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Ein Hund ist der beste Kumpel, ein Seelentröster, Clown und immer ein Familienmitglied. Wenn er groß ist und auf Sankt Pauli herumschnüffelt, kann er auch im Verdacht stehen, ein "Meinungsverstärker" zu sein. Die Fotografin Debra Bardowicks und die Autorin Simone Buchholz haben 21 Hundehalter gesucht, die ein Fellherz haben. Lustig, manchmal melancholisch, immer frei Schnauze. Geschichten genau wie der Stadtteil, in dem sie leben: Hamburg Sankt Pauli. Es sind nicht nur Geschichten von einem halbstarken Mastino namens Kalle und von Pacco, einem Rhodesian Ridgeback-Rottweiler-Mix, der auf seine Drag Queen aufpasst. Von einem Polizeihund in Rente und von Molly, einem kleinen Jack-Russell-Terrier vom Dom. FELLHERZ SANKT PAULI behandelt auch den buntesten Stadtteil Deutschlands und beschreibt das Leben, wo es schillert, kracht und manchmal schmerzt. FELLHERZ SANKT PAULI ist ein Buch für alle, die Hunde lieben – aber eben nicht nur für sie.
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Seitenzahl: 105
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FELLHERZ
ST.PAULI
DEUTSCHLANDS BUNTESTER KIEZ – 21 GESCHICHTEN FREI SCHNAUZE
I KEEP A CLOSE WATCH ON THIS HEART OF MINE, I KEEP MY EYES WIDE OPEN ALL THE TIME, I KEEP THE ENDS OUT FOR THE TIE THAT BINDS, BECAUSE YOU’RE MINE, I WALK THE LINE.
Johnny Cash
NILS HÜTTMANN, 48 MANUELA HÜTTMANN, 47 BOOTSMANN, 1 BOLONKA SVETNA
NILS UND ELA, BEIDE GELERNTE BINNENSCHIFFER, haben sich auf einer Barkasse im Hamburger Hafen kennengelernt. Nach nur fünf Tagen wollte Käpten Nils seine Matrosin heiraten. Bootsmann, der Schiffshund, kam später dazu. Der kleine Kerl hat eine extrem wichtige Aufgabe an Bord.
Ein Wind weht von Süd
und zieht mich hinaus auf See,
mein Kind, sei nicht traurig,
tut auch der Abschied weh …
Nils ist der Kapitän, Ela ist die Steuerfrau, Bootsmann ist der Hund, „Klein-Erna“ ist die Barkasse.
Mein Herz geht an Bord,
und fort muss die Reise gehen,
dein Schmerz wird vergehn,
und schön wird das Wiedersehn …
Nils ist gelernter Binnenschiffer, aber erst seit fünf, sechs Jahren ist er wieder auf dem Schiff. Vorher war er 20 Jahre im Lebensmittelgroßhandel. Dann, als er mit einem Kumpel in der Kneipe saß, kam die Idee, noch mal an Bord zu gehen. Er hat als Steward angefangen, als Decksmann gearbeitet, dann Passagieren den Hamburger Hafen erklärt und schließlich das Kapitänspatent gemacht.
Jetzt sitzt er in einem Jungstraum von Steuerhaus und schippert Hunderte von Leuten durch den manchmal tückischen Gezeitenstrom der Elbe. Er ist der Kümmerer in Chief und herrscht über diverse Kameras, Radargeräte, riesige Scheibenwischer, drei Funkgeräte, jede Menge Drehzahlmesser und gefühlte 500 Knöpfe.
Mich trägt die Sehnsucht fort,
in die blaue Ferne,
unter mir Meer,
und über mir Nacht und Sterne.
Vor mir die Welt,
so treibt mich der Wind des Lebens,
wein nicht, mein Kind,
die Tränen, die sind vergebens …
Manuela, die alle nur Ela nennen, fährt in der sechsten Generation zur See. Ihr Vater war Chefmaschinist auf den großen Schiffen, als Kind durfte Ela oft mit, aber dann wurde sie seekrank. Mein Gott, was macht man da? Ela hat eine Ausbildung in der Binnenschifffahrt gemacht. Sie ist gelernte Matrosin. Dann arbeitete sie als Decksfrau, als Bootsfrau, jetzt ist sie Steuerfrau. Das Kapitänspatent will sie nicht haben. Zu viel Verantwortung. Ela hat drei Kinder und sogar schon zwei Enkel, das reicht ja an Verantwortung für so ein junges Ding.
Auf Matrosen, ohé!
Einmal muss es vorbei sein,
nur Erinnerung an Stunden der Liebe,
bleibt noch an Land zurück.
Kennengelernt haben sich Nils und Ela vor drei Jahren, auf der „Otto Abicht“. Er war Käpt’n, sie Decksfrau.
Nach fünf Tagen wollte er sie heiraten. Ein paar Monate hat er warten müssen, dann hat’s geklappt. Die beiden sind auf einer Barkasse getraut worden, direkt vorm Wasserschloss in der Speicherstadt.
Statt Eheringen tragen sie winzige Tätowierungen.
„Ela“ und „Nils“, jeweils in Schreibschrift auf dem Ringfinger. Eheringe wären zu gefährlich, da könnte man an den Schiffstauen mit hängen bleiben und sich verletzen.
Nils und Ela stehen gemeinsam an den Landungsbrücken und winken die Touristen aufs Schiff. Als wären sie zwei Koberer auf der Reeperbahn. Aber kobern darf man hier unten am Wasser nicht sagen. Es heißt: „clerken“. Das hat der Chef der Reederei so schon mal vor Gericht zu Protokoll gegeben, und damit ist es ja offiziell. Auch wenn es für die Kundschaft nun wirklich keinen Unterschied macht. Die Leute lassen sich von Ela und Nils „clerken“ wie die Wahnsinnigen, die „Klein-Erna“ ist in Nullkommanix voll besetzt.
Bevor es losgeht, wettet Ela immer mit Claus, dem Steward: mehr oder weniger als hundert? Passagiere natürlich. Der Gewinner bekommt eine Currywurst am Imbiss an den Landungsbrücken. Eine Brückenwurst.
Seemanns Braut ist die See,
und nur ihr kann er treu sein,
wenn der Sturmwind sein Lied singt,
schon winkt mir
der großen Freiheit Glück …
Wenn Ela „die Hafenerklärung macht“, das heißt, wenn sie den Gästen auf der Barkasse erklärt, wo sie gerade langfahren und warum, ist das elegant, smart und hat immer ein bisschen was von Flaschenpost: „Willst du deinen Sohn noch retten, schick ihm Schnaps und Zigaretten.“
Links und rechts zischen währenddessen die Lotsenboote vorbei, als wäre Regatta. Das machen die, weil sie so wenig Zeit haben. Weil sie Nachwuchsprobleme haben und nur noch so wenige sind. Jede vierte Stelle ist unbesetzt. Und bei den neuen Riesenfrachtern brauchen sie heute sogar zwei Lotsen auf der Brücke, einer allein genügt nicht, um alles im Blick zu behalten, was den Personalengpass noch mal verschärft.
Also schnell rauf mit dem Elblotsen, schnell runter mit dem Hafenlotsen. Rüber über den Fluss, ran an den nächsten Dampfer, wieder raus auf die Elbe. Vollgas, immer große Bugwelle. Lotsenbootballett.
Ela und Nils haben zusammen vier Kinder und drei Enkel. Im Sommer wohnen sie auf der „Susi“, ihrer privaten Barkasse, die in Elmshorn am Hafen liegt. Sie sind Wassermenschen. Nur wenn es kalt wird, ziehen sie um in ihr Winterquartier, eine kleine Wohnung mit eineinhalb Zimmern. Da sind sie eingezogen, als die jüngste Tochter aus dem Haus war. Und da wollte Ela wieder ein Baby. So kam Bootsmann zu ihnen.
Wie blau ist das Meer,
wie groß kann der Himmel sein?
Ich schau hoch vom Mastkorb,
weit in die Welt hinein.
Nach vorn geht mein Blick,
zurück darf kein Seemann schauen,
Kap Horn liegt auf Lee,
jetzt heißt es auf Gott vertrauen …
Bootsmann ist gelernter Schiffshund, von klein auf ist er auf der „Klein-Erna“ mitgefahren. Er hat ein Körbchen im Steuerraum und zwei Schüsseln mit Futter und Leckerlis und Wasser und ein paar kleine Spielsachen. Bootsmann ist ein kleiner Hund, er hat kleine Spielsachen. Ein paar Taue mit Knoten drin.
Bootsmann ist ein Bolonka Svetna, was im Russischen so viel wie „buntes Schoßhündchen“ heißt. Französische Adlige sollen den Zwerghund vor dreihundert Jahren oder so als Gastgeschenk mit nach Russland gebracht haben, auch Zarin Katharina die Große hatte einen. Angeblich wurden die Bolonkas ursprünglich zum Füßewärmen gezüchtet.
Genau so einen haben Ela und Nils gesucht: einen kleinen, niedlichen Hund, der nicht haart und nicht viel bellt.
Genau so einen haben sie bekommen. Alle sind glücklich, so wie es ist.
Bootsmanns Zuhause ist vorne beim Kapitän. Er darf bis zur verchromten Schwelle des Steuerraums, raus nur mit einem extra Kommando.
Seemann gib Acht,
denn strahlt auch als Gruß des Friedens
hell durch die Nacht
das leuchtende Kreuz des Südens.
Schroff ist ein Riff,
und schnell geht ein Schiff zugrunde,
früh oder spät schlägt
jedem von uns die Stunde.
Nils steuert die Barkasse SEHR nah an einem SEHR großen Containerfrachter vorbei, im Grunde steuert er sie fast unter dem Riesen durch. Die Passagiere machen: „Oh!“ Und: „Ah!“ Es ist ein bisschen wie Kielholen für Amateure.
An einer besonders engen, kniffligen Ecke angekommen ruft Nils zu Ela: „Ich schmeiß’ ihn rum!“
Dann wendet er den Kahn.
BOJAN SOKOLOVIC, 44 WESLEY, 13 BRIGITTE, 8 SPRINGER SPANIELS
DIE ERSTEN JAHRE WAR WESLEY ALLEIN, aber dann sagte Bojan: Du bist so ein geiler Typ, du brauchst mal eine Frau. So kam Brigitte dazu. Und die hat gleich mal für richtig Alarm gesorgt.
Das Café Geyer am Hein-Köllisch-Platz ist seit Jahrzehnten ein heiß geliebter Treffpunkt im südlichen St. Pauli. Im Frühling kann man unter den Kirschbäumen tanzen, und wenn ein bisschen Wind kommt, regnet es rosa Blütenblätter. Im Sommer kann man ewig auf der Geyer-Terrasse sitzen, die auf den ganzen Platz ausufert. Im Herbst gibt es dicken Kuchen, im Winter heißen Kaffee.
Seit zehn Jahren gibt es da auch Bojan und Wesley, Brigitte kam vor acht Jahren dazu. Wesley und Brigitte liegen im Eingang, und sie liegen nebeneinander und aufeinander und übereinander, als wäre es vollkommen normal, zu zweit nur einen Körper zu haben, und als wäre es vielmehr bescheuert, nicht aneinandergeklebt durchs Leben zu gehen, wenn man doch schon zusammen lebt.
Wesley und Brigitte sind dermaßen aufeinander gepolt, sie bewegen sogar die Köpfe synchron. Dabei hat Wesley etwas Gesetztes, Erhabenes, ein Typ wie Sir Peter Ustinov. Brigitte schaut eher verächtlich auf die Welt, sie umgibt ein bardothafter Hauch.
Die beiden sind ein Pärchen, sie sind auch Eltern, aber die Kinder sind aus dem Haus (das macht es so gemütlich). Sechs Kinder haben sie bekommen, gut in der Stadt verteilt. Eins ist bei Hummer-Petersen am Fischmarkt. Eins wohnt am Paulinenplatz. Eins ist bei jemandem aus dem FC-St.-Pauli-Umfeld, eins in Finkenwerder, eins in Eppendorf – und eins ist nach Rostock gegangen, aber auch das ist offensichtlich okay für Wesley und Brigitte, so wie auch alles andere okay geregelt zu sein scheint: Sie darf an sein Essen, er aber nicht an ihres.
Die ersten paar Jahre war Wesley allein bei Bojan, aber der hat ihn eines Tages angeguckt und gesagt: „Wesley. Du bist so ein geiler Typ. Du brauchst mal eine Frau in deinem Leben.“
Dann hat er Wesleys Züchterin angerufen, ist hingefahren und hat Brigitte mitgenommen. Bojans Familie hat Englische Springer Spaniel, seit er denken kann. Springer Spaniel sind etwas größer und wirken wie eine Edelversion des gewöhnlichen Cocker Spaniels. Sie wurden als Jagdhunde gezüchtet, die ins Gebüsch springen und dort die Fasane aufscheuchen sollten. Ohne Jagd, Gebüsch und Fasane hat ein wuscheliger, springender Hund natürlich schnell was von Muppet Show, was aber auch irgendwie toll ist.
Einmal war richtig Muppet Show: als Brigitte in die Elbe gefallen ist. Bei minus 18 Grad. Da war sie noch klein, Bojan ist mit Wesley und ihr an der Fischauktionshalle spazieren gegangen, und sie ist ausgerutscht und weggeschlittert und zack, war sie drin.
Bojan hat sich ausgezogen, ist die Leitern runter und ins eisige Wasser. Aber die Strömung ist stark im Hafen, sie hat den Hund von ihm weggezogen, mit den Eisschollen, die auf der Elbe schwammen. Irgendwann hat er Brigitte erwischt, Riesenglück gehabt. Am Ufer hatte sich inzwischen eine Menschenkette gebildet, um ihn und Brigitte rauszuziehen.
Als die Polizei kam, waren alle ziemlich aufgeregt und durcheinander, auch die Polizei. Erst wollten sie zum Tierarzt fahren, aber dann sind sie wieder umgedreht: „Vielleicht sollten Sie den Hund erst mal föhnen?“
Superidee, aber Bojan hat aus verständlichen Gründen keinen Föhn (siehe Foto). Der Nachbar hatte einen. Als Brigitte dann wieder trocken und warm war, fing Bojan an zu frieren.
Warum sich bei der Aktion keiner eine Lungenentzündung geholt hat, weiß nur der Hafengott.
Auch, wie lange es das Café Geyer noch gibt. Bojan denkt übers Aufhören nach. Die Kioske auf dem Kiez, die rund um die Uhr alles verkaufen, was auch Kneipen und Cafés verkaufen, nur billiger, machen die Gastronomie kaputt, Stück für Stück, langsam zwar, aber sicher.
„Wenn ich es im Sommer nicht mehr schaffe, die über den Winter aufgelaufenen Schulden abzutragen, kann ich den Laden nicht halten“, sagt Bojan.
Ein Laden auf dem Kiez, der ohne Junggesellenabschiede und Flatrate-Saufen auskommen will, kostet nicht nur zu viel Geld, sondern auch zu viel Kraft. Bojans Familie, Einwanderer aus dem damaligen Jugoslawien, hat noch Land in der Nähe von Belgrad. Da ist es warm, da ist es schön. Da hat er vor nicht allzu langer Zeit 280 Walnussbäume und 200 Haselnussbüsche gepflanzt. Von Nüssen kann man gut leben, von Cafés mit Seele nicht so gut, zumindest nicht mehr auf St. Pauli.
BÄRBEL HESSEL, 41 HENRY, 5 BOXER
HENRY IST EIN MUSKELPAKET, 500 Gramm rohes Fleisch verschlingt der Boxer jeden Tag. Er könnte so ein richtiger Macker sein, wie es sie nur auf dem Kiez gibt. Ist er aber nicht. Boxer sind die Clowns unter den Hunden. Und Henry geht auf in seiner Rolle.
Bärbels Hund Bo starb an dem Tag, als ihr Freund Drago bei ihr einzog. Sie haben die Urne in ihrem Garten vergraben und einen Baum draufgepflanzt. Dem Baum ist das nicht bekommen, er ist sofort eingegangen, aber Henry gefällt es: Dort, wo Bo begraben liegt und wo für kurze Zeit der Baum stand, liegt Henry heute am liebsten. Das ist sein Platz im Garten.
Bärbel war gar nicht so scharf auf einen neuen Hund. Es war Drago, der einen Boxer wollte, und zwar nur einen Boxer, keinen anderen Hund. Boxer gelten als die Clowns unter den Hunden, und Henry ist so ein Clown. Ein Gummihund, der mit der gesamten hinteren Hälfte wedelt, wenn er sich freut.
Henry freut sich viel.