklers …“
Franziska sagte jetzt nichts mehr. Ihr gefiel es überhaupt nicht, wie ihr Mann über ihre gemeinsamen Freunde redete. Natürlich waren die Winklers nicht ihr Niveau. Aber sie würde sich wünschen, dass sich Bernd über Udo und Verena auch unter vier Augen so respektvoll äußern würde, wie er es stets in der Öffentlichkeit tat. Aber zu Hause klangen seine Bewertungen ganz anders. Sie störte das. Sie schwieg.
Die Tagesschau hatte begonnen. Und gleich die erste Meldung ließ den beiden den Atem stocken. Da war von einem Lkw in Österreich die Rede. Mit menschlicher Ladung. Von mindestens 20 toten Flüchtlingen. Von fortgeschrittener Verwesung. Und von illegalen Schlepperbanden, die dieses Drama offenbar ausgelöst hatten.
Franziska war blass geworden. „Und wir streiten uns hier über irgendeinen Kram. Wenn ich das jetzt sehe …“ Sie konnte nicht weitersprechen. Ihr standen fast die Tränen in den Augen. „Das ist so schrecklich.“
Bernd rückte auf dem Sofa an sie heran und nahm sie in den Arm. „Schrecklich. Unter welchen Qualen die zu Tode gekommen sein müssen. Ich finde das auch entsetzlich. Ja, ich finde das entsetzlich, …“ Er machte eine kurze Pause. „… aber sind die nicht auch ein bisschen selbst …“
Franziska saß plötzlich kerzengerade auf dem Sofa, sah ihren Mann mit entsetzten Augen an und fauchte zu ihm hinüber: „Ein bisschen selbst was?“
**Kriechmann**
„Oh Mann. Das war ein Tag.“ Anja Kriechmann legte ihren Blazer ab und hing ihn auf einen Bügel.
„Ich hab schon gehört, Schatz. Kann mir vorstellen, dass bei euch auf dem Flur einiges los ist.“
„Einiges los, ist gut ausgedrückt. Aber du hast es bestimmt auch nicht besser.“
„Mein Staatssekretär läuft jedenfalls Amok. Jeder redet nur noch über das Flüchtlingsproblem. Gleichzeitig ist man geschockt über die Toten in Österreich.“
„Entsetzlich. Das ist bei uns das Wort der Stunde. Entsetzen und Erschütterung … unsere Sprachregelung überbietet sich. Aber eigentlich wollte ich gar nicht mit der Arbeit anfangen.“ Anja blickte ihren Mann lächelnd und vielsagend an. „Es gibt nämlich auch gute Neuigkeiten.“ Sie deutete auf ihre 15-jährige Tochter, die sie eben vom Balletttraining abgeholt hatte. „Deine Tochter wird am Samstag einige Male im Mittelpunkt der Aufführung stehen.“ Anja schaute ihre attraktive, recht groß gewachsene Tochter stolz und herausfordernd an. „Erzähl mal, Emily.“
Emily war ebenfalls stolz, aber gleichzeitig etwas verlegen. „Naja, Sarah ist krank geworden und dann mussten wir was verändern. Und ich darf dreimal für sie einspringen. Alle wollten das so. Und morgen habe ich deswegen Extratraining.“
„Hey hey hey, das ist ja großartig, Tochter-Herz.“ André ging auf Emily zu und nahm seine Tochter – annähernd auf Augenhöhe – fest in den Arm. Sie genoss das. Und sie genoss das Ansehen, das sie beim Ballett offenbar hatte.
„Damit wird das Wochenende noch etwas härter“, ergänzte Anja. „Die Vorführung am Samstag wird bis nach 22:00 Uhr gehen. Und am nächsten Morgen um neun ist ja ihr großes Reitturnier.“
„Ach ja, stimmt.“ André war sich des bevorstehenden, ziemlich vollgestopften Wochenendes offenbar noch nicht wirklich bewusst. Bei ihm kam noch hinzu, dass er Freitagabend seinen 49. Geburtstag feiern würde. Und die Vorbereitung hatte noch gar nicht begonnen. Es war für die Kriechmanns eine Selbstverständlichkeit, warmes Essen, jede Menge Sekt, andere Getränke und selbstredend ein perfekt gesäubertes Haus anzubieten.
„Du glaubst gar nicht, wie stolz ich auf dich bin, Emily.“ Trotz der Terminflut dachte André keine Sekunde daran, bei einem der Wochenendereignisse nicht dabei zu sein.
Die Angesprochene strahlte, machte aber kurz darauf wieder ein ernüchtertes Gesicht. „Das bedeutet aber auch, dass ich jetzt noch für die Mathearbeit am Montag lernen muss.“
„Du Ärmste. Alles auf einmal – wie immer.“ Ihre Mutter machte, während sie das sagte, ein verständnisvolles Gesicht. Kurz danach war Emily über das Treppenhaus entwischt und auch schon in ihrem Zimmer verschwunden.
„Wow, Hammer. Du kannst mir jedenfalls glauben, Schatz, dass ich mich freue.“ André machte dann ein Gesicht, als wollte er noch etwas Relativierendes ergänzen. „Aber ganz ehrlich: Ich bin jetzt schon platt, wenn ich nur daran denke. Wie erholsam das Wochenende wird, das kann man sich ja denken.“
„Erholung? Was ist das?“ Anja zwinkerte ihrem Mann zu.
„Keine Ahnung. Meine Oma hat mal davon erzählt.“ Die Kriechmanns hatten jedenfalls eine nette Art, mit solchen Herausforderungen umzugehen.
André und Anja Kriechmann waren seit 22 Jahren verheiratet. Beide hatten in jungen Jahren Politikwissenschaft studiert, sich dabei kennen und lieben gelernt und waren in den Politikbetrieb eingestiegen. Innerhalb des höheren Dienstes hatten beide bereits die eine oder andere Beförderung im Innenministerium hinter sich. André arbeitete einem Staatssekretär zu und Anja war zweite Pressesprecherin. Eine Reduzierung auf Teilzeit kam für sie nicht infrage, dafür waren beide beruflich zu ambitioniert.
Die Familienarbeit war über all die Jahre trotzdem sehr gut gelaufen. „Es ist eine Sache der Organisation“, hatte Anja immer wieder gesagt und in diesen Jahren zahlreiche Babysitter, Hausaufgabenhilfen, Putzkräfte und Fahrdienste für ihre Kinder organisiert. Auf das Geleistete war sie stolz, und auf ihre Kinder im besonderen Maße. Emily war ein auffällig hübsches, sportliches Mädchen. Sie hatte ihr Wachstum offenbar schon weitgehend hinter sich, überragte mit ihren 15 Jahren ihre Mutter bereits deutlich und war annähernd so groß wie ihr Vater. Ihr Bruder Lukas war mit seinen 13 Jahren noch einen ganzen Kopf kleiner als sie. Dieser optische Unterschied fiel auf den ersten Blick auf und erklärte sich vor allem dadurch, dass Lukas ein Adoptivkind war. Gleichwohl war er mindestens ebenso sportlich wie seine Schwester und ein Aushängeschild der Leichtathletikabteilung im größten Verein der Gemeinde.
„Und morgen ist dein Geburtstag. Das ist ja auch nicht wirklich Erholung.“ Anja sagte das mit einem süffisanten Unterton und ihr Mann verstand ihre Andeutung.
„Wir schaffen das schon mit der Vorbereitung.“ André machte eine kurze Pause und sammelte seine Gedanken. „Und wir werden auch die Gesprächsthemen im Griff haben.“ Er schaute seine Frau selbstbewusst – mit einem Hauch von Überheblichkeit – an und ergänzte: „Wir sind schließlich Profis.“
Anja wusste, was ihr Mann mit dieser Andeutung meinte. Es hatte im Freundeskreis, der früher aus vier und heute aus fünf Familien bestand, innerhalb der letzten Monate bei Treffen und Feierlichkeiten immer mal wieder Meinungsverschiedenheiten gegeben. Die wurden zwar meistens blitzschnell unter den Teppich gekehrt, aber im Vergleich zur großen Harmonie der vergangenen Jahre stellten sie eine wahrnehmbare atmosphärische Veränderung dar.
Anja merkte, dass ihrem Mann noch etwas auf dem Herzen lag, und sie ließ ihn weitersprechen.
„Übrigens, was unsere süße Polin angeht: Elly tut uns richtig gut – uns allen. Sie gleicht mit ihrer Art so einiges aus. Gerade wenn es mal holpert. Soll ja vorkommen. Dann ist ihre charmante Art genau richtig. Auch für uns als Gruppe. Fällt dir das auch auf?“ André sah seine Frau fragend an.
„Na, dass du die Frau toll findest, war ja klar.“
André lächelte und wurde dann gleich wieder ernst. „Nein, ernsthaft, sie hat doch ein ausgleichendes Wesen. Und auch eine andere Vergangenheit. Das tut uns doch allen gut.“
Elena Wójcik-Müller, geborene Wójcik, war vor einem Jahr in Kriechmanns Nachbarhaus gezogen. Die gebürtige Polin hatte sich in Berlin von ihrem Mann getrennt, konnte sich dort eine Wohnung mit ihrem Sohn Damian aber nicht leisten. Das kleine, alte Haus, das den Kriechmanns ursprünglich eher ein Dorn im Auge war, wurde zu Elenas und Damians Zuhause. Auch wurde der Garten seitdem ordentlich gepflegt. Kriechmanns war das ganz besonders wichtig. Und weil Elena eine offene, zugängliche Art hatte und sich ihr Sohn mit Jakob Rosenzweig angefreundet hatte, wurde ein jahrelanger Freundeskreis, bestehend aus vier Familien, um die alleinstehende Polin und ihren Sohn erweitert. Beim letzten Freundes-Wochenende waren sie und Damian auch schon mit dabei und jeder fand darüber nur lobende Worte.
„Ja, Schatz, du hast schon recht. Sie passt. Übrigens auch im Verein.“
„Ein einnehmendes Wesen halt – das kann man nicht von jedem behaupten. Aber lassen wir das ...“ André schaute seine Frau herausfordernd an. „Ich habe gehört, du wolltest meinen Geburtstag diesmal ganz alleine organisieren …“
Der Konter ließ allerdings nicht lange auf sich warten: „Das hättest du wohl gerne. Im Gegenteil. Es ist 19:30 Uhr und ein ziemlich eiliger Einkaufszettel liegt auf dem Tisch. Für dich, mein Schatz!“
***
„Nabend allerseits.“ Bernd begrüßte die beiden anderen Vorstandsmitglieder in aller Hektik.
„Moin.“ Karsten konnte Bernd einen strafenden Blick auf seine Uhr allerdings nicht ersparen.
„Jaja, sorry, bin echt spät heute. Ich musste noch was klären mit Franzi. Da konnte ich nicht früher los. Ihr wisst ja, wie Frauen manchmal sind.“
Karsten sagte hierzu nichts. Bestätigung für seinen Vorstandskollegen war aus seiner Sicht nicht angebracht. Denn schließlich war er nie in der Situation, von der eigenen Frau an der Gestaltung seiner Freizeit gehindert zu werden. So etwas kam im Hause Blatter einfach nicht vor. Das hätte die Rollenverteilung niemals hergegeben. Aber das war zu diesem Zeitpunkt nicht wichtig. Nicht für Karsten und auch nicht für Rainer, der als drittes Vorstandsmitglied bereits am Tisch saß.
Die Sitzung wurde kurzfristig und inoffiziell einberufen. Mit den drei Herren war der Vorstand vollständig. Karsten war erst vor wenigen Wochen zum Vorstandschef von ‚Better Place‘ gewählt worden – ebenso wie die beiden anderen Vorstände. Ihre Vorgänger hatten den Dreien ein bestelltes Feld überlassen: ein aktives Vereinsleben für alle Altersstufen mit Ausflügen, Diskussionsrunden, Umweltaktionen, Sport und sozialem Engagement. Kein Wunder, dass der Verein fast 500 Mitglieder hatte. Damit war annähernd jeder zehnte Bewohner der Gemeinde Mitglied. Der Verein war ein Aushängeschild für die Kommune.
Und auch Karsten selbst war ein Aushängeschild und äußerst beliebt. Er wurde erst vor Kurzem mit einhundert Prozent der Stimmen in sein Amt gewählt. Karsten war groß, muskulös und gutaussehend. „Ich kenne keine Frau, die nicht gerne für eine Nacht mit ihm ihre Ehe riskieren würde“, gab etwa die attraktive Leiterin der Pfandfindergruppe immer mal wieder ungefragt von sich. Auch wenn sich ihre Behauptung wohl eher auf eigene Wünsche als auch Empirie stützte, so blieb der Widerspruch stets aus.
Karsten hatte allerdings mehr zu bieten als typisch männliche Gesichtszüge, ein gepflegtes Äußeres und den allseits vermuteten Waschbrettbauch. Sein Outfit bestach durch Modernität, Markenbewusstsein und Sportlichkeit. Darüber hinaus war er äußerst eloquent – das zeigte sich vor allem in der Öffentlichkeit. Sein gescheiteltes Haar passte ebenso zu ihm wie sein Zahnpasta-Lächeln. Als Berufssoldat und Major der Bundeswehr war er zudem beruflich erfolgreich. Kein Wunder also, dass seine Frau Geli von zahlreichen Damen im Ort und vor allem im Verein beneidet wurde. Die wiederum genoss das Privileg, die Nummer Eins zum Traualtar geführt zu haben.
Heute aber war sein Gesichtsausdruck ernster als sonst. Bernd und Rainer registrierten das durchaus, bevor Karsten das Wort ergriff: „Dank euch jedenfalls, dass ihr beide da seid. Es ist ja auch schon ganz schön spät. Ich weiß, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, euch um diese Zeit hier zu sehen.“ Karsten schaute die beiden anderen Vorstandmitglieder an, während er das sagte und ergänzte: „Ich weiß das zu schätzen. Und ich hätte euch nicht hierhergebeten, wenn nicht etwas Außergewöhnliches passiert wäre.“ Karsten macht eine kurze Pause. „Es sind dunkle Wolken in Sicht. Das kann ich euch sagen.“
Bernd und Rainer schauten sich leicht irritiert an, waren aber ganz Ohr. Sie hatten nicht die leiseste Ahnung, in welche Richtung die Andeutungen gehen sollten. Karsten holte nun aus: