Feuer über dem Meer - Stiga Welkind - E-Book

Feuer über dem Meer E-Book

Stiga Welkind

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Beschreibung

Stine, gerade zwölf geworden, steht unter Schock. Keine zwei Monate zuvor starb ihre Mama an der schlimmen Krankheit. Aber jetzt will Papa, dass sie, zusammen mit ihren jüngeren Schwestern Lina und Leonore den Sommer über bei ihrem Großvater auf der Insel verbringt, auf der Mama aufgewachsen war. Dabei kennt Stine ihn nur von Begräbnissen und versteht überhaupt nicht, warum sie überhaupt hier sein sollten. Aber Papa meint, dass sie etwas anderes kennenlernen sollten und mehr über ihre Mama erfahren könnten, wenn sie ihren Großvater besser kennenlernen würden. Und dann ist da Tom, der Junge aus ihrer neuen Klasse. Eigentlich findet sie ihn nett, nicht so aufgeblasen oder blöd, wie die Jungen in ihrer Schule zuhause. Aber seine Idee, dass Menschen wiedergeboren werden könnten, wie sein Onkel offenbar erzählt, irritiert sie. Jedoch, wenn es stimmen würde, könnte Mama vielleicht wirklich irgendwo auf dieser Welt wieder am Leben sein. Und sie müssten nur herausfinden, wo das sei...

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INHALTSVERZEICHNIS

WEGSEIN

FREMDSEIN

HIERSEIN

GIFTIGE PILZE

WUNTAR

ENNE

FRAGEN

DER LEUCHTTURM

FISCHGRÄTEN

WANN WIR STERBEN

ALLES GANZ ANDERS?

PAPA

FUNKSIGNALE AUS EINER ANDEREN WELT

LICHT

AUF DEM MEER

DAS WUNDER

ABSCHIED NEHMEN

DANKSAGUNG

WEGSEIN

Das Schiff schaukelte und brach mit voller Wucht durch die Wellen. Der Wind peitschte und trieb den Regen in Böen über das Deck. Ich konnte die Wellenbewegungen spüren, wie sie das Schiff nach oben trugen und wie es hinter der Welle fiel: tiefer und tiefer, bevor es wieder von neuem hochgerissen wurde. Ich fragte mich, wie unser Auto, das Papa im Rumpf des großen Schiffes geparkt hatte, bei all den wilden Bewegungen an seinem Platz bleiben konnte, oder ob es nicht mit allen anderen Autos und Lkws hin und her geworfen zu einem metallenen Müllhaufen zerdrückt würde. Vom Bug des Schiffes blickte ich über das Meer, das nun immer mehr in der Dunkelheit verschwand. Und wohin ich auch schaute, sah ich überall nur Wasser. Papa meinte, am Ende der Wellen wartete auf mich und meine Schwestern eine neue und hoffentlich bessere Zeit. Ich wusste, er meinte es gut mit uns. Aber ich hatte Angst vor allem Neuen. Insbesondere, wo wir jetzt doch alles verloren hatten und ich einfach nur Ruhe haben wollte.

Mir wurde kalt. Auch das in vielen Farbschichten bemalte Metall der Reling fühlte sich eisig an. Trotzdem hielt ich mich daran fest. An allem anderen fehlte mir der Halt.

Alles um mich herum erschien mir nur wundersam und fremd und irgendwie nicht wirklich an. Seit Mama fort war, fühlte sich alles wie durch Watte an, oder wie unter Strom und übertrieben laut. Und ohne eine Hoffnung darauf, dass es besser werden könnte. Ich hatte das Gefühl, dass mich die Kräfte verließen und ich spürte die Angst, zu fallen und immer tiefer zu stürzen. Ich wünschte mir so sehr irgendwo anzukommen oder aufzuschlagen und endlich in Frieden liegen bleiben zu können ohne diesen schrecklichen, alles begleitenden Lärm. Dabei war alles wie ein Wunder.

Ich wusste, die Menschen denken, Wunder seien immer etwas Gutes, weil sie eben wunderbar seien. Dabei sind sie es doch nur, weil sie Dinge beschreiben, die wir uns nicht erklären können. So war es aber auch mit Mama. Als sie vor zwei Monaten an der schlimmen Krankheit gestorben war, hatte auch niemand erklären können, warum dies geschehen musste. Auch Papa nicht. Ich vermisste sie so sehr und verstand das alles nicht. Ich nannte Mamas Tod daher: das böse Wunder.

*

Ich wachte im Bett unserer Kajüte auf. Lina und Leonore, meine jüngeren Schwestern, waren schon auf und sprangen aufgeregt aus der Tür. Papa ließ sie vorbei, während er zwei Pappbecher über ihren Köpfen balancierte. Vor meinem Bett beugte er sich herunter und reichte mir einen der beiden.

„Willst du Kakao?“, fragte er und hielt mir den Becher hin. „Er ist noch warm.“

Ich richtete mich schlaftrunken auf und griff danach.

„Du musst aufstehen Stine, wir haben nicht viel Zeit. Das Schiff legt bald an.“

Ich wendete mich zum Bettende und hob den Kopf. Im runden Fenster über mir war der Himmel immer noch wolkenverhangen zu sehen und aus der Tiefe des Schiffes waren laute mechanische Geräusche zu hören, wie wenn Motoren Unvorstellbares vollbrachten, das in lautes Poltern umschlug.

Ich lächelte Papa an, nippte an dem Becher und spürte, wie Papa mich ansah, selbst seinen Becher zum Mund führte und einen Schluck nahm. Er lächelte zurück und streichelte meine Füße unter der warmen Decke. Das fühlte sich gut an.

„Los komm!“, sagte er. Dann nickte er mir zu.

*

Die Ladebordwand des Schiffes senkte sich langsam auf die Parkzone des Anlegers. Mit uns fuhren nur zwei weitere Autos von Bord. Papa steuerte unser Auto, einen roten 240er Volvo, von der Rampe auf den Parkplatz und hielt an, bevor sich die Bordwand hinter uns wieder hob und das Schiff ablegte. Nieselregen ließ die Fensterscheiben undurchsichtig werden und Papa schaltete den Scheibenwischer ein.

Papa war so stolz darauf gewesen, den Wagen - oder Oldtimer, wie unsere Nachbarn ihn nannten, von dem gemeinsamen Familienkonto kaufen zu können, auch wenn Mama der Ansicht gewesen war, dass es modernere Autos durchaus für einen günstigeren Preis gegeben hätte. Aber schließlich hatte sie ihm zugestimmt, weil sie Papa eben liebte und verstand, dass Papa manchmal Ideen hatte, die für Mama nicht immer gleich eins zu eins verstanden werden konnten.

Mir war nicht klar, worauf unser Vater wartete. Ich schaute Lina, meine zwei Jahre jüngere, und Leonore meine siebenjährige Schwester auf der hinteren Sitzbank vom Beifahrersitz aus an. Auch sie rätselten. Dann startete Papa den Motor und lenkte den Wagen langsam über den Parkplatz, bevor er auf die Hauptstraße einbog.

Eigentlich sollte auch ich hinten sitzen, neben meinen Schwestern, wie ich es all die Jahre zuvor getan hatte. Aber seit Mama nicht mehr da war, und ich mit zwölf Jahren nach dem Gesetz ganz offiziell vorne sitzen durfte, hatte Papa mir erlaubt, mich neben ihn zu setzen. Es fühlte sich deutlich bequemer an als auf der Rückbank, wo wir uns oft mit unseren Armen und Beinen in die Quere gekommen waren, aber irgendwie auch komisch, weil der Platz neben Papa vorne immer Mama gehört hatte – oder Papa, wenn Mama darauf bestanden hatte, den Wagen zu fahren. Ich sah in der Art, wie Lina meinen Blick verweigerte und mit ihrem eigenen Stolz aus dem Fenster starrte, dass ich diesen Platz in ihren Augen nicht verdiente. Und ich konnte sie verstehen. Auch ich fühlte mich hier nicht gut, obwohl der Ausblick auf die Straße und den Wald durch die Frontscheibe viel besser war, als wenn man nur über die Seitenfenster oder von hinten über die vorderen Sitze nach draußen schauen konnte. Hier wurde einem auch gleich viel weniger übel beim Autofahren.

Wir passierten die letzten Häuser der kleinen Ortschaft und bogen an ihrem Ausgang auf eine asphaltierte Waldstraße ab.

Leonore streckte sich aus ihrem Kindersitz nach vorne und verkündete laut: „Papa, ich glaub’ ich muss kotzen.“

Papa drehte sich hektisch um.

„Leo, Schatz, willst du aussteigen?“

Leonore wendete sich ab und starrte aus dem Fenster und meinte: „Nein!“

Papa schaute zwischen mir auf dem Beifahrersitz und Lina und Leonore im Rückspiegel hin und her und versicherte, dass, wann immer wir eine Pause bräuchten, wir Bescheid geben sollten.

Lina, Leonore und ich tauschten Blicke. Ich wusste, dass meine Schwestern erwarteten, dass ich die Frage stellte, weil ich eben die Älteste war. Ich sah in ihren Blicken, dass das meine Aufgabe sei. Sie taten so, als wenn das eine Auszeichnung wäre, verbunden mit einer Aufgabe, die ich aber nur allzu gern abgetreten hätte, wäre jemand da gewesen, sie zu übernehmen. Stattdessen blickte ich in die Gesichter meiner zehn- und siebenjährigen Schwestern, die mit dem zweiten und dritten Platz in der Rangfolge sehr zufrieden zu sein schienen, wenn es ihnen Unannehmlichkeiten abnahm. Ich schaute an Lina vorbei auf Leonore, in deren Blick ich erkannte, dass ihre Übelkeit nur vorgetäuscht war, um mich auf den Plan zu rufen.

Große Schwestern schienen diese besondere Rolle zu haben, immer für alles verantwortlich zu sein und alles regeln zu können. Das war irgendwie auch toll, weil dir niemand widersprach, auch wenn sie dich mit noch so rollenden Augen anschauten, wenn du deinen Schwestern verkündetest, dass es Zeit sei, sich die Zähne zu putzen und ins Bett zu gehen und sie dir dann auch folgten, zumindest dann, wenn niemand anderes diese Aufgabe übernahm, wie bisher Mama es getan hatte. Aber ich fragte mich, was ich besser wüsste als sie?

Auch wenn Lina mich eigentlich nicht mochte, wovon ich fest überzeugt war, wollte sie doch immer wieder, dass ich ihr sagte, dass sie ihre Hausaufgaben machen oder was sie anziehen sollte. Auch Leonore lebte eigentlich nach ihren eigenen Regeln. Aber dann, immer wieder, wurde sie ganz klein und tauchte bei mir unter und ich nahm sie dann in den Arm. Aber niemals fragte jemand, wie es mir ging. Ich fühlte mich immer nur als der Punching-Ball, und manchmal fehlte mir eine Schulter, so wie ich sie bei Mama gehabt hatte. In ihren Armen hatte ich mich geborgen gefühlt, ganz gleich, was jetzt gerade wieder schief gelaufen war in der Schule oder in meinem Leben. Es war, als ob sie schon verstanden hatte, wenn ich noch nach den richtigen Worten suchte oder gar keine hatte.

*

Der Regen, der anfangs nur schwach auf uns fiel, wurde plötzlich stärker und Papa schaltete den Scheibenwischer zwei Gänge höher. Trotzdem wurde der Blick auf die Straße immer undeutlicher.

„Wieso jetzt?“, fragte ich laut und Papa schaute mich von der Seite an.

„Stine, Liebling, das habe ich euch doch erklärt.“ Er wirkte nervös.

„Wieso sollen wir überhaupt hier sein? Ich verstehe das alles nicht.“

Papa senkte den Blick. Es schien, als müsste er nachdenken. Doch er fuhr das Auto einfach weiter. Ich schaute meinen Vater an und sah aufgeregt auf die Straße, als der Wagen seine Spur verlor und gefährlich weit auf die gegenläufige Fahrbahn zusteuerte. Ein entgegenkommendes Auto hupte uns im Regen an.

„Papa!“, rief Lina laut aus und unser Vater war im selben Moment hellwach und lenkte den Wagen zurück auf die rechte Fahrbahn. Wir starrten aufgeregt nach vorne.

Papa bremste den Wagen ab, hielt am rechten Straßenrand und drückte auf den Knopf der Warnblinkanlage. Alle Autos hinter uns wussten jetzt, dass wir in einer Notsituation waren. Lina, Leonore und ich schauten uns ängstlich an. Glaubte er wirklich, dass wir in Not seien?

Papa holte tief Luft.

„Wir alle brauchen jetzt nach dieser Zeit etwas Ruhe“, sagte er.

Ich wusste nicht, was er mit nach dieser Zeit meinte oder warum er nicht einfach von Mamas Tod sprach. Ich widersprach und sagte, dass ich diese Ruhe nicht bräuchte. Lina und Leonore nickten mir zu.

Papa wendete sich mir zu und dann zu meinen Schwestern auf der Rückbank um. Er wirkte sehr unsicher.

„Ich hab’s euch doch erklärt,“ sagte er, „Wir alle brauchen jetzt etwas…“ Er zögerte. Dann fand er das richtige Wort: „Abstand. Und etwas Ablenkung hilft sicher auch.“

Ich wurde wütend. „Ich will aber gar keine Ablenkung und überhaupt kenne ich meinen Opa nur von Beerdigungen.“

„Du hast recht“, lenkte Papa ein, „Omas Tod im vorletzten Jahr war auch sehr traurig“.

Papa suchte nach Worten, aber es schien, als fände er keine. Er senkte den Kopf und ich schaute ihn wütend an. Dann sah ich weg, weil ich seine Hilflosigkeit nicht ertrug und sie mich traurig machte. Mama hätte jede Menge Worte gehabt. Ich glaubte, sie kannte alle davon. Mama und die richtigen Worte, das war genau sie gewesen. Sie konnte immer alles sehr genau formulieren, so dass man es verstand und dass es gar keinen Zweifel darüber geben konnte, dass sie recht hatte. Wenn Mama und Papa Streit miteinander hatten, war es immer Papa, der einlenkte und nur, wenn Mama ein Einsehen hatte, dass Papa auch einmal Recht behalten sollte, trat sie von ihrer Kritik zurück und sah ihn plötzlich versöhnlich an, ergriff seinen Arm und sagte so etwas, wie: „Vielleicht stimmt es auch, wie du es siehst?“ Papa sah sie dann aber unsicher an, weil er ahnte, dass Mama das nur als Hilfsangebot gemeint hatte, damit Papa sich nicht schlecht fühlen musste.

Papa wendete sich wieder nach vorne. Kurz trafen sich unsere Blicke. Dann drehte er den Schlüssel im Zündschloss und startete den Wagen.

„Es ist nicht mehr weit. Wir sind bald da,“ sagte er und als wollte er seine Niederlage eingestehen, schaltete er das Warnsignal aus und lenkte den Wagen zurück auf die Straße.

Für den Rest der Fahrt schwiegen wir.

Lina griff nach ihrem Handy und scrollte über den Bildschirm. Dann hob sie den Blick und sah mich wie erschlagen an.

„Hier gibt es noch nicht mal Netz,“ flüsterte sie mir zu. Ich schaute auf ihr Handy und sah sie besorgt an.

Langsam ließ der Regen nach und auch die Wolken wichen der untergehenden Sonne. Und irgendwann, als sie bereits an dem – zwischen den Bäumen – vorbeifliegenden Horizont versunken war, verlangsamte Papa den Wagen.

Vor einem veralteten Wegweiser mit der Aufschrift IGAAR VENT bog Papa schließlich von der Straße auf einen schmalen Pfad ab, der über Kies zu einem Haus sehr nahe an der Küste führte. Es knirschte unter den Reifen, während wir auf das Haus zufuhren. Jetzt konnten wir auch das Meer rauschen hören und im Haus waren einige Fenster erleuchtet. Aber, was viel beeindruckender war, zeigte sich erst, als wir die letzten Bäume am Waldrand hinter uns gelassen hatten und den gewaltigen Leuchtturm erkannten, der neben dem kleinen Haus im aufgehenden Mondlicht in den Himmel ragte. Ich schaute nach hinten, stupste Leonore wach, die an Linas Schulter eingenickt war und zeigte auf die dunkle Silhouette vor unserem Auto. Auch Lina starrte durch das Seitenfenster auf den Turm.

„Wir sind da,“ sagte Papa leise mit einem Lächeln. „Kommt.“

Wir stiegen aus und fühlten den kühlen Wind, der uns auf einmal umgab. Dann schauten wir auf den Turm, der majestätisch in seiner Größe, aber ebenso gespenstisch in der Dunkelheit wirkte. Ich schaute hinauf zur Spitze mit den dunklen Fenstern. Stattdessen gingen plötzlich auf der Veranda vor dem Haus die Lichter an, und die Tür zum Haus wurde aufgestoßen. Ein alter Mann mit weißem Haar trat auf die Veranda. Ich erkannte ihn von der Beerdigung meiner Oma, der ich nie begegnet war, und auch von Mamas Beerdigung. Ich wusste, dass er Mamas Papa war. Aber eigentlich war er mir fremd und ich fühlte mich hier unwohl und verstand immer noch nicht, warum wir hier sein mussten.

„Finn, da seid ihr ja endlich,“ sagte er und schaute uns freundlich an.

Papa trat vor und begrüßte meinen Großvater.

„Gustav, hallo. Ja, da sind wir,“ sagte Papa und nahm meinen Großvater in den Arm. Es sah ein wenig komisch aus, weil sie sich nicht wirklich dabei anschauten. Sie umarmten sich umständlich, hielten aber ihre Körper fern voneinander. Ich spürte, dass sie ihrer Nähe auszuweichen versuchten.

Dann lösten sie sich voneinander. Mein Großvater ging an Papa vorbei und schaute uns an.

„Hallo“, sagte ich höflich und gab meinem Großvater die Hand. Lina und Leonore nickten ihm nur zu und sagten ihrerseits „Hallo“.

„Habt ihr Hunger, Kinder?“, wollte er wissen.

Den hatte ich wirklich und auch Lina und Leonore nickten.

Mein Opa senkte gespielt ergeben den Kopf und machte eine einladende Bewegung in Richtung der Tür.

„Na dann kommt mal rein.“

Lina warf einen letzten Blick auf ihr Smartphone und sah mich mit einem erleichterten Seufzer an. Ganz offensichtlich hatte sie hier Empfang gefunden. Zu dritt gingen wir an Großvater vorbei und traten in das Haus ein. Ich spürte, dass er uns nachschaute, aber wir wendeten uns nicht um. In dem engen Flur vor dem Wohnzimmer zogen wir unsere Jacken aus und legten sie auf einer Kommode übereinander ab.

Die meisten Wohnungen anderer Leute hatten einen sehr eigenen Geruch. Wenn ich meine Freundinnen zuhause besuchte, konnte ich bereits erkennen, wo ich war, allein daran, wie es roch. Meist war es der Duft nach Essen oder es lag etwas anderes in der Luft, das entweder angenehm oder auch manchmal unangenehm und muffig war. Wahrscheinlich roch auch unsere Wohnung zuhause speziell, aber weil ich jeden Tag dort war, fiel es mir nicht mehr auf. Auch hier roch alles nach Essen – oder eher – nach Gewürzen. Ich kannte sicher keine von ihnen, aber alles roch lecker und verstärkte meinen Appetit. An den Blicken meiner Schwestern konnte ich sehen, dass es ihnen ebenso ging.

Papa meinte, er hätte versucht, meinen Großvater auf dem Handy zu erreichen. Aber Großvater schüttelte abwehrend den Kopf, und meinte, er möge die Dinger einfach nicht.

Hinter dem Flur öffnete sich ein großer Wohnraum und durch ein großes Fenster konnten wir das Meer im Mondschein sehen, wie es in weichen Wellen am Strand auslief. Und wie von diesem Bild angesogen, blieben wir vor dem großen Fenster stehen. Auch Papa verharrte schweigend neben uns. Gemeinsam starrten wir auf das Meer, während Großvater einen großen Topf vom Herd aus dem offenen Küchenbereich zum großen Eichentisch in der Mitte des Raumes trug und ihn auf einem Untersatz abstellte.

Ich wusste nicht, ob es der Hunger war, der uns jetzt überkam oder ob es tatsächlich so gut schmeckte. Aber wir alle drei hörten nicht auf zu löffeln, bis unsere Teller leer waren. Leonore hob ihren als erste zum Topf.

„Bei Mama hat es auch so gut geschmeckt,“ sagte sie.

Papa hielt in seiner Bewegung inne, senkte seinen Löffel, den er eigentlich zum Mund führen wollte und schaute zu meinem Großvater auf.

„Mama hat das Kochen auch bei eurem Großvater gelernt,“ sagte er, während unser Großvater Leonore nachschöpfte.

Leonore stellte den Teller vor sich ab und sah in die Runde.

„Ich vermisse sie,“ sagte sie.

Papa und mein Großvater schauten sich an und auch Lina und ich tauschten Blicke. Lina griff nach Leonores Hand.

„Ich vermisse sie auch,“ erwiderte Lina.

„Ich würde wirklich sehr gerne wissen, wo sie jetzt ist“, sagte Leonore in die Runde.

Niemand fiel etwas ein. Stattdessen setzten wir unser Abendessen schweigend fort.

*

Großvater hatte uns im oberen Stockwerk ein Schlafzimmer vorbereitet. Ich war todmüde und konnte es kaum erwarten, schlafen zu dürfen. Leonore lag in ihrem Pyjama unter mir im Doppelstockbett. Papa half ihr beim Zähneputzen und führte die Zahnbürste vorsichtig durch ihren Mund. Eigentlich konnte Leonore das selbst. Aber seit Mama gestorben war, verhielt sie sich oft wie ein Kleinkind, das sich nicht die Schuhe zubinden konnte oder Hilfe brauchte, beim Po abwischen. Papa ließ es zu, wie er auch Lina und mir immer wieder versicherte, dass wir nicht alles so gut können müssten, wie wir es schon konnten. Nicht jetzt, wo alles so schwer war. Ich glaubte auch hier, dass er es gut meinte, aber ich wollte jetzt gar kein Verständnis, weil ich ahnte, dass Papa das alles selbst nicht verstand. Ich wollte einfach nur stark sein, um auszuhalten, was niemand bisher beantworten konnte.

Lina kam aus dem Bad und kletterte in das Bett neben uns. Ich schaute über die Bettkante gebeugt zu ihnen herunter.

„Willst du ausspucken?“, fragte Papa.

Leonore schüttelte den Kopf und schluckte den Schaum herunter.

Papa streichelte ihr das Gesicht. „Kriegst du das in der nächsten Zeit auch allein hin?“

Leonore nickte und senkte traurig den Blick.

Papa küsste sie auf die Stirn. „Sonst frag deine Schwestern.“ Er sah uns an. „Ihr sollt immer füreinander da sein, hört ihr?“

Wir nickten.

Papa schaute uns weiter an und suchte in unseren Blicken, ob wir auch verstanden hatten, was es bedeutete, füreinander da zu sein, wenn sich alles um einen herum als so zerbrechlich und verletzlich anfühlte.

Wir nickten wieder, aber diesmal deutlicher und – nachdem wir Schwestern uns verstohlen in den Blick genommen hatten – diesmal im Gleichtakt.

„Okay“, sagte Papa und richtete sich auf.

Jetzt war es Leonore, die die Frage stellte, die uns allen drei auf den Lippen brannte: „Sollen wir wirklich ohne dich hierbleiben?“

Papa schaute uns an. Er suchte nach einer Antwort und ich setzte meiner Schwester nach. „Warum kannst du nicht wenigstens für eine Zeit bleiben?“

Papa trat an mein Bett und strich mir durchs Haar. „Schatz, es ist so viel liegen geblieben in letzter Zeit.“ Er schaute zu Leonore und Lina nach unten. „Ihr wisst, ich habe meine Aufträge in der Tischlerei nicht bearbeiten können. Mama hat bis zu ihrer Krankheit auch mitverdient. Jetzt hat alles nur gekostet. Die Werkstatt braucht mich, sonst haben wir bald kein Geld mehr.“

Lina meinte, wir könnten ihm doch helfen, aber Papa schüttelte den Kopf. „Wie soll das gehen?“, fragte er. „Ich glaube, ihr müsst selbst einmal zur Ruhe kommen und etwas Neues erleben. Die neue Umgebung ist vielleicht auch toll. Stellt euch vor, was ihr hier am Meer erleben könnt, ohne die Erinnerung an Mama.“

„Ich will aber die Erinnerung an Mama!“, protestierte Lina.

„Ja, ich weiß“, lenkte Papa ein. „So habe ich das auch nicht gemeint“. Papa sackte für einen Moment in sich zusammen. Dann aber hob er den Blick und schaute mich und meine Schwestern abwechselnd direkt an.

„Es ist nur für den Sommer. Im Herbst seid ihr dann wieder zuhause, OK?“

Niemand von uns fiel ein, was wir erwidern konnten.

„Versprochen?“, fragte Leonore in das entstandene Schweigen hinein.

Papa nickte. „Wenn ihr mit Mama in Verbindung bleiben wollt, solltet ihr euren Großvater kennenlernen. Er kann euch viel darüber erzählen, wie sie war, als sie so alt war wie ihr jetzt – und darüber hinaus auch noch viel mehr.“

Eine Pause entstand. Niemand von uns wusste etwas zu entgegnen.

Papa schaute auf und fragte: „Mama-Funk?“.

Wir sahen uns an und sprangen aus den Betten, streckten die Arme aus und ergriffen gegenseitig die Hände. Papa schloss den Kreis und betete mit geschlossenen Augen: „Liebe Mama, wo du jetzt auch bist, wir hoffen, dass es dir gut geht. Wir vermissen dich hier bei uns sehr. Wir sind jetzt bei Opa auf der Insel, hier wo du aufgewachsen bist. Stine, Lina und Leonore bleiben die nächsten Wochen hier. Behalte sie im Auge und behüte sie, wenn du kannst“.

Papa wusste irgendwie nicht weiter. Blinzelnd öffnete er die Augen. Ich sah es, weil auch ich die Augen geöffnet hatte. Doch als Leonore plötzlich das Wort ergriff, machte er sie wieder zu.

„Mama!“ rief sie in den Raum.

Lina, Papa und ich schauten uns kurz an. Aber Leonore hielt ihre Augen fest geschlossen. „Kannst du nicht zurückkommen? Wir brauchen dich doch hier. Ohne dich ist alles nur traurig.“

Leonore öffnete die Augen. Wir schauten uns an, warteten und lauschten in die Stille.

Lina meinte schließlich, Mama habe im Himmel vielleicht zu viel zu tun. Ich sagte, sie antworte vielleicht später. Lina, Papa und ich schauten uns an. Auch Leonore hob den Kopf. Sie wusste, dass keine Antwort kommen würde.

Wir kletterten zurück in unsere Betten. Papa nahm uns nacheinander in den Arm und küsste uns. Dann ging er hinaus, löschte das Licht und schloss die Tür.

Ich lag einen Moment wach und merkte, dass ich noch einmal auf die Toilette musste. Also stieg ich die Leiter herunter und öffnete die Tür zur Galerie im oberen Stockwerk. Im Vorbeilaufen sah ich Papa, wie er vor dem großen Fenster im Wohnzimmer stand und auf das Meer schaute.

Als ich aus dem Bad zurückkam, stand Großvater neben ihm. Ich blieb stehen und schaute ihnen zu.

„Jetzt sind wir beide allein“, hörte ich meinen Großvater sagen.

Papa sah ihn an. „Sie waren wohl beide die bessere Hälfte von uns gewesen“, sagte er. Ich verstand nicht wirklich, was er damit sagen wollte. Aber Großvater schien ihn zu verstehen und nickte ihm zu.

„Kommt ihr klar?“, hörte ich meinen Großvater fragen.

Papa wirkte unsicher. „Ich weiß nicht“, sagte er, „Finja hatte mitverdient. Doch jetzt ist alles knapp und wir müssen versuchen, zurecht zu kommen.“

„Wieviel?“, fragte Großvater.

Papa sah ihn unsicher an. „Zu viel. Erst die lange Zeit der Krankheit, dann die Beerdigung, aber auch die Werkstatt, einfach alles,“ Papa zögerte. „Es sind so viele Kredite. Am Ende schulde ich der Bank allein für die Werkstatt mehr als wir gemeinsam vorher hatten.“

Großvater schaute meinen Vater überrascht an. Dann nickte er.

„Ich muss sehen, wie es läuft und brauche Zeit“, sagte Papa und sah hinaus aufs Meer. Großvater folgte seinem Blick.

*

Ich schlüpfte zurück in mein Bett und suchte Schutz und Wärme unter meiner Decke.

Leonore kletterte die Leiter zu meinem Bett nach oben und sah mich an.

„Darf ich?“, fragte sie und ich nickte.

Leonore wartete keinen weiteren Moment und kroch zu mir unter die Decke.

„Gute Nacht!“, rief Lina uns von unten zu.

„Auch dir eine gute Nacht“, wünschten wir nach unten zurück.

Ich nahm Leonore fest in meine Arme und streichelte ihr über das Haar. Dann fielen mir die Augen zu.

FREMDSEIN

Obwohl eigentlich Sommer war, stieg Dunst aus den Feldern neben dem Deich auf und verhüllte die Sonne über einer Baumgruppe am Horizont. Auf der anderen Seite schwappte das Meer in seichten Wellen auf den Strand. Eigentlich sah es schön aus. Bei uns zuhause gab es nie Nebel. Mir war ein wenig kalt. Leonore, Lina und ich liefen entlang dem schmalen Pfad auf der Kuppe des Deiches, müde von einer viel zu kurzen Nacht und versuchten, mit Papa Schritt zu halten. Ich schaute über meine Schulter zurück und sah Großvaters Leuchtturm.

Plötzlich blieb Lina stehen und rief Papa hinterher:

„Wieso müssen wir hier überhaupt in die Schule gehen? Unsere Schule ist doch zuhause?“.