Siebeneinhalb Verzählungen - Martin Bruderer - E-Book

Siebeneinhalb Verzählungen E-Book

Martin Bruderer

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Beschreibung

Agnetta löst sich aus den Fängen des klebrigen Internets Salvatore setzt einem bösen, wiederkehrenden Traum ein Ende Die schon verloren geglaubte Liebe findet zu Tilda Konstantim entdeckt die Kraft der Tagebücher seiner früh verstorbenen Mutter Maxima verleugnet das Unglück der Welt und endet im Nichts Enzo überwindet die lähmende Mutlosigkeit Taub will hoch hinaus, aber landet neben dem Bett Alle begegnen sich und ihren eigenen Geschichten im Luna-Park Als wärs ein wilder, offener Traum

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Der Autor:

1966 im Schweizer Seeland geboren und dort aufgewachsen, lebt in einer Bilingue-Gemeinde bei Biel-Bienne am Jura-Südfuss. Matura, später Ausbildung zum eidgenössisch diplomierten Experten im betrieblichen Organisationsmanagement. Seit zwanzig Jahren in Universitätsspitälern und im Gesundheitswesen tätig, wo er auch als Sachbuchautor schrieb. Dazu freier Mitarbeiter im Rebbetrieb seines Ehemannes am Bielersee. Veröffentlicht Romane (darunter "Felser Glut"), Kurz- und Spontangeschichten und anderes.

„Einen Grabstein für den ganzen Schlamassel und darauf gehört die Inschrift: Menschheit, du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu.“

Charles Bukowski

Wie leicht es sich doch verzählt

In der Erzählung steckt die Zählung, in der Zählung die Zahl.

Eine abgeschlossene Zählung er-schöpft sich, sie ist er-zählt.

Die Zählung reiht die Zahlen aneinander, eins, zwei, drei und so fort. Ereignisse können sich aneinanderreihen wie die Zahlen, bis zum Ereignis am Schluss. Das gibt dann wohl die Erzählung, plus ou moins.

Was aber ist eine Verzählung?

Ganz einfach, könnte man sagen: eine fehlgeschlagene Zählung. Die Zahlen sind durcheinandergeraten, sie sind aus dem Ruder gelaufen.

Aus dem Ruder kann vieles laufen, wenn es sich so erzählt.

Zum Beispiel:

Die Regungen, die Gedanken.

Die Wortgebilde, die Zeichen.

Die Figuren und ihre Pläne.

Die Vorsätze, die Absichten.

Am allerheftigsten: die Grenzen, die Ordnung!

Aber laufen zum Ende nicht sowieso alle Geschichten aus dem Ruder? Sucht nicht jede ihren eigenen, störrischen Willen? Diese Selbstläufer immer! Wie die Geschichte vom

Paradies! Oder wie die von der Seuche! Oder wie jene von der Welt!

Wer also kann die Zahlen schon frisieren, wer kriegt Ordnung in sie hinein? Wer kann schon richtig zählen?

Wer weiss denn, ob das Ende auch das Ende ist?

Darum sage ich der Geschichte: «verzell emal!»

***

Inhaltsverzeichnis

Spieglein, Spieglein im ganzen Land

Himmel, du Hölle

Feuer im Blut

Die Hinterlassenschaft

Sündflut

Drückebergers Angst

Höhepunkt, wo bleibst du?

Fragestunde

Verzählung Nummer eins

Spieglein, Spieglein im ganzen Land

Keine trägt die Bananenfrisur wie Agneta-Babetta, so hoch und auftoupiert. Ihr goldenes Haar leuchtet immer noch, trotz ihrer …, aber darüber schweigt Aba, wie sie alle nennen, wie sie von allen angesprochen wird, mit Vorliebe im feinen, weichen französischen Ton, spitze, geschlossene «A»: Aba. Sie ist immer noch fit, die Sportlichkeit in Person, kein Gramm zu viel. Es gibt nur Disziplin. Es hat nie etwas anderes gegeben.

In der Stadt betreibt Aba ihr Etablissement, eingemietet im besten Hotel am Platz, dem Viersternehaus an der Bahnhofstrasse. Art déco schmückt das Entrée, wenn auch ein leeres Versprechen, die Zimmer sind beliebig.

Sie hat ihr Leben im Coiffeursalon verbracht, bei ihrer Mutter auf einem leeren Friseursessel oder in der Spielecke beim Schaufenster, bei Mamchen, die keinen Mann hatte, nur ein schaffiges Leben und ein Kind, die ganze Zeit ein Kind, man stelle sich vor, ein Kind rund um die Uhr und dazu den Salon, den eigenen. Jetzt gibt es die nüchterne Stube mit den Coiffeurhauben und Zeitschriftenstössen nicht mehr, schon lange nicht mehr, auch Mamchen nicht.

Aba hat den mütterlichen Betrieb übernommen, hat vergrössert, hat verwandelt, führt mit straffer Hand, ihren Le Monde Cosmétique, wie sie ihn jetzt nennt, in dem alles kühl glänzt, blitzblank, ein Tor ins Mondäne. Fünfzehn filles beschäftigt Aba, nicht nur spätadoleszente, sondern auch über die Jahre hinweg tadellos konservierte wie sie selbst, alle im hochernsthaften Gestus des Metiers, dienstbereit, einfach nur da für die Kundinnen. Mit aller Energie wenden sie sich den Gesichtern zwischen ihren Händen zu, um sie zu pflegen und ihnen alle Ehre zu erweisen, von nichts wollen sie abgelenkt werden und doch mit ihrer Arbeit nicht aufdringlich wirken. Sehnsucht guckt sie aus den Kosmetikliegen an, ein dringliches Verlangen nach Vollendung in all ihren Facetten: Die filles mögen hervorheben und beleben, kaschieren oder gar korrigieren, man vertraut ihnen und sich ihnen an, denn mit dem Hässlichen wird man fertig im Le Monde. Wer es wissen soll, weiss es.

Über dreitausend Einträge führt die Kundenkartei, der Stolz von Aba. Gut und gerne geben sich fünf Dutzend Gäste die Klinke des Le Monde in die Hand und dies am ganz gewöhnlichen Tag. Einmal verschönert, hinterlassen sie dreistellige Summen, nicht selten steht die drei oder vier zuvorderst im Frankenbetrag. Alle kommen sie an die Bahnhofstrasse: die Kaderfrauen aus der Uhrenindustrie, die Kostgängerinnen der Hochkultur, die Sternchen der Partyszene, die Möchtegern-Heldinnen der städtischen und überregionalen Politik und die Snobs unter den Gören, alle erliegen sie gerne dem Zauber, der Gaukelkunst im Le Monde, wo man weiss, welche Schönheit angesagt ist und wie man sie zum Scheinen bringt.

Klacks, klacks, klacks. Aba stürzt sich die Stufen hinab, durch die Treppenschlucht am Abhang, die ihre zwei Zimmer – keiner weiss, wie unanständig wenig sie für die Altwohnung mit Terrasse an der noblen Lage monatlich hinblättert, es raschelte kaum, legte man die Geldscheine aus –, sie klappert also über die groben Steinkaskaden, die ihre Zimmerlein mit dem Häusermeer der Stadt verbinden und fliegt ihrem Le Monde zu. Meisterlich: Aba in sommerlichen Pantoletten mit Keilabsätzchen auf den klobigen Stufen – klacks, klackediklack, klacks –, traumwandlerisch umtänzelt sie die Spalten und Brüche der Trittflächen, die sie der Urzeit zuschreibt, wenn auch einer offensichtlich bröckelnden.

Gelegentlich piepst es aus Abas Henkeltasche, die sie am Ellbogen schwenkt, in Flamingo-Pink, Ton in Ton mit den Pantoletten. Wenn es zirpt durchs edle Leder, schaue man genau hin, man kann es kaum sehen, aber – genau! – Abas Bewegungen zeigen plötzlich eine Prise verwerflichen Überschwangs! Sie springt kräftiger von Steinvorsprung zu Steinvorsprung, die Hüpfer ihrer langen, makellosen Beine gehen auf einmal höher: Endlich ist Aba vergewissert, endlich spürt sie, das Universum meldet sich, Le Monde erwacht, kräuselt sich wie Wasser, das in Bewegung gerät, und spült Aba diese Liebkosungen zu, diese kleinen Vitalisierungen, ohne die es einfach nicht geht. Sie weiss, die vielen farbigen Buttons auf dem Zauberkästchen in der Henkeltasche schrauben ihre Zähler hoch, unablässig. Ein paar neue Botschaften da, vielleicht eine ganze Ansammlung von Nachrichten dort, alles aus dem Zwitscherkonzert im unsichtbaren und scheinbar grenzenlosen Netz, mit dem sie ihr Kästchen verbindet.

Sieben Uhr dreissig früh, Le Monde dreht bereits, sie hantieren schon fleissig, in wortloser Verständigung, die Visagistinnen, die Guides Beauté und die Agente Anti Aging im separaten Studio aux appareils. Die Rollen sind eingespielt, es kommt keine Hektik auf. Aba lässt keine Zufälle zu, sie ist überzeugt, grosse Werke fussen in der Ruhe und Sammlung.

Bonjour Le Monde, die Chefin tritt ein, schaltet die Putzlampen aus und dreht das grosse Licht an. Nur sie betätigt den Schalter der vielen kleinen Neo-Leuchter, die aufgereiht aus dem Schaufenster hoch zur Decke und weit zum Hinterausgang ins Gebäude streben und deren Glitzern die vielen Spiegel im Le Monde nun zurückwerfen, als wären es leuchtende Tautropfen in Spinnweben. Zu früh am Tag für Glamour, aber Tristezza ist nie eine Lösung. Aba tut jetzt wirkungsvoll nichts, sie will kein Bonjour zurück, blickt nicht nach links, nicht nach rechts, zelebriert ihre Ankunft, den Aufbau ihrer Aura, unerschütterlich ihre Gewissheit, dass alle und alles parat sind, die Instrumente, die Tuben, die Mind-Sets. Es kann losgehen, das Bühnengeschehen.

Noch reicht es für den Gang ins Hinterzimmer, ins arrière pièce, das nur Aba gehört und ihren Buchhaltern und Helfern, die manchmal abends aufzukreuzen pflegen. Es bespricht sich hier Ernsthaftes wie Computer-Angelegenheiten oder Geld- und Personalgeschäfte, von Augenpaar zu Augenpaar, dann und wann. Im Übrigen ist es Rückzugsgebiet, Schaltzentrale, aber immer auch Gefilde der Geheimnisse des Le Monde. Von hier aus fädelt Aba ihr Networking ein, aus dem arrière pièce ersinnt sie ihren Erfolg.

Im engen Zimmer setzt sich Aba auf die Chaiselongue, vorne auf die Blähungen des Polstersamtes, zieht ihr Kästchen aus der Henkeltasche, drückt die Knie zusammen, in eine Spitze quasi, wo nun aufgebahrt ihr allerwertestes, smartes Teil liegt, ihr Momo, wie sie es nennt, ihr mon moteur, ihr Motörchen. Kurz noch Hände-Cleaning mit dem Wegwerftüchlein.

Jetzt drückt Aba fingerfertig auf den Bildschirm, immer wieder, streichelt über ihn, zögert sekundenlang, tippt wieder, hält kurz inne, wischt weiter. Aba, die Eilfertige. Drei Minuten lang liest sie die Botschaften, die ihr das Motörchen von überall her zugespielt hat, und siebt gedanklich aus, was sie in den nächsten Stunden wiederkäuen und emotional auskosten wird. Jede Schmeichelei, jedes Kompliment, jede Gratulation will sie vor dem inneren Auge haben, denn es wird eine Weile dauern bis zum nächsten Zwischenhalt im Séparée des arrière pièce, bis ihr Motörchen sie wieder füttert, bis es wieder Nahrung hat, in den vielen Tröglein auf dem Bildschirm, so wie gerade jetzt: So aufmerksam, wie Sie sind! – Woher wussten Sie nur, was ich brauche? – So lieb von Ihnen, tous mes bisous! – Ihr Le Monde, immer gern, ein Lichtblick, aux nombreux revoirs! – Sie Beauty-Engel, dass Sie mich nicht vergessen haben, einfach schön! – Immer ein Aufsteller bei Ihnen! – Immer gern! – Immer gut! – In Verbundenheit. – In Dankbarkeit. – Ihnen verpflichtet! – In Treue, auf ewig!

Es bleibt ein Spürchen Zeit, nochmals von vorne! Aba sucht die angenehmsten Kundgebungen ein zweites Mal hervor, taucht wieder ein, lässt das Flirren des Motörchens wieder in sie fahren und sie erneut durchzucken. Sie inhaliert die Häuchlein der Elektrosphäre, die vom leuchtenden Schirmlein aufsteigen, in die Bronchien ihres Seelenorgans.

Aba springt auf, sie weiss, sie stehen schon Schlange, all die Körperteile, denen sie sich gleich widmen wird, mit jeder Faser ihres Seins. Sie kennt sie alle in- und auswendig, die Stirnen und Augen mit ihren Brauen, die Nasen und Münder, die Kinne und Wangenknochen. Inmitten ihrer Vielfalt kommt ihr gelegentlich die Perfektion entgegen, hier die knackfrische Jugend, da die saftige Fülle und selten die unantastbare Makellosigkeit. Längstens hat sie sich ihre reine Schönheit zusammengesucht, aus den vielen Gesichtern und ihren Teilen, die sie pflegt und hegt, hat sich ein Gesicht modelliert, das vollkommene Antlitz, ihr Antlitz, ihr ganz eigenes, Betonung auf IHR. So müsste Aba ausschauen, die wahre. So sieht sie sich und nicht anders.

Was sie nun hochtreibt, was sie fliehen lässt und immer auch anzieht in die Spiegelwelt, in die Welt ohne Schatten, Aba weiss es nicht so recht. Vielleicht hofft sie auf eine neue Kundin, in deren Zügen sich eine noch grössere Anmut entdecken lässt? Vielleicht will sie in ihren Lieblings-Gesichtern auffrischen und wiederherstellen, worin sie sich selbst und ihre Träume so sehr wiederfindet? Oder kämpft sie nur gegen das an, was in den Gesichtern zerfällt und niedergeht? Ihr eigenes schönes Wunschbild, ihr ideales Gesicht, bald nicht mehr da?

Aba kramt zusammen, was das Motörchen ihr soeben hergegeben hat und kleistert die vielen Brocken wie Fresszettel an die Wände ihrer Gedankenkammer: So lieb von Ihnen! – Immer gern! – Auf ewig! Und so weiter und so fort. Der Mind-Set sitzt, er wird ihre Hände führen und das Geschick ihrer Hände wird die Kundinnen glücklich machen. Und glückliche Kundinnen lassen das Motörchen später ruckeln, ergeben Klicks und Kommentare. Sie Beauty-Engel!

Wie soll man denn einen Namen finden, für das dumpfe, unangenehme Gefühl, das Aba beschleicht und das sie nun aus dem arrière pièce in den Salon trägt? So viel zu viel in sich aufgenommen, so überfüttert und doch schon wieder heisshungrig.

Zuerst im Tagesprogramm warten ihre Wangenknochen. Ikonen von Wangenknochen, hoch im Gesicht, kantig und doch geschmeidig, da kommt keine Schauspielerin hin, nicht die Sawatzki vom Tatort und schon gar kein roboteroides Laufstegwesen. Salomé heissen die Wangenknochen. Bald vierzig Jahre und immer noch treten sie stärker hervor, jedes Mal ein klitzekleines bisschen mehr. Aba behandelt die Haut über den Knochen mit Sauerstoff, Pigmentstörung, nicht einfach in Schach zu halten. Sie lässt das Gerätlein surren, drückt und belastet das Gewebe doch kaum, streichelt respektvoll den Muskelzügen entlang, wie die Malerin am Porträt, hundertfach der gleiche Strich, sie schöpft, sie bildet, sie modelliert, als wären es ihre ganz eigenen Wangenknochen, Symbol der Überlegenheit, Ausdruck ihrer Personality, wie es neuerdings heisst.

Genug des Sauerstoffs, die Wangenknochen müssen ruhen. Die Salomé unter warmen Frotteelappen ist nun allein im Studio, ist sowieso allein, immer noch keinen Mann an ihrer Seite. Kurze Kaffee-Pause für die Künstlerin, ein Käpselchen Master Origins Nicaragua im arrière pièce, Aba natürlich am Motörchen: es Goldschätzeli, jedesmal e Wiedergeburt, Küsschen, Küsschen! – Fantastisch, chume gli wider, ma chérie. – Sie sind mein Glücksbringer, Sie tun mir gut.

Die Emotiönchen dringen in Aba ein, gehen ab, enthemmt und ungestüm. Wie die Kügelchen im Kästchen eines Geduldsspiels kullern sie durch ihr Gemüt, klickern nervig, wenn sie ineinander prallen und rollen verloren hin und her. Aba kennt sich nicht aus im Labyrinth, kann die Kügelchen nicht führen und ins Ziel bringen. Es gibt kein Ziel, es gibt keinen Ausgang in diesem Spiel, überhaupt gibt es keine Ordnung auf dem Tummelfeld der vielen kleinen Launen, welche die Worte aus dem Motörchen in ihrem Inneren erzeugen. Abas Gemüt findet keine Ruhe, ihre Hände zittern. Was nur soll sie tun? Aba lässt die Finger auf dem Bildschirm einfach weiter drücken.

Weg ist die Salomé, aus dem Staub. Aus den Augen sind die Wangenknochen und machen nun Platz für die Lippen, volle, samtweiche Lippen. Zu Trudi gehören die herausragenden Exemplare, aber in wessen Gesicht sie stehen, kümmert Aba kaum, sie sieht nur die Lippen, sie hat sie erwählt und in sich aufgenommen, in ihr Modellgesicht.

Trudi ist eine betagte Kundin, aber Aba hat Vorstellungskraft, kann sich eine junge, buspere Trudi rekonstruieren und ausmalen. Sie weiss, wie elegant sich solche Lippen vor langer Zeit schwangen, zart nämlich wie hingehauchte Dünenspitzen. Aba muss sie jetzt erahnen, nachzeichnen und die klaren Kontouren von einst wiederfinden. Was für ein Versprechen, denkt sie sich, wie üppig diese Lippen wohl verwöhnten, feiner noch als fein empfanden und der Berührung neuen Sinn verliehen. Aba zieht die Linien nach, schattiert mit spitzer Nadel im Himbeerton die angewelkten Kurven eines Mundes, der einst Ebenmass besass, in Trudis Gesicht und in sich selbst.

Das Werk ist vollendet. Trudi freuts, die Äuglein glühen, das himbeerrote Fleisch ums Zähneweiss strahlt wieder prächtig, erlangt die alte Sattheit – nahezu, nahezu! Was glauben sie, Aba – Trudi fragt und bettelt –, können diese Lippen noch verführen? Natürlich! Vertrauen sie mir, vertrauen sie mir. Trudi zückt die Kreditkarte, rundet auf, eine solche Bejahung alter Frische hat ihren teuren Preis.

Aba lässt sich in die Mittagspause fallen, Rübli, Knäckebrot, ein Ingwerwasser, die Füsse hoch, gekreuzt über die Rückenlehne der Chaiselongue, sie liegt verkehrt herum und liest: Aba, immer bist Du da, Aba, so lieb von Dir, so nett, so süss. Aba, Merci infiniment! – Und dass Sie meinen Geburtstag nicht vergessen haben, wie aufmerksam, nach so langer Zeit! Sie klammert sich ans Motörchen, drückt es innig an die Brust. Zwanzig Minuten Power Nap. Noch tiefer lässt Aba sich jetzt fallen, in das Gewusel hinter den Lidern, in den Tagtraum. Sie möchte sich überlassen, sie weiss nicht wem oder was, es möge ihr im Schlummer begegnen.

Alle scheinen es zu mögen, das Ergüsschen zwischendurch aus jeder noch so kleinen Ritze der Welt, alle sind sie erpicht, auf die vielen Fürzlein, die aus der Ferne durch den Äther pausenlos heranrauschen und auf dem Handy-Display aufpoppen und verpuffen. Alle harren sie auf den kleinen Existenzbeweis: Man muss doch vergewissert sein, dass es die anderen noch gibt, und umgekehrt und viel wichtiger, dass man im Gedächtnis der anderen noch vorkommt und dem allgemeinen Vergessen nicht anheimgefallen ist. Wie tut sie gut, die stetige Schmeichelei in Häppchenform, könnte sie auch belangloser nicht sein, Hauptsache, sie findet statt, möglichst oft, zur Geburt und zum Geburtstag, zum Feiertag und Jubiläum, zur Partner- und Berufswahl, zur Abreise wie auch zur Rückkehr, zur bestandenen Prüfung und zur Beförderung und zu jedem anderen weltbewegenden Ereignis.

Also ist man dem Zwitschern aus dem Le Monde nicht abgeneigt, man lässt sich online bespassen, anfixen oder die Zeit vertreiben. Wenn die Glitzerwelt an der Bahnhofstrasse einen Grund findet – eine Gratulation, eine massgeschneiderte Dienstleistung, eine Einladung – und sich meldet, dann freut man sich und schmust zurück, will einfach dazugehören, quasselt eine Antwort in die Tastatur, zu einem gesitteten Rülpser reicht es alleweil. Aba wird sich doch freuen, wird vielleicht das nächste Mal im Salon ein Extra einschliessen, ohne Aufpreis, oder etwas Rabatt gewähren.

Mühsam hat sich Aba das Wohlbehütete ergattert, in jahrelanger Kleinarbeit, der Eintrag fehlt nie in der Kundenkartei, ausnahmslos. Oberstes Gebot im Le Monde: man führt Buch über die Geheimnisse einer jeden Kundin, man hat notiert, wann sie das Erdenlicht erblickt hat, man weiss, wann es in ihrem Leben etwas zu feiern gibt und ein baldiger Erfolg oder Kindergeburtstag ansteht, man kennt die stillen Sehnsüchte und selbstverständlich die Methoden, womit man sie vorläufig befriedigen kann.

Aber welch ein Murks! Aba hat das nie gemocht und nie richtig hingekriegt. All den Vorzugs-Kundinnen immer schön zum richtigen Zeitpunkt die kleine Nachricht absetzen, die SMS, den elektronischen Post oder die Email. Wie erschlagend der Aufwand, wie umständlich die Organisation, um keinen Geburtstag, keinen Namenstag, kein Jubiläum und kein grosses Ereignis zu verpassen oder zu vergessen! Und bitte, was schreiben, was man nicht schon zigfach geschrieben hat? Wie die Peinlichkeit umgehen, beim Copyand-paste entlarvt zu werden? Was gibt es denn überhaupt zu sagen, zum Ticken der Zeit? Hier ein Jährchen mehr, dort schon wieder Glockengeläut und bald ein Kindchen mehr. Was ist denn schon dabei?

Unaufhaltsam ist Abas Kundenkartei angewachsen, auf jedem Kärtchen viele Erinnerungsvermerke, da kam mit der täglichen Tipperei auf dem Handy selbst Abas Disziplin an den Anschlag. Es war ihr bald Mühsal und schliesslich nur noch Last, die Kundenbeziehungen zu pflegen, eine Last, die nicht aufhörte, schwerer zu werden und sie fast erdrückt hätte.

Nun ja, hätte die Medaille nicht ihre andere funkelnde Seite! Da gibt es nämlich den Widerhall aus den sozialen Medien, die Kundinnen antworten nett und gefällig auf Abas Botschaften, danken mitunter warmherzig dafür, im Le Monde so sehr verwöhnt zu werden, sie versprechen hochheilig, bald zurückzukehren. Als flösse ein Kitzelstrom aus dem Motörchen in sie hinein, so empfindet Aba, einer, der sie belebt und im Stress des Alltags nicht einknicken lässt.

Weitherum haben sich die Dauer-Lobhudeleien aus dem Le Monde ausgebreitet und entfaltet wie ein engmaschiges, klebriges Fadenwerk, das alle immer wieder an die Bahnhofstrasse zurückholt und ins Netz gehen lässt, in dessen Mitte sie nun sitzt: Aba, die Spinnerin, Aba, die Gierige und Nimmersatte, die alles Schöne einverleiben will. In ihr Schirmlein vor dem Kopf, ihr Spieglein quasi, fragt sie wie die verzweifelte Königin im Märchen: Wer ist die Schönste im ganzen Land, wie komme ich ran an das alleredelste, schillerndste Gesicht! Mein perfektes Gesicht.

Jetzt gibt sich Aba ganz ihrer Fantasie hin, immer noch kopfüber drapiert auf dem Samt ihrer Chaiselongue, sie ist aus der Rolle der königlichen Schwiegermutter geschlüpft, auf die Gegenseite, ins Schneewittchen. Sie träumt von ihrem Retter, wirft sich ihrem Helden an den Hals, händeringend. Das giftige Stück im Hals ist kein Apfelschnitz, sondern nur die Karotte aus dem Lunch-Paket (aber das merkt die Dösende nicht). Sie würgt und würgt und kriegt das Stücklein nicht aus ihrem Hals, elendiglicher noch, sie kann sich auch aus der Totenstarre nicht herauswürgen. Warum hilft ihr denn keiner? Sie würfe sich jedem an den Hals, wenn sie nur entrinnen könnte. Wär das Wittchen nur ein Flittchen, es wär ihr einerlei.

Dabei müsste sie es längstens intus haben, in jeder Faser ihres Seins, die wache Aba weiss es doch schon lange. Sie hat ihren Retter gefunden, er heisst auch so: Salvatore. Es gibt ihn in Fleisch und Blut, wie aus dem Märchen ist er in ihr Leben getreten und in die Bresche gesprungen. Lange schon hat der Prinz sein Schneewittchen aus dem steifen Sarg und der grossen Beklemmung befreit!

Salvatore ist da, einfach immer da, er könnte verlässlicher nicht sein. Er hockt sich wöchentlich ins arrière piece, vor den Bildschirm, und nimmt Aba den ganzen Kram ab, das Computerzeugs und all die Posts und Likes, die SMS und Emails. Denn sowas kann Salvatore, er ist der Computer-Freak, es gibt für ihn nur Bits and Bytes. Zur Tarnung schlüpft er wie ein Flittchen in den Rock, gewissermassen, gibt sich also im Netz als Aba aus und lässt diese wacker ihr Gesäusel zu den Kundinnen tragen, digital, wohlverstanden. An Abas Stelle lässt er zu jedem Anlass gratulieren, lässt die Kundinnen beglückwünschen, alle der Reihe nach, pflichtbewusst, rechtzeitig und ausfallsicher. Aba hat ihrem Ghostwriter die Passwörter überlassen, er sitzt im Cockpit ihrer virtuellen Instanzen und verteilt die maskierten Botschaften, ein Hallo hier, ein Grüsschen da, eine kleine Anteilnahme dort – hingebungsvoll, Eure Aba! Zwanzig Rappen pro Message verlangt Salvatore, sowas kann sich Aba leisten, so will sie es. Sie kriegt auch etwas für die Währungen, mit denen sie bezahlt, für das Geld oder des Prinzen Erleichterung, dann und wann.

Aba hat für Salvatore die Datenbank im System gespiesen, wochenlang, hat aus ihrer Papier-Kartei alle Details zu den Kundinnen in den dafür vorgesehenen Feldern eingetippt: die Berufe und Erwerbstätigkeiten, die Zeitvertriebe und Vorlieben, die Freundinnen und Mütter, die Social-Media-Gewohnheiten und natürlich alle Jahrestage und Jubiläen. Salvatore lässt seine eigens dafür entwickelte Software auf die Daten zugreifen und die Kundenprofile clever verwerten, er benutzt bis aufs Letzte, was Aba zusammengekratzt hat. Und dann kommen seine unsichtbaren Roböterchen – getrieben von selbstlernenden Algorhythmen – ins Spiel, die jede Botschaft, jedes SMS, jeden Post und jede Email wie von Geisterhand erstellen und den Kundinnen ins Handy drücken. Sie erzeugen süffige Textschnipsel, lassen Wiederholung nicht zu, nicht ein einziges Mal, sie halten nämlich Absonderung um Absonderung aus der Datenbank fest, das ganze Ping-Pong-Geschwätz wird aufgezeichnet, auch aus der hinterletzten App. Salvatore, der Nerd, der Autist aus der Welt der Bits and Bytes, herrscht über seine Undercover Bots, seine Software-Zauberlehrlinge, die zuerst das Gedudel aus dem Netz fleissig durchforsten, dann neu zusammenkitschen und wieder verschleudern, wieder ausbreiten, Güllenspritzer über den Kundenacker.

Vor lauter Ringen im Halbschlaf fällt das Motörchen zu Boden, Aba schreckt auf, spuckt die Karottenkröte keuchend aus, sie fühlt sich enttäuscht, auf den Prinzenkuss kann man noch ewig warten! Beine runter, Motörchen wieder auf. Himmel Herrgott, ich muss los!

Und himmlisch wird es jetzt, zum Glück, es harren schon die klaren, hellen Augen, so blau wie das Meer in der Schmugglerbucht auf Zakynthos.

Was brauchen solche Augen schon? Doch nicht Verschönerung? Milva, keine zwanzig, hat schon auf der Kosmetikliege Platz genommen. Über den Pausbacken quellen azurfrische Blicke hervor und verströmen ein keckes Leuchten. Nur ein kleines Wimpernlifting, Schönes muss einen Rahmen finden. Aba klebt, Aba pinselt, Aba tüpfelt, Aba bringt die Härchen in Reih und Glied, dunkle Farbe, dunkler Glanz. Milva kann jetzt wieder klimpern, Milva schickt ihre Blicke jetzt bekränzt, Vorhang auf, Vorhang zu, so ein Flehen aus der Seele muss Theater sein und Theater gibts nicht kostenfrei. Milva zückt ihr Handy, Händchen hoch, Händchen runter, Transaktion abgeschlossen, Väterchens Konto.

Aba lässt die Augen ziehen, ungern, und behält sie doch in ihrem Sinn, sie hat sie längst aufgenommen, es sind die schönsten Augen, in ihrer Vision.

Der Tag wie endlos, späte Stunde, Aba auf dem Heimweg. Die Laternen aus Guss werfen ihren müden Schein in den Korridor der Stufen am Jura-Berg. Tritt für Tritt aufwärts, was schmerzen die Pantoletten! Aba wirft sie von den Füssen, sammelt sie ein, steigt jetzt barfuss hoch, scheinbar bedächtig. Ihr Antlitz schleppt ein fahles Leuchten von einem diesigen Lichtkegel zum anderen: Es ist der Wiederschein des Motörchens, lahm wie das Licht der Pfosten. Akku ziemlich down. Nichts mehr von Klackediklack.

Ein paar Smiley-Grimassen von Ariane, Aba holt Luft, vielleicht noch hundert Steinblöcke zu erklimmen. Verzeih, meine Liebe, bin nicht mehr so oft in der Stadt, Deine Xenia. Shit, echt jetzt? Scheissdreck! Hundekot. Aba setzt sich hin und wischt die Exkremente vom Fuss, wischt übers Motörchen, noch sieben Prozent. Long time no see, ich meld mich mal, hat Alisha knapp zu vermelden und Akemi schickt noch ein Bildchen vom Henna-Stirn-Tattoo, Aba solls wegmachen.

Noch eine Stufe, die einundneunzigste, noch ein Tippen im Schirmchen, dann die dreiundneunzigste. Aba gibt sich einen Ruck und gleich einen weiteren, streichelt nochmals übers Motörchen, schafft knapp die hundertdritte, sie hätte nicht mehr weit. Die Spinne hat genug vom Netz, verheddert sich, findet den Faden nicht mehr, nicht mehr den richtigen, ihr Hunger pausiert, das Motörchen tut keinen Wank mehr. Gute Nacht!

***

Aba hat noch nie verschlafen, das ist ihr noch nie passiert. Der Maître de maison, den die Hotellerieangestellte rief, musste lange an der Zimmertüre klopfen, bis er nach Aba sehen konnte. Er war nicht zu beruhigen gewesen. Warum taucht sie nicht auf? Da stimmt etwas nicht!

Seit Jahren verbringt Aba die Wochenenden im Grand Hôtel am grossen See. Sieben Uhr dreissig im SPA, neun Uhr dreissig ein kleines Frühstück, Aba ist verlässlich, nur heute nicht. Heute ganz und gar nicht. Zum allerersten Mal.

Auch die Banane lässt sich nicht hochstecken, Aba werkelt mit Mühe an einem Chignon herum, zupft einen Gummi ins Haar, die Fransen fallen bis auf die Schultern. Halbbatzig schlüpft sie im Day Pyjama in ihren Rotfuchs-Pelzmantel, der Gürtel hängt lose, überlang herab in die eine der offenen, ausgeknickten Stiefeletten. Aba, zieh wenigstens die Schuhe richtig an, das Wetter ist eisig, ein Ausnahmewinter!

Aba trottet am Ufer entlang, über gefrorene Pfützen. So hat sie keiner je gesehen. Noch immer hängt der offene Pelz unter den Schulterblättern, aber da ist kein Zittern, kein Zähneklappern. Wo, nur wo mag die Empfindung geblieben sein? Neue Farben zeigen sich an Aba, ein Granatapfelrot am Schnitz der Nase, ein aschfahler Ton in dem Bisschen etwas – vielleicht wie Haut – um die Fingerknochen. Aber noch ist Leben in den Gliedern, noch fahren sie unablässig übers Motörchen, kratzen krampfhaft an der kalten Scheibe. Nur da will sich nicht mehr viel regen, seit Tagen nicht, kaum eine meldet sich, kein Sie mein Beauty Engel mehr. Selten noch ein trockenes Danke! Oder manchmal ein See you, bis zum nächsten Mal.

Aba will es nicht verstehen, Aba hält es nicht für möglich. Es muss gute Gründe geben, es kann doch fürwahr nicht sein. Wie versiegt ein Strom, der so standhaft floss? Wie verhallen die vielen Rufe, ohne dass das Echo quittiert? Wie soll denn der Puls verfallen, wenn das Herz noch pumpt, nicht aufgehört hat, zu schlagen?

Sie gönnt sich ein paar Stunden im Liegestuhl, zurück im Grand Hôtel. Der Maître hat sie aufgreifen lassen, hat sie mit Suppe versorgt, aus Blumenkohl und Linsenbrei. Jetzt liegt Aba in dicken Decken an der Wintersonne, hinter Glasflügeln auf dem Balkon. Die Sonne dringt in sie ein, die Sonne vertreibt das Granatapfelrot. Bleiches, steifes Schneewittchen, es liegt wieder im Dämmerrausch, im Prinzendelirium. Sieht den Salvatore, gestikulierend: Nein, Aba, ich kann es dir nicht erklären, nein, ich tue immer noch dasselbe, ja, sie werden immer noch alle bedient, alle deine Alishas und Xenias, alle deine Akemis. Ich säusle ihnen die Inböxlein auf dem Handy voll, mit jedem Glücksversprechen, jedem Herzenskompliment, Zauberspruch um Zauberspruch. Alles nach deinem Gusto, wie von dir aufgetragen. Keine geht leer aus, kein digitales Körbchen bleibt ohne Inhalt im weiten Wunderwerk des Internets. Weh, weh, weh, oh, wehe mir, wenns anders wär!

Aba hat an der Sonnenwärme etwas Kraft gefunden, rafft sich auf, entschliesst sich, ein kleines Dîner unten im Salon einzunehmen. Sie erschrickt, wie konnte sie sich nur so gehen lassen? Die Banane funktioniert wieder, blonde Haarrolle wie im Hitchcock-Film. Abas Hände führen einen Spritzer Verveine-Öl ins Gesicht und massieren träge, weltvergessen die Züge. Die Blicke verlieren sich im Spiegel, als fielen sie durch ein Loch in der Wand auf eine andere Aba, die reine Aba, ein Wesen aller Wesen aus dem Le Monde mit Augen wie von Milva, meerwasserblauen, wahrhaften Augen, mit einem himbeerroten Trudi-Mund, diesem saftigen Versprechen auf Befriedigung, und ja, da zeigt sich noch der Stolz einer Salomé, markante, hohe Wangenknochen. Aba fixiert irritiert das Loch und zweifelt: vielleicht doch nicht ganz so hoch? Nicht ganz so himbeerrot? Nicht so meerestiefblau!

Nie hat sich Aba an dieses Gesicht gewagt, nie hat sie Farbe aufgelegt, nie hat sie eingegriffen. Sie weiss nicht, wem das Abbild gehört. Sie weiss nicht, wohin sie schaut, sie weiss nicht, wer sie anblickt, von der Gegenseite. Jetzt erst recht nicht mehr, jetzt, wo sie alle ins mysteriöse Schweigen fallen, die Milvas, die Trudis, die Salomés, jetzt, wo das Motörchen ruhiger und ruhiger wird, immer seltener ruckelt, so oft einfach nur schweigt, kommentarlos, ohne Botschaft. Aba blickt fragend, ratlos durch den Rahmen an der Wand: Was nur ist geschehen, warum lasst ihr mich im Stich, warum hat mich die Welt vergessen? Spieglein, Spieglein, warum schweigst du nur? Warum sagst du nichts mehr?

Er hat sich zu ihr gesetzt, ohne zu fragen. Plötzlich war er da, an ihrem kleinen Tisch im Speisesaal, aus dem Nichts. Aba weiss nicht, woher er gekommen ist. Mit den Äuglein tief im Kopf unter birkenweissen, buschigen, aber gepflegten Brauen und einer hohen, freien Stirn richtet er seine ganze Aufmerksamkeit aufs Menü, Teller für Teller. Aba kann nicht anders, findet beim besten Willen keine Zurückhaltung, schämt sich, aber sieht dem hochbetagten Gegenüber gebannt zu, wie es lange die Speisen betrachtet, von allen Seiten, während ihm das Wasser im Mund zusammenzulaufen scheint, sieht wie es sich mit einem Leuchten in den Augen auf das Bevorstehende freut, sich selbst erzählt, was es nun gleich geniessen wird: Papayastreifen an Fenchelschaum, Pistazienkrümel, Limettenabrieb. Grüne Gemüsepapaya habe er noch nie gegessen, flüstert der Fremde, sie sind sogar mariniert im Öl gerösteter Sesamkerne! Wie unvergleichlich das Öl dufte, schwärmt der Greis und fächelt sich das würzige, wärmende Aroma zu, minutenlang, gleich so viel Überraschung in einem Gericht! Die Brauen gehen hoch und wölben sich zur Salondecke hin.