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Das Werk "Feuer im Schloß" ist ein 1960 veröffentlichter Kriminalroman von Edgar Wallace. Der Originaltitel lautet "The Coat Of Arms". Richard Horatio Edgar Wallace (* 1. April 1875 in Greenwich, London; † 10. Februar 1932 in Hollywood, Kalifornien) war ein englischer Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur, Journalist und Dramatiker. Wallace gehört zu den erfolgreichsten englischsprachigen Kriminalschriftstellern.
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Seitenzahl: 187
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Die häßlichen roten Backsteingebäude auf der Höhe von Sketchley Hill hießen offiziell ›Landesirrenanstalt‹, aber in der Gegend wurden sie allgemein ›das Asyl‹ genannt. Nur die ältesten Leute konnten sich noch daran erinnern, welch heftigen Widerstand die Bevölkerung seiner Errichtung entgegengesetzt hatte, aber die Beamten, die es anging, waren vernünftig und erklärten, daß Geisteskranke doch auch ein Anrecht darauf hätten, etwas von der Schönheit der Natur zu genießen, und daß dieser wunderbare Ausblick nach allen Seiten sicher wohltuend auf sie wirken würde.
Diese Auseinandersetzung hatte sich vor langer Zeit abgespielt, als der ›Alte‹ noch ein junger Mann war und mit düsterem Gesicht durch Wälder und Felder streifte und merkwürdige Pläne schmiedete. Aber schon bald fürchtete man, seine phantastischen Gedanken könnten sich gemeingefährlich auswirken, und so ließ man ihn von drei Ärzten untersuchen, die ihn die gleichgültigsten Dinge fragten – so kam es ihm wenigstens vor – und die ihn danach in geschlossenem Wagen in die Anstalt brachten.
Dort lebte er dann viele Jahre. Inzwischen rasten Kriege und Revolutionen über die Erde, wurden Könige von ihren Thronen verbannt und die leichten Kutschwagen von den Landstraßen, wo jetzt Autos in großen Staubwolken dahinsausten.
Manchmal fühlte der ›Alte‹ eine unstillbare Sehnsucht, aus den hohen roten Mauern herauszukommen, wieder unter normalen Menschen zu leben. Von seinem Fenster aus konnte er die Giebel von ›Arranways Hall‹ sehen. Seit vierundvierzig Jahren schaute er nun immer durch dasselbe Fenster auf dieselben Giebel.
Aber eines Nachts konnte er es nicht mehr aushalten; die Sehnsucht nach den Wäldern und einem Leben in Freiheit wurde übermächtig in ihm. Er dachte an die Höhlen, an die Stellen im Wald, wo er als Junge unter den großen Farnen geträumt hatte, an den Steinbruch mit den senkrecht abfallenden Wänden und dem tiefen Teich davor. Leise stand er auf, kleidete sich an, verließ sein Zimmer und ging die Treppe hinunter. In der Hand trug er einen schweren Hammer, den er vor einiger Zeit gestohlen und seither versteckt hatte.
Unten in der Halle schlief der Wärter – der ›Alte‹ schlug ihn mit dem Hammer mehrmals auf den Kopf. Der Mann gab keinen Ton von sich. Der ›Alte‹ nahm den Schlüsselbund und schloß die Türen auf. Dann eilte er durch den Garten und war bald darauf durch das große Tor verschwunden. Mit seinem weißen, unordentlichen Bart sah er richtig unheimlich aus, als er in den frühen Morgenstunden kurz vor Sonnenaufgang durch die kühlen Wälder von Sketchley strich. Am Rande des Steinbruchs setzte er sich schließlich hin und versank in Träumereien, während er in das stille Wasser des Teichs tief unter sich starrte.
*
Mr. Lorney, der neue Wirt des Gasthauses in Sketchley, wollte sich nicht an der Verfolgung des Entsprungenen beteiligen. Er war ein großer, breitschultriger Mann mit kahlem Kopf und harten Zügen. Seine Stimme klang energisch, und er trieb sein Personal ständig zur Arbeit an. Bei der Jagd mitzumachen, hatte er keine Lust, soweit fühlte er sich für das Allgemeinwohl doch nicht mitverantwortlich.
Er wohnte erst seit kurzem in Sketchley und wurde deswegen von den Einheimischen mit einem gewissen Mißtrauen beobachtet, das er in gleichem Maße erwiderte. Er wettete dauernd, aber mit Verstand. Ab und zu fuhr er nach London, und selbstverständlich besuchte er alle Rennen in der Umgegend. Trotzdem konnte man nicht sagen, daß er sein Geschäft irgendwie über seiner Liebhaberei vernachlässigte. Von Anfang an hatte er sich vorgenommen, für besser gestellte Leute Wochenendappartements einzurichten. Deshalb baute er das etwas verfallene Haus um, das noch aus der Tudorzeit stammte. Auch den verwilderten Garten hatte er neu angelegt und die Fassade des Gasthauses frisch gestrichen.
Die Reporter, die nach Sketchley kamen, um über den geflüchteten Geisteskranken zu berichten, fanden bei Mr. Lorney ein bequemes und gutes Quartier. Obwohl sie wenig wirklich Neues entdeckten, von dem ›Alten‹ ganz zu schweigen, verfaßten sie die sensationellsten Artikel. Spaltenlang beschrieben sie die aufregenden Streifen durch die Wälder und die geheimnisvollen Höhlen, die noch niemand genau untersucht hatte. Von den Landleuten ließen sie sich allerhand Geschichten über den ›Alten‹ erzählen; außerdem war auch noch über den toten Wärter zu berichten, dessen geheimnisvolle Vorahnung seines Todes jetzt von seinen Freunden bestätigt wurde und dessen Begräbnis viel Stoff zum Schreiben lieferte.
Aber nach einer Weile, als von dem ›Alten‹ immer noch keine Spur zu entdecken war, versiegte das Interesse der Öffentlichkeit, und die Furcht der Leute in den umliegenden Dörfern schlief ein.
»Je eher die Sache vergessen wird, desto besser«, meinte John Lorney. »Für uns ist der Fremdenverkehr von größtem Interesse. Wenn die Gäste immer an den ›Alten‹ mit dem Hammer erinnert werden, bekommen wir eine schlechte Saison.«
Man nahm an, daß der ›Alte‹ tot sei oder sich in eine andere Gegend verzogen habe.
*
Aber dann tauchte der ›Alte‹ plötzlich doch wieder auf. Man sah ihn in derselben Nacht, als in ›Tinsden House‹ silbernes Geschirr im Wert von etwa tausend Pfund gestohlen wurde. Ein Arbeiter, dessen Frau krank war, ging auf der Straße auf und ab und erwartete die Ankunft des Arztes. Plötzlich sah er, daß sich eine Gestalt aus dem Schatten einer Hecke löste, über die Straße rannte und in der nahen Schonung verschwand. Im Mondlicht erkannte er den weißen Bart des ›Alten‹. Als der Doktor ankam, hatte er zwei Patienten zu versorgen.
Die Bewohner von Sketchley fingen wieder an, alles zu verriegeln, und niemand traute sich nachts allein auf die Straße.
Aus Guildford und sogar von Scotland Yard wurden Kriminalbeamte nach Sketchley geschickt, und der Polizeidirektor hielt eine Konferenz ab.
Während sich noch alle Leute über den ersten Einbruch den Kopf zerbrachen, wurde in einem nahegelegenen Schloß ein zweiter verübt. Diesmal sah der Chauffeur des Postautos, das von Guildford nach London fuhr, einen weißhaarigen Mann in abgetragenen Sachen auf der Landstraße entlangwandern.
Chefinspektor Collett kam von London und ließ sich die Personalakten des Geisteskranken zeigen, aber er konnte keinen Anhaltspunkt finden, der ihm half, das Geheimnis aufzuklären.
»Entweder muß er ein erstklassiger Einbrecher gewesen sein, als er noch jung war«, sagte er kopfschüttelnd, »oder er hat das alles in der Anstalt gelernt. Das wäre nicht das erste Mal. Ich kann mich ganz genau auf so einen Fall besinnen ...«
Der dritte Einbruch geschah in ›Arranways Hall‹. Lord Arranways hörte mitten in der Nacht ein Geräusch, ging in das Schlafzimmer seiner jungen Frau und weckte sie.
»Wenn ich mich nicht irre, ist unten ein Fenster eingedrückt worden«, sagte er leise. »Ich gehe einmal hinunter und schaue mich um.«
»Warum verständigst du nicht jemanden vom Personal?« fragte sie ängstlich, stand auf, schlüpfte in ihren Morgenrock und folgte ihm durch den dunklen Gang die breite Treppe hinunter. Er flüsterte ihr zu, daß sie oben bleiben solle, aber sie schüttelte nur den Kopf. Vorsichtig ging er durch die stille Eingangshalle und öffnete die Tür zur Bibliothek. Im gleichen Augenblick sprang jemand aus dem Schatten und war deutlich in der offenen Glastür zu erkennen. Der Lord riß den Revolver hoch und drückte ab. Gleich darauf hörte man, daß Glas splitterte.
»Warum hast du das getan?« fragte er ärgerlich.
Als er die Waffe hob, hatte sie seinen Arm in die Höhe geschlagen, so daß der Schuß in den Kristalleuchter ging und Scherben von der Decke fielen.
»Warum wolltest du auf den alten Mann schießen? Hast du nicht seine weißen Haare gesehen?«
Der Lord hatte ein reizbares, jähzorniges Wesen. Er war zum zweitenmal verheiratet. Das Verhalten seiner zweiten und sehr jungen Frau regte ihn manchmal auf.
»Der Kerl war wahrscheinlich schwer bewaffnet«, brummte er. »Du hast dich verrückt benommen!«
Sie lächelte und ging zu der offenen Tür, die auf die Terrasse führte. Nirgends war etwas von dem alten Mann zu sehen. Hastig angekleidete Diener eilten die Treppe herunter, und alle Räume im Erdgeschoß wurden durchsucht. Es stellte sich heraus, daß einer der zwei goldenen Becher, die Charles I. dem siebenten Grafen von Arranways geschenkt hatte, verschwunden war.
Eddie Arranways lief eine Woche lang mit düsterem Gesicht herum und war seiner Frau böse.
Der ›Alte‹ war wieder das Gespräch des Tages.
Carl Rennett, ein ehemaliger Beamter der Kriminalpolizei von New York, las in der Zeitung von diesen Vorfällen. Er war gerade von einer fruchtlosen Verfolgung zurückgekehrt, die ihn um die halbe Erdkugel geführt hatte. Eingehend studierte er alle Berichte und Einzelheiten über die Einbrüche, packte dann seine Koffer und fuhr nach England. An demselben Tag, da er in Southampton ankam, gewann Mr. Lorney fünfzigtausend Pfund auf der Rennbahn.
Rennett begab sich sofort zu Scotland Yard und zeigte Chefinspektor Collett seine Beglaubigungsschreiben und den Empfehlungsbrief, den er von seiner vorgesetzten Behörde in New York mitbekommen hatte. Collett hörte interessiert zu, während der Amerikaner erklärte, warum er nach England gekommen war.
»Wir werden Ihnen helfen, soviel wir nur können, aber Sie wissen ja selbst, daß Scotland Yard außerhalb Londons nichts zu sagen hat. Die ganze Angelegenheit befindet sich mehr oder weniger in den Händen der lokalen Polizeibehörde. Man nimmt an – und wir sind eigentlich derselben Meinung –, daß der ›Alte‹ seine Kenntnisse von einem Mitinsassen des Irrenhauses hat. Soweit wir die Akten kennen, hat er früher keine Verbrechen begangen. Zweifellos trägt er alle gestohlenen Sachen irgendwo zusammen, um sie dort einfach zu horten. Das war von jeher eine seiner hervorstechendsten Charaktereigenschaften. Wir haben uns sofort mit allen Juwelieren in Verbindung gesetzt, aber bis jetzt ist nicht ein einziges der gestohlenen Stücke wieder auf dem Markt erschienen. Wahrscheinlich stiehlt er nur, um zu stehlen, und sicher werden wir eines schönen Tages alle gestohlenen Dinge unangetastet an einer Stelle aufgestapelt finden.«
»Wo hält er sich denn normalerweise auf?«
Collett lächelte und zuckte die Achseln.
»Das war allerdings eine etwas alberne Frage«, gab Rennett sofort zu. »Aber vermutlich hat er doch in einer der Höhlen sein Versteck.«
»Die Höhlen sind nie restlos durchsucht worden. An manchen Stellen ziehen sie sich kilometerweit hin. Wenn der ›Alte‹ sterben sollte, was ja nicht mehr lange dauern kann, dann werden wir wahrscheinlich nichts finden. Andererseits ist es möglich, daß er etwas Außergewöhnliches unternimmt und wir ihn auf diese Weise fangen. Die ganze Gegend dort ist in Unruhe.«
Collett sah den Amerikaner prüfend an. »Sie sind doch eine Autorität auf dem Gebiet des Einbruchs, nicht wahr?«
»Ja, das ist meine Spezialität«, entgegnete Rennett ruhig. »Ich habe sogar ein Buch darüber geschrieben.«
Noch am selben Nachmittag fuhr er nach Sketchley, und während der Fahrt dachte er dauernd an Billy Radley, der sich gegenwärtig in der Umgebung von Guildford aufhalten sollte. Aber würde er auch dessen gerissenen Partner dort finden?
Lord Arranways war in seiner ersten Ehe nicht glücklich gewesen. Sie hatte mit einem schrillen Mißklang geendet, als er noch Gouverneur von Nordindien war.
Die Beamten des englischen Geheimdienstes sind sehr tüchtig und oft in der Lage, irgend etwas Unangenehmes wieder zurechtzubiegen, aber in diesem Fall fanden sie es doch schwierig, wenigstens eine passende Erklärung abzugeben. Eines Morgens wurde nämlich ein hübscher junger Offizier mit einem Schulterschuß im Garten des Gouverneurs gefunden, während Lady Arranways im Neglige ins Haus des Militärattaches geflohen war, wo sie in Weinkrämpfe ausbrach und sich weigerte, wieder in das Haus ihres Mannes zurückzukehren. Der Lord mußte daraufhin von seinem Posten zurücktreten, und es kam zur Scheidung. Aber schon kurze Zeit nach diesem Zwischenfall traf Eddie Arranways ein schönes junges Mädchen aus Kanada und heiratete es bald darauf.
Er war ein großer, stattlicher Mann, der äußerst attraktiv auf Frauen wirkte. Auch Mary Mayford war von seiner Persönlichkeit und seiner äußeren Erscheinung gefesselt, aber sie empfand gleichzeitig Furcht vor ihm, als sie von dem tragischen Ende seiner ersten Ehe hörte. Die Schattenseiten seines Charakters erkannte sie schon, als die Flitterwochen kaum vorüber waren. Argwöhnisch und verbittert, wie ihn der Ausgang seiner ersten Ehe gemacht hatte, überhäufte er Mary manchmal mit den sinnlosesten Vorwürfen. Dauernd fragte er sie, wo und mit wem sie in seiner Abwesenheit zusammen gewesen war. Er begab sich auf eine längere Reise, ließ sie aber zu Hause und kehrte schon am nächsten Morgen völlig unerwartet wieder zurück. Seine selbstgerechte und egoistische Art wirkte abstoßend auf sie, und wenn er, wie öfters, sagte: »Du mußt schon verstehen, daß ich so bin, ich habe eben in meiner ersten Ehe zuviel durchgemacht, als die Frau, der ich so vollkommen vertraute ...«, dann hatte sie das Gefühl, platzen zu müssen.
»Mir ist deine erste Ehe völlig egal!« schrie sie ihn einmal an. »Wenn ich aber deine erste Frau einmal treffen und die Sache mit ihr besprechen würde, so bin ich sicher, daß sich die Geschichte ganz anders anhört, als du sie hier darzustellen beliebst!«
Natürlich war er beleidigt und machte die nächsten Tage keine Anstrengungen, seine schlechte Laune zu verbergen.
Sogar Dick Mayford wurde nach Arranways eingeladen, um die Gegensätze zu überbrücken.
»Sie ist so unvernünftig!« beklagte sich der Lord. »Du weißt doch, was ich in Indien durchgemacht habe – natürlich lassen solche Erlebnisse ihre Narben zurück. Es wird noch Jahre dauern, bevor ich darüber hinwegkomme.«
Eddie ließ sich von seinem Schwager manches sagen, was er sich von einem anderen verbeten hätte, und so kam es tatsächlich zu einer Versöhnung zwischen ihm und seiner Frau. Er schenkte Mary ein kostbares Feuerzeug, das ihr Monogramm in Brillanten trug, und sie war gerührt von seiner offensichtlichen Reue.
Als aber Lord Arranways zwei Monate später nach Washington reisen mußte, erfuhr sie durch ihr Mädchen, daß er Detektive zu ihrer Überwachung engagiert hatte.
Dick Mayford mußte wieder Frieden stiften.
Er schlug eine Erholungsreise nach Ägypten vor, und Eddie benahm sich während des größten Teils der Fahrt wirklich einwandfrei. Die guten alten Beziehungen zwischen ihm und Mary schienen wiederhergestellt zu sein.
Bei einem Rennen in Kairo traf der Lord einen sympathischen jungen Mann, der sich als Keith Keller vorstellte und der Sohn eines reichen australischen Großgrundbesitzers war. Keith hatte englische Schulen besucht, benahm sich entsprechend korrekt, war immer äußerst elegant gekleidet, schien ein guter Sportler zu sein und behandelte den Lord mit der größten Zuvorkommenheit. Für Mary schien er sich kaum zu interessieren. Ständig war er in Gesellschaft des Lords zu sehen, und eines Tages erzählte er Eddie sogar von einer jungen Australierin, mit der er sich nach seiner Europareise verloben wollte. Daß er sehr genau über Lord Arranways' Verhältnisse Bescheid wußte, ahnte dieser nicht.
Den fast dreihundert Seiten langen Bericht, den Lord Arranways über die verschiedenen Arten des Grundbesitzes in Indien geschrieben hatte, las Mr. Keller von Anfang bis Ende durch und unterhielt sich anschließend äußerst angeregt mit dem Autor darüber. Nach einer Weile ertappte sich der Lord dabei, wie er dem jungen Mann die Geschichte seiner ersten Ehe in allen Einzelheiten erzählte. Natürlich gab Mr. Keller ihm völlig recht und sicherte sich dadurch die Sympathie des Lords.
Diese neue Freundschaft amüsierte Dick Mayford und erregte das lebhafte, wenn auch verheimlichte Interesse von Lady Arranways.
Eines Abends bat Lord Arranways Mr. Keller, seine junge Frau nach einer Opernaufführung zurück ins Hotel zu begleiten. Er selbst hatte einen Kriegskameraden getroffen und wollte mit ihm noch ein wenig im Klub in alten Erinnerungen schwelgen.
Mr. Keller brachte Lady Arranways im Wagen nach Hause. Während der Fahrt lag seine eine Hand am Volant, die andere in der ihren. Sie schien nichts dagegen zu haben. Auch als er sie küßte, bevor sie das Hotel erreichten, wehrte sie sich nicht. Er begleitete sie hinauf in ihr Appartement, blieb aber nicht lange. Als er sich verabschiedete, küßte er sie leidenschaftlich.
Der Lord, seine Frau und ihr Bruder reisten in Etappen in die Heimat zurück. Mr. Keller blieb in ihrer Gesellschaft. Die schönsten Tage des Frühlings erlebten sie in Rom. Weitere Stationen waren Venedig, das romantische Salzburg und Wien.
Als Mary eines Nachmittags das ›Bristol‹ in Wien verließ, sah sie einen Herrn auf dem Bürgersteig gegenüber dem Hotel. Er war groß, neigte etwas zur Korpulenz und trug eine dunkle Hornbrille. Zuerst bemerkte sie ihn nur flüchtig, als sie ihn jedoch kurze Zeit darauf noch einmal erblickte, machte sie ihren Bruder, der sie begleitete, auf ihn aufmerksam.
»Der sieht ganz wie ein Amerikaner aus«, sagte sie.
»Wie soll denn ein Amerikaner eigentlich aussehen?« erwiderte Dick leichthin, fügte aber ernster werdend hinzu: »Wie lange bleibt eigentlich dieser Keller noch bei uns?«
»Wieso?«
»Hat er sich etwa selbst eingeladen?«
Sie zuckte die Schultern.
»Eddie hat ihn gern, und er ist doch wirklich amüsant oder findest du nicht?«
Dann wechselte sie das Thema. »Stell Dir vor, ich habe heute einen Brief von den Pursons bekommen. Sie schreiben nur über den ›Alten‹.«
Dick runzelte die Stirn. Den Geisteskranken hatte er vollständig vergessen.
»Kannst du dich noch auf den Kriminalbeamten besinnen, der damals nach Arranways kam?« fragte sie unvermittelt. »Er hieß doch Collett, nicht wahr?«
Dick nickte.
»Er nahm doch an, daß der ›Alte‹ etwas ganz Verrücktes tun würde?«
Er bejahte.
»Er hat es schon getan. Das ganze Silberzeug, das den Pursons gestohlen wurde, ist wieder zurückgebracht worden. Als der Diener eines Morgens in die Eingangshalle kam, entdeckte er, daß ein Fenster von außen gewaltsam geöffnet worden war. Und auf dem großen Tisch in der Mitte war alles gestohlene Silber ordentlich wieder aufgebaut. Irgend jemand soll auch den ›Alten‹ beobachtet haben, wie er in der Nacht vorher am Waldsaum entlangschlich und einen schweren Koffer schleppte. Das ist wirklich das Sonderbarste, was seit langem bei uns passiert ist! Ich hoffe nur, daß er auch den goldenen Becher nach Schloß Arranways zurückbringt. Eddie kann das einfach nicht vergessen und fängt immer wieder davon an.«
»Kommt Keller mit uns nach England?«
Sie wandte sich halb um und sah ihren Bruder groß an.
»Warum fragst du?« Ihre Stimme hatte einen eisigen Ton und ihre schönen Augen einen harten Ausdruck.
»Ach, es interessiert mich nur.«
»Warum sprichst du denn nicht mit ihm selbst darüber? Ich kann doch nicht wissen, was er vorhat. Um Himmels willen, laß doch diesen Unsinn. Eddie quält mich schon genug.«
»Wo warst du gestern nachmittag?« Dick ließ sich nicht so schnell von etwas abbringen, und schon gar nicht von einem Verdacht. »Du bist doch mit Keller ausgegangen.«
»Ja – und der Chauffeur war auch dabei. Wir sind zu einem Restaurant im Wienerwald gefahren. Den Namen habe ich vergessen. Eddie wußte übrigens, daß wir diesen Ausflug machen wollten, er hat ihn sogar selbst vorgeschlagen, und wir haben ihn auch dort getroffen.«
Dick nickte.
»Ja, um halb fünf wart ihr verabredet. Ich habe gehört, wie er es dir sagte. Aber du bist doch schon kurz nach eins vom Hotel fortgefahren, und in einer knappen halben Stunde kann man hinkommen.«
Sie seufzte ungeduldig.
»Wir fuhren durch den Prater. Irgendwo haben wir Kaffee getrunken. Dann haben wir uns noch Schönbrunn angesehen. – Hast du noch mehr Fragen? Der Chauffeur war doch die ganze Zeit dabei.«
»Das stimmt nicht. Den habt ihr im Prater zurückgelassen und zwei Stunden später wieder dort abgeholt«, erklärte Dick ruhig. »Mach nicht so ein beleidigtes Gesicht, meine Liebe. Ich wollte dir nicht nachspionieren, ich war nur zufällig mit einem Herrn von der amerikanischen Gesandtschaft im Prater und sah, wie ihr den Chauffeur absetztet. – Mary, laß doch die Dummheiten!«
Sie antwortete nicht.
Mit Eddie war in Wien schwer auszukommen, und in Berlin benahm er sich ebenso unfreundlich – gegen alle außer Keith Keller.
Seine schlechte Laune riß überhaupt nicht ab, wenn man auch zugeben mußte, daß sie immer wieder neue Nahrung erhielt. In Berlin verlor Mary nämlich ein Brillantarmband, das sie zur Hochzeit bekommen hatte. Sie war im Theater gewesen, hatte nachher im ›Eden‹ zu Abend gegessen und getanzt und war gegen ein Uhr ins ›Adlon‹ zurückgekehrt. Das Armband hatte sie zusammen mit ihrem anderen Schmuck auf ihren Frisiertisch gelegt, und am Morgen war es verschwunden. Das Fenster war oben offen, die Tür verschlossen, und Mary hatte, wie Eddie wußte, einen leichten Schlaf.
Drei Kriminalbeamte durchsuchten das Zimmer eingehend. In dem Raum selbst ließen sich keine Anhaltspunkte dafür finden, daß jemand von außen durch das Fenster eingedrungen war. Die einzige Möglichkeit bestand darin, daß der Dieb durch das Badezimmer gekommen war, dessen Fenster auf einen Lichtschacht ging.
Der Lord machte seinem Ärger Luft: »Ich kann es einfach nicht verstehen. Wie kannst du so leichtsinnig sein! Du kannst das Armband doch unmöglich mehr angehabt haben, als du dein Zimmer betratest. Und warum sollte der Verbrecher nur das Armband nehmen und alle anderen Schmucksachen liegenlassen?«
»Das weiß ich auch nicht. Frag doch die Polizei!« Sie war blaß und auch nicht in der besten Stimmung. »Ich kann nicht beschwören, daß ich das Armband in meinem Zimmer abgenommen habe. Vielleicht hab' ich es auch im ›Eden‹ verloren.«
So ging es die ganze Zeit, während sie sich in Berlin aufhielten.
An dem Morgen, wo sie Berlin verließen, bestellte Mary Blumen für die Frau des englischen Gesandten und schlenderte nachher noch ein bißchen durch die Straßen. Sie hatte nur den Wunsch, allein zu sein.
Plötzlich fiel ihr Blick auf einen Herrn, den sie sofort wiedererkannte. Es war der große, etwas korpulente Amerikaner, den sie schon in Wien beobachtet hatte. Er trug denselben alten braunen Anzug und schien tief in Gedanken versunken zu sein. Mary machte halt, ließ ihn vorübergehen und wandte sich dann zur anderen Seite, um in ihr Hotel zurückzukehren. An einer Straßenecke sah sie über die Schulter zurück und entdeckte, daß er ihr in nicht allzu großem Abstand folgte.
Sie sprach mit ihrem Bruder darüber, aber ihre Worte machten auf Dick keinen besonderen Eindruck.
»Es gibt überall Amerikaner«, erwiderte er gleichmütig. »Übrigens hat Eddie eine neue Theorie bezüglich deines Armbands.«
»Und ich habe einige Theorien bezüglich Eddies, die wahrscheinlich nicht so neu sind, wie sie sein sollten«, entgegnete sie kurz und schnippisch.
Beim Abendessen brachte Eddie das Gespräch wieder auf das verlorene Schmuckstück.
»Erinnerst du dich, wo du nach dem Abschließen der Tür die Schlüssel aufgehoben hast?«
»Eddie, du machst mich noch verrückt mit deiner Hartnäckigkeit! Bitte, laß mich jetzt mit diesem Unglücksarmband in Ruhe, sonst garantiere ich für nichts mehr!«
Eddie sprach erst wieder mit ihr, als sie in England ankamen.
Keith Keller hatte keine weiteren Pläne, wie er Lord Arranways erklärte. Bis zur Ankunft seiner Braut, die jetzt bald nach England kommen sollte, da die Hochzeit hier stattfinden würde – »Sie sind natürlich unsere Gäste bei der Trauung und dem anschließenden Essen«, versäumte er nicht einzuflechten –, würde er London besichtigen und inzwischen in einem Hotel wohnen. Aber davon wollte der Lord nichts hören.
»Mein lieber Junge, das wäre doch wirklich nicht sehr gastfreundlich, wenn ich Sie nicht auf ein paar Wochen nach ›Arranways Hall‹ einladen würde«, meinte er großartig. »Dann werde ich Ihnen einmal den Plan für die Eisenbahn zeigen, den ich seinerzeit dem Vizekönig von Indien vorgelegt habe. Wenn er durchgeführt worden wäre ...«
Mr. Keller hörte andächtig zu.
Bald nach ihrer Ankunft in ›Arranways Hall‹ ging Dick zum Gasthaus hinunter, um seine alte Bekanntschaft mit dem Wirt zu erneuern. Er war erstaunt, wie sehr sich das Gebäude zu seinem Vorteil verändert hatte.
»Das sieht ja mehr wie ein Kurhotel aus«, zog er den Wirt auf.
John Lorney lächelte zufrieden.
»Wir haben auch wirklich gute Gäste hier, obwohl der ›Alte‹ wieder in der Gegend ist.«
»Hat man ihn denn noch nicht gefangen?«
»Ach, keine Spur, und ich glaube, das bringt auch niemand fertig.«
Er sah sich in der Gaststube um und sprach dann leise weiter.
»Meiner Meinung nach gibt es überhaupt keinen ›Alten‹. Dieser Einbrecher bringt die gestohlenen Sachen aus einem Grund zurück, den wir nicht verstehen. Er muß ein Mann sein, der hier in der Gegend wohnt oder gewohnt hat und alle Wege genau kennt. Dreimal hat er schon versucht, hier im Gasthaus einzubrechen, wenigstens ist er dreimal draußen auf dem Rasen gesehen worden. Und sicher hat er nicht die Absicht gehabt, ein Zimmer zu mieten.«
»Wann hat man ihn denn zuletzt gesehen?«
»Seit Ihrer Abreise ist er nicht mehr bemerkt worden.«
Dick starrte ihn an.
»Hat er denn den Pursons nicht die gestohlenen Sachen zurückgebracht?«
Lorney bejahte.
»Das war in der Nacht vor Ihrer Abfahrt.«
»Aber meine Schwester hat doch einen Brief bekommen, und zwar in Ägypten, in dem die Pursons ihr schrieben, daß der ›Alte‹ die Silbersachen wieder zurückgebracht hat?«
»Nun, Briefe nach Ägypten sind ziemlich lange unterwegs. Nach Ihrer Abreise hat er sich jedenfalls nicht mehr blicken lassen.« Der Wirt nahm ein Tuch und fuhr damit über den schon spiegelblanken Schanktisch.
»Es ist ein junger Mann mit Ihnen zurückgekommen, den ich früher nicht hier gesehen habe«, meinte er.
»Ach, Sie meinen Mr. Keller?«
»Er sieht gut aus. Ich sah ihn, wie er mit Mylady heute morgen nach Hadley fuhr.«