Felser Glut - Martin Bruderer - E-Book

Felser Glut E-Book

Martin Bruderer

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Beschreibung

Im Land der drei verbundenen Seen Dort, wo die Jurahänge den Bielersee speisen Mitten in der Kostbarkeit kleiner Weinmanufakturen Drei versehrte Seelen Eine Kämpferin, mit einem Schatten Eine blinde Entdeckerin Ein fischender Flaneur Begegnen alle drei auf ihre Weise ihrem Los Energisch, ergeben, gleichgültig Bis sie ein ungebärdiges Schicksal zusammenführt Wie drei ungleiche Trauben In einen erlesenen, gereiften Wein Eine Geschichte voller Turbulenzen und Sinneslust Vielleicht wie ein Gleichnis über Findung und Aussöhnung

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Druck & Seiten- und Umschlag-Layout

Druckerei Odermatt AG, Dallenwil

Bindung

Bubu AG, Mönchaltorf

Der Autor

1966 im Seeland geboren und dort aufgewachsen, lebt in einer Bilingue-Gemeinde bei Biel/Bienne. Matura, später Ausbildung zum eidgenössisch diplomierten Experten in Organisationsmanagement. Seit zwanzig Jahren in Universitätsspitälern und im Gesundheitswesen tätig, wo er auch als Sachbuchautor auftrat. Dazu freier Mitarbeiter im Rebbetrieb seines Ehemannes («engelsgruss»), in Twann am Bielersee.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: INRI

Kapitel 2: DIE TAUFE

Kapitel 3: STILLE NACHT

Kapitel 4: AUFERSTEHUNG

Kapitel 5: FINSTERNIS

Kapital 6: Dies ist mein Blut

Kapitel 7: Das Gift der Schlangen

Kapitel 8: FEUERS WERK

Kapitel 9: Verrat

Kapitel 10: Dreifaltigkeit

Kapitel 11: Heiliger Geist

Kapitel 12: Empfängnis

Epilog

Zu den Wahrheiten in dieser Geschichte

Wenn ich nachts nicht schlafen kann

Weil die Schatten musizier‘n

Sprech‘ ich einen von den Schatten an

Und sag‘, er soll mich amüsier‘n

(Aus einer Liedversion von «Zwei alte Tanten tanzen Tango»

des österreichisch-amerikanischen Liedkünstlers Georg Kreisler,

verstorben am 22. November 2011 in Salzburg)

***

Für meinen Hans und alle,

die dem Tänzchen mit dem Schicksal

das Glück abringen

Ein grosses Merci den folgenden Helferinnen und Helfern

Barbara Renner, Kommunikationsexpertin, Basel, für die einfühlsame Begutachtung des Inhalts und die wichtigen Fragen zu den Handlungssträngen und dem Innenleben der Figuren;

Yvonn Scherrer, Buchautorin, Radiojournalistin und Aromaberaterin, www.yvonnscherrer.ch, für das thematische Lektorat aus den Erfahrungen eines blinden Menschen und die vielen anderen Hinweise;

Hans Ineichen, Journalist, Vigneron und Encaveur, Twann, fürs Mitdenken in Sachen Rebbau, Weinbereitung, Bielersee-Ambiente und roter Faden;

Brigitte Witschi, Parfumeurin und Duftexpertin, art of scent, www.artofscent.ch, Bern, für die leidenschaftliche Einführung in die Welt der Düfte und Aromen;

Maya Schiegg, Biel, für die beeindruckenden Einblicke ins Leben mit einer starken Sehbehinderung und das Gespräch voller Lachen und Fröhlichkeit;

Urs Lanz, Sicherheitsfachmann, für die brandtechnische Beratung;

Roger Steiner, Spitalfacharzt im Notfallzentrum eines Grossspitals, für seine Beratung rund um die Behandlung von Schlangenbissen.

Kleine Lesehilfe

<- <- <- und -> -> ->

heisst: Anfang und Ende eines Rückblicks in die Vergangenheit

***

heisst: Szenen- oder Perspektivenwechsel

Kursiv

heisst: Über-/Beinamen, besondere Eigennamen, Textzitate oder

Ausdrücke in Mundart oder nicht deutscher Sprache

(siehe auch Glossare am Schluss dieses Buches)

Soziogramme um die Hauptpersonen

Am Schluss des Buches

1

INRI

Keiner hätte gedacht, dass INRI den Georg erschlagen würde. Dieser käsebleiche, erbärmlich abgesackte Klumpen «Mensch» schien alles in Bewegung zu setzen, was sich bewegen liess. Oder genauer gesagt, ER hatte das Mordsstück von Eibenholz vom Eisenhaken losgerissen, an dem ER festgenagelt war und das IHN in die schmerzhafte Körperhaltung aufspannte. Nun stürzte ER und die schwere Masse SEINES Kreuzes ungebremst herunter. In voller Wucht und erschreckend exakt in den Nacken von Georg. Tod durch Genickbruch, mitten im Wintersturm. An Heiligabend.

Niemand wusste, wer INRI ins Giebelkreuz gehängt hatte. Ein Kruzifix in protestantischen Landen! Eine abgetakelte Jesus-Statuette unter einem Dachvorsprung mitten in Klein-Twann am Bielersee. Man hätte wohl zwischen den Fensterreihen einen freudigen Glaubensspruch erwartet. «Der Herr bewahre meinen Aus- und Eingang, von nun an bis in Ewigkeit». Oder: «Wer Gott vertraut, hat wohl gebaut, im Himmel und auf Erden». Aber doch nicht diese monströs ans Holz genagelte Porzellanpuppe, dieses blutüberströmte, blickleere und eingeknickte Etwas von Antlitz, dieser kariesgelbe Menschenrumpf. Die Marchés aux puces der Region mussten INRI vor geraumer Zeit hervorgebracht haben und so war ER in der Folge, am schweren Eisenring, an der höchsten und herausragendsten Stelle des Felser Gutes aufgehängt worden. Möglicherweise zum Schutz der am Ausgang der Twannbachschlucht nicht sonderlich sicher platzierten Behausung und der ihr in die Obhut Gegebenen. Oder vielleicht hatte IHN auch nur eine Laune an den Giebel gehievt, eine Mischung aus etwas morbider Beschmückungslust und einer eher boshaften Stichelei gegen barockere Formen des Glaubens. Wie dem auch sei, in der Tat trug INRI viel zur Belustigung bei. Es brauchte nur ein paar Stösse vom Fallwind aus den Jurahängen, dem Joran, und schon schwankte ER windestrunken und ausladend im Giebelgebälk, um noch fahler und elendiglicher auszusehen. Haken und Ring scheuerten krächzend los und verleiteten die Anwesenden immer wieder zu Scherzen. Hatte INRI zu viel vom Weingeist abbekommen, der aus den Kellern in Klein-Twann emporsteigt? Lehnte er sich wehklagend gegen SEINE nicht enden wollende Not am Kreuz auf? «Nein, INRI, auch der rauschende Wind wird dich nicht von deiner Qual erlösen können!»

Und nun wurde INRI zum Todesboten, für Georg und SICH selbst. Die natürliche und fortwährende Zersetzung an den Metallteilen SEINER Aufhängung hatte beste Arbeit geleistet und so reichte an diesem späten Nachmittag eine einzige heftige Böe des wahrhaft sonderbaren Wintersturmes, um INRIS seit langen Jahren anhaltenden Befreiungskampf in einer IHM kaum entsprechenden Weise aufzulösen. ER sauste zu Boden, zu Tode. Zu Georgs Tode. Und zerbrach dabei gleich noch selbst. Nur das Füssepaar und die Hände blieben als Fragmente am Eibenkreuz hängen, zuerst zwirbelnd, dann schaukelnd und schliesslich voneinander abstehend wie sich wegstossende Magnete.

Unter dem Kreuz lag Georg, der blitzartig und durchaus tragisch, jetzt zu seinem Ende gekommene Georg Fels. Den seit jeher in Klein-Twann Ansässigen hätte es gedämmert, dass doch auch vor Jahren die liebe Matilda, Georgs Frau, in eigenartiger Weise tödlich verunfallt war. Folgte Georg seiner verehrten Mati nun fürwahr in einem verwandten Sterben? Nach so langer Zeit?

Dabei hatte Georg nur kurz vors Haus treten wollen. Wo nur war Fanny geblieben, sein Meitschi, sein Ein und Alles? Er hatte darauf bestanden, dass sie sich vor Ferienantritt von ihm im Felser Gut verabschieden würde. Sein Zuhause lag ja nur wenige Autominuten von Bipschal, wo das Töchterli Wohnsitz genommen hatte und obendrauf befand sich sein Klein-Twann sozusagen am Weg zum Flughafen. Es war das Mindeste, wenn sie, sein ein und einziges Kind, ihn an den Feiertagen schon im Stich lassen wollte. Ein satter Kuss auf die Wange, eine herzhafte Umarmung, so viel Weihnachten musste sein.

Seit Tagen hatte es heftig geregnet, gegraupelt, geschneit. Die Wetterwende war nicht abzusehen. Der Twannbach stürzte in seltener Wildheit aus seiner Schlucht und entfachte eine nieslige Wasserwolke, dass es rund um das Felser Gut von allem, was sich über den Boden erhob, fortlaufend tropfte und rann. Nun aber war Wind aufgekommen, einer dieser unberechenbaren. Verstört und aufbrausend fegte er durch die Rebhänge, riss mehr oder minder lose Rebpfosten aus dem Jurakalkboden, um sie wie Geschosse durch die Luft zu pfeilen, und schob die so aufgereizten, hässigen Luft-, Staub- und Sprühwassermassen komprimiert und wogenartig in die dafür zu engen Häuserkorridore der Winzerdörfer am Bielersee. Die Szenerie hatte etwas Apokalyptisches, dem Klimawandel allein wollte man es nicht mehr zuschreiben.

Hatte der Sturm Fanny bereits auf der Fahrt zwischen Bipschal und Klein-Twann von der Strasse gefegt? Oder hatte sie sich gar nicht getraut, in ihr silberfarbenes Coupé einzusteigen, um loszufahren? «Wo nur bleibst du, Fanny? Meitschi, nicht den Flug verpassen! Du hast mich doch nicht vergessen, Donnersmeitschi!» Georgs Gedanken kreisten verloren. Er riss die Eingangstüre auf. Wer weiss, vielleicht hatte Windesgewalt Fanny zwischen Auto und Haus einfach in den Twannbach gestürzt! Oder sie wartete auf eine Sturmflaute, um die Türe ihres Coupés überhaupt aufstossen und den eigentlich kurzen Weg zum Eingang ins Felser Gut in diesem brachialen Unwetter schlechthin nur bewältigen zu können.

Und nun lag Georg Fels da, das regungslose Gesicht den Steinfliesen zugewandt. Er lag vor dem Lebenswerk seines von ihm weiter gepflegten Felser Erbes und in der Zeit nur wenige, fehlende, nie eingetretene Herzschläge entfernt von der herannahenden Frucht seines eigenen Leibes, seiner so sehr ihm ans Herz gewachsenen Fanny.

***

Wie sehr ihr die Packerei auf dem Magen lag und wie bravourös sie diese kleine Unüberbrückbarkeit des Alltags jeweils hinter sich legte! Längst hatte sie sich eine Checkliste von all dem angelegt, was man sich in all den vergangenen Ferien zugekauft hatte, obwohl es zu Hause – manchmal schon mehrfach – herumlag. Aber sie mochte diese Fülle, diese enge Kadenz der Entscheidungen nicht. Das war harte Arbeit. Lange Hosen, kurze Hosen oder beides und reichte je ein Exemplar? Schichtprinzip ja, aber wie viele dieser Kleiderhüllen, die sich übereinander anziehen liessen?

Fanny holte tief Luft, es war vollbracht. Die Zusammenstellung der Reiseutensilien schien gelungen und alles hatte schlussendlich in den Taschen Platz gefunden. Selbst die wichtigen Reisedokumente schlummerten nun abgelichtet in gleich mehreren Abzügen in versteckten Schlitzen der Gepäckstücke. Man wusste ja nie!

Sie hatte ihre Künstlerkollegin Meredith erst vor wenigen Tagen zum kleinen Ausbruch aus dem Alltag überreden können. Die beiden kannten sich aus Tagen der Zürcher Hochschule der Künste und steckten gerade mitten in einer gemeinsamen Arbeit, einer Georg-Kreisler-Adaption. «Tanz auf dem Champagnerschaum» hatte man der Produktion einmal so als Etikett verpasst, einem Kreisler-Zitat folgend. Das über Jahrzehnte zur Ikone gereifte Theater Orchester Biel Solothurn, auch «TOBS» genannt, betritt regelmässig dramaturgisches Neuland und man traute der Klanggestalterin Fanny Fels nicht nur eine zeitgemässe Bearbeitung des weitläufigen Materials von Kreisler zu, sondern hatte ihr die Aufgabe gegeben, auch die Wirkung seines Kabaretts auf Publikum und andere Schaffenswelten auf der Bühne zu zeigen. «Das bringe ich nie allein zustande» hatte Fanny gedacht und sich das Gesamtkunstwerk Meredith ins Boot geholt. Sängerin, Schauspielerin, Performerin, Künstlerin, Meredith liess sich in keine Schublade zwängen, wollte immer auch am Anfang einer Geschichte stehen und keinesfalls nur Regieopfer sein. Ausserdem gefiel Fanny der Gedanke, den nicht ganz machismofreien Kreisler in gewaltiger Frauenstimme zu beleben.

«Komm’, Meredith, wir tauchen in den Markt der Djemaa el Fna ein. Wir geben uns der Suggestionskraft von Marrakesch hin.» Fanny hatte weiter gebettelt: «Da haben wir alles in einem: Entspannung, Verführung, Inspiration, Tapetenwechsel. Es gibt sogar einen Flug an Heiligabend, zum Billigsttarif.»

Die emsigen Reisevorbereitungen und die Vorfreude auf die Erlebnisse mit Meredith hatten Fanny nicht bemerken lassen, in welchem Aufruhr sich die Elemente ausserhalb ihrer kleinen Wohnung in Bipschal befanden. Die Gischt des Bielersees schlug an den Fronten des kleinen Weilers hoch wie an den Leuchttürmen der Küsten ferngelegener Meere. Der Schaum vermengte sich mit Schnee- und Eisgestöber, sodass an Sicht und Orientierung nicht mehr zu denken war.

Fanny zwängte sich mit ihrem Reisebrimborium zum neugotisch gerahmten Tor ihres Wohnhauses hinaus und erschrak ob des Tumults, in dem sich die Hänge des Nordufers und die Seemassen heftig ins Gehege zu geraten schienen. Nicht eine Sekunde lang aber dachte sie an einen Rückzug ins Trockene. Es blieben doch nur wenige Stunden bis zum Abflug, bis zur Erlösung.

Ein mächtiger gedanklicher Motor, dazu paradoxerweise der Schock des Unwetters, beides liess Fanny gerade gänzlich übergehen, dass ihr Flugzeug vielleicht am Boden bleiben würde. Nur weg, war die Devise, nur Meredith um keinen Preis versetzen. Wie viel Hartnäckigkeit hatte es bedurft, um sie zur kurzfristig angesetzten Reise zu überreden! Fanny verspürte nicht die geringste Lust auf die Verlorenheit dumpfer Festtage im buchstäblich aussichtslosen heimatlichen Wetterfiasko. Und vor allem wusste sie, dass Georg sie zum Abschied sehnlichst erwartete. Seit Stunden wohl.

***

Ihr Päppu, ihr Vater Georg Fels. Die Pensionierung lag schon einige Jahre zurück und noch immer stieg er, Rebbauer mit jeder Faser seines Wesens, täglich, ohne jegliche Ausnahme, in seine Reben. Felser Trauben hatten einen Nimbus, der sich nur schwer erklären liess. Weit und breit erreichten keine anderen Traubenfrüchte, kein Chasselas, kein Pinot noir und kein Pinot gris die Qualitäten der Erzeugnisse von Georg. Auch kein Muscat à petit grain, wobei man für diese Früchte wohl ein Stück weit hätte fahren müssen, um sie andernorts zu erstehen. Wer nicht genug Trauben zur Weinbereitung hatte, stand in die Schlange bei Georg, der sich ganz der Arbeit im Rebberg und dem Heranwachsen seiner Beeren, aber weniger der Kelterung im Keller verschrieb. Seine Trauben, die er, einmal ausgereift, fast vollumfänglich zum Verkauf anbot, gehörten zu den gefragtesten. Ihr Aroma, ihre Süsse und Säure sowie eben ihre Reife in allen augenfälligen und, weit wichtiger, auch versteckten Ausprägungen, standen in einem Gleichgewicht, das seinesgleichen suchte, und gingen mit einer ausserordentlichen Gesundheit und Widerstandskraft der ganzen Gewächse einher. Fanny glaubte das Geheimnis der Traubenpflege von Georg zu kennen. Es erfasste nicht nur die Beeren, die Rebstöcke, den Boden, die Lage, nein, die Früchte entsprangen zwei eigentlichen Welten, die sich in Georg vereinigten. Zum einen war da die innere Leidenschaft, die gänzliche Hingabe an ein über die Jahrzehnte entwickeltes und mit dem Pflanzengut klug zusammenspielendes Handwerk, zum anderen aber manifestierten sich in der erstaunlichen Güte und Fülle der Ernten auch die äusseren und vielfältigen landschaftlichen Urkräfte des einzigartigen Seelandes. Die Wechselwirkung zwischen beidem konnte und wollte sich Georg nicht erklären. Er wusste jedoch, wie dieses gleichsam alchimistische Zusammenspiel aller Bestandteile zu beeinflussen und in geradezu paradiesische Nähe zu bringen war.

Noch ahnte Fanny nicht, wie sehr Georg ums Zerbrechen seines Universums und den Verlust des Gleichgewichts dieser Kräfte fürchtete, mehr noch, wie sehr Georg die Unausweichlichkeit des Wandels angenommen hatte und schon weiterdachte.

Vor Fannys innerem Auge tauchten für einen Moment Georgs Erscheinung und Wesen auf, in einer Klarheit, die ihn von der Bindung ans Altern und an die Veränderung löste. Ein mittelgrosser, burschenhafter, zäher, pelziger Körper. Recht helle Haut, aber dunkles und eben viel, ja sehr viel Haar. Kein Kraftprotz, aber ein Naturmensch. Ein eingesunkenes Augenpaar, so leuchtend wie immer auch etwas wässrig, etwas traurig. Die Iris nicht grün, nicht blau, eher unergründlich. Der Blick oft ein wenig suchend, ein wenig ausweichend. Seine Gestik bittstellerisch.

Klar würde Fanny sich verabschieden wollen. Sie sehnte sich nach einer dieser alles bejahenden Umarmungen, die sie auch im hypnotischen Strudel von Marrakesch an ihre Verwurzelung erinnern und ihr das Fallenlassen in die Trunkenheit arabischer Reize noch zusätzlich erleichtern würden.

Also stieg sie in ihr vollgestopftes Coupé und in diese gigantische Eistorte der Bipschaler Kulisse, denn so fühlte sich das Eintauchen in den Sturm und die hereinbrechende Nacht an. Sie würde den Weg zum Felser Gut in jedem Falle finden, meteorologischer Weltuntergang hin oder her, in die Abschiedsumarmung mit Päppu!

***

Wie so oft hatte Mia im Hotel Fontana in Twann ein Dessert genossen. Mia hielt ihren Bruder Rheno, der dort die Küche führte, für den besten Koch im ganzen Seeland. Und so hatte er ihr, obwohl die Restauration des Fontana am Vortag vor Weihnachten nach den Mittagsgästen den Betrieb bereits eingestellt hatte, noch ein Zvieri gemacht. Mia hätte den Ausdruck «machen» nie akzeptiert, denn sie hielt die Kreationen dieses einen ihrer beiden älteren Brüder, die beide eine wichtige Rolle in ihrem Leben innehatten, für weit mehr als nur Alltagswerk. Die Kochkunst von Rheno entführte Mia auf lustvolle Reisen. Er kaprizierte sich auf Variationen und Abwandlungen, bei Mia sowieso, denn es war ihm herausragend und stets bewusst, welch’ besondere Bedeutung Geruchs- und Geschmackssinn bei Mia einnahmen. Weit mehr als bei anderen Menschen, auch weit mehr als bei vielen Gourmands und gar bei dem einen oder anderen Gourmet, welche alle nicht ungerne im Fontana Einkehr hielten.

Es gab eigentlich etwas Unspektakuläres. Coupe vigneronne. Schon als Mia das einer Champagnerschale nachgebildete Glas zur Nase hob, roch sie den Unterschied. «Mirabellen und Rosen, à vrai! Das ist kein Marc,Rheno», rief Mia in Richtung Hotelküche. «Hast du Lie genommen? Hast du die Rosinen in Lie eingelegt, dis-moi, Rheno?» Mia ertastete den Löffel, führte ihn zum Glas, belud ihn und nahm ihn behutsam zum Mund. Sie verkostete lustvoll den ersten Mundvoll der Süssspeise: «Mandeln und Bäredräck, es ist Lie!» «Coing, Mia, Coing, etwas anderes war gerade nicht zur Hand», tönte es schalkhaft aus der Küche. «Nichts da, Rheno, mach’ dir keine Mühe, pas de blagues, nur Lie duftet nach edlen Rosen, nur Lie hat diese verführerische Geschmeidigkeit! Sowas würde man den ausgedienten Hefen doch nicht zutrauen, oder? Sterben und in Rosenessenz übergehen. Aber nimm nur Coing das nächste Mal. Er erinnert mich an den Duft von Orchideen und gekochten Hagebutten. Es ist schon lange her. Gell, Coing, das nächste Mal. Ich mag diesen würzigen Coing, oh je l’adore.» Während Mia sich gedanklich dem Auffächern der Schnapsaromen von gebranntem Hefeschlick und destillierten Quitten und ihrem Zusammenspiel mit geballter Rosinensüsse hingab, genoss sie zeitverloren jeden Happen der schlürfigen Speise. Im Glacé begegneten ihr ein Hauch der Bitterkeit von Rosmarin, eine herbe Frische von Lavendel und über allem die süssliche Schwere der Vanille. Und es war ihr natürlich aufgefallen, Rheno hatte die gerösteten Zedernkerne diesmal weggelassen. Sie gingen ja auch weit über die übliche Coupe vigneronne hinaus.

Mia hatte sich dem sensorischen Flanieren durch kulinarische Sphären im Fontana so sehr hingegeben, dass sie einen für sie besonders wichtigen Umstand nicht bemerkte: Ihr Angelo lag nicht mehr unter dem Tisch, er war auch nicht zurückgekehrt, wie er dies kurzum tat, wenn er davonging.

Ihr Führhund, ein blonder, flauschiger Grosspudel, war es gewohnt, seine Wasserschale im Treppenaufgang zur Eingangstüre des Fontana zu finden, wo sie Rheno immer gleich beim Eintreffen der beiden randvoll platzierte. Angelo pflegte hinaus- und wieder hereinzuschlüpfen, wenn andere Gäste oder Mitarbeiter das Fontana betraten und verliessen. Wo war Angelo also geblieben? Wollte er ein dringliches, ihn plagendes Geschäft verrichten? War er deshalb nicht zurückgekommen und wartete draussen auf seine Herrin? Mia rief nach Angelo und lauschte, aber es regte sich nichts im Restaurant. Also streifte sie ihr Daunenjacket über, stieg in ihren langen, blauen Regenmantel und zurrte einen lackartig glänzenden, orangen Regenhut auf ihrem Kopf und unter ihrem Kinn fest. Sie griff in ihre Umhängetasche und vergewisserte sich, ihr Mobiltelefon dabei zu haben. «Du willst doch nicht etwa jetzt in dieses grässliche Sauwetter hinaussteigen? Mia, da findet sich keiner mehr zurecht, was immer man sieht oder nicht sehen kann! Schwoscht, ich fahr’ dich nachher heim, wenn das Schlimmste vorbei ist. Mit dem Hund machen wir den Rundgang ohnehin besser in den geschützten Gassen der Stadt.» «Bin gleich zurück, Brüetsch, je reviens, pardonne-moi!», hüstelte Mia und glitt durch den Türspalt hinaus. Rheno blieb perplex zurück und suchte schliesslich wieder die Hotelküche auf. «Soll sie halt, sie findet ja blind zurück», mokierte er sich, ohne zu wissen, wie komplett falsch er mit seiner Einschätzung bald schon liegen würde.

Draussen machte sich kein Angelo bemerkbar. Er schien weg zu sein, unauffindbar. Mia konnte sich nicht erinnern, dass er schon einmal von sich aus das Weite gesucht hätte. Sowieso, kaum ein Blindenführhund täte dergleichen. Mia erschrak und begann nach ihm zu rufen. Bald schrie sie, schrie sich einen Moment lang für ihren unverzichtbaren Begleiter gar die Seele aus dem Leib und stellte fest, dass es im Getöse der Wettergewalten einer Schiffssirene bedurft hätte, um nur schon ein paar Meter weiter im Pfropfhüsli, dem Sitz der kleinen, aber charmanten Vinothek des Bielersees, gehört zu werden.

Sie ging rasch in den Gang zurück, trocknete sich die Hände mit einem Taschentuch, zog ihr Mobiltelefon hervor und aktivierte, mit den Fingern übers Display gleitend und dabei aufmerksam lauschend, jene App, die Angelo lokalisieren konnte. Hatte Unerwartetes, ein Kind vielleicht, das Tier von ihr entführt? Es dauerte nicht lange und es zirpte verstümmelt aus dem Gerät heraus: «Chlyne Twann Ligerz elf». Mia überlegte. Wie in aller Welt wollte es Angelo durch diese feindseligen Umstände nach Klein-Twann geschafft haben? Ja, Angelo kannte den an sich kurzen Weg, gut sogar. Aber gegen die raffgierigen Windstösse ankommen? Das schien unmöglich. Und warum nur, warum hätte sich ein so sehr auf Treue geschulter Hund einfach so selbständig gemacht? Hatte dieses Wettermonstrum auch den gewieftesten Blindenführhund in die Verwirrung getrieben? Hatte ihn doch eine dieser Pudellaunen gepackt? Sollte an diesem haltlosen Heiligabend noch mehr aus den Fugen geraten?

Mia zögerte nicht. Sie wickelte sich noch enger in ihre Kleiderhüllen und tastete sich in nervöser Eile ein weiteres Mal zur Türe hinaus. Nicht aber ohne ihren weissen Stock grimmig zu ergreifen und fester zu halten denn je.

Es entbehrte in der Tat nicht einer gewissen Ironie, dass die geburts- und vollblinde Mia an diesem Abend für das, was sie nun gleich vollbringen würde, die besseren Voraussetzungen als manch ein anderer besass. Es gab fürs Auge an diesem Abend in der durch die Mitte der Häuser führenden Gasse von Twann und dem anschliessenden Klein-Twann nichts wahrzunehmen. Das Wettergestöber sprühte nicht nur Schnee und Wasser durch die Gegend, sondern ebenso schlickigfaule Blätterknäuel, Sand und was sonst lose herumlag – alles vermengt. Mia aber kannte die Abmessungen jedes Randsteins, die Abfolgen dieser Bordüren, die Metallrohrbögen der Parkplatzbegrenzungen, die Rebmäuerchen, die Steinsäulen der Einfahrten, die Nahtstellen der Asphaltausbesserungen, die Gullideckel, jede Unebenheit. Sie kannte die Geschichte der Strasse, ihre Narben, ihre Wunden, ihre Unzulänglichkeiten. Mia stellte sich den Böen entgegen, stemmte ihren Stock mit der Rollspitze durch die Wasserfluten am Boden, stütze sich zuweilen mit einer Hand an den Mauern, welche die Gasse begrenzten, oder gar am Boden selbst ab und kam vorwärts. Ja, es war schwierig, ohne die Wahrnehmung eines hohen Sonnenstandes, ohne den Rückwurf vertrauter Gassengeräusche, ohne die Gerüche der Höfe und Weinkeller Orientierung zu finden. Aber Mia befand sich auf vertrautem Terrain und setzte alles auf ihre taktile Wiedererkennung des festen Grundes, der dem Sturm nicht wich, nicht einen Zentimeter. Einen Moment lang hob sie den Kopf stolz in die nasse Beklatschung aus dem Himmel und strahlte. Sie fand ihren Weg! «Angelo, Angelo» rief sie, dann noch lauter, noch fester: «Angelo, ich komme, sois assuré!»

***

Plus ou moins einen Kilometer beträgt die Distanz zwischen Bipschal und Klein-Twann. Ein Klacks. Oder aber ein Abenteuer. Fanny hatte es in ihrem Coupé gerade mal über die Bahngeleise bei der Ausfahrt von Bipschal geschafft, aber dann war fertig. Die Frontscheibe liess sich nicht mehr wischen, so strömte der Schneematsch. «Meredith, ich habs versucht, ich habe alles versucht! Dr Cheibesiech, er wotts nid ha!» Fanny schlug mit den Handflächen aufs Steuerrad. Just in diesem Moment, wie sie aufprallten, erhoben sich links im Seitenfenster von unten nach oben zwei grelle Lichtkegel - einer Science-Fiction-Szene gleich. Fanny machte die Umrisse eines grossen, aufragenden Gefährts aus: «Ein Reisebus oder so was Ähnliches, einfach ein Bus oder Camion! Klar, was braucht es mehr als so ein Ding?», durchzuckte es Fanny. Sie hielt sich bereit, liess es passieren, fuhr gleich los und klebte distanzlos an den roten, franseligen Glühpunkten der Rücklichter. Mehr war nicht zu sehen, nur dieses rot schimmernde Hinterteil eines durchs trübe Unwetter pflügenden Hochvehikels.

Fanny zweigte in der Ortsmitte von Twann in Richtung Klein-Twann, dem angrenzenden Weiler, ab. Im Häuserkorridor, der die schmalen Dörfer als Gasse durchquert, liess es sich langsam rollen, auch bei miserabler Sicht und gegen die Strubuussete, gegen diese unbändigen Wetterkapriolen. Sie wusste, dass sie vor dem Felser Gut wenden musste, denn die Türe ihres Coupés liess sich wohl nur schwerlich gegen den Druck des Windes öffnen. Kurz bevor sie die Spitzkehre vollzog, vernahm Fanny zwei eigenartige dumpfe Töne aus der Karosserie ihres Wagens. Hatte jemand gegen ihr Auto geschlagen? Und hüpfte da nicht ein oranger Ball am Coupé vorbei? Was war da los, dr Sousiech nomou? Trieb sie der herumfegende Tanz des Sturmes nun gar in halluzinative Zustände?

Fanny schwenkte aus, riss ihr Coupé in einem Dreiviertelbogen herum, und stoppte quer zum Wind, sodass es sich in dessen Schatten aussteigen liess. Sie versuchte das Auto sanft und nur spaltweise zu öffnen. Alles nützte nichts, der unberechenbare Sturm entriss ihr die Autotüre und schlug diese rasant und wuchtig auf. Wieder wusste Fanny nicht, wie ihr geschah. Sie bemerkte in Sekundenbruchteilen, dass die Türe nicht zurückfederte, sondern dumpf aufschlug. Da! Hörte sie nicht einen Schrei, einen schmerzgeplagten? Und warum stach ihr plötzlich das Flackern einer irgendwie vertrauten Korridorlampe in die Augen? Die Haustüre des Felser Gutes offen?! «Donnerscheib, Päppu, was ist los?»

Fanny warf sich dem Gebäude, dem Haus, in dem sie aufgewachsen war, entgegen, stolperte, fiel, raffte sich hoch und sah wie vor ihr ein dunkler, nasser, Furcht einflössender – was war es nur? – Haufen, Sack, ein Unding zunehmend an Gestalt gewann. Ein kurzer Moment und Fanny begann für wahr zu halten, was sie sah: ihren Vater, zusammengefallen unter einem, wie es ihr zunächst schien, eigenartigen Gegenstand. Sie packte unverzüglich zu.

Wie sie den INRI-Galgen weg von Georg und aus dem blutverfärbten Schneematsch zog, ihren zusammengebrochenen Päppu gänzlich vom heruntergefallenen Holzkreuz befreite, wie sie immer wieder laut «Päppu, Päppu, sprich mit mir!» schrie und vergeblich nach einem Lebenszeichen suchte, wandelte sich ihre verzweifelte Ahnung seines Verschieds, auf höchster Bewusstseinsstufe, zur äusserst schmerzhaften, unerträglichen Gewissheit: Ihr Vater Georg war tot, war weg. INRI hatte sein Haupt abgeknickt, seinen Körper zu Boden geschlagen, über die unförmigen Randsteine der Gartenbegrenzung. An ein Wiederbeleben war nicht zu denken. Nun war es Fanny, die niederkniete und Georg gegen das Peitschen der Sturmstösse in die Arme schloss. Sie schluchzte los, heftig. «Päppu, du wolltest mich doch umarmen, du, noch vor meiner Abreise, weisst du nicht mehr? Päppu, wer bleibt mir jetzt, Päppu? Wir wollten uns unbedingt verabschieden. Dr Cheibesiech, was wott er ou? Dr Cheibesiech!»

Kaleidoskopisch stiegen in Fanny viele Bilder auf. Sie waren alle da, gleichzeitig, in Überlagerung und verliehen ihrem Vater eine Intensität der Anwesenheit, wie sie Fanny nie zuvor erlebt hatte. Sie sah Päppu, wie er ihr als kleines Mädchen erstmals das Gränne der Rebstöcke gezeigt hatte, dieses Hervorquellen der satten Saftperlen aus den Enden der heruntergebundenen Zweige der Rebstöcke. Und wie die Tropfen vielfarbig glitzerten in der Frühjahrssonne. «Bewundere, Meitschi, muesch bewundere! Gleich kommen die Triebe aus den Ruten, die allerzartesten, Trauben aus Tränen, ist das nicht fabelhaft!» Sie hatte erlebt, wie ihr der Austriebssaft flink über die Finger quoll, hatte diesen abgeleckt und einen zurückhaltenden, aber raffinierten grasigen, erdigen Geschmack wahrgenommen.

Dann wiederum glaubte Fanny förmlich zu spüren, wie Vater Georg ihr das dunkle, krause Haar aus der Stirne strich, um ihr die Augen zu verbinden. «Trink, Fanny, trink und sage mir, was du schmeckst!» Und die beiden wetteiferten, wer aus dem frisch gepressten Saft der Chasselas-Trauben das Gewagteste herausschmecken und dazu die Zustimmung des anderen gewinnen konnte. Birnen, Bananen, Litchi und manchmal Honig! Man fand die Nuancen nur geschlossenen Auges.

Und nun streichelte Fanny ihrem Vater immer wieder über den Rücken, die Hand von den inneren Regungen geführt. Es fielen ihr die unzähligen und stets wiederkehrenden Male ein, in denen er von Mati sprach, als wäre sie hier, immer dagewesen, die Mutter, die Fanny nur aus seinen Äusserungen kannte.

<- <- <-

«Sieh nur die kleinen, prallen Wintertroler, Fanny! Mati wird uns Konfitüre machen. Diese Leckerei gibts nur bei uns.» Und sonntags assen sie den Aufstrich, den Georg in zurückgezogenen Selbstgesprächen mit Mati aus den kleinen, spätreifen Traubenballen, die stets hoch an den Bischossen der Rebstöcke hingen, gefertigt hatte. Sie strichen den aufgezuckerten, klebrigen Sud aufs Nussbrot, das zur aufmüpfigen und etwas unreifen Säure der Wintertroler wunderbar passte.

-> -> ->

Eine Eiseskälte hatte Fanny, ihr Mark und Bein, ihre Seele ergriffen. Ihr Blick war auf den abgesplitterten, aber immer noch ganzen Kopf von INRI gefallen, der vor ihr auf dem Kiesboden lag. Sie empfand ein sonderbares Mitleid und gleichzeitig eine aufkeimende Wut. Warum dieser abrupte Todesschlag, warum diese Auslöschung auf der Stelle, ohne Vorwarnung, ohne Ankündigung? Und warum hatte INRI sich einspannen lassen? Wozu diese Theatralik? Hätte es nicht genügt, anspruchslos und selbstlos zu Boden zu gehen? «Warum haben wir dich da nicht längstens heruntergeholt? Wir sprachen so oft davon! Mit deinem reibenden Gesäge am Eisenring warst du wahrlich eine Nervensäge. Und du warst doch nie glücklich da oben. Schau’ dich an, ich kenne kein betrübteres Gesicht.»

Fanny ergriff INRIS Haupt und schloss es krampfhaft in beide Handflächen ein. Sie erhob sich, ging ins Haus und setzte sich an den Küchentisch. Lange starrte sie, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, in diese rissige, dornenverzierte Porzellanmaske, die aus dem Fingergeflecht hervorlugte. Das Blut wich aus ihren Händen, so sehr verkrallten sich Fannys Finger. Sie war nicht in der Lage, klar zu denken, aber sie ahnte, dass nun nichts mehr so sein würde wie noch vor wenigen Stunden, dass Unfassbares, Ungreifbares in Bewegung geraten würde, dass sie viele Entscheidungen würde treffen müssen. «Jetzt nicht», dachte Fanny, «später, später.» Regungslos sass sie da, schwer und mit stockendem Atem. Eine kleine Ewigkeit.

Die Schmerzen in ihren Fingern holten sie zurück. Sie würgte INRI aus den steifen Gliedern, liess IHN auf den Tisch fallen und stieg eilig in ihr Zimmer im Obergeschoss, in die vier Wände ihrer Kindheit, die sie nicht selten nutzte, um temporär bei Päppu zu hausen.

Sie fand trockene Kleider, eine weite Regenjacke, die sie für Rebarbeiten nutzte, zog sich um und begab sich ins Kellergeschoss. Kurzum stöberte sie eine Blache auf, stieg wieder hoch und bedeckte zitternd und verstört ihren elendiglich daliegenden, wanklosen Päppu. Wie sie sich anschickte, den Notarzt und Meredith zu verständigen, bemerkte sie, dass sie dafür ihres Mobiltelefons bedurfte, welches noch im Auto lag. Also sprang Fanny durch den Garten, zur Gasse und ihrem Coupé, dessen Türe immer noch gähnend offenstand und im Wind heftig wippte.

Was nun geschah, war für Fanny des Guten zu viel. Was sollte denn noch passieren, an diesem wahrhaft verrückten Tag? Sie beugte sich gerade in das unter Regenwasser stehende Innere ihres Coupés, als sie zuerst dieses knallorange, ballartige, doch schon einmal dagewesene Ding herumwiegen sah und dann unter dem Steuerrad ein helles Beinepaar zu entdecken glaubte. Sie erschrak, sie fiel noch tiefer in Schock: noch ein lebloses Menschenwesen? «Siebesiech, du verdammte Siebesiech! Ehrewort!» Fanny schnaubte, Fanny stöhnte laut. Sie sank auf den Führersitz, ohne die Beine ins Auto zu nehmen, ergriff verbissen das Steuerrad und rang nach Luft und einem Ansatz von Fassung. Sie traute sich nicht, den Blick vom Steuerrad zu nehmen.

«Angelo, bist du das, Angelo? Auf dem Beifahrersitz begann sich ein blauer Klumpen träge nach oben zu recken, menschliche Form anzunehmen und schliesslich feingliedrige, tastende Hände auszustrecken. «Wo bin ich? Ist da jemand?», tönte es zaghaft aus einem mondweissen, mit blonden Haarsträhnen arg verklebten Gesicht, dessen Augen nicht zu sehen waren.

Es muss an der überraschenden Wendung gelegen haben, an der gänzlich unerwarteten Offenbarung einer menschlichen und geradezu zarten Regung, dass Fanny augenblicklich wieder Boden unter den Füssen fand. Sie riss ihre Hände lamentierend vom Steuerrad los und drehte sich um. «Wie kommst denn du in mein Auto?», entfuhr es ihr lapidar. «Und darf ich fragen, wer um alles in der Welt du bist?» Der schlagartige, schroffe Wechsel im Geschehen überlagerte Fannys Schrecken und Grauen.

«Hilfst du mir? Kannst du mir helfen?» Mia klaubte verkrampft ihr Mobiltelefon hervor, doch es gelang ihr nicht, das Gerät in Betrieb zu nehmen. Es war zu nass geworden und tat keinen Wank. «Ich muss Angelo finden. Gib mir meinen Stock! Hast du ihn mir weggeschlagen?» Eine niedergedrückte Mia schickte sich an, aus dem Auto zu kriechen.

Fanny verstand nicht, überhaupt nicht. Aber sie fühlte in einer bewegenden, merkwürdigen Deutlichkeit, dass diese Begegnung aussergewöhnlich war, dass sich ihr hier im Zustand ihres Schocks und in der Verlorenheit des Unheils eine ebenso verzweifelte Hand entgegenstreckte, die es zu ergreifen galt. Es schien, als würde sich eine Seite ihres Lebensbuches zum Umschlagen anheben, so bebilderte ihr inneres Auge das unwirkliche Geschehen der Stunde. Fanny entschied sich, ihren Impulsen zu folgen. Auf einmal war ihr klar, dass sie etwas wiedergutzumachen hatte. Es war ihre aufschmetternde Autotüre, die das scheue Wesen neben ihr umgehauen hatte, natürlich! Dieses hatte geschrien, als die Türe aufflog und es in die Unwettersuppe niedergerissen hatte. Und dann brachte Fanny noch zwei andere Dinge in Verbindung. Die Schläge an ihr Auto, kurz bevor sie parkierte. Dann der Stock, nach dem gefragt wurde. Wozu, um alles in der Welt, nutzte eine so junge Frau einen Stock? Und warum hatte sie keine Augen erfasst, in diesem engelhaften Gesicht?

«Ich habe nichts mehr, gar nichts mehr!», schluchzte Mia, der es nicht gelang, aus Fannys Coupé auszusteigen. «Mein Handy geht nicht mehr, mein Stock ist weg, mein Hund, mein teurer Hund ist weg. Und ich höre nichts in diesem Chaos! Hilft mir denn keiner?» «Du hast nicht nichts», sagte Fanny, mit sehr lauten und langsamen Worten. «Hörst du mich? Ich bin da und kann dir helfen. Ich bin Fanny und ich hole dir jetzt deinen Stock! Hast du mich verstanden?» Die Winde begannen auf einmal etwas nachzulassen und so ging es nicht lange und Fanny erkannte am Strassenrand die Umrisse eines hellen, langen Gegenstandes, der das schwache Licht der Strassenbeleuchtung erstaunlich gut reflektierte. Ein weisser Stock, voilà! Sie ging zum Auto zurück und öffnete die Beifahrertüre. «Ich hab’ da etwas für dich, aber ich will zuerst wissen, wie du heisst.»

Mia zerrte Fanny unbeholfen in ihre Arme und schluchzte: «Mia, Mia und mein Hund heisst Angelo, aber das weisst du ja jetzt. Und Danke für den Stock, Merci infiniment! Ich bin so froh, dass du gekommen bist. Es war so aussichtslos, einfach ohne Ausweg. Ich war noch nie so verloren, so allein. Mir war so kalt.»

Aus der Dumpfheit eines totalen Verlusterlebnisses heraus bemerkte Mia unverzüglich und noch viel unmittelbarer als sonst, woran Fannys Duft sie erinnerte, der mitunter ihre Sinne wiedererweckte. Bergamotte kam ihr in den Sinn und Palisander, ja es war der Duft von rosewood, dazu viel zu viel Eukalyptus, aus einem Duschgel wohl. Und dann war da noch eine Prise Ammoniak! Aber das vergegenwärtigte sie sich so erst später, darüber dachte sie erst in der Erinnerung nach, in den Momenten des hellwachen, elektrisierenden Rückblicks. Mia wusste wohl, dass der stechende Geruch an Menschen von Belastung herrührte und sie wusste auch, wie sehr sie die anderen Düfte mochte.

«Wir werden deinen Angelo finden, Mia, das versprech’ ich dir!», versicherte Fanny, die nicht wusste, warum sie in einer solch’ dunklen, gottvergessenen Stunde ein Versprechen dieser Art abgab. Denn sie hielt Versprechen, eigentlich immer.

nox prima

an der Mauer zerbricht, zerbricht der Stein

zerschlägt, zerschlägt, zerfällt, zerbröselt

Blut ist jetzt an der Wand

rinnt herunter, herunter

win pa la mi ni, la mi ni! la mi ni!

wieder ein Schlag und noch einer

dumpf gegen die Wand, dumpf, dumpf

mit der Faust, auch im Blut, im Blut

wa mai je, wa ma je, opap opa

und noch ein Stein

stösst, stösst, verschmiert das Blut

fällt, fällt zu Boden

zu Boden

ihadi, hadi, gemi auswe, we! we!

kalte Tränen, wie kalt

ziehen am Geländer, am Geländer ziehen

Tränenblut, Bluttränen

kleben an den Wangen

Steinstaub im Bettchen, das arme Bettchen

2

DIE TAUFE

«Nimm den Liguster», wiederholte Sophie. Mias enge Freundin hatte die wohl exklusivste Expertenschmiede des Fachs besucht, die Ecole Givaudan in Argenteuil bei Paris. Als bestens ausgebildete Parfümeurin kannte sie sich also in Düften und Aromen aus. Sie wusste um die Betörungsmacht ihres Arsenals, wie sie es zuweilen nannte und welches sie fortlaufend mit unbändigem Erforschungswillen erweiterte. «Seine Blüten stehen dem berauschenden Flieder in nichts nach, im Gegenteil.» Sie schmunzelte und fuhr fort: «Reinweiss sind sie wie die Unschuld, aber sie verführen und entwaffnen, Mia, mit Noten von warmem Honig, würzigem Zimt und frisch geschnittenem Holz, Veilchenholz, wenn wirs genau nehmen wollen. Und das tun sie überdies, ma chère, in der Dämmerung. Dann entfaltet sich die Fülle des ganzen Buketts, ausgerechnet in der Dämmerung!» Sophies Lächeln emanzipierte sich zum Grinsen: «Widerstand ist dann noch zweckloser.» «Das ist doch diese ordinäre Hecke, die überall in den Vorgärten stehen soll, oder?», fragte Mia etwas unsicher nach. Sophies Heiterkeit stockte. Sie ignorierte Mias Bemerkung, die ihr wie ein Einwand vorkam, und sagte etwas bestimmter: «Liguster ist ein Ölbaumgewächs, Mia. Was hält die Friedenstaube im Schnabel? Einen Ölbaumzweig!»

Mia hatte sich also für einen Liguster entschieden. Erst recht, als es Sophie mit viel Aufwand gelang, eine Variante der seltenen Essenz übers Internet aufzutreiben. Diese Unnachgiebigkeit hatte Mia schon bei der ersten Begegnung beeindruckt, damals als die Blindenschule Zollikofen Mia bat, einen Duftparcours von Sophie vor der Eröffnung zu testen. Zum grossen Jubiläum lud die Institution die Angehörigen und Augenmenschen ins labyrinthische Stockdunkel, aus dem nur ein Aufspüren exotischer Düfte herausführte. Sophie hatte alle Anregungen Mias zur Herausforderung genommen, noch mehr Raffinesse ins Projekt zu bringen. Ihre Zusammenarbeit legte den Grundstein zur Freundschaft.

Es hatte ein wenig Aufwand gekostet, bis Mia in diesen winterlichen Zeiten in einer Baumschule ein präsentables Exemplar fand. Ein paar Anläufe und es gelang ihr, sich mit Fanny zu verabreden, bei der sie sich nun, gute zwei Monate später, mit einer Jungpflanze dieses Strauches bedanken wollte. Ein Zeichen der Erkenntlichkeit quasi für alles, was Fanny in der Sturmnacht an Heiligabend für sie getan hatte. Die Lesarten des Geschenks schienen ihr zu passen, nach den durchaus erschütternden Wogen jener Ereignisse, die bei Weitem nicht einfach so verblassen wollten. Treffpunkt sollte die Brücke über dem Twannbach vor dem Felser Gut sein.

Es war ein besonderer Samstagmorgen, allein, weil er auf den ungewöhnlichen letzten Februartag des Schwung aufnehmenden Schaltjahres fiel. Die Sonne trat einen flachen, tiefen Bogen in einen befreiten Himmel an und beflügelte mit ihrem hellen Schimmern erste Frühlingsgelüste. Die Kälte aber hatte immer noch Oberhand. Wer das Haus verliess, wählte warme Kleider und einen zügigen Schritt.

Mia sass noch immer im Fontana. Bruder Rheno hatte auch seine Frau Emma und seine vorwitzige Tochter Elva zu Gast, um die er sich jedoch kaum kümmern konnte, der vielen Arbeit in der Küche wegen. Angelo musste alles Mögliche über sich ergehen lassen. Das unruhige Kind hatte sich in den Kopf gesetzt, dem armen Hund neue Befehle beizubringen. Sie zerrte ihn durch das Nebenzimmer der Gaststube, in das Mia ihn mitnehmen durfte, und liess Laute von sich, die sie sich aus Harry-Potter-Zaubereien zusammengebastelt haben musste. Mia schwirrte der Kopf. Sie war in Gedanken bereits auf dem Weg ins Felser Gut. Eine Gemütsregung überlagerte die andere, jedes zurückgedrängte Gefühl kämpfte sich auch gleich wieder hoch in ihr Bewusstsein. Da gab es die neugierige Vorfreude auf ein Wiedersehen mit Fanny. Da war die Hoffnung auf eine wie auch immer gelagerte Fortsetzung der eindrücklichen Begegnung während des Wintersturmes. Aber sie befürchtete auch, dass Fanny den Ereignissen jener ungewöhnlichen Nacht womöglich keine Bedeutung mehr beimass und sich teilnahmslos geben würde. Fanny hatte es an Heiligabend geschafft, Mia aus einem Zustand tiefster Dunkelheit zu holen, hatte erkannt, wie umfassend sich ihre Verlorenheit ausnahm und ihr in beherzter Weise trotz des Schocks ob Vaters Tod wieder zu Orientierung und Halt verholfen. Das hatte Mia beeindruckt, berührt, ihren Wunsch und ihre Lust geweckt, Fanny kennenzulernen. Sie wusste um die zuweilen unüberwindbaren Hürden, Freundschaft mit Sehenden zu schliessen, aber auch um die Notwendigkeit, die Welt mit deren Augen zu erleben. Sie hatte deshalb beschlossen, Fanny ausdrücklich für die Hilfe in jener Nacht zu danken, für alles, woran Fanny unter grosser Belastung gedacht hatte. Und sie gab sich der kleinen Träumerei hin, dass ihr der Dank die Türe aufstossen würde, zu einem weiteren Erlebnis in der Geschichte um das Felser Gut und um die Tochter seines so plötzlich verstorbenen Besitzers. Aber vielleicht waren diese Erwartungen übertrieben, lächerlich gewissermassen. Hätte nicht ein jeder einer Blinden, die so in Schwierigkeiten geraten war, in aller Selbstverständlichkeit geholfen? Hätte sich nicht ein jeder gekümmert, ohne in einer solchen Tat etwas Besonderes zu sehen? Warum also sollte Fanny über das Geschehene hinaus den Faden wieder aufnehmen und mit einer Fremden, mit einem fremden blinden Menschen gar nähere Bekanntschaft schliessen wollen?

Rheno hatte sich an den Tisch gesetzt. Er staunte, dass Mia kein Wort zu seinem Mittagessen verlor. Nur selten gelang es ihm, ein paar wenige Forellen aus dem Bielersee zu ergattern, die dort ohnehin kaum mehr vorkamen. Er hatte sie im Sud frischer Wintersalbei ziehen lassen und seiner Familie vorgesetzt. Das ölige, herbe und leicht bittere Kraut durchdrang den edlen Fisch mit einer feinen, beinahe exotischen Würze. Hatte Mia diesen Schmaus für Nase und Mund nicht geniessen können? Und warum nicht? «Mia, ich bin so froh, dass dich der Weihnachtssturm nicht verschluckt hat! Wie konntest du mir an jenem Nachmittag entwischen? Welch’ qualvolle Momente bis zum Anruf von Fanny!»

Mia gab keinen Ton von sich. Rhenos Bemerkungen warfen sie erst recht in jene haltlose Nacht zurück. Sie befand sich in Gedanken wieder in Fannys Coupé und im Wintersturm, gut zwei Monate zuvor…

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In aller Eile wandte sich Fanny an Heiligabend, nachdem sie Mia im Coupé aufgefunden und ihr den verlorenen weissen Stock übergeben hatte, den ungelösten Problemen zu. Sie tat dies erstaunlich konzentriert und in einer einleuchtenden, emsigen Abfolge, wie sie diese in einem normalen Zustand kaum vorangetrieben hätte. Mias grosse Hilflosigkeit war in ihren Schockzustand eingedrungen und hatte ihr ein Ventil eröffnet. Es liess sich etwas tun, gegen all den Schrecken der Stunde. Sie brachte die blinde Mia, indem sie sie stützte und führte, an Georgs Leichnam vorbei in die Küche des Felser Gutes und versorgte sie, so gut es ging, mit trockenen Kleidern. Schnell hatte sie bei Mia in Erfahrung gebracht, wen es zu verständigen galt und so dauerte es nicht lange, bis sie Mias Bruder Rheno über die Ereignisse des Abends und die Lage seiner Schwester ins Bild gesetzt hatte. Sie übergab den Hörer des Festnetztelefons an Mia, die sie bat, sich abholen zu lassen.

Ein wahrhaft erleichterter Rheno hatte Mia versichert, bald im Felser Gut zu erscheinen und bereits erste Erkundungen zum Verbleib von Angelo anzustellen. Gemeinsam wollten sie die Suche dann fortsetzen. Mia beendete das Telefonat und hatte gleich bemerkt, dass sich Fanny nicht mehr in der Küche befand. «Nein, nein, … komme nicht, Meredith, hörst … nicht, kann nicht… ist tot, tot … Unfall … Sturm…», drang es zu ihr in die Küche herein. Offenbar hatte Fanny am Mobiltelefon jemanden angerufen. Mia versuchte den weiteren Wortfetzen zu folgen, deren Zusammenhang sie durch die Zimmerwand hindurch kaum herstellen konnte, aber sie verstand, dass etwas im Argen lag. «Fanny, hörst du mich? Fanny, was ist denn passiert? Fanny!», rief sie, als das Gespräch in der Stube nebenan ein Ende fand.

«Gleich kommt der Notarzt und die Polizei, Mia. Ich habe sie verständigt. Der Sturm muss diese INRI-Figur vom Giebel über dem Eingang in unser Gut heruntergerissen haben. Stell dir vor, das grosse Holzkreuz, an dem INRI hing, hat meinen Vater erschlagen, meinen Päppu! Er liegt da draussen vor dem Haus, tot! Einfach tot.» Fanny holte tief Luft und fuhr fort: «Wie kann dies sein, ich habe noch vor ein paar Stunden mit ihm gesprochen. Da ging es ihm gut. Man läuft vors Auto, man stürzt am Berg, aber man lässt sich doch nicht von einem Kruzifix erschlagen!» Mia fand keine passenden Worte. Sie hörte zu. Sie fühlte, verstört vom eigenen Schrecken dieses bösen Abends, betroffen mit, als Fanny schilderte, wie sie das Felser Gut mit offenem Eingang und davor den erschlagenen Vater im blutverfärbten Schneematsch vorgefunden hatte. Sie hörte, wie Fanny um Beherrschtheit rang und wie Schluchzer ihre Sätze zunehmend zerstückelten.

Sie erschienen alle gleichzeitig, Notarzt, Polizei und Rheno. Letzteren bat Fanny, die Suche nach Angelo einzuleiten, sie habe Mia versprochen, sich um den Hund zu kümmern, aber mit etwas Glück wisse ja vielleicht die Polizei um seinen Verbleib.

Und so war es auch! Ein Ehepaar hatte das sichtlich verstörte Tier am Bahnhof Twann, unweit des Fontana, kauernd und wimmernd in einem Schlupfloch vorgefunden, in sein Zuhause in Klein-Twann mitgenommen und die Polizei informiert. Angelo, mittlerweile wohlbehütet, einen Katzensprung vom Felser Gut! Wie treffsicher und verlässlich die App auf dem Mobiltelefon doch gewesen war!

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Und Angelo war es auch, den Mia nun an diesem letzten Februartag mit einem Signalhalstuch versah und an die Leine nahm, um sich von ihren Familienleuten im Fontana zu verabschieden. Sie liess sich eine Tasche mitgeben, aus der ein noch karger, mit kleinen, hellgrünen Sprossen durchwachsener und feinen weissen Schlaufen geschmückter Liguster herausragte, verliess mit aufgewühlten Gefühlen das Fontana und zog am Pfropfhüsli vorbei, in Richtung Klein-Twann. Sie spürte den Einfall der mittäglichen, zarten Sonnenstrahlen auf ihrer prallen, hellen Haut, hörte den variierenden Widerhall ihrer Stockschläge am Boden und ihrer festen Tritte von den Fassaden und Mauern und kam schnell vorwärts, immer schneller gar. Als sie an der auslaufenden Steinbrüstung der Twannbachbrücke am Rande des Felser Gutes stehen blieb, dabei Angelo mit einem etwas strengen «Sed» zum Sitzen kommandierte, glaubte sie ein weiteres Geräusch wahrhaftig zu vernehmen. War es das wilde Pochen ihres Herzschlags, dessen Heftigkeit nicht nur vom raschen Gehen und Schleppen der Gabe für Fanny herrühren konnte? Sie wartete, leicht frierend. Sie holte tief Luft, ein paar Mal. «Et voilà. Enfin!»

***

Es dauerte nicht lange und Mia und Angelo standen im Weinkeller des Felser Gutes. Ein langer Gewölbegang führte in eine tief liegende, erstaunlich grosszügige und für Frierende angenehm temperierte Felsengrotte. Mia roch eine Mischung aus Muffigkeit, abgestandenem Holz, moosigen Dämpfen und röstartigen Ausdünstungen. Sie hätte gerne lange die Urgründe dieser Höhle, in der sie sich aufgrund der intimen Schallverhältnisse gut zurechtzufinden glaubte, erschnuppert und erfragt, doch sie hörte, wie Fanny bereits mit Flaschen zu hantieren begann. «Ich habe da ein paar Tropfen unetikettierten Rosé gefunden. Was meinst du, wollen wir es wagen und ihn probieren?»