2,49 €
Eine Liebesgeschichte mit allem Drum und Dran. Dazu kommen die Schilderungen der Natur in epischer Breite. Feldblumen ist in Form von Tagebuchblättern gehalten, die jeweils als Briefe des Protagonisten an seinen Freund geschickt werden.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
24. April 1834
Man legt oft etwas dem Menschen zur Last, woran eigentlich die Chemie alle Schuld hat. Es ist offenbar, dass wenn ein Mensch zu wenig Metalle, z. B. Eisen, in sein Blut bekommen hat, die andern Atome gleichsam darnach lechzen müssen, um, damit verbunden, das chemisch heilsame Gleichgewicht herstellen zu können. Nur missversteht aber der so schlimm Begabte meistens seinen Drang, und statt in's Blut, schleppt er unbeholfen die Metalle in seine Stube und in die Kästen, und greift hiebei ganz ungeschickt nach Silber und dergleichen. Wir heißen den armen Schelm dann einen Geizhals; - sei's um den Namen – aber verachten soll man ihn nicht so leichtfertig, als sei er selber schuld, was sich doch offenbar durch die Tatsache widerlegt, dass gerade der echteste darunter alles Papiergeld hasst und durchaus nicht nach Zinsen trachtet, sondern das einfache, reine, schöne Metallgeld aufhebt und hütet.
Andere haben andere Verwandtschaften, lieber Titus! z. B. ich und Du, denen man es übel nahm, dass sie die Damen, und darunter wieder die schönsten, oft unbillig anstarren; - aber bei mir wenigstens ist es nicht abzustellen, weil ich, so zu sagen, ein Schönheitsgeizhals bin. Ich habe es jetzt heraus, wie mich das Ding schon als Kind verfolgte, wo ich oft um lichte Steinchen raufte, oder als Knabe mit dicken, rotgeweinten Augen von dem Taubenschlage herabkam, in dem ich stundenlang gekauert saß, um die schönsten Romane zu lesen, die mein seliger Vater gar so sehr verbot, weil er es lieber hatte, dass ich das Quae maribus und solches Zeug lernte, was ich zwar auch tat, so dass ich das Ding der Länge nach herzusagen vermochte; - aber ich hatte es millionenmal lieber, wenn ich mich aus einem schönen Ritterbuche abängstigen konnte, oder wenn mir einmal - ich habe seitdem das Werk nicht mehr gelesen - geradezu das Herz brach, da Ludwig der Strenge sofort seine wunderschöne, unschuldige Gattin hinrichten ließ, die bloß verleumdet war, und die Niemand retten konnte als ich, der ich aus dem Buche die ganze Schlechtigkeit ihrer Feinde gelesen hatte, aber unglücklicher Weise dreihundert Jahre zu spät.
Damals, da ich bis zur letzten Seite auf Rettung baute und traute, und endlich keine kam, rieb ich mich fast auf vor Schmerz. Aus jenem unbewohnten, staubigen Taubenschlage, Titus, trug ich wundersame, liebe Gefühle bis in die spätesten Zeiten meines Lebens hinüber, und wurde nach der Hand für und für kein Anderer; immer suche ich noch, bildlich gesprochen, solche Taubenschläge, spanne mich aus der Gewerkswelt los und buhle um die Braut des Schönen.
Freilich werde ich hierbei nicht reich; aber mein Vetter, der Metallgeizhals, kümmert sich auch nicht um Schönheit. - Die Dinge sind eben ganz entgegengesetzt; nur können wir uns beide die Sache nicht ausschlagen, weil das Leben keinen Dreier mehr wert ist, sobald man unser Streben daraus wegnimmt. Darum sollte man es jedem lassen, keinen fremden Maßstab und leichtfertigen Tadel an unser Tun legen, weil man die Chemie nicht einsieht. Da bin ich milder, und schreie nicht gleich Zeter, wenn mein ehrlicher Doppelgänger einigen zweckmäßigen Hunger leidet, weil noch eine Prachtsumme zurückzulegen ist, die seiner Sammlung zur wahren Zierde gereichen wird; - aber er und andere sollen dafür auch nicht murren, wenn ich Geld und Gut nicht achte, in Konzerte, unter den Sommerhimmel, in Theater, Bildersäle laufe und die Dinge anhöre und ansehe, besonders aber gern die Augen in lieben, feinen, jungen weiblichen Gesichtchen stecken lasse; es ist ja keine Selbstsucht - wahrlich keine. - - - Das ist eben das komisch Ärgerliche bei uns Geizhälsen, dass die andern uns so viel Selbstsucht andichten, während wir doch (er und ich) nur die reine Form anbeten und den stofflichen Besitz endlich immer jemand anderm lassen, - er freilich etwas spät und ungern, nämlich bei seinem Lebensende, - ich aber jeden Augenblick und mit größter Heiterkeit.
Ich will aber jetzt von dieser Vergleichung aufhören und Dir andere Dinge in diesem Tageblatte berichten. Ich habe mein Modell wieder gesehen. Sie ist noch immer dieselbe. Aus Zufall sah ich sie mit ihrer Mutter in die Annenkirche gehen, und ich ging dann auch hinein. Sollte ich sie hier öfter sehen können, so will ich suchen, mir ihre Züge zu stehlen und in einer glücklichen Stunde auf die Leinwand zu werfen; dann sende ich dir ein Miniaturbild davon für deine Sammlung schöner Menschenköpfe. Vielleicht kann ich Dir gleich zwei erlesene Stücke senden; denn Aston versprach, dass ich in den nächsten Tagen bei seiner Familie eine der größten Schönheiten sehen solle - ja, die größte, wie er unumwunden erklärte, welche die Luft innerhalb der Mauern Wiens atme - und dass er es so veranstalten wolle, dass ich unvermerkt ihr Bild in meine Mappe bekomme, da sie außer andern tausend Torheiten auch die besitze, nie einem Maler sitzen zu wollen. Sie ist die vertraute Freundin seiner Töchter, denen sie, wie er sagt, den Kopf eben so albern mache, wie der ihrige ist. Jetzt kommt sie nicht, weil ihre Tante krank ist. Ihr Vorname ist Angela, welchem Vornamen sie wohl körperlich, aber nicht geistig entsprechen soll. Nun, ich bin neugierig - toll wäre es, wenn sie meine Antike wäre.
Noch muss ich Dir sagen, ehe ich schließe, dass ich gestern wieder einmal recht spazieren war, so zu sagen, unendlich, auf allen Landen herum, um Heerschau über alle Schönheiten zu halten, über lebende und leblose. Da waren die lichten, klaren, glänzenden Lüfte mit den wunderlichen Aprilwolken voll Sonnenblicken - das Zittern der anbrütenden Lenzwärme über den noch schwarzen Feldern - die schönen grünen Streifen der Wintersaat dazwischen; - dann waren die rötlich fahlen Wälder, die an den Bergen hinanziehen, mit dem sanften blauen Lufthauch darüber, und überall auf der farblosen Erde die geputzten Menschen wandelnd, die so gern die ersten Strahlen der schwachen Lenzsonne und der reinen Luft genießen wollten. Eine Mutter sah ich mit mehreren schönen Töchtern, die sehr jung waren und in allen Abstufungen bis zur Kindheit herab auf den lieben runden Wangen das Rot der Unschuld und Gesundheit trugen, welches Rot noch röter wurde, als ich sie unversehns anblickte. - Ich habe diese Gattung Scham so gern - gleichsam rotseidne Vorhänge zieht die junge Seele plötzlich vor dem fremden Auge über, das unberufen will hineinsehen. Auch Männer sah ich viele, aber wenig von Wert; - nur einen fand ich, der mich fesselte, einen sehr jungen Mann: er zeichnete die Aussicht in ein Gedenkbuch, und ich sah ihn mit Muße an - ein Gesicht voll Ernst und Güte, mit klugen, unschuldigen Augen. Er schenkte mir keine Aufmerksamkeit, und ich ging endlich weiter. Da dachte ich so, wie denn Gott mit den Linien und Formen des Menschenangesichts so eigen und am wunderbarsten den Geist der Schönheit verband, dass wir so mit Liebe hineinsehen und von Rührung getroffen werden; - aber kein Mensch, dachte ich, kann eigentlich dieses wundervolle Titelblatt der Seele so verstehen, als ein Künstler, ein echter, rechter, wie er uns beiden oft im Ideale vorschwebte; denn der Weltmensch schaut nur oberflächlich oder selbstsüchtig, und der Verliebte verfälscht, nur zu sehr am irdischen Geschöpfe hangend: aber der reine, einfältige Meister in seiner Werkstätte, tagelang denselben zwei Augen gegenüber, die er bildet und rundet, - der sieht den Finger Gottes aus den toten Farben wachsen, und was er doch selber gemacht hat, scheint ihm nun nicht bloß ein fremdes Gesicht, sondern auch eine fremde Seele, der er Achtung schuldig ist, - und öfters mag es geschehen, dass mit einem leichten ungefähren Zug des Pinsels plötzlich ein neuer Engel in die Züge tritt, davor er fast erschrickt, und von Sehnsucht überkommen wird.
Ferner dachte ich an Gallerien, wo die Augen und Wangen längst vergangener Geschlechter noch immer ihre Freude und ihr Weh erzählen - - - - dann dachte ich an unser eignes Sterben und an den Glanz derer, die nachher sein werden - - und in dem Fortspinnen desselben düster schönen Gedankens zog ich die sanften Fäden planlosen Fantasierens um mein Haupt, und über die große stille Landschaft vor mir, - ich ging herum in's Weite und Breite, und ließ von Gedanken und Fantasien kommen, was da wollte. Ach! ein sanftes Eden liegt im Menschenherzen, und es blühen darin leuchtende und dunkle Blumen. Meine gewöhnliche Frühlingstrauer stellte sich ein. Ich weiß nicht, ob die schönen allerersten Frühlingstage auch andere traurig machen. Ist es etwa die Ruhe nach den Winterstürmen, die lächelnd in der ungeheuern Bläue liegt, und darunter auch ruhig die tote Erde und das schwarze Baumgitter, das des Keimens harrt - oder ist es physischer Einfluß der weichen Luft nach der Winterhärte, oder beides? - - -
Weithin über den Horizont Ungarns schweiften trübe, gedehnte Streifen - der Abend kam endlich - ein weißlicher Rauch trank die Stadt ein - Frühlingsabenddünste beschmutzten das Gold des Himmels, und ein dumpfer, roter Mond kämpfte sich langsam herauf. - Ich aber dachte und dachte - - so geht es immer - und so geht es immer.
25. April 1834.
Heute ist weithin heiterer Himmel mit tiefem Blau, die Sonne scheint durch mein geöffnetes Fenster; das draußen schallende Leben dringt klarer herein, und ich höre das Rufen spielender Kinder. Gegen Süden stellen sich kleine Wolkenballen auf, die nur der Frühling so schön färben kann; die Metalldächer der Stadt glänzen und schillern, der Vorstadtturm wirft goldne Funken, und ein ferner Taubenflug lässt aus dem Blau zu Zeiten weiße Schwenkungen vortauchen.
Wäre ich ein Vogel, ich sänge heute ohne Aufhören auf jedem Zweige, auf jedem Zaunpfahle, auf jeder Scholle, nur in keinem Käfig - und dennoch hat mich der Arzt in einen gesperrt, und mir Bewegung untersagt; deshalb sitze ich nun da, dem Fenster gegenüber, und sehe in den Lenz hinaus, von dem ein Stück gütig zu mir hereinkommt. Auf dem Fenstergesimse stehen Töpfe mit Levkojenpflänzchen, die sich vergnüglich sonnen und ordentlich jede Sekunde grüner werden; einige Zweige aus des Nachbars Garten ragen um die Ecke, und zeigen mir, wie frohe Kinder, ihre kleinen, lichtgrünen, unschuldigen Blättchen.
Zwei alte Wünsche meines Herzens stehen auf. Ich möchte eine Wohnung von zwei großen Zimmern haben, mit wohlgebohnten Fußböden, auf denen kein Stäubchen liegt; sanft grüne oder perlgraue Wände, daran neue Geräte, edel, massiv, antik einfach, scharfkantig und glänzend; seidne, graue Fenstervorhänge, wie matt geschliffenes Glas, in kleine Falten gespannt, und von seitwärts gegen die Mitte zu ziehen. In dem einen der Zimmer wären ungeheure Fenster, um Lichtmassen hereinzulassen und mit obigen Vorhängen für trauliche Nachmittagsdämmerung. Rings im Halbkreise stände eine Blumenwildnis, und mitten darin säße ich mit meiner Staffelei, und versuchte endlich jene Farben zu erhaschen, die mir ewig im Gemüte schweben und nachts durch meine Träume dämmern - ach, jene Wunder, die in Wüsten prangen, über Ozeanen schweben und den Gottesdienst der Alpen feiern helfen. An den Wänden hinge ein oder der andere Ruysdael oder ein Claude, ein sanfter Guido und Kindergesichtchen von Murillo. In dieses Paphos und Eldorado ginge ich dann nie anders, als nur mit der unschuldigsten, glänzendsten Seele, um zu malen oder mir sonst dichterische Feste zu geben. Ständen noch etwa zwischen dunkelblättrigen Tropengewächsen ein paar weiße, ruhige Marmorbilder alter Zeit, dann wäre freilich des Vergnügens letztes Ziel und Ende erreicht.
Sommerabends, wenn ich für die Blumen die Fenster öffnete, dass ein Luftbad hereinströme, säße ich im zweiten Zimmer, das das gemeine Wohngehäuse mit Tisch und Bett, und Schrank und Schreibtisch ist, nähme auf ein Stündchen Vater Goethe zu Handen oder schriebe, oder ginge hin und wieder, oder säße weit weg von der Abendlampe und schaute durch die geöffneten Türflügel nach Paphos hinaus, in dem bereits die Dämmerung anginge oder gar schon Mondenschein wäre, der im Gegensatze zu dem trübgelben Erze meines Lampenlichtes schöne weiße Lilientafeln draußen auf die Wände legte, durch das Gezweig spielte, über die Steinbilder glitte und Silbermosaik auf den Fußboden setzte. Dann stellte ich wohl den guten Refraktor von Fraunhofer, den ich auch hätte, auf, um in den Licht- und Nebelauen des Mondes eine halbe Stunde zu wandeln; dann suchte ich den Jupiter, die Vesta und andere, dann unersättlich den Syrius, die Milchstraße, die Nebelflecken; dann neue, nur mit dem Rohre sichtbare Nebelflecken, gleichsam durch tausend Himmel zurückgeworfene Milchstraßen. In der erhabenen Stimmung, die ich hätte, ginge ich dann gar nicht mehr, wie ich leider jetzt Abends tun muss, in das Gasthaus, sondern....
Doch dies führt mich auf den zweiten Wunsch: nämlich außer obiger Wohnung von zwei Zimmern noch drei anstoßende zu haben, in denen die allerschönste, holdeste, liebevollste Gattin der Welt ihr Paphos hätte, aus dem sie zuweilen hinter meinen Stuhl träte und sagte: diesen Berg, dieses Wasser, diese Augen hast du schön gemacht. Zu dieser Außerordentlichen ihres Geschlechts ginge ich nun an jenem Abende hinein, führte sie heraus vor den Fraunhofer, zeigte ihr die Welten des Himmels, und ginge von einer zur andern bis auch sie ergriffen würde von dem Schauder dieser Unendlichkeit - und dann fingen begeisterte Gespräche an, und wir schauten gegenseitig in unsere Herzen, die auch ein Abgrund sind, wie der Himmel, aber auch einer voll lauter Licht und Liebe, nur einige Nebelflecke abgerechnet; - oder wir gingen dann zu ihrem Pianoforte hinein, zündeten kein Licht an (denn der Mond gießt breite Ströme desselben bei den Fenstern herein), und sie spielte herrliche Mozart, die sie auswendig weiß, oder ein Lied von Schubert, oder schwärmte in eigenen Fantasien herum - ich ginge auf und ab oder öffnete die Glastüren, die auf den Balkon führen, träte hinaus, ließe mir die Töne nachrauschen und sähe über das unendliche Funkengewimmel auf allen Blättern und Wipfeln unseres Gartens, oder wenn mein Haus an einem See stände - - - -
Aber, siehst Du, so bin ich - da wachsen die zwei Wünsche, dass sie mir am Ende kein König mehr verwirklichen könnte. Freilich wäre alles das sehr himmlisch, selbst wenn vor der Hand nur die zwei Zimmer da wären, auch mit etwas geringern Bildern; denn die Herrliche, die ich mir einbilde, wäre ja ohnedies nicht für mich leidenschaftlichen Menschen, der ich sie vielleicht täglich verletzte, wenn mich nicht etwa die Liebe zu einem völligen sanften Engel umwandelte. Indessen aber stehe ich noch hier und habe Mitleid mit meiner Behausung, die nur eine allereinzige Stube ist mit zwei Fenstern, durch die ich auf den Frühling hinausschaue, zu dem ich nicht einmal hinaus darf, und an Wipfeln und Gärten ist auch nichts Hinreichendes, außer den paar Zweigen des Nachbarn, sondern die Höhe der Stube über andern Wohnungen lässt mich wohl ein sattsames Stück Himmel erblicken, aber auch Rauchfänge genug und mehrere Dächer, und ein paar Vorstadttürme. Die südlichen Wolken stellten sich indessen zu artigen Partien zusammen, und gewinnen immer liebere und wärmere Farben. Ich will, da ich schon nicht hinaus darf, einige abzustehlen suchen, und auf der Leinwand aufzubewahren. - - Ich schrieb das oben Stehende heute morgens und malte fast den ganzen Tag Luftstudien. Abends begegnete mir ein artiger Vorfall. Auch moralischen und sogar zufälligen Erscheinungen gehen manchmal ihre Morgenröten vorher. Schon seit vielen Wochen ist mir die Bekanntschaft eines jungen Künstlers versprochen worden. Heute wurde er als Krankenbesuch von zwei Freunden gebracht, und siehe da! es war derselbe junge, schöne Mann, den ich vor drei Tagen auf dem Spaziergange, der mir mein jetziges Halsweh zuzog, gefunden hatte. Ich erkannte ihn augenblicklich und war fast verlegen; er gab kein Zeichen, dass er auf den Spaziergänger geachtet habe, der so dreist in sein Gesicht und Studienbuch geschaut hat. Der Besuch war ein sehr angenehmer und die Bitte um Wiederholung wurde zugesagt. Sein Name ist Lotar Disson und sein vorzugsweises Fach die Landschaft; doch soll er auch sehr glücklich porträtieren.
29. April 1834.
Ein Tagebuch ist eigentlich nur für den Führer desselben ansprechend, und ich müsste Dich schlecht lieben, mein Titus, wenn ich dich erbarmungslos durch alle Tage meines Kalenders schleppte. Als wir an jenem Abende auf dem Rigi, mitten unter kalten Reisebeispielen von Engländern, beide zwar so arm wie Kirchenmäuse, aber toll und lustig genug, Abschiedsfeste feierten, und in unsrer Lyrik erst unsre Namen tauschen wollten, dann aber dieses sogar zu dürftig fanden, sondern versprachen unser ganzes künftiges Leben auszuwechseln, d. h. uns gegenseitige gewissenhafte Tagebücher zu senden - als alles dies vorfiel, konnte es doch unmöglich so gemeint sein, dass ich dir jeden kahlen Tag übermache, der mich in dieser Hauptstadt überfällt, welche Hauptstadt mir oft kleinstädtisch genug und abgeschabt vorkommt gegen die freie, gewaltige Residenzstadt der Natur, in Sonderheit, da mir Deine Pyrenäenreise ganze Prachteindrücke übersendet. Du bist wohl noch der alte Narr, und ein hiesiger Freund oder, besser gesagt, nur ein Bekannter, den ich unlängst erwarb, Anselm Ruffo, sagte, ich sei auch ein großer, aber unschädlicher, d. h. für Andere, mir selber aber beständig im Lichte. Es kann sein, und wenn Du eine stichhaltige Beschreibung eines Narren auftreibst, so sende sie schleunigst; dann lässt sich die Sache eher entscheiden - bisher wusste ich keine. Bleibe fürerst nur der liebe, gute, treue und schönheitsbegeisterte Narr, als welchen ich Dich kenne, und ich will Dich einige Millionenmal mehr lieben, als die andern gescheiten Leute. Sende fleißig Pyrenäentage und zürne nicht, wenn Dir unser Lyoner Spediteur von mir ein Päckchen sendet, in denen nicht jeder Tag ein Gesicht zeigt - es hat eben nicht jeder eines.
Disson war während der Zeit wieder bei mir, und wir gefielen uns so, dass wir nicht nur volle drei Stunden verplauderten, sondern auf den ersten Mai, falls es meine Gesundheit zulässt, einen Spaziergang von einem ganzen Tage verabredeten.
Ich habe richtig jenes Mädchen in der Annenkirche wieder gesehen; sie geht täglich um zehn Uhr dahin in Begleitung einer alten Frau, die ich für ihre Mutter halte. Du würdest Dich wundern; ganz eigen ist der ruhige, große, fromme Blick der blauen Augen.
Sie wäre, wie ich Anfangs scherzte, in der Tat ein antikes Modell. Als ich sie der Gasse entlang schreitend sah, und ihr nachblickte, dachte ich: so müsste ein altgriechisches Marmorbild ausgesehen haben, das wandeln könnte und Augen gehabt hätte. Da kamen mir allerlei Spintisirungen über sie: ich möchte sie einmal beten sehen; aber nicht in der Kirche, wo sie die Augen mit den Wimpern kalt verhüllt, sondern wenn sie in ihrem Zimmer einsam Gott dankt oder um Abwendung eines entsetzlichen Wehes bittet; - oder ich möchte sie in Liebesfreude schwärmen sehen oder im Schmerze das Auge aufschlagen - oder tanzen - oder eine Gebirgspartie machen - lachen - ihren Vogel kosen - eine kleine Schwester belehren; oder wenn sie Tee bietet; wenn ihr etwas sehr komisch erscheint - und so weiter - und so weiter.