Fenster zum Park - Peter Schnellhardt - E-Book

Fenster zum Park E-Book

Peter Schnellhardt

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Beschreibung

Es geht um Liebe, Träume und die Zerbrechlichkeit des Glücks vor dem Hintergrund zweier historischer Ereignisse, 9/11 in New York und den Mauerfall in Berlin. Henrik Heller, ein aus Deutschland stammender New Yorker Journalist, hat auf tragische Weise seine Partnerin verloren und versucht, als Großstadteremit diese Lebenskrise und noch ein anderes Trauma zu überwinden. Dabei schreibt er ein Buch, in dem er erzählt, wie alles gekommen ist. Vom Glück der Freiheit, ihren Gefahren und ihrer Gefährdung.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

1

Henrik schloss die Tür hinter sich ab, zog seine Schuhe aus, die er kreuz und quer stehen ließ, schmiss seine Jacke auf den Flurboden, ging schnurstracks in sein Wohnzimmer, haute sich auf die nahezu neue Couch und beschloss, seine Wohnung nicht mehr zu verlassen, nie mehr. Er war fertig mit sich und der Welt. Diese Schweine, und überhaupt, was hat das Leben jetzt noch für einen Sinn, dachte er. Eine Weile lag er wie gelähmt da und stierte schwarze Löcher in die Luft. Schließlich schlief er ein.

Als er kurze Zeit darauf wieder aufwachte, dämmerte es. Seine Glieder waren bleischwer, aber seine Blase drückte und so schleppte er sich schlaftrunken zur Toilette. Zurück im Wohnzimmer schaute er, weiterhin ganz benommen, aus der großen Fensterfront seines Apartments im 52. Stock. Es goss in Strömen und der Regen formte im Zwielicht des Abends aus den Silhouetten der Hochhäuser graue Stalagmiten von unterschiedlicher Größe, zwischen denen Irrlichter hin und her flackerten. Allmählich füllten sich die Stalagmiten mit Licht, das die Fenster erleuchtete und über die der Regen nach unten schoss. Abertausende Augen, so wirkte es auf ihn, aus denen Ströme von Tränen flossen.

Ich verlasse diese Wohnung nie mehr, bekräftigte er seinen Entschluss, jedenfalls nicht mehr, bevor sie nicht diese Schweine, diese Mistkerle gefunden haben.

Er hatte keinen Hunger, aber wenigstens etwas trinken wollte er. Eine Tasse guten Tee hatte Lisa hin und wieder getrunken, wenn sie am Boden war oder einfach nur mal eine kleine Stärkung brauchte.

Gedankenverloren ging er in die Küche, stellte den Wasserkocher an und nahm etwas Tee aus der blauen Dose, die in dem Schrankteil neben der breiten, meist offenen Durchreiche zum Wohnzimmer stand.

Mit Tee hatte er es eigentlich nicht so. Er war Kaffeetrinker. Selten trank er auch mal einen Tee und wenn, dann eher Früchtetee. Jetzt jedoch erinnerte er sich daran, wie gut Lisa der Tee immer getan hatte. Anfangs stammte der Tee noch von diesem Guru. Wenn er auch nur an ihn dachte, wurde er schon wieder unruhig. Er atmete einige Male tief ein und aus.

Später brachte Mrs Callyhan, ihre Putzfrau, Tee aus Jackson Heights mit. Sie machte gelegentlich auch ein paar Besorgungen und da es in ihrer Nähe einen guten Teeladen gab, bot sich das an. Lisa füllte damit ihre blaue Dose neu auf und der Tee war mindestens genauso gut wie der des Gurus.

Während er den Tee aufbrühte, dachte er ständig an sie. Was mache ich bloß ohne sie?, fragte er sich zum x-ten Mal. Alles hier in der Wohnung erinnerte ihn an sie, jeder Stuhl, jedes Bild, jeder Fleck auf dem Bettlaken.

Wieder im Wohnzimmer stellte er Kanne, Tasse und alles andere, was er so brauchte, auf den Couchtisch, ließ sich in seinen Sessel fallen, schaltete den Fernseher ein und sah sich die News des Tages an. Anschließend kam ein Film, er schaltete um, eine Talkshow lief, in der sich ein Moderator wichtigtat. Nein, das konnte er nicht ertragen, er zappte weiter. Auf dem nächsten Kanal lief ein Reisebericht über Neuseeland. Der Dokumentarfilmer erzählte von der grandiosen Landschaft, den steilen Bergen, die gleich hinter der Küste aufragen, den grünen, saftigen Wiesen und den Rindern, die die Schafherden mehr und mehr verdrängen.

Das lag ihm schon eher, das beruhigte seine Nerven und so blieb er bei diesem Kanal, schenkte sich eine Tasse Tee ein, gab ein Stück Kandiszucker dazu und goss einen ordentlichen Schuss Brandy hinterher. Der Brandy war in diesem Fall Weinbrand. Tee mit Weinbrand zu trinken, war eine Angewohnheit aus seiner alten Heimat, vor allem wenn es kalt war, und es war kalt in diesen Tagen, um ihn und in ihm.

Auch den Bericht über Neuseeland konnte er sich nicht lange ansehen. Alles war so belanglos, so nichtig geworden. Er trank eine weitere Tasse Tee mit Weinbrand, wobei sich das Verhältnis wandelte und es jetzt doch eher Weinbrand mit Tee war. Nach der zweiten Tasse ging er erneut in die Küche und holte sich eine Packung Butterkekse. Die hat noch Lisa gekauft, ging es ihm durch den Kopf, weshalb er nach zwei Keksen schon wieder mit dem Essen aufhörte. Der Gedanke an sie, daran, was mit ihr passiert war, bedrückte ihn und ließ den letzten Rest Appetit verschwinden.

Beinahe regungslos saß er nun auf der großen hellen Ledercouch, den Oberkörper zurückgelehnt, die Beine ausgestreckt, schaute in Richtung Lisas kleinen Flügel und versank in seinen Erinnerungen. Und je länger er über alles nachdachte, desto mehr beschlich ihn das Gefühl, dass auch er nicht ganz frei von Schuld ist. Unbeabsichtigt zwar, aber eben doch in schicksalhafter Weise mit ihrem tragischen Tod verstrickt, machte er sich Vorwürfe.

Anstelle seiner Tee-Brandy-Mischung nahm er jetzt gleich einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Ins Bett zu gehen brachte er auch diese Nacht nicht fertig und so legte er sich, müde geworden, samt seinen Sachen wieder auf die Couch und schlief ein.

Mitten in der Nacht wachte er schweißgebadet auf, gehetzt von einer Gruppe Langbärtiger. Gerade wollten sie ihn erschlagen, als er sich in im letzten Augenblick in die Realität retten konnte. Aber was war die Realität? Dunkelheit und Einsamkeit.

In der Folge versuchte er wieder einzuschlafen, wälzte sich von einer Seite auf die andere, fantasierte im Halbschlaf, stieß mit einem Fuß an den Couchtisch und wurde daraufhin ganz wach.

Doch die Langbärtigen waren immer noch da. Er wusste nun nicht mehr, ob er träumte oder ob alles real war.

Verunsichert und fragend ging sein Blick durch den Raum.

Das war kein Traum, stand es jetzt für ihn fest. Die Langbärtigen hatten sein Zimmer besetzt und wollten, dass er seine Wohnung räumt. Zusehends wurde er unruhiger. »Ihr spinnt wohl, das ist meine Wohnung. Wie kommt ihr überhaupt hier rein? Macht, dass ihr wegkommt! Sonst rufe ich die Polizei, die wird euch schon rauswerfen!«, rief er laut.

Sie grinsten nur. Einer schob seinen langen weißen Umhang etwas zur Seite und ließ fast beiläufig den Lauf einer Maschinenpistole sehen.

Henrik griff nach der Tasse, die noch auf dem Couchtisch stand, und warf sie mit voller Wucht nach ihm. Es schepperte gewaltig, dann waren die Gestalten weg.

Durcheinander und fassungslos starrte er in die Dunkelheit. Was war das denn? Er konnte es nicht glauben, was er da eben gesehen hatte. »Wäre ja noch schöner, ich lasse mich doch nicht aus meiner eigenen Wohnung vertreiben, Gesindel, Halunken, Verbrecher«, sprach er mit sich selbst.

Missmutig quälte er sich von der Couch hoch. Auf dem Weg zur Toilette trat er in eine Scherbe, jaulte fürchterlich auf und machte sofort wieder die Langbärtigen dafür verantwortlich. Scheißkerle, haben mir eine Fußangel gelegt, war es für ihn klar.

Im Bad wollte er eigentlich eine Beruhigungstablette einnehmen, ließ es aber sein, weil er Schnaps getrunken hatte und außerdem waren die Gestalten ja nun wieder weg.

Ins dunkle Wohnzimmer zurückgekehrt, warf er einen flüchtigen Blick aus dem Fenster. Der Regen hatte nachgelassen und die Stalagmitenlandschaft hatte sich in eine futuristische, extraterrestische Großstadt verwandelt. Vielleicht bin ich ja in Coruscant, war nun sein Eindruck. Ich werde die Jedi-Ritter benachrichtigen, die werden den Langbärtigen schon Manieren beibringen.

Im Vertrauen auf diesen Gedanken torkelte er zu seiner Couch und schlief wieder ein.

Ein greller Blitz traf ihn genau in der Sekunde, als er seine Augen öffnen wollte. Ein Atomblitz, schoss es ihm durch sämtliche Gehirnwindungen. Es ist aus. Mit zusammengekniffenen Augen verharrte er eine Minute, dann merkte er, dass er noch lebte, und machte einen erneuten Versuch, sie zu öffnen.

Die Sonne hatte die Wolkendecke durchbrochen und schien ihm direkt ins Gesicht. Sein Schädel brummte indessen so sehr, dass er wieder ins Zweifeln kam, ob nicht doch eine Bombe explodiert war, eine Bombe, mitten in seinem Kopf.

Ich vertrage aber auch gar nichts mehr, dachte er. Gar nichts war eine halbe 0,75-Liter-Flasche 40 %tiger Brandy.

Beim Aufstehen stieß er einen lauten Schrei aus und setzte sich sofort wieder auf die Couchkante. »Verdammt, mein Fuß«, stöhnte er. Sein linker Fußballen war blutig, worauf er auf einem Bein in das kleinere der beiden Bäder hüpfte, das gegenüber von seinem Arbeitszimmer lag und das er, schon seit ihrem Einzug, fast ausschließlich benutzte.

Zuerst duschte er seinen linken Fuß und stellte erleichtert fest, dass es nur eine kleine Wunde war, die nicht genäht werden musste. Dann duschte er sich ganz und zum Schluss wieder seinen linken Fuß – man weiß ja nie, was sich alles so für Keime in der Dusche befinden, war seine Befürchtung. Zum Glück hatte er noch etwas Antiseptikum, das er auf die Wunde sprayte, und zuletzt klebte er ein Pflaster darüber.

Im Anschluss daran machte er sich einen starken Kaffee, um seinen Kopf wieder frei zu bekommen, setzte sich im Wohnzimmer an den Esstisch und aß die am Abend zuvor angebrochene Packung Kekse.

Nunmehr wieder bei klarem Verstand und im Vollbesitz seiner fünf Sinne trat er vor sein Fenster und schaute nach draußen. Die letzten Regenwolken waren abgezogen und die Sonne strahlte und spiegelte sich hoch oben in den Glasscheiben und Stahlteilen der Wolkenkratzer, sodass es überall glitzerte und blitzte, während weiter unten die Welt in einem Gemisch aus Nebel und Abgasen verschwand. Der weißgelbe Feuerball am Himmel gab alles, was er zu bieten hatte, aber selbst das helle, gleißende Licht der Schöpfung, das zugleich Anfang und Ende von allem ist, konnte nicht in die Tiefe durchdringen.

Nein, ich werde diese Wohnung nicht mehr verlassen, egal was da draußen passiert, dachte er erneut. Ich bleibe hier in meinem Turm, in meinem Adlerhorst, bis sie diese Scheißkerle gefasst haben und in der Zwischenzeit mache ich das, was ich schon immer wollte, ich schreibe endlich ein Buch. War er auch mit der Welt fertig, mit sich, war er es noch nicht ganz. Ein Buch, wenigstens ein Buch, wollte er in seinem Leben geschrieben haben. Das nahm er sich fest vor. Das gehörte fortan zu seiner Selbstverpflichtung, zu seinem Versprechen, zu seinem Schwur.

Er wandte sich vom Fenster ab und war gerade im Begriff, in sein Arbeitszimmer zu gehen, da fiel sein Blick auf die Scherben der Teetasse, die noch von der vergangenen Nacht her wie ein Orakel am Boden lagen. Die letzte Sammeltasse von Tante Amelie, schade, sorry, dachte er. Wehmütig fegte er die Bruchstücke zusammen, als wären es die Scherben seines ganzen Lebens, und ließ sie langsam in den Mülleimer gleiten.

Einmal in der Küche, machte er den Kühlschrank auf, um sich zu vergewissern, dass noch genügend zu essen da war. Es war. Auch der Tiefkühlschrank war gut gefüllt. Das reicht für den Anfang, bestätigte er sich selber, und ging in sein Arbeitszimmer.

Dort setzte er sich an seinen Schreibtisch, schaltete seinen Computer ein und legte ein neues Dokument an. Womit beginne ich?, überlegte er. Am besten mit meiner Studentenzeit.

Es war 1987, ich wohnte in Berlin zusammen mit meinem Freund Lukas, war der erste Satz, den er soeben formuliert hatte, da fiel ihm ein, es müssen doch noch irgendwo alte Bilder sein. Er kramte im untersten Fach seines Schreibtisches herum, zog ein zerfleddertes Album hervor und fand die Bilder von damals. Das Album gehörte zu den wenigen verbliebenen Sachen, die er sich von seinem Freund später in die Carol Street von Brooklyn hatte schicken lassen, wo er vor seinem Umzug nach Manhattan gewohnt hatte. Eine Aufnahme zeigte ihn und Lukas vom Kopf bis zum Oberkörper, wie einer die Hand auf die Schultern des anderen legte. Ja, das war er. Das Foto hatten sie in ihrer Studentenzeit machen lassen. Mensch, waren das noch Zeiten, damals, im vorigen Jahrtausend.

Lukas hatte schulterlange braune Haare, eine Nickelbrille und ein verschmitztes Lächeln im Gesicht. Ein bisschen sah er wie John Lennon aus. Seine eigenen Haare waren nicht so lang, bedeckten nur leicht die Ohren, dunkelbraun wie seine dichten Augenbrauen. Er selbst lachte. Sah eher dem jungen Paul McCartney ähnlich, obwohl die Beatles nicht mehr ihre Zeit war und so dicke Freunde waren die beiden ja auch nicht unbedingt gewesen, jedenfalls später nicht. Wo ist nur mein Lachen hin, fragte er sich und schüttelte kaum merklich seinen Kopf.

Er legte das Album wieder weg, und obwohl er erst einen Satz geschrieben hatte, hörte er auch schon wieder auf. Mit einem Mal war die leichte Freude über das alte Foto verschwunden und ins Gegenteil umgeschlagen. Traurig, geknickt und in sich versunken, saß er auf seinem Stuhl, den Blick ins Leere gerichtet, der Welt entrückt.

Mehr automatisch als bewusst klickte er auf seinem Desktop Spiele an und begann alle möglichen Fieslinge zu jagen, kam aber nie auf die letzte Ebene und so gab er nach einer Stunde genervt auf. Eine Stunde, sinnlos vertan. Na ja, vielleicht war es doch nicht ganz so sinnlos, zumindest hatte er sich abgelenkt und den inneren Groll ein wenig abgebaut.

Darauf klickte er wieder das Dokument mit seinem ersten Satz an und schrieb noch einen weiteren, musste jedoch feststellen, dass er nicht richtig denken konnte, weil ein flaues Gefühl in seinem Magen stärker war, als sein Drang zu schreiben.

Gemächlich stand er auf und ging in die Küche. Rührei mit Speck war so ziemlich das Einzige, was er an warmen Speisen zubereiten konnte. Dazu eine Scheibe Brot und ein Wasser, das reichte ihm. Er setzte sich an den Wohnzimmertisch und aß in aller Ruhe sein selbst zubereitetes Essen, das ihm sichtlich schmeckte und guttat. Gestärkt brachte er den leeren Teller in die Küche, räumte ihn in die Spüle, ging zurück ins Wohnzimmer und stellte sich vor die kürzere, linke Seite der Fensterfront.

Gegenüber versperrte der Metropolitan Tower seinen Blick und tief unten verlief die West 56th Street. Der Dunstschleier hatte sich verzogen und jetzt waren die Ameisenströme zu sehen, die sich tagein, tagaus zu irgendeinem imaginären Ziel fortbewegten. Menschen, Autos, Busse und Lastwagen in schier endloser Folge. Die West 56th Street verläuft von West nach Ost und ist nicht ganz so verkehrsreich, doch er wusste nur zu genau, dass nicht viel weiter auf der Sixth Avenue und auf der 57th Street die Hölle los ist. Bloß vom Zusehen und der Erinnerung an den Lärm empfand er schon den Druck dieses Molochs, hörte er das ständige Rauschen und das Martinshorn der Polizeiwagen oder der Rettungsfahrzeuge, wenn sie wie wahnsinnig durch die Straßen fegten. Aber im Großen und Ganzen war er hier in seinem Turm hinter den dicken Scheiben vor dem Getöse und dem irrsinnigen Getümmel da unten sicher. Hier war er abseits von Lärm und Hektik. Aber war er hier wirklich sicher? Nein, sicher konnte er sich auch hier nicht sein. Ja, das dort unten waren Ameisenströme, eine unendliche Masse, in der der Einzelne nichts galt, gar nicht wahrgenommen wurde, und doch gab es Momente, in denen ein Einzelner für viele stand.

Noch bis vor Kurzem hatte er dieses Treiben geliebt, das bunte Menschengewirr, die endlosen Blechlawinen, das ganze pulsierende Leben, das sich durch die Schluchten aus Beton, Stahl und Glas ergoss. Die Leuchtreklame, die Geschäfte, Cafés und Restaurants, die sich ohne Unterbrechung aneinanderreihen, das ganze verrückte Treiben des Big Apple, das ihm das Gefühl gab zu leben, am richtigen Ort zu sein.

Hier gehörte er hin, hier wollte er immer sein, hier fühlte er sich an der Spitze der Entwicklung, des Fortschritts, am Puls der Zeit, im Pacemaker der Menschheit.

Nur, jetzt spielte das alles keine Rolle mehr. Ohne Lisa hatte das alles keine Bedeutung. Unsichtbare, dunkle Mächte hatten den Pacemaker abgeschaltet und eine Rhythmusstörung ausgelöst. Alles war aus den Fugen geraten, durcheinander, orientierungslos.

Es kam ihm nun vor, als wären die Ameisen da unten keine Ameisen mehr, sondern Lemminge, die unaufhaltsam vorwärtsliefen. Vor seinem geistigen Auge sah er jetzt, wie die Lemminge von der 56th Street in die Sixth Avenue rannten, dort dicht gedrängt bis zur 57th Street stürmten, links abbogen, in vollem Tempo nunmehr von Ost nach West liefen und schließlich in den Hudson stürzten.

Schwer atmete er aus und starrte hilflos aus dem Fenster in die Tiefe. Er wollte schreien, wollte sie warnen, aber er hatte keine Kraft mehr, er wollte nur noch seine Ruhe haben. Er suchte die Einsamkeit, er brauchte sie, um sich zu sammeln, um das, was ihn bedrückte, verarbeiten zu können.

Und, als ob er dort Erlösung finden könnte, schleppte er sich zurück in sein Arbeitszimmer, zurück zu dem Dokument mit seinen ersten Formulierungen. Er kroch geradezu in seinen Computer hinein, ging auf in dem, was er schrieb, verschwand in seinen Sätzen, die seine letzte Zuflucht waren. Es war, als suchte er in den Zeilen, was er in seinem Leben verloren hatte: Halt, Sinn – Lisa.

2

Unsere Studentenbude war erstaunlich geräumig, mit zwei stabilen Betten, einem massiven Schreibtisch, zwei Stühlen, einem Sessel und einem Wandschrank. Außerdem gehörte eine Kochecke dazu, wo wir auch das Wasser für unsere großen weißgelben Porzellanschüsseln zum Waschen einlaufen lassen konnten. Mehr brauchten wir nicht. Selbst die Toilette, die sich eine Treppe tiefer im Treppenhaus des fünfstöckigen alten Gebäudes befand, war für uns kein Problem. Wir wohnten im letzten Stockwerk, ganz für uns und ganz billig, ein Fünfer für uns arme Studenten im damaligen Osten von Berlin, in jeder Hinsicht.

Lukas kannte ich schon seit der Grundschule. Wir waren zwar nicht in der gleichen Klasse, gingen aber beide in die Arbeitsgemeinschaft Schach und später in den Leichtathletikverein. Ab der neunten Klasse besuchten wir dann gemeinsam die Salzmannschule, die Erweiterte Oberschule in Waltershausen, Ortsteil Schnepfenthal. Ch. G. Salzmann und J. Ch. Friedrich GutsMuths hatten hier im 18. Jahrhundert den ersten deutschen Turnplatz eingerichtet, und zwar noch bevor Ludwig Jahn seinen Turnplatz in der Berliner Hasenheide eröffnete. Turnvater Jahn hatte zuvor an der Salzmannschule bei GutsMuths das Turnen erlernt und so kann man diesen durchaus als Turn-Großvater bezeichnen.

Gemeinsam nahmen wir auch am fakultativen Lateinunterricht teil und waren auch sonst außerhalb der Schule dicke Freunde. Wir kamen beide aus einem christlichen Elternhaus und wunderten uns, dass wir überhaupt an die EOS durften. Staatsbürgerkunde und Geschichte waren uns ein Grauen und das, obwohl wir eigentlich an Politik und Geschichte sehr interessiert waren. Aber die kommunistische Indoktrination, das ständige Sichverbiegen-Müssen, waren uns zuwider.

Irgendwann hatte Lukas dann beschlossen, Theologie zu studieren, und verweigerte den Dienst mit der Waffe. Er wollte als Bausoldat gehen, war aber vorerst noch nicht eingezogen worden und konnte daher gleich mit seinem Theologiestudium beginnen.

Ich hatte mich für Medizin entschieden, obwohl ich lieber Germanistik studiert hätte. Das war mir aber schon wieder zu politisch, hatte doch die SED-Krake auch dieses Fach fest in ihrem Griff. Später bereute ich es, vielleicht war ich da auch etwas zu voreingenommen. Im Nachhinein erscheint halt manches einfacher, als es in Wirklichkeit war. Zum Glück hatte ich gute Noten, wodurch sich meine Möglichkeiten erweiterten. Was den Wehrdienst angeht, so war ich mit achtzehn Monaten davongekommen, mussten sich doch nicht wenige, die Medizin studieren wollten, »freiwillig« für drei Jahre verpflichten. Ein halbes Jahr habe ich anschließend noch in der Psychiatrie in Stadtroda gearbeitet.

Zwei Jahre nach dem Abitur begann ich dann mein Studium in Berlin, da war Lukas schon im dritten Studienjahr. Ich hatte bei ihm angefragt, ob er ein Zimmer für mich wüsste, und wie es manchmal so ist, war sein bisheriger Studienfreund, mit dem er das Zimmer geteilt hatte, eine Woche zuvor ausgezogen.

In der ersten Vorlesung an der Humboldt-Uni traf ich Uschi, die ich vom Sehen her aus einer der Parallelklassen der Salzmann-Schule in Schnepfenthal kannte. »Na du alte Schnepfe, das ist ja eine Überraschung, dich hier zu sehen«, begrüßte ich sie.

Schnepfe war der Spitzname für die Mädels unserer Schule, was gleich die Begegnung auflockerte und einen Hauch von Intimität erzeugte. Ihre großen braunen Augen strahlten und ein erotisches Lächeln machte mich an. Noch am Nachmittag desselben Tages lagen wir in ihrem Bett. Wir lernten und vögelten uns durch das erste Semester. Dann war der Ofen aus, ich war noch nicht reif für eine längere Beziehung. Wenn ich Lukas sah, der inzwischen schon drei Freundinnen gehabt hatte, kam in mir das Gefühl auf, ich verpasse da etwas.

Unsere Bude am Boxhagener Platz war ein beliebter Treffpunkt für alle möglichen Leute, die er mitbrachte, hauptsächlich Theologiestudenten, und alle möglichen Weiber. Wir diskutierten oft bis weit in die Nacht hinein und das Zimmer füllte sich mit blauen Nebelschwaden, dass man seinen Nebenmann kaum noch sehen konnte. Ich kam mir vor wie in der Kneipe um die Ecke.

Das war am Anfang ganz toll, vor allem, wenn man wie wir aus der Enge und Biederkeit einer Kleinstadt kam, obwohl Engstirnigkeit damals überall in der Republik herrschte, auch in Berlin. Im Gegenteil, Berlin war quasi der Ausgangspunkt, die Quelle der Engstirnigkeit.

In Moskau hatte Michael Gorbatschow begonnen, mit seiner Glasnost und Perestroika die alten, starren Strukturen aufzubrechen. Was wir da hörten, war einfach unglaublich. Entweder war das eine Finte oder die Parteiführung würde ihn über kurz oder lang entmachten, war unsere Meinung.

Im Laufe der Zeit nahm ich auch den einen oder anderen von meinen Kommilitonen mit auf unsere Bude. Vor allem mit Frieder und Lars hatte ich mich angefreundet. Erst lernten wir zusammen und dann soffen, rauchten und diskutierten wir die halbe Nacht lang. Je mehr es jedoch auf die Prüfungen zuging, umso mehr störte es mich, dass laufend irgendwelche Leute auftauchten und hier rumhingen.

»Das geht so nicht weiter«, meinte ich zu Lukas, »ich muss in Ruhe lernen können.«

»Mach dir mal keine Sorgen, ich werde bald ausziehen, zu Nele.«

»Ah, eine neue Flamme.«

»Die ist die Richtige, hoffe ich.«

»Freut mich für dich. Und für mich ist es ja wirklich das Beste, wenn ich erst mal alleine bin. Obwohl es mir schon leidtut, dass du dann nicht mehr hier bist.«

»Wir bleiben auf jeden Fall in Kontakt, das ist doch gar keine Frage und offiziell ummelden werde ich mich auch noch nicht.«

Eine Woche später war er weg. Nun begann die lernintensivste Zeit des ganzen Studiums: Examen in Anatomie, Physiologie und Biochemie.

Zur Feier des Physikums machten wir erst einmal richtig einen drauf. Mein Gott, was habe ich damals vertragen. An einem Abend in einer Studentenkneipe am Prenzlauer Berg ging es hoch her.

Am Tisch vor uns saßen zwei hübsche Mädels und zwei Kerle, ein großer Blonder und ein etwas kleinerer Dunkelhaariger, die ich hier noch nie gesehen hatte. Lukas und einige andere Theologen waren auch da. Wir waren ausgelassen, tranken einen halben Liter Bier nach dem anderen und sangen alle möglichen Studentenlieder: Es saßen die alten Germanen, Gaudeamus igitur, Oh alte Burschenherrlichkeit und Die alten Rittersleut. Das Ganze schaukelte sich regelrecht zu einem Sangeswettstreit hoch. Die Theologen sangen eine Strophe, wir Mediziner ließen die nächste folgen und so weiter. Die beiden Mädels und der Dunkelhaarige sangen auch die eine oder andere Strophe mit, während sich der große Blonde auffallend zurückhielt.

Plötzlich stimmte einer der Theologen Die Gedanken sind frei an. Da konnten wir uns natürlich nicht lumpen lassen und stimmten ein.

Der große Blonde und auch einige an den anderen Tischen schauten verdutzt und ernst in unsere Richtung. Mir war auch nicht ganz wohl dabei, aber die Hochstimmung, der Gruppenzwang und nicht zuletzt meine innere Einstellung ließen mich munter mitsingen.

Danach stand ich auf und ging zu dem Tisch mit den fremden Mädels. Ich fragte die mit dem rotbraunen, glänzenden Haar, das in prächtigen Wellen über ihre Schultern fiel und mit den Spitzen bis zu ihren Brüsten reichte, die sich verführerisch durch ihren BH und ihr T-Shirt drückten:

»Zu was für einem Verein gehört ihr denn?«

»Germanisten«, antwortete sie und richtete sich dabei etwas auf, wodurch ihre schönen, vollen Brüste noch besser zur Geltung kamen.

»Ist ja interessant, Germanisten seid ihr«, sagte ich und zog meine Augenbrauen hoch, weil ich nun erst recht neugierig wurde.

»Ja, außer meinem Bruderherz hier, der studiert Klinische Psychologie«, antwortete sie und schaute den dunkelhaarigen Burschen an ihrer Seite an.

»Ist auch interessant, aber Germanistik hätte ich lieber studiert. Darf ich mich setzen?«, fragte ich und hatte schon den leeren Stuhl an der Vorderseite des Tisches in der Hand.

»Bitte, der ist noch frei«, sagte sie mit einem Lächeln.

Ich setzte mich und strahlte sie an. Sie tuschelte und kicherte mit ihrer Freundin. Die beiden Mädels freuten sich, nur der große Blonde hatte einen mürrischen Gesichtsausdruck.

»Ich bin der Henrik.«

»Miriam, und das ist Saskia. Und was studierst du?«

»Medizin.«

»Ah, ein Streber«, sagte ihre nicht minder attraktive Nachbarin mit etwas kürzeren dunklen Haaren.

Miriam stieß sie an und sagte: »Also, Saskia.«

Worauf Saskia mich fragte: »Wieso hättest du lieber Germanistik studiert? Arzt ist doch ein Traumberuf.«

»Und viele können nicht Medizin studieren wegen des Numerus clausus«, warf der große Blonde ein, der seine Sprache wiedergefunden zu haben schien und Ralf hieß.

»Für Klinische Psychologie ist der Numerus clausus noch schärfer«, schaltete sich Miriams Bruder ein, »das kann man nur in Berlin studieren.«

Die Luft war schwül und stickig, Rauchschwaden hingen im ganzen Raum und vermischten sich mit dem Biergeruch und den Ausdünstungen der Leute. Und angeregtes Reden und Diskutieren wurden ständig von lautem Lachen unterbrochen.

»Hey, Henrik, stell uns doch mal deine Freundin vor«, rief Frieder vom Nebentisch herüber.

Ich hob meinen Kopf. »Ist nicht meine Freundin, aber es dauert nicht mehr lange«, rief ich zurück und grinste Miriam an. Sie grinste nicht abgeneigt zurück.

Dann stand ich auf. »Entschuldigt, ich muss erst mal eine Stange Wasser ablassen«, sagte ich und ging zur Toilette, die sich außerhalb der Gaststube gegenüber von der Eingangstür befand.

Als ich wieder aus der Toilette rauskam, stand sie da an der offenen Kneipentür. Im Dämmerlicht der Flurbeleuchtung ging ich auf sie zu. »Ich brauche etwas frische Luft«, sagte sie.

Doch ich blieb einfach vor ihr stehen und schaute sie frech an. Sie schlug die Augen auf und ich wusste, sie wollte mich. Heiß berührten sich unsere Lippen und ihre straffen, vollen Brüste, die sich an mich drückten, lösten eine jahrtausendealte Reaktion aus, ohne die wir alle nicht wären.

3

Am Abend trank Henrik nur eine Tasse von Lisas Tee aus der blauen Dose, den er viel zu lange hatte ziehen lassen, weshalb er auch gleich einen großen Schuss Weinbrand reinkippte.

So hing er sinnlos auf der Couch rum, aber immerhin, er hatte heute an seinem Buch geschrieben, das erfüllte ihn mit stiller Freude, das gab ihm innere Kraft, das hielt ihn am Leben.

Keine Stunde später war er eingeschlafen, wachte jedoch gegen Mitternacht aus einer inneren Unruhe heraus auf. Die Langbärtigen hatten wieder die Wohnung übernommen.

Einer postierte sich an der Zimmertür, ein anderer setzte sich auf den Flügel, ein Dritter war dabei, ins Schlafzimmer zu gehen. Er erkannte den Guru, diesen Mistkerl, und dieses andere Schwein mit dem langen, schon leicht angegrauten Bart war auch dabei. Sein Herz begann zu rasen und er bekam einen Schweißausbruch. »Nein, nicht dahin, lasst Lisa in Ruhe!«, schrie er verzweifelt. Diesmal landete die leere Flasche an der Wand, doch die Bärtigen wollten nicht so schnell weichen, weshalb er einen Stuhl nahm und damit auf einen von ihnen einschlug. Aber ein anderer stellte ihm ein Bein, worauf er der Länge nach hinstürzte, hart mit der Stirn aufschlug und am Boden liegen blieb. Genau in diesem Augenblick stieß ihm eine weitere Gestalt einen Gewehrkolben gegen den Kopf und er verlor das Bewusstsein oder das, was davon noch übrig war.

Einige Zeit darauf fröstelte es ihn, er zog die Wolldecke von der Couch runter und schlief, weiter auf dem Boden liegend, wieder ein.

Zum Morgen hin tat ihm die ganze rechte Seite weh, besonders der Kopf. Steif und mit schmerzverzerrtem Gesicht erhob er sich und schleppte sich in sein Bad. Beim Blick in den Spiegel stellte er fest, dass er eine dicke Beule an der Stirn hatte. Er nahm eine Aspirin ein und schaute sich dann seinen linken Fuß an. Die Wunde von gestern hatte sich leicht entzündet, worauf er sie wieder mit seinem Antiseptikum behandelte und ein neues Pflaster darüberklebte. Danach drehte er den Wasserhahn auf und wartete, bis das Wasser eisig kalt war, tränkte einen Waschlappen damit, hielt sich den kalten Lappen an die Stirn und legte sich wieder auf die Couch, wo er erneut einschlief.

Endlich ausgeschlafen verbrachte er den Rest des Vormittags damit, den ramponierten Stuhl zu richten und zu verleimen. Zum Mittagessen machte er sich diesmal eine Tiefkühlpizza in der Backröhre heiß, die er hastig verschlang. Anschließend war er so erschöpft, dass er sich gleich wieder hinlegen musste.

Ausgerechnet als er sich erneut aufgerafft und an seinen Schreibtisch gesetzt hatte, klingelte das Telefon. »Ja, Henrik Heller«, nuschelte er und dachte im gleichen Atemzug, verdammt, man sagt am Telefon nicht seinen Namen.

»Hallo, Henrik, was ist denn mit deinem Artikel?«, hörte er die Stimme von Ben und war beruhigt.

»Mir ist nicht nach Artikelschreiben, mach du am besten alles für mich fertig, ich schicke dir das Material«, antwortete er teilnahmslos und ohne jeglichen Bock darauf.

»Mensch, Henrik, wir verstehen ja deinen Kummer, aber der Chef macht Druck, er will, dass du den Beitrag schreibst.«

»Ach der, der sieht doch nur seine Auflage«, entgegnete er unwirsch.

»Sag das nicht, ihm geht das Ganze auch sehr nahe. Henrik, bitte, gib dir einen Ruck, wir haben den Artikel bereits für die kommende Ausgabe angekündigt.«

»Schon gut, ich mache ihn fertig und maile ihn dir, spätestens morgen Vormittag hast du ihn. Aber das ist das Letzte, was ich mache«, schob er energisch hinterher.

»Danke, alter Junge, wenn du willst, können wir ja nächste Woche wieder mal was trinken gehen.« Ben klang mehr als erleichtert.

Henrik hatte noch nicht ganz richtig aufgelegt, da klingelte sein Handy. »Ja«, sagte er kurz, obwohl er auf dem Display sah, dass es Lea, die Schwester von Lisa, war.

»Henrik, was ist mit dir? Wir haben gestern auf dich gewartet«, fragte sie etwas vorwurfsvoll, aber ihre Stimme klang doch eher besorgt.

»Gestern? Ich konnte nicht, ich war zu kaputt«, antwortete er mechanisch, während ihm schon klar war, weshalb er den Termin nicht wahrgenommen hatte.

»Das geht uns doch allen so, aber wir müssen darüber reden, das hilft«, hörte er noch Lea sagen, während er in Gedanken schon wieder ganz woanders war.

»Ich komme nächste Woche. Bye«, antwortete er und drückte sie weg, was er jedoch sofort bereute. Ausgerechnet bei Lea war er so abweisend, wo sie ihm gegenüber stets freundlich und verständnisvoll war, ärgerte er sich.

Kaum hatte er das Gespräch beendet, fiel ihm wieder ein, dass er ja die Wohnung nicht mehr verlassen will. Und überhaupt, er wollte auch nicht dauernd angerufen werden. Er zog die Konsequenz daraus, stellte das Telefon ab und schaltete auch sein Handy aus.

Mit dem Artikel gab er sich alle Mühe, kam aber nicht so recht voran. Ständig schweiften seine Gedanken ab. Gegen 23 Uhr war er endlich fertig, ging an die Zimmerbar, nahm eine neue Flasche Schnaps und stellte sie auf die Glasplatte des Couchtisches.

Während er sich in seinen bequemen Sessel setzte, musste er an die letzte Nacht denken. Die Gestalten, die ihm mächtig zugesetzt hatten, so richtig wusste er sie nicht zu deuten. Nur vom Alkohol konnte das nicht kommen, oder? War er schon Alkoholiker? Er fuhr sich mit der rechten Hand durchs Haar. Ich kann jederzeit aufhören, ich brauche das nicht, beruhigte er sich selbst. Klar, in der letzten Zeit hatte er mehr getrunken, was ja wohl verständlich war. Aber solche Spukgestalten, solche massiven Trugbilder?

Automatisch betastete er die Beule an seiner Stirn, während er sich an seine Vorlesungen in Neurologie und Psychiatrie und an seine Nachtwachen in der Charité erinnerte. Alkoholiker hatten im Entzug optische Halluzinationen, sahen überall Ameisen oder andere Tierchen und versuchten mit zittrigen Händen diese zu verscheuchen.

Er bekam aber diese Halluzinationen, wenn er trank. Das gab es bei einer doch eher seltenen Alkoholintoleranz, einer Alkoholunverträglichkeit. Schon kleine Alkoholmengen führen dabei zu Übelkeit, Herzrasen und Halluzinationen. Ursache war meistens ein genetischer Defekt. Es fehlte das Isoenzym ALDH-II, was dazu führte, dass der Alkohol wesentlich langsamer abgebaut wurde. Wie alle Gendefekte war die Störung erblich, trat aber auch nach der Einnahme von bestimmten Medikamenten auf.

Nachdenklich und ohne Lust, Licht zu machen, starrte er in die Dämmerung des Wohnzimmers. Nein, ein Trinker bin ich nicht, das eine oder andere Bier habe ich freilich ganz gerne mal getrunken oder ein, zwei Gläser Wein mit Lisa, dachte er bei sich. Gut, manchmal waren es auch mehr. Aber ein großer Freund von Schnaps war er noch nie.

In seiner Studentenzeit hatte er allerdings schon ganz schön gesoffen, aber fast nur Bier, den einen oder anderen Schnaps halt mal dazwischen. Mit dem Schnaps hatte er erst jetzt wieder angefangen und seitdem hatte er diese Halluzinationen. Die konnten aber auch von dem Erlebten kommen. Obwohl, wenn er es sich genau überlegte, hatte er sie tatsächlich erst, seitdem er Schnaps trank, oder gab es da noch einen anderen Grund? Vielleicht kommt ja auch mehreres zusammen, suchte er nach einer Erklärung. Stress und ein geschwächtes Immunsystem könnten auch eine Rolle spielen.

Er entschied, heute Abend mal keinen Schnaps zu trinken, stellte die Flasche wieder in die Bar und holte sich ein Bier.

Um Mitternacht lag er immer noch wach. Verdammt, habe ich mich schon so an den Schnaps gewöhnt, dass ich ohne ihn nicht mehr einschlafen kann?, fragte er sich. So ging das jedenfalls auch nicht, er brauchte schließlich seinen Schlaf.

Zerknirscht stand er auf und holte sich eine Schlaftablette. Eine halbe Stunde später sägte er den ganzen Central Park zusammen.

Gegen fünf Uhr wachte er auf und hatte Schüttelfrost. Die Gestalten waren nicht gekommen, aber es ging ihm hundeelend. Sein Körper kochte, er fühlte sich, als hätte er eine Grippe, ohne jedoch die geringsten Anzeichen von Husten oder Schnupfen zu verspüren. Mühsam quälte er sich von der Couch hoch und schwankte zu seinem Sanifach im Bad, um ein Fieberthermometer zu holen. Auf dem Badewannenrand sitzend wartete er mit dem Thermometer in der Achselhöhle auf das Ergebnis. Vierzig Fieber, sein linker Fuß schmerzte. Als er nach dem Fuß sah, entdeckte er einen roten Streifen, der von der Innenseite des Fußes hoch bis in die Leistenbeuge verlief.

Akute Lymphangitis, eine Blutvergiftung, wurde es ihm jetzt klar. Ich hatte doch die Wunde desinfiziert, überlegte er, und griff nach dem Spray, um das Verfallsdatum zu prüfen. Das Spray war schon drei Jahre überfällig. Wahrscheinlich wirkt das gar nicht mehr, vermutete er.

Nun setzte er sich auf den geschlossenen Toilettendeckel und versuchte die Wunde etwas zu öffnen, was ihm nur unter Schmerzen gelang. Dann legte er mehr oder weniger fachmännisch einen Verband mit einer entzündungshemmenden Flüssigkeit an und nahm ein Breitbandantibiotikum ein, das er in seinem Badezimmerschrank liegen hatte und das zum Glück noch nicht verfallen war.

Nachdem er sich selbst verarztet hatte, nahm er das Fieberthermometer und schleppte sich wieder auf die Couch. Das Antibiotikum war eines der moderneren und musste nur zweimal am Tag eingenommen werden. Er wollte bis zum Vormittag warten und wenn es dann nicht besser war, würde er einen Krankenwagen rufen. Das war das Letzte, was er dachte.

Um die Mittagszeit wurde er von einem heftigen Klingeln an seiner Wohnungstür geweckt. Durch den Spion sah er Ben, seinen Kollegen und Freund aus der Redaktion, und schlagartig fiel ihm der Artikel wieder ein.

»Wieso kommst du vorbei?«, begrüßte er ihn in seiner kurzen Schlafanzughose und mit ganz verschwollenem Gesicht. Ben musterte ihn von Kopf bis Fuß und sagte:

»Du siehst ja fürchterlich aus.« Kam dann aber gleich zum Anlass seines unerwarteten Besuchs.

»Warum hast du denn den Artikel nicht gemailt? Und ans Telefon bist du auch nicht gegangen.«

»Na, das wollte ich heute Vormittag noch machen, das hatte ich doch gesagt.«

»Du weißt wohl nicht, wie spät es ist?«

Henrik sah ihn fragend an.

»Ein Uhr!«, sagte Ben und hielt ihm seine Armbanduhr vor die Nase.

»Was denn, schon ein Uhr?«, wiederholte Henrik erschrocken. »Komm rein«, winkte er Ben in den Flur und schloss die Tür hinter ihm.

Wortlos gingen sie ins Wohnzimmer, wo auf der Couch noch seine zerknüllte Decke und auf dem Tisch daneben das Fieberthermometer lag. Und etwas weiter auf dem Esstisch stand gut sichtbar eine leere Schnapsflasche. Ben setzte sich in einen Sessel und Henrik ließ sich auf die Couch fallen.

»Entschuldige, ich hatte eine schlimme Nacht.«

»Hast du wieder zu viel Schnaps getrunken?«, fragte Ben mit einem Blick zur Flasche.

»Nein.«

»Wirklich nicht?« Ben schaute ihn eindringlich an.

»Nein«, verdammt nochmal.

»Auf dem Tisch steht doch eine leere Flasche.«

»Die ist von gestern.«

»Also doch.«

»Äh, ich meine von den Tagen davor.«

»Und was war in der vergangenen Nacht?«, ließ Ben nicht locker.

»Ich hatte hohes Fieber, eine Blutvergiftung«, sagte er und schaute dabei auf sein Bein. Der rote Streifen war noch zu sehen, aber deutlich abgeblasst.

»Gott sei Dank, ich dachte schon, ich muss ins Krankenhaus. Warte mal.« Er nahm sein Fieberthermometer und klemmte es sich unter die Achsel.

Ben musterte ihn weiter. »Und was ist mit der Beule an deinem Kopf?«

Henrik zuckte mit den Schultern. »Was soll schon sein? Da habe ich mich am Schrank gestoßen.«

»Mensch, Henrik, du machst Sachen. Hast du denn den Artikel fertig?«

»Ja, ich hole ihn.« Er ging in sein Arbeitszimmer und kam mit einem Stick zurück.

Ben nickte ihm kurz zu, offensichtlich genügte ihm das. »Wurde aber auch höchste Zeit.«

»Ja, entschuldige.«

»Ich muss auch gleich wieder los, du weißt ja, der muss heute Abend in Druck gehen. Kann ich dich alleine lassen, oder brauchst du Hilfe?«

Henrik schaute auf das Thermometer. »Nur noch 37 Grad, das wird schon.«

»In Ordnung und schalte wenigstens dein Handy ein.«

»Mach ich«, versprach er widerwillig.

»Also gute Besserung, bis nächste Woche.«

»Thanks, bye.«

Henrik sah Ben das Wohnzimmer verlassen, hörte ihn über den Flur gehen und dann die Tür ins Schloss fallen. Wieder allein, sah er sich seinen Fuß an. Die Wunde wirkte zwar nicht mehr so entzündet und das Fieber war runter, aber er fühlte sich trotzdem ziemlich schlapp und kaputt. Er schlich ins Bad und schaute in den Spiegel. Unter den Augen hatte er tiefe, dunkle Ränder und seine Haut war vom Weißgrau der Badfliesen kaum zu unterscheiden. Verdammt, dachte er, das war ja gerade noch mal gutgegangen. Darauf erneuerte er den feuchten Verband mit der entzündungshemmenden Flüssigkeit und hüpfte auf einem Bein in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen, entschied sich dann aber für einen Früchtetee, weil er meinte, den zusammen mit dem Antibiotikum besser zu vertragen.

Das Bein muss ruhiggestellt und hochgelagert werden, gab er sich selber Anweisungen, ich bleibe am besten heute auf der Couch liegen. Im Fernsehen ging es auf allen Kanälen vor und zurück nur um das eine Thema, die Terroranschläge vom neunten September. Er konnte die Bilder nicht mehr sehen und legte eine CD mit beruhigender Musik in seine Anlage, worauf er noch melancholischer wurde.

Nur wenig später riss er sich hoch und hüpfte in sein Arbeitszimmer. Sein Drang zu schreiben, trieb ihn wieder zu seinem Computer. Und so setzte er sich dort in seinen Sessel und schrieb weiter an seinem Buch.

4

Miriam war im Bett ein Vamp, sie forderte mir alles ab, sie saugte mich völlig aus. Gegen Mittag des nächsten Tages gingen wir zusammen in die Mensa und anschließend schlenderten wir noch etwas durch die Stadt. Es war ein wolkenloser, heißer Tag Ende Juni, die Sonne stach vom Himmel und mir kam es vor, als würden wir allmählich gegrillt. Sie hatte ein sommerliches, figurbetontes Oufit gewählt und nicht nur ihr volles, rotbraunes Haar und ihre wohlgeformte Brust waren ein Hingucker. Sie hatte auch ein schönes Gesicht mit einem sinnlichen roten Mund, eine tolle Figur und herrliche Beine. In ihrem engen roten Oberteil und einem kurzen schwarzen Rock war sie ein Blickfang für alle Männeraugen. Und in ihren Halbschuhen, die die gleiche schwarze Farbe wie ihr Gürtel hatten, bewegte sie sich leichtfüßig und selbstbewusst, was ihren Reiz nur noch steigerte.

Händchen haltend führte ich sie wie eine Trophäe über den Alexanderplatz. Vor der Weltzeituhr blieben wir stehen.

»Wie spät mag es jetzt wohl in New York sein?«, fragte ich so zum Spaß.

»Komm, wir schauen mal«, sagte sie sofort.

»Berlin 14 Uhr, New York acht Uhr morgens«, stellte ich fest, »da würden wir jetzt noch schlafen.«

»Oder auch nicht«, erwiderte sie, wobei sie sich mir zuwandte und ihre Augen mir zeigten, dass sie sich schon wieder auf die nächste Nacht freute.

»Arbeiten würde ich um die Zeit wohl kaum«, sagte ich.

Sie zog an meiner Hand. »Das meinte ich ja auch nicht.«

»Ich weiß schon.« Dann sah ich wieder zur Weltzeituhr. »Tja, New York, das wär’s«, ich holte tief Luft.

»Ich wäre lieber in Paris«, antwortete sie.

»Klar, nach Paris würde ich auch wollen.«

»Würdest du mich da mitnehmen«, fragte sie erwartungsvoll und schmiegte sich an mich.

»Aber sicher, ich finde, du passt gut nach Paris«, sagte ich, ohne zu zögern. Wir küssten uns. Ich hätte sie augenblicklich auf die Platten legen können, aber das wäre wohl selbst für Paris zu viel gewesen.

Der ganze Platz vermittelte ein großzügiges, modernes Flair und der sonnige Tag ließ alles freundlich erscheinen. Viele Leute bewegten sich hier hin und her, hasteten vorbei oder blieben kurz stehen und bestaunten die Uhr. Ein Mann im mittleren Alter mit einem sportlichen Hemd und einem Fotoapparat um den Hals suchte unterhalb der großen Uhr etwas Schatten. Oder wartete er auf jemanden?

Ein Stück weiter setzten wir uns auf die Einfassung des Brunnens der Völkerfreundschaft, dessen Wasserspiel uns ein wenig abkühlte. Am Brunnen herrschte eine unbekümmerte, fast heitere Atmosphäre. Rechts und links von uns saßen junge Leute und unterhielten sich angeregt. Und doch wusste man nie, ob die Person, die neben einem saß oder gleich in der Nähe vor einem stand, nicht nur aus dem einen einzigen Grund hier war, den Ort zu überwachen und die Stimmung der Leute auszukundschaften.

Miriam zündete sich eine lange, schmale Zigarette an, eine Duett, die ostdeutsche Edelmarke für Frauen. »Einmal nur nach Paris«, sprach sie leise vor sich hin, im Wissen darum, dass man hier solche Gedanken genauso wenig äußern durfte wie in der Kneipe.

»Das werden wir wohl nie können«, war ich absolut überzeugt. »Man wird doch noch träumen dürfen«, erwiderte sie.

Mein Blick blieb an dem Lichtkreuz hängen, das durch die Brechung der Sonnenstrahlen auf der Glaskugel des Fernsehturms entsteht. Sankt Walter nannten die Ostberliner den Fernsehturm deshalb spöttisch, weil ihn Walter Ulbricht, der erste DDR-Staatschef, bauen ließ. Er sollte ein Symbol für Fortschritt und Sozialismus sein. Und nun war er der höchste Kirchturm der DDR, ja von ganz Deutschland. Man hat sogar ernsthaft darüber diskutiert, ihn wieder abzureißen. Ein Kuriosum, ein Treppenwitz der Geschichte. So ist das manchmal im Leben, der Mensch plant und macht, und dann kommt alles ganz anders, als er denkt.

Am nächsten Tag ging ich in das Sekretariat der Medizinischen Fakultät, um noch zwei Bestätigungen nachtragen zu lassen. Die Sekretärin nahm den Eintrag vor, schaute mich an und sagte:

»Wegen der Bestätigung für politische Ökonomie müssen Sie in das Institut für Marxismus-Leninismus.«

Also machte ich mich auf den Weg dorthin.

»Henrik Heller«, meldete ich mich bei der Sekretärin an, »ich möchte meinen Stempel abholen.«

Kurzes, eisiges Schweigen. Darauf antwortete die Dame: »Den kann ich Ihnen nicht geben.«

»Wieso nicht?«, fragte ich überrascht zurück.

Sie musterte mich einige Sekunden. »Warten Sie mal«, sagte sie nun angespannt, stand auf und ging ins Nachbarzimmer. Die Tür fiel hinter ihr zu. Ich stand da und wartete. Dann ging die Tür wieder auf und sie sah mich an. »Herr Heller, kommen Sie, Dozent Gerlach möchte Sie sprechen.« Sie ließ die Tür offen und kehrte an ihren Platz hinter dem Schreibtisch zurück.

Ich trat ein. Noch nicht ganz im Zimmer polterte der Dozent in einem scharfen Ton los: »Was fällt Ihnen eigentlich ein, in einer öffentlichen Gaststätte reaktionäre Lieder zu singen?«

Da war ich platt. Dass der wusste, was wir vor zwei Tagen in einer Prenzlauer Kneipe gesungen hatten, überraschte mich nun doch.

Langsam schloss ich die Tür hinter mir und versuchte so ein wenig Zeit zu gewinnen, während mein Gehirn rasend daran arbeitete, was ich sagen sollte. Der Dozent saß hinter seinem Schreibtisch und starrte mich grimmig an.

»Das waren Studentenlieder, nichts Politisches und schon gar nichts Reaktionäres«, antwortete ich, als wäre nichts dabei, solche Lieder zu singen.

Na, da hatte ich vielleicht was gesagt. Gerlachs Augen verengten sich augenblicklich. »Was? Oh alte Burschenherrlichkeit ist nicht reaktionär? Das haben die Burschenschaften gesungen und wo das hingeführt hat, wissen wir ja!«, entgegnete er mit erhobener Stimme. »Und Die Gedanken sind frei ist nicht politisch?«

»Das wurde in den napoleonischen Freiheitskriegen gesungen«, wandte ich kleinlaut ein.

Sein Hals schwoll an, dick traten die Halsvenen hervor und sein Kopf wurde ganz rot. »Das weiß ich auch«, schrie er. »Erkennen Sie denn nicht die Brisanz, den Zusammenhang? Bei uns heute, in einer Kneipe, von so einer Meute gesungen, ist das eine Provokation. Das soll doch suggerieren, dass es bei uns keine Gedankenfreiheit gibt.«

»So habe ich das noch gar nicht gesehen«, antwortete ich leise und so unbedarft, wie es mir möglich war.

»Mensch, Heller, wie konnten Sie sich dazu nur hinreißen lassen. Sie sind doch ein intelligenter junger Mann. Haben Sie denn bei uns gar nichts gelernt? Der Klassenfeind wartet doch nur auf solche Aktionen. Wer mit solchen Elementen paktiert, ist an einer sozialistischen Hochschule nicht tragbar«, fuhr Gerlach mit ernster und aufgebrachter Miene fort.

Nun bekam ich es doch mit der Angst. Mir stand der Schweiß auf der Stirn. Um ihn nicht erneut zu provozieren, sagte ich lieber nichts mehr.

Allmählich regte er sich wieder ab. »Wenn das noch einmal vorkommt, fliegen Sie. Und halten Sie sich von solchen Leuten zukünftig fern. Haben wir uns da verstanden?« Er musterte mich auffordernd.

Ich nickte. Wie ein geprügelter Hund verließ ich kurz darauf das Gebäude.

Auf dem Weg zur Mensa überlegte ich mir, wer mich da angeschwärzt haben könnte. Der Wirt? Der große Blonde? Miriam? Das Perfide an der Sache war, ich versuchte mir nach und nach alle vorzustellen, die ich gesehen hatte, und verdächtigte damit erst einmal jeden. Nur für Lukas konnte ich wirklich die Hand ins Feuer legen und dessen Kommilitonen von der Theologie kamen ja wohl auch nicht infrage. Oder?

Ich hatte mich mit Miriam wieder zum Essen in der Mensa verabredet. Danach gingen wir über den Campus, wo wir uns auf eine Bank setzten und uns die Sonne ins Gesicht scheinen ließen. Sie setzte sich eine große modische Sonnenbrille auf, steckte sich eine Duett an und genoss den Augenblick.

»Ah, meine schicke Pariserin«, sagte ich so zum Spaß, obwohl mir so gar nicht zum Scherzen zumute war.

»Schön wär’s«, antwortete sie kurz und strahlte mich an.

»Ich dachte bisher, ihr Germanisten seid alle linientreue Leute. Müsstest du nicht von Moskau träumen statt von Paris?«, fragte ich nicht ohne Hintergedanken.

Sie grinste breit. »Müsste ich wohl, ist aber nicht so.«

»Bekommst du da keinen Ärger?«, hakte ich nach.

»Wenn ich das bei uns im ML-Seminar sage, wahrscheinlich schon, aber ich sage es ja zu dir«, antwortete sie leise und hauchte Rauch in die Luft.

»Und woher willst du wissen, dass du mir trauen kannst?«, fragte ich und musterte sie dabei aufmerksam.

»Ich denke, dass ich genug Menschenkenntnis habe. Mal ehrlich, was habe ich schon Schlimmes gesagt oder getan?« Sie zuckte mit den Schultern.

Am Nachmittag musste Miriam noch einmal ins Dekanat ihrer Fakultät. Ich holte sie um 17 Uhr dort ab. Sie wirkte verstört, wortkarg, wich mir aus. Ich ahnte, was los war.

»Jetzt verstehe ich deine Fragen von heute Mittag«, sagte sie. »Warum hast du mir denn nichts gesagt?«

»Ich wusste nicht, wie ich mit dir dran bin, entschuldige«, sagte ich kleinlaut und zerknirscht. Sie war stinksauer. Wir gingen zum Hegelplatz, gleich gegenüber von ihrer Fakultät, und setzten uns dort auf eine Bank. Sie zündete sich eine Zigarette an, um sich zu beruhigen. Ich schwitzte. Nicht nur wegen der Hitze.

Nach zwei tiefen Zügen fragte sie: »Hast du jemanden in Verdacht?«

»Nein, nicht wirklich. Was haben sie denn zu dir gesagt?«, fragte ich zurück.

»Dass sie noch darüber beraten werden, ob ich weiter studieren darf, als zukünftige Deutschlehrerin, Lektorin oder Schriftstellerin hätte ich eine besondere Verantwortung.« Sie klang bedrückt.

»Und was hast du geantwortet?«

»Dass ich mir dessen bewusst bin und zu unserem Staat stehe.«

Ich schaute sie von der Seite an. »Alles klar«, sagte ich, wohl wissend, dass das, wie ich sie kennengelernt hatte, eher fraglich war.

Daraufhin sahen wir uns an und wir spürten, dass wir uns beide fragten, ob wir einander vertrauen konnten.

»Wenigstens wissen wir jetzt, dass von uns keiner der Zuträger war«, sagte ich schließlich.

Sie nickte zögerlich. »Ja, das stimmt, aber wenn ich tatsächlich von der Uni fliege, wäre das schlimm. Und das wegen so einer Lappalie.«

»Hast du eine Vermutung, wer der Informant gewesen sein könnte?«, fragte ich daraufhin flüsternd, weil sich zwei Männer auf die Nachbarbank gesetzt hatten.

»Nein, da kommen wir bestimmt auch nicht dahinter.«

Ich hatte Durst bekommen und außerdem waren mir die beiden Männer, die in Hörweite von uns saßen, nicht ganz geheuer.

»Komm, lass uns was trinken gehen«, schlug ich vor.

Sie warf die Zigarette auf den Boden, drückte sie mit dem Fuß aus und stand auf.

Wir gingen Richtung Universitätsstraße, wo es ein Bistro gab, in dem wir beide ein Wasser tranken. Von dort liefen wir zur Straße Unter den Linden und weiter bis zum Café Kiefer, wo ich ihr einen Eisbecher spendierte.

Dann bummelten wir noch weiter die Lindenstraße lang und schauten uns verschiedene Gebäude und Geschäfte an, nur um uns abzulenken. Wenigstens ließ sie es nun wieder zu, dass ich ihre Hand hielt. Trotzdem wusste ich nicht so recht, ob sie heute Nacht lieber alleine sein wollte oder ob ich bei ihr sein durfte oder vielleicht sogar bleiben sollte. Aber nun war sie es, die meine Hand nicht mehr losließ und mich weiter mit sich zog. Es war auch jetzt noch heiß, als wir mit der U-Bahn zum Prenzlauer Berg fuhren.

Kaum waren wir in ihrem Zimmer, rissen wir uns die Kleider vom Leib. Für einen Moment vergaßen wir unser Problem. Ausgepumpt und verschwitzt lagen wir schließlich auf ihrem Bett. Sie lächelte. Gleich darauf sagte sie: »Ich mache uns mal etwas zu essen«, und stand auf.

Ich streckte die Beine aus, rollte mich auf die Seite und knüllte das Kissen unter meinem Kopf zusammen, um sie gut beobachten zu können. Von hinten sah ich ihren nackten Körper mit dem herzförmigen weiblichen Becken, den langen, makellosen Beinen und dem leicht trapezförmig zulaufenden Oberkörper, über den bis zur Mitte der Brustwirbelsäule ihre vollen Haare fielen. Sie zog ihren Slip an und holte sich eine Jeans aus dem Schrank. Als sie angezogen war, fragte sie: »Möchtest du Rührei mit Speck?« »Ja, gerne«, antwortete ich und setzte mich auf die Bettkante. Mit einem gekonnten Schwung griff sie nach ihren Haaren und band sie zu einem Pferdeschwanz zusammen.

Sie hatte eine richtige Miniwohnung in einem alten, großen Mietshaus. Es war zwar nur ein Zimmer mit lauter abgewohnten und bunt zusammengewürfelten Möbeln aus verschiedenen Epochen, aber separat mit einer kleinen Küche und einem Bad.

Ich stand auf, zog meine Hose an und folgte ihr in die Küche. »Wie bist du überhaupt an diese Wohnung gekommen?«, fragte ich.

Während sie das Essen machte, erzählte sie: »Durch eine Bekannte, die hat sie mir überlassen. Sie hat hier zusammen mit einem Kubaner gewohnt und ist jetzt für ein Jahr auf Kuba. Sie meinte, vielleicht bleibt sie ganz in Kuba, vielleicht kommt sie aber auch wieder zurück, dann will sie hier wieder einziehen. Ich soll so lange die Stellung für sie halten.«

Sie nahm die Pfanne vom Herd und öffnete das Fenster, um den Rauch und den Essensdampf abziehen zu lassen, aber von draußen kam mehr schlechte Luft rein, als dass sie abzog. Das Wetter schien umzuschlagen und drückte die Abgase von den Autos in die Wohnung, vielleicht war auch irgendwo in der Nähe der Schlot von einem Betrieb, jedenfalls schloss sie gleich wieder das Fenster.

»Furchtbar, dauernd dieser Gestank hier«, schimpfte sie, »Hauptsache, die Bonzen in Wandlitz haben saubere Luft.«

Sie verteilte das Essen auf zwei Teller, gab mir zwei Flaschen Bier und zwei Gläser und sagte:

»Komm, wir essen nebenan.«

Ich folgte ihr in das für meine Begriffe mittelgroße Zimmer, setzte mich und öffnete die Bierflaschen, während sie die Teller auf den Tisch stellte. Dann drehte sie ihr Radio auf und setzte sich zu mir. Ein Hit klang aus – »Hier ist RIAS Berlin …«

»Soll ich etwas anderes einstellen?«, fragte sie.

»Bloß nicht«, sagte ich und schenkte uns Bier ein.

»Hätte mich auch schwer gewundert.« Sie lachte.

»Was willst du eigentlich mal beruflich machen?«, interessierte ich mich für ihre Pläne und trank mein Glas Bier in einem Zug aus.

»Mal sehen, wenn es klappt, würde ich nach dem Studium gerne an das Literaturinstitut nach Leipzig gehen, das hat Kultstatus«, antwortete sie zwischen zwei Bissen.

»Da willst du als Dozentin hin?« Ich sah sie überrascht an.

»Nein, wo denkst du hin«, sie lachte wieder.

Ich stocherte in meinem Essen herum. »Du willst Schriftstellerin werden?«

»Ja, warum nicht?« Sie trank einen großen Schluck Bier.

»Hier wird doch nichts veröffentlicht, was nicht dem sozialistischen Weltbild entspricht und den Segen der Partei hat«, gab ich zu bedenken, schenkte mir noch ein Glas ein und trank ebenfalls einen großen Schluck.

»Macht doch nichts, dann schreibe ich halt, was sie hören wollen.« Sie zuckte mit den Schultern und grinste mich an.

»Aber ein Schriftsteller soll doch gesellschaftliche Widersprüche aufdecken und auf Missstände hinweisen. Und wenn du das machst, dann wirst du nicht gedruckt oder bekommst Berufsverbot.« Es war mir ernst und mir war absolut nicht nach Grinsen.

»Du sagst es. Deshalb muss man beim Schildern der Realität etwas anders vorgehen.«

»Die Realität ist aber, dass wir keine Reise- und Pressefreiheit haben und es überall an den einfachsten Dingen fehlt«, entgegnete ich und haute ordentlich von dem Essen rein.

»Das muss ich ja nicht so krass ausdrücken, ich kann die Probleme in Erzählungen und Romanen diskreter beleuchten und dem Leser subtil vermitteln. Niemand muss sich gleich mit seinem Debütwerk unbeliebt machen, sondern man macht sich erst mal einen Namen damit und dann sieht man weiter«, sagte sie leichthin und aß wieder etwas von ihrem Teller.

»Das ist es eben, was ich nicht könnte, so zu tun, als ob ich auf dem Boden des Sozialismus stehe und in Wirklichkeit ganz anders denken. Deshalb habe ich mich für Medizin entschieden und nicht für Germanistik. Ich wäre auch gerne Schriftsteller geworden, aber permanent zu buckeln und nur zu schreiben, was das Kulturministerium und die Partei wünschen, das könnte ich nicht.« Miriam schwieg, stand auf und holte noch eine Flasche Bier. »Die letzte«, sagte sie.

Darauf schob ich nach: »Die Medizin finde ich auch sehr interessant aber … ach was soll es.«

Ich schenkte mir ein weiteres Glas ein, fühlte mich jedoch nun irgendwie unzufrieden und bedrückt.

»Der Sozialismus an sich ist doch gar nicht so verkehrt, nur der Weg dorthin muss anders verlaufen«, sagte sie jetzt.

»Ja, wahrer Sozialismus vielleicht, aber wo gibt es den schon. Ganz zu schweigen davon, was auf dem Weg dahin alles passiert«, antwortete ich.

»Kennst du den Sputnik?«, fuhr sie fort.

»Die Zeitschrift?«

»Ja, die sowjetische Monatszeitschrift, die auch bei uns auf Deutsch erscheint.«

»Nur vom Namen her«, brummte ich und trank das Bier aus.