Feuermal und Flammenmeer - Harald Görlich - E-Book

Feuermal und Flammenmeer E-Book

Harald Görlich

4,7

Beschreibung

Stuttgart im 18. Jahrhundert. Agnes kann ihrem Gatten, dem einflussreichen Adligen Rüdiger von Hayden, keine Kinder schenken und begibt sich in die Hände eines Heilers. Mit katastrophalen Folgen. Sie wird missbraucht und bringt Zwillinge zur Welt. Als von Hayden bemerkt, dass es nicht seine Kinder sind, kommt es zu einer furchtbaren Tragödie. Agnes landet im Zuchthaus. Nach ihrer Begnadigung beginnt sie eine jahrzehntelange Suche nach den Zwillingen. Wird sie ihre Kinder jemals wiederfinden?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 571

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,7 (36 Bewertungen)
26
9
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Harald Görlich

Feuermal und Flammenmeer

Das Leben der Agnes von Hayden

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung des Bildes »Romney 1787-89« von Henrietta, Countess of Warwick, http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Henrietta,_Countess_of_Warwick,_and_Her_Children_-_Romney_1787-89.jpg

ISBN 978-3-8392-4284-1

Widmung

Für Bettina. Für mehr als 40 Jahre. Welch Fundament!

Stuttgart – Mitte August 1800

Er verlor vollkommen die Kontrolle. Eine nicht mehr zu zügelnde Wut übermannte ihn. Seine Frau hatte ihn betrogen. Diese Erkenntnis traf ihn bis ins Mark. Er fühlte sich erniedrigt, gedemütigt und zum Gespött der Leute verdammt. In seinem Stolz tief verletzt, schlug er auf seine Frau Agnes ein. Sie versuchte erfolglos, seinen brutalen Schlägen auszuweichen. Als sie zu Boden ging, bat Agnes um Erbarmen. Mit ihren Händen schützte sie ihren Kopf. Vor der verschlossenen Tür standen die Hausbediensteten und warfen sich verängstigte Blicke zu. Sie wagten nicht, etwas zu unternehmen. Ein Einmischen hätte fatale Folgen gehabt.

»Du Hure! Du elendige Hure!«

Rüdiger von Hayden brüllte die am Boden liegende Agnes an. Er spuckte auf sie. Sein Gesicht war nur noch eine rote, verzerrte Maske.

»Bitte …«, flehte seine Frau. Ihre rechte Hand versuchte zaghaft, die niederprasselnden Schläge abzufangen.

Ihr Mann trat zurück. Er brüllte wie ein waidwundes Tier. Dann stieß er erbarmungslos mit seinem Fuß zu. Der schwere Lederstiefel traf Agnes erst am Oberarm. Als ein erneuter Tritt folgte, traf er sie in der rechten Nierengegend. Heftige Schmerzen durchfluteten ihre ganze Körperhälfte. Ihr wurde schlecht. An eine Abwehr war nicht mehr zu denken. Sie lag zusammengekrümmt und einer Ohnmacht nahe auf dem Fußboden. Aus ihrem Mund lief Blut. Sie konnte sich kaum mehr bewegen und rechnete mit dem Schlimmsten.

Nach weiteren Schlägen ließ ihr Mann endlich von ihr ab. Er griff nach seinem Degen und hätte wohl das Furchtbarste getan, wenn in diesem Augenblick nicht Elsbeth heftig gegen die verschlossene Tür geklopft hätte. Rüdiger von Hayden fuhr herum. Er riss die Tür auf und fuchtelte bedrohlich mit der scharfen Waffe. Elsbeth wich erschrocken zurück. Der immer noch vor Wut rasende Hausherr schlug die Tür wieder zu. Dabei zerbarst die im oberen Teil eingefügte Fensterscheibe, was von Hayden nur noch mehr in Rage versetzte. Agnes robbte ein wenig über den Boden. Sie wollte sich aufs Sofa ziehen. Die Schmerzen in ihrer verletzten Seite machten ihr aber das Atmen schwer, auch schienen ihre Arme ganz kraftlos.

Mit äußerster Brutalität packte von Hayden seine Frau an den Haaren. Er schleifte sie aus dem Zimmer, in einer Hand immer noch den Degen haltend. Die Bediensteten wichen zurück. Elsbeth jammerte vor Entsetzen.

»Nein, nicht doch! Um Gottes willen, gnädiger Herr …«

»Verschwinde, du altes Weib!«

»Bitte, Herr Präsident. Ich bitte Sie. Haben Sie doch Erbarmen.«

»Geh weg, du Hexe. Wehe, du kommst mir in die Quere.«

Agnes stöhnte. Von Hayden hielt sie an den Haaren fest. Er zog sie über die Türschwelle und riss auf der dem Wohnzimmer gegenüberliegenden Seite eine schwere Holztür auf. Die Stiegen in den Kellerraum lagen fast vollständig im Dunkeln. Wild zerrte von Hayden seine Frau in den Türrahmen. Sie hatte weder Kraft zum Aufbäumen noch zur Gegenwehr, obwohl sie das Schlimmste ahnte. Elsbeth jedoch geriet außer sich vor Angst und Sorge und wollte die böse Tat nicht hinnehmen.

»Nicht, bitte, Herr. Das dürfen Sie nicht tun.«

Flehentlich ging sie mit ausgestreckten Armen auf ihn zu, um Agnes zu schützen.

»Bitte, bitte, Herr Präsident. So haben Sie doch Erbarmen.«

Elsbeth wagte es, von Hayden zaghaft am Arm zu fassen. Nicht energisch, nicht heftig. Nur ganz sacht, damit er seine Frau nicht die Treppenstufen hinabstoßen konnte. Von Hayden riss den Degen nach oben. Niemand konnte hinterher sagen, ob er mit Absicht gehandelt hatte oder ob es nur ein Reflex gewesen war. Doch die rasiermesserscharfe Klinge traf die treue Elsbeth in die Halsseite.

Voller Entsetzen schrie Agnes auf. Sie sah den Blutstrahl, der augenblicklich aus Elsbeths Hals herausschoss. Er stockte kurz, dann ergoss er sich wieder. Elsbeth drückte beide Hände auf die durchtrennte Schlagader. Agnes wand sich mit letzter Kraft. Sie wollte helfen. Aber ihr Mann ließ nur den Degen fallen. Mit beiden Händen packte er jetzt zu. Er riss sie ganz nach oben, zog sie an sich. Seine Augen quollen aus den Höhlen. Er herrschte sie hasserfüllt an:

»Du bekommst das, was du verdienst. Ich werde dich zerstören. Dich und deine verdammte Kinderbrut.«

Aus den Augenwinkeln sah Agnes Elsbeth zusammenbrechen. Ihre über alles geliebte Zofe rutschte auf die harten Dielen und lag bald in einer immer größer werdenden Blutlache. Als Agnes die Stiegen hinabstürzte, schlug sie mehrfach mit dem Kopf auf das harte Holz. Bewusstlos blieb sie am Treppenabsatz liegen. Derweil verblutete ihre treue Zofe. Niemand war ihr zu Hilfe geeilt. Der Koch und seine beiden Helferinnen, der Kutscher und auch die jungen Putzkräfte hatten sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Sie wussten zwar, dass Furchtbares geschah. Aber wer von ihnen hätte schon den Mut gehabt, dem Hausherrn Paroli zu bieten? Angespannt lauschten sie der plötzlich einsetzenden Stille. Sie hörten nur die schweren Stiefel, mit denen von Hayden energisch auftrat. Der Mann konnte sich nur schwer beruhigen. Er ging im Flur auf und ab. Dass er Elsbeth getötet hatte, berührte ihn nicht im Geringsten. Viel zu lange schon hatte er die Vertraute seiner Frau in seinem Haus geduldet. Sie war ihm und seiner Mutter längst ein Dorn im Auge gewesen. Und warum musste diese dumme Person ihm in den Arm fallen? Sie war an ihrem Schicksal selbst schuld. Das Einzige, was ihn störte, war das viele Blut. Selbst die Wände waren vollgespritzt, ebenso seine Kleidung.

Eine ganze Zeit lang geschah nichts. Dann fing im ersten Stock erst eines der 14 Wochen alten Kinder zu weinen an. Gleich darauf setzte das andere ein. Sofort griff wieder der Hass nach dem Stallmeister, der in ihnen nicht mehr das eigen Fleisch und Blut sah, sondern Bastarde. Kuckuckskinder, die ihm von seiner untreuen Ehefrau untergeschoben werden sollten. Diese Brut musste verschwinden. Rüdiger von Hayden hatte längst den furchtbaren Entschluss gefasst. Er rief nach dem Kutscher und dem Koch. Vorsichtig öffneten die beiden die Küchentür. Verängstigt traten sie in den Flur. Entsetzen machte sich in ihren Gesichtern breit, als sie Elsbeth in ihrem Blut liegen sahen. Auf ihrer rechten Halsseite klaffte eine grauenhafte Wunde. Sie glänzte von dem Blut, das auch ihre Haare völlig verklebt hatte. Die beiden Bediensteten wagten kaum zu atmen.

»Sie hat sich auf mich gestürzt. Dabei ist das Unglück geschehen. Die dumme Gans wollte es nicht anders«, erklärte von Hayden mit aggressiver Stimme.

Der Koch und der Kutscher mussten schlucken. Da ihr Herr den Degen immer noch in der Hand hielt, wagten sie keine Widerworte.

»Stellt euch nicht dümmer an, als ihr seid! Was kann ich dafür? Ein Unglück! Das hätte nicht sein müssen. Aber sie musste sich ja unbedingt einmischen.«

Die beiden schauten sich nur einen Augenblick völlig fassungslos an.

»Und die gnädige Frau?«, wagte der Kutscher zu fragen.

»Zerbrich dir nicht den Kopf. Ihr geht es gut. Und im Übrigen geht es dich überhaupt nichts an. Du gehst jetzt als Erstes zum Polizeiposten und danach zum Waisenhaus. Frage nach dem Vorsteher, er heißt Bellnagel. Er soll herkommen. Und zwar gleich, nachdem die Polizei wieder weggegangen ist. Ihr steht mir als Zeugen zur Verfügung. Ihr habt doch gesehen, wie Elsbeth auf mich losgestürzt ist? Oder etwa nicht?«

Von Hayden musterte die beiden mit scharfem Blick. Eingeschüchtert und unterwürfig nickten sie. Dem Koch wurde mit einem Mal schlecht. Er kippte zur Seite und konnte sich gerade noch mit einer Hand am Türrahmen festhalten. Dort ging er in die Knie. Er versuchte zu verhindern, was nicht zu verhindern war. Sein Mageninhalt ergoss sich unter ekligem Würgen auf den steinernen Fußboden.

»Wenn du dich ausgekotzt hast, machst du den ganzen Dreck weg. Und du hilfst mir dann beim Saubermachen.«

»Das können doch die Mädchen.«

Von Hayden herrschte seinen Kutscher giftig an, der den Koch beschützen wollte.

»Wenn schon der Koch kotzen muss, was glaubst du, passiert mit den Weibern, wenn sie Elsbeth da liegen sehen? Also mach, was ich dir aufgetragen habe, und zwar ein bisschen plötzlich.«

Der Kutscher hob entschuldigend die Hände. Er war einiges gewohnt. Doch die Szene, die er vor sich sah, erschütterte ihn zutiefst. Elsbeth war ihm über viele Jahre eine wichtige Person im Hause des Hofkavaliers und Stallmeisters gewesen. Er hatte die alte Frau gemocht. Ihm erschien das, was geschehen sein sollte, unglaublich. Elsbeth war von sanftmütigem Charakter. Er konnte sich keinen Reim auf die Geschichte von Haydens machen. Doch empfahlen sich weder Widerspruch noch Zweifel. Wer wusste, was dann mit ihm geschah? Womöglich würde er hinausgeworfen werden? Seine Stellung wollte er keinesfalls verlieren. Er nickte daher nur. Dann drehte er sich um und stapfte nach draußen. Der Koch stand zittrig im Flur, in dem es zu stinken anfing.

»Du machst jetzt deinen Dreck weg!«, herrschte ihn von Hayden an. »Und schicke die Mädchen in ihre Kammer. Sie sollen sich nicht mehr blicken lassen.«

Von Hayden wusste genau, was zu tun war. Er würde aus der ganzen Sache ohne Schaden herauskommen. Nur der angebliche Ehebruch seiner Frau ließ sich nicht wieder gut machen. Er würde zum Gespött aller werden. Diese Blamage fürchtete er. Es galt daher zu handeln. Er würde den Leuten zeigen, was geschah, wenn ihm übel mitgespielt wurde. Seine Entscheidung stand fest. Er plante für seine Frau die schlimmste aller Strafen, die einer Mutter angetan werden konnte.

Stuttgart – Juli/August 1799

Agnes weinte jämmerlich. Allein mit ihrem Unglück, lag sie auf dem Bett in ihrer Schlafkammer. Das Gesicht tief im Kopfkissen verborgen, saugte der Stoff ihre Tränen auf. Ihr Schluchzen wurde zwar gedämpft von dem mit feinsten Daunen gefüllten Kissen. Trotzdem konnte Elsbeth, die Magd und erste Dienerin im Haus, wieder einmal vor der Tür ihre ganze Pein mit anhören. Die gnädige Frau litt seit fast drei Jahren. Das Leiden hatte von Monat zu Monat zugenommen. Seit etwa einem Jahr kam es wiederholt zu den Wutanfällen ihres Ehemannes, der zunehmend ungeduldig auf den sehnlichst erwünschten Nachwuchs wartete, der sich auch im fünften Jahr ihrer Ehe nicht einstellen wollte. Über das große Haus, das in dem besseren Stadtviertel Stuttgarts, der Turniervorstadt, lag, hatte sich schon lang eine belastende, zutiefst deprimierende Stimmung gelegt, die nicht nur das Ehepaar niederdrückte, sondern auch alle Hausangestellten in Mitleidenschaft zog. Elsbeth, die Agnes seit ihrer Kindheit kannte und ihr nach deren Eheschließung in von Haydens Haus gefolgt war, litt kaum weniger als die gnädige Frau, die sie seit annähernd 24 Jahren liebte wie eine eigene Tochter. Sie hatte sie aufwachsen sehen, sich liebevoll um sie gekümmert und ihr mit Rat und Tat beigestanden. Es waren zumeist gute, ja fröhliche Jahre gewesen. Agnes wuchs in ihrem Elternhaus in Schwieberdingen behütet und glücklich auf. Sie war das einzige Kind von Richard und Wilhelmine Stellrecht, die ihre Tochter wie ihren Augapfel hüteten. Die Familie war nicht vermögend, doch konnten ihre Eltern ihr im Rahmen bescheidener Möglichkeiten mehr bieten als die Landwirtsfamilien in dem kleinen Dorf, die in manchen Jahren hart um ihre Existenz kämpfen mussten. Richard Stellrecht besaß ein Geschick als Kaufmann im Textilhandel. Die Geschäfte florierten zwar nicht immer. Aber immerhin erwirtschaftete er damit ein Auskommen, das seiner Familie ein vergleichsweise sorgenfreies Leben sicherte. Für ihre Agnes taten sie alles. Das Mädchen wuchs zu einer Schönheit heran, die nicht nur den Schwieberdingern auffiel. Agnes’ zierlicher Körper, ihr fein geschnittenes Gesicht, umrahmt von hellblonden Haaren, machten sie sehr begehrenswert. ›Die schöne Kaufmannstocher‹ oder gar ›Engel auf Gottes Erdboden‹ nannte man sie. Ihr Ruf sprach sich in weitem Umkreis herum. Selbst junge Burschen aus dem nahe gelegenen Ludwigsburg, aber auch aus Stuttgart oder gar Heilbronn zeigten Interesse an ihr. Bereits viermal hatten Väter dieser verliebten Freier bei Richard Stellrecht vorgesprochen, um die Chancen auf eine mögliche Heirat auszuloten. Es wären allesamt gute Partien gewesen. Doch Agnes zeigte nicht ein einziges Mal Interesse. Und obwohl ihr Vater zuletzt vor allem die Vorteile einer Heirat mit dem Sohn des vermögenden Ludwigsburger Kürschnermeisters Erwin Michelbach in höchsten Tönen pries, musste er letztlich aufgeben. Agnes verspürte nicht die geringste Lust auf eine Heirat und keiner der Männer konnte ihr Herz gewinnen. Jedenfalls nicht bis zu dem Tag, an dem Rüdiger von Hayden auf sie aufmerksam wurde. Als der Hofkavalier und Stallmeister um ihre Hand anhielt, schien das Glück vollkommen. Er stand in freundschaftlicher Beziehung zu Prinz Friedrich, den er seit Jahren kannte und dem er als enger Vertrauter diente. Prinz Friedrich lebte und wohnte vor allem in den Sommermonaten auf einem 1791 erworbenen Gut in dem kleinen Ort Schwieberdingen, das ihm schön wie das Paradies vorkam. Er wartete dort voller Ungeduld auf die Übernahme der Regentschaft, sah er das Herzogtum doch arg gebeutelt durch österreichische und französische Truppen. Württemberg war längst zum Spielball der großen Mächte geworden. Mit seinem Onkel, dem jahrelang herrschenden Herzog Carl Eugen, hatte er sich nicht verstanden. Oft genug war es zwischen beiden zum Streit gekommen. Mit den Carl Eugen nachfolgenden Herzögen Ludwig Eugen und Friedrich Eugen, die jeweils nur kurz regierten und ebenfalls seine Onkels waren, verstand er sich zwar besser. Doch besaß Erbprinz Friedrich Willensstärke und ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Er wollte Württemberg ein stärkeres politisches Gewicht verschaffen. So litt er daran, dass württembergische Truppen in erfolglose Kriege entsandt wurden. Die wirtschaftliche Lage bot vielen Untertanen kaum das notwendige Auskommen. Armut und Existenzsorgen griffen um sich. Er wollte Verantwortung übernehmen und zum Wohl der Untertanen und des Landes handeln. Doch musste er sich noch einige Jahre gedulden. Jedenfalls hielt sich sein Stallmeister von Hayden oft bei ihm in Schwieberdingen auf. Als er dort erstmals beim Erntedankfest auf die 18-jährige Agnes traf, stand für ihn fest, sie würde die Frau seines Lebens werden. Ihm waren in der Vergangenheit die Herzen etlicher Damen zugeflogen. Seine stattliche Erscheinung, seine Nähe zum Prinzen, sein Einfluss bei Hofe und nicht zuletzt sein Vermögen machten ihn zu einer besonders interessanten Partie. Jede junge Frau hätte er haben können, doch er warb um Agnes und bat alsbald bei ihrem Vater um deren Hand. Dieser erkannte die große Chance, die sich mit dieser Vermählung für seine ganze Familie bot. Vor allem hatte seine Agnes auf das Werben des Adligen angesprochen. Ihre Tochter war zweifellos verliebt. Die Eltern sprachen mehrfach mit ihr. Sie schwärmte von diesem gut aussehenden Herrn, der sich vorzüglich zu benehmen wusste. Nur der Form halber hatte Stellrecht einen Moment gezögert, dann aber doch seine Zustimmung rasch gegeben. Seine über alles geliebte Tochter würde mit dieser Heirat in den Adelsstand aufsteigen! Ein unglaubliches Glück! Das Schicksal meinte es besonders gut mit ihnen. Welchem Mädchen aus bürgerlichem Hause bot sich schon eine solche Chance? Mehr konnten er und seine Frau wahrlich nicht erwarten. Als am Hochzeitstag im Spätsommer 1794 bei strahlendem Sonnenschein die Glocken der kleinen Schwieberdinger Kirche läuteten, war er überaus zufrieden. Diese Heirat beförderte in den Folgejahren sein gesellschaftliches Ansehen enorm. Endlich fand er Zugang zu höheren Kreisen, was nicht nur wegen der besonderen Stellung, die er fortan innehatte, von Bedeutung, sondern auch für seine Geschäfte außerordentlich förderlich war. Schon zwei Monate nach Friedrichs Thronbesteigung wurde er Anfang des Jahres 1798 vom neuen Herzog zum Hoflieferanten ernannt. Diese für ihn und seine Familie ganz und gar außergewöhnliche Geste empfand er als den größten Gunsterweis, den er jemals in seinem Leben erhalten hatte. Das wichtige Schriftstück mit dem Namen des Herzogs hing wie ein begehrtes Diplom eingerahmt an der Wand in seinem Arbeitszimmer. Und es gab keinen Besucher, mit dem er nicht vor dieses Schreiben trat, um ausführlich über dieses Zeichen der Verbundenheit zum Stuttgarter Hof zu berichten. Nun lag die prachtvolle Hochzeitsfeier, die er sich mehr hatte kosten lassen, als es an und für sich seinen Verhältnissen entsprochen hätte, schon einige Jahre zurück.

Das Hochgefühl des ersten und zweiten Ehejahres hatte sich nach und nach verflüchtigt. Anfangs waren die Stellrechts jedes Mal zuvorkommend und freundlich bei ihren Besuchen im Hause von Haydens behandelt worden. Das junge Paar war einige Monate nach dem Ende 1797 erfolgten Regierungsantritt von Herzog Friedrich II. in eines der besten Häuser in der Turnierackervorstadt gezogen. Von Hayden erfreute sich mehr denn je der Gunst seines fürstlichen Freundes. Seine Treue zu ihm in all den Prinzenjahren sollte sich vielfältig auszahlen. Hatte er zunächst noch seine Funktionen als Hofkavalier und Stallmeister weiter ausgeübt, wurde er vom Herzog später zuerst zum Mitglied der Polizeideputation ernannt und kaum ein Jahr später – es war bereits Ende Dezember 1799 – zum Stellvertreter des Geheimen Ratspräsidenten Graf von Zeppelin. Von Haydens Einfluss war damit größer denn je. So sehr ihm beruflich alles gelingen wollte und sein gesellschaftliches Ansehen wuchs, desto trauriger gestaltete sich im Lauf der Zeit seine Ehe mit Agnes. Natürlich wartete von Haydens Familie auf Nachwuchs. Vor allem seine Mutter drängte auf einen Stammhalter. Sie wurde böse und intrigant, als sich bei Agnes auch nach dreijähriger Ehe immer noch keine Schwangerschaft einstellen wollte. Nicht nur Agnes, sondern auch ihre Eltern bekamen die Vorwürfe zu spüren. Mehr und mehr waren die freundlichen Gesten ausgeblieben. In letzter Zeit schien es dem alten Stellrecht, er wäre gar nicht mehr willkommen im Hause seines Schwiegersohnes. Natürlich wusste er um das Problem des ausbleibenden Kindersegens. Es berührte ihn und seine Frau tief. Aber was sollte, was konnte er tun? Zweimal hatte er mit seiner Tochter sogar wider besseres Wissen geschimpft. Und nachdem mehrere Ärzte, die er hinzugezogen hatte, auch keinen Rat wussten, verstieg er sich weiter in unberechtigte Vorwürfe. Diese waren aber im Vergleich zu denen seines Schwiegersohnes fast harmlos. Rüdiger von Hayden, angetrieben von seiner giftigen und seit Jahren verwitweten Mutter, setzte seiner Frau Monat für Monat zu. Agnes fürchtete mittlerweile nicht nur das Einsetzen ihrer Monatsblutung, mit der wieder alle Hoffnung genommen wurde. Sie fürchtete sich schon längstens vor dem Vollzug der Ehe, die für ihren Mann nur mehr ein mechanischer Akt war. Ihm ging es lediglich noch um die Zeugung von Nachwuchs. Keine Spur mehr von Zärtlichkeit und Liebe! Roh und schnell erledigte er den Akt und geriet kurze Zeit später erneut außer sich, wenn sich herausstellte, dass Agnes wiederum nicht empfangen hatte. Auch an diesem Morgen hatte Rüdigers Mutter Agnes mit Fragen malträtiert. Nachdem ihre Schwiegertochter mit zittriger Stimme und in Tränen aufgelöst deren Verdacht bestätigen musste, hetzte sie am Mittagstisch ihren Sohn abermals gegen die eigene Frau auf. Bevor er wieder zu seinem Reitstall gegangen war, tobte Rüdiger von Hayden durchs Haus. Er beschimpfte seine Frau, machte ihr böse Vorhaltungen, die in dem Vorwurf gipfelten, sie würde alles tun, um nicht schwanger zu werden. Wutentbrannt hatte er in Agnes’ Zimmer eine Vase an die Wand geworfen, wo sie in tausend Teile zersplitterte. Agnes sah fassungslos dem Wüten ihres Mannes zu. Sie schämte sich und fühlte sich schuldig. Nachdem ihr Mann voller Zorn das Haus verlassen hatte, konnte sie nicht mehr an sich halten. Sie stürzte in ihr Schlafgemach und weinte sich ihr Leid aus dem Leib.

Elsbeth kämpfte schon lange mit sich. Alles bisher Unternommene war erfolglos geblieben. Ärzte, andere Umgebungen, Reisen, die Fürbitten zu verschiedenen Heiligen, die Gespräche mit dem Stadtpfarrer – nichts und niemand vermochte zu helfen. Der nicht erfüllte Kinderwunsch brachte Unglück über Agnes, die ihr manchmal bereits wie eine Kranke vorkam. Das bleiche Gesicht mit den verweinten Augen bewies ganz offenkundig, wie sehr Agnes unter diesen Umständen litt. Elsbeth wollte ihr helfen. Unbedingt! Sie klammerte sich seit Wochen an einen Gedanken. Doch hatte sie sich zunächst nicht getraut, darüber mit Agnes zu sprechen. Heute nun musste es sein. Sie konnte deren Leid nicht mehr mit ansehen. Elsbeth wartete noch geraume Zeit. Als das Schluchzen nachließ, klopfte sie vorsichtig an die Tür. Agnes war es ein Trost, sie zu sehen. Die beiden Frauen umarmten sich wortlos.

»Es wird alles gut werden.« Elsbeth erzählte Agnes von dem Heiler, dem sie sich anvertrauen sollte und der wohl als Einziger noch helfen konnte.

Heslach (bei Stuttgart) – Juli 1799

Emanuel Bodelschwingh warScharfrichter und Henker in Stuttgart gewesen. 26 Menschen hatte er im Lauf der Jahre geköpft oder am Galgen baumeln lassen. Es gab Jahre, da verging nicht ein Monat, ohne dass er einen verurteilten Verbrecher geköpft oder gehenkt hatte. Er waltete seines Amtes zudem auch in anderen Amtsstädten des Herzogtums. Außerdem betätigte er sich als Wundarzt. Alles in allem war er ein viel beschäftigter Mann. Die Schicksale oder die finsteren Geschichten der armen zum Tode verurteilten Menschen, ob Deserteur oder Kindsmörderin, hatten ihn nie interessiert. Sein Auftrag galt lediglich der Vollstreckung des vom Strafgericht und den Oberräten ergangenen Urteils. Das Gericht unter der Leitung verschiedener Vorsitzender urteilte häufig ungemein hart und gnadenlos. Selbst manche einfachen Diebe, die wiederholt erwischt worden waren, mussten mit einem Todesurteil rechnen. Und hätten die Oberräte es bei einem öffentlichen Auspeitschen und Zuchthausstrafen belassen, dann kannte nicht selten der Herzog kein Erbarmen. Es gab sogar Fälle, da protestierte der Stuttgarter Magistrat gegen die Vollstreckung eines Todesurteils. Doch anstatt von seinem Begnadigungsrecht Gebrauch zu machen, überging der Herzog den Protest und ließ das harte Urteil vollstrecken. Bodelschwingh konnte nichts Böses daran finden. Immerhin verdiente er bei jeder Hinrichtung eine Prämie, die ihm die Stadt zahlte. Zudem – doch er hütete sich, mit irgendjemandem darüber zu sprechen – empfand er ein tiefes Glücksgefühl, ein geradezu höchstes Maß an Zufriedenheit, einen Menschen töten zu dürfen. Noch Tage nach einer Vollstreckung durchlebte er in Gedanken wieder und wieder diese kurzen Augenblicke und fühlte sich geradezu beschwingt. Auf der Wolframshalde standen ein hölzerner und ein eiserner Galgen. Hier hängte er die Übeltäter auf. Doch verrichtete er seine Aufgabe durchaus auch gern mit dem Schwert. Frauen durften sowieso nicht gehängt werden. Fiel bei diesen das Todesurteil, wurden sie geköpft, was er nicht weniger genoss. Er vollzog sie beim ›Käs‹, wie diese in Stuttgart vor dem Hauptstätter Tor gelegene Richtstätte von der Bevölkerung wegen ihrer runden Form spöttisch genannt wurde. Bis zu seinem 50. Lebensjahr ließ es sich in der Tat mit den Einnahmen, die ihm für sein grausames Geschäft zustanden, nicht schlecht leben. Seine Arbeit wurde zwar verachtet, aber sie war auch deshalb einträglich, weil er als Henker die Berechtigung zur Verwertung von Tierleichen besaß. Er konnte die Häute und Felle an die Stuttgarter Rotgerber verkaufen, was ihm immer wieder ein nicht zu unterschätzendes Zusatzeinkommen sicherte. Ärger hatte er wiederholt mit den Ärzten und Wundärzten, weil er sich als Henker – sehr zu deren Leidwesen – mit Medizin befasste. Er konnte sich erhebliche Fachkenntnisse aneignen, durfte er doch die Leichen der Hingerichteten, bevor er sie verscharren musste, so ausführlich, wie er nur wollte, sezieren und begutachten. Zwar mieden ihn die meisten, doch das störte ihn wenig. Er war seit jeher ein Eigenbrötler, legte keinen Wert auf Kontakte oder gar Freundschaften und blieb am liebsten mit sich und seinem Sohn, der einem unehelichen Verhältnis mit einer Herumtreiberin, die die Geburt nicht überlebt hatte, entstammte, allein. Den Neugeborenen hatte er damals ins Waisenhaus bringen wollen. Der Gedanke, er müsse fortan für ein Kind, das nur seine Ruhe stören würde, aufkommen, bereitete ihm regelrecht Übelkeit. Doch der Vorsteher des Stuttgarter Waisenhauses, Waisenpfleger Christian Jakob Erhart, lehnte die Aufnahme des Säuglings ab und hatte gar die Stadtbehörde eingeschaltet. Diese ließ ihren Henker nicht aus der Verantwortung, obwohl er beteuerte, nicht der Vater dieses verkommenen Balgs zu sein. Diesen hätte er am liebsten umgebracht, weil er sich tatsächlich nicht sicher sein konnte, ob er sein eigen Fleisch und Blut war. Auch nannte er ihn nur ›Balg‹ und von Kindesbeinen an ließ er seine Wut an ihm mit regelrechten Prügelorgien aus. Mit 16 Jahren war Balg zu einem ungemein starken jungen Mann herangewachsen, in dem jedoch die Wut auf seinen Vater und die schlimmen Erinnerungen an seine grausamen Kinderjahre ständig brodelten. Im Gegensatz zu seinem Erzeuger sah Balg gut aus. Wäre er unter anderen Verhältnissen aufgewachsen, hätte er wahrscheinlich ein gutes Leben als angesehener Bürger führen können. Allerdings musste er sich mit einem Feuermal, das sich von seiner rechten Halshälfte über Teile seines Nackens zog, abfinden. Seit er denken konnte, wurde er wegen dieser dunkelrot und lila verfärbten Haut von anderen Kindern gehänselt. Diesen Gemeinheiten zunächst ohnmächtig ausgeliefert, begegnete er ihnen später mit Zornesausbrüchen. Irgendwann hatte er angefangen, seine Widersacher mit Schlägen zu traktieren. Damit verschaffte er sich Respekt. Jeder wusste, was ihm blühte, und kaum, dass er das zehnte Lebensjahr überschritten hatte, gab es höchstens noch ältere Jungen, die ihn zu hänseln oder zu beleidigen wagten. Zudem ließ er sich die Haare lang wachsen. Sie verdeckten größtenteils das Feuermal. Die Hänseleien blieben aus. Bis zu einem Frühlingsabend im Jahr 1785, als sich ein junger Soldat über ihn lustig machte und ihn beleidigte. Vor seinen Kameraden beschimpfte er ihn als eklige Notdurft des Satans. Balg war klug genug zu wissen, dass er gegen einen Soldaten, gar in Anwesenheit seiner Kameraden, erst einmal nichts ausrichten konnte. So ließ er Hohn und Spott über sich ergehen. Auf dem Nachhauseweg weinte er verbittert über die erfahrene Erniedrigung. Doch schmiedete er bereits einen Plan. Er musste Geduld aufbringen. Fast ein ganzes Jahr ließ er verstreichen. Dann stellte er dem Soldaten nach. Bald wusste er genau Bescheid, welche Wege er einschlug, wenn er Wirtshäuser in der Stadt aufsuchte. Am letzten Februartag des Jahres 1786, es war bitterkalt und Schnee fiel in die dunklen Gassen der Esslinger Vorstadt, passte Balg seinen Peiniger ab, nachdem er ihm Abende lang lediglich nachgeschlichen war. Der Soldat suchte dort regelmäßig eine Heckenwirtschaft auf, in der selbst erzeugter Wein billig ausgeschenkt wurde. Mit noch nicht einmal 15 Jahren beging Balg seinen ersten Mord. Am frühen Morgen des nächsten Tages fanden die ersten Kirchgänger in der Nähe der Leonhardskirche den Leichnam des übel zugerichteten Soldaten. In hellster Aufregung wurde nach dem Übeltäter gesucht. Der Herzog geriet außer sich, weil der Mörder nicht gefasst werden konnte. Ein Soldat seiner Truppe war ermordet worden und alle Versuche, den Mörder zu finden, schlugen fehl. Nach einem halben Jahr war Gras über die Sache gewachsen. Balg kam unentdeckt davon. Nur sein Vater ahnte, dass sein Sohn dahinterstecken könnte. Hatte dieser ihm doch vor fast einem Jahr voller Wut über die Demütigung durch einen jungen Soldaten erzählt. Er erinnerte sich ganz genau an die Verbitterung und den glühenden Hass seines Sohnes. Zu dieser Zeit hatte er aber bereits Angst vor ihm. Balg verfügte über Bärenkräfte. Wo er hinschlug, wuchs kein Gras mehr. Emanuel Bodelschwingh wusste mittlerweile zur Genüge über die Gefährlichkeit seines Sohnes Bescheid. Balgs Drohung, ihn in der Mitte auseinanderzureißen, falls er noch einmal die Hand gegen ihn erheben sollte, hatte er nicht vergessen. Balg hatte immer wieder davon geträumt, wie er seinen Vater totschlug und sich so für die zahlreich erlittene Pein rächen würde. Fern von jeder Schulbildung, hatte Balg zwar nichts gelernt, besaß aber eine Gerissenheit und eine Schläue, die selbst seinem Vater Respekt einflößten. Er akzeptierte den Sohn mehr und mehr. Schließlich war es sogar Balg gewesen, der ihm das Leben rettete. In dem Jahr, in dem er sein Henkersamt verloren und ihm die Stadt mit einem Fußtritt für seine niedere Arbeit gedankt hatte, war er mehr und mehr dem Alkohol verfallen. Zudem wurde er aus seiner Wohnung geworfen, weil er mit der nun notwendig gewordenen Tagelöhnerei und Quacksalberei kaum über die Runden kommen konnte. Seine spärlichen Einnahmen ließen ihn Tag und Nacht darüber nachdenken, wie wieder gutes Geld zu verdienen war. Von einem versoffenen und verarmten Arzt, der mit einem Berufsverbot belegt worden war und den er bei seinen Trinkgelagen kennengelernt hatte, ließ er sich weitere medizinische Kenntnisse beibringen. Diese Wissenschaft, für die er sich sowieso schon immer interessiert hatte, beherrschte er bald mehr und mehr. Bodelschwingh ahnte, dass er damit etwas anfangen konnte. Über zwei Jahre verkehrte er mit dem Arzt, der ihn präziser, als er es bei seinen Leichenöffnungen selbst hatte tun können, über den menschlichen Körper aufklärte und ihn in der Arzneimittelkunde unterwies. Seine inzwischen guten Kenntnisse ergänzte er mit allerlei Zauberei. Wo und wann es ihm möglich war, besorgte er sich Informationen über die Heilkunst. Mit der Zeit verfügte er über ein Sammelsurium von Wahrheiten, Halbwahrheiten und bloßen Spekulationen zur Behandlung von Krankheiten. An einem kalten Novemberabend ließ er den sturzbetrunkenen Arzt einfach hilflos hinter einer Baumgruppe liegen. Dieser hatte seine Schuldigkeit getan, aber buchstäblich den letzten Rest seines Verstandes im Suff ertränkt. Sollte der Narr eben in der kalten Nacht erfrieren. Was ging das ihn an? Mit diesen Gedanken im Kopf hatte er bereits ein gutes Stück Weges zurückgelegt. Er bog in eine um diese Zeit fast dunkle Seitengasse der Hauptstätter Straße ein. Ihm war nicht wohl. Es roch modrig, aus allen möglichen Ecken waren Geräusche zu vernehmen, doch sehen konnte man nur schemenhaft und mit zusammengekniffenen Augen. Die Gefahr kam von links. Im letzten Moment nahm er noch den Schatten wahr, der sich behände auf ihn zubewegte. Bodelschwingh machte eine Ausweichbewegung, etwas sauste auf seinen rechten Oberarm herab. Unmittelbar darauf durchfuhr ihn ein Schmerz, sodass er instinktiv nach seiner linken Schulter griff. Er stolperte nach vorn und begann, um Hilfe zu rufen. Doch der Schatten packte ihn bereits wieder. Etwas Hartes wurde gegen ihn gerammt, seine dicke Ledertasche fing den Schlag auf. Wenig später konnte er sehen, dass ein Messer das Leder getroffen hatte. Seine Hilfeschreie jedoch hatte sein Sohn gehört, der ebenfalls in dieser späten Nacht unterwegs gewesen und zufällig keine 200 Schritte hinter ihm durch die Dunkelheit gestreift war. Bodelschwingh spürte noch zwei enorme Schläge auf seinen Hinterkopf. Er ging zu Boden. Jemand senkte sich über ihn. Aus einem Augenwinkel heraus sah er eine schwarze Gestalt, die ausholte. Bodelschwingh, unfähig zu jeglicher Gegenwehr, schloss die Augen. Er hatte in diesem Moment mit seinem Leben abgeschlossen. Plötzlich stieß jemand einen jämmerlichen Schrei aus, der aber unmittelbar in ein Gurgeln und gequältes Krächzen überging. Der Schatten wurde zurückgerissen. Arme ruderten hilflos durch die Luft, dann knallte die Gestalt auf die Pflastersteine. Eine andere Person sprang dem auf dem Boden Liegenden ins Gesicht und trat noch etliche Male zu. Als sich Bodelschwingh aufrappelte, bemerkte er mit Erleichterung und Entsetzen zugleich seinen Sohn, der mit seinen Stiefeln dem Räuber das Gesicht zermalmte. Balg schnappte nach getaner Arbeit seinen Vater. Er warf ihn sich regelrecht über seine Schulter und trug ihn mit schnellen Schritten nach Hause. Als noch in der Nacht ein Betrunkener über den Schwerverletzten in der dunklen Gasse stolperte, lagen beide bereits in ihren Betten. Erstmals bedankte sich Bodelschwingh bei seinem Sohn. Balg spürte daraufhin ein bisher unbekanntes Glücksgefühl. Noch nie war ihm eine Anerkennung seines Vaters zuteilgeworden. Er nahm sich vor, um dieses Gefühl immer wieder erleben zu können, zukünftig auf die Wünsche und Forderungen seines Vaters Rücksicht zu nehmen. Und tatsächlich entwickelte sich nach diesem schrecklichen Geschehen ein fortan vertrauliches Verhältnis zwischen den beiden, die nur allzu gut wussten, dass sie aufeinander angewiesen waren, um zu überleben.

Bodelschwingh hatte das 70. Lebensjahr bereits überschritten. Er war ein alter, gebeugter und von verschiedenen Krankheiten geplagter Mann. Zudem stank er nach Alkohol und sonstigen Ausdünstungen. Seine beständig tränenden Augen waren schon lang entzündet und wer nicht unbedingt mit ihm zu tun haben musste, mied diesen Menschen. Seine abstoßende Erscheinung erschreckte jeden Zeitgenossen. Doch hatte sich auch seine Heilkunst herumgesprochen. Nicht wenige sahen in ihm einen Hexer, zumindest einen Zauberer, der immerhin in von den Ärzten nicht mehr behandelbaren Fällen schon manchen vor dem Sensenmann bewahren konnte. Niemand konnte sich erklären, wie er Derartiges anstellte. Es mischte sich Furcht und Hoffnung bei denjenigen, die ihn – oft nach langem Zögern – aufsuchten und seine Hilfe in Anspruch nehmen wollten. Kaum jemand, der sich in seiner verschmutzten Behausung nicht ekelte. Niemand fühlte sich gut, wenn Bodelschwingh an ihm herumfingerte. Schon vor Jahren hatten er und sein Sohn aus der Esslinger Vorstadt wegziehen müssen. Sie fanden Unterschlupf in einem halbverfallenen, modrig riechenden Haus in Heslach. Bis zum Schloss in Stuttgart musste man von diesem Weiler mit seinen katastrophalen Wohnverhältnissen mehr als eine halbe Stunde Fußmarsch auf sich nehmen. Aber es lebte sich trotz des kümmerlichen Häuschens einigermaßen sicher in diesem 700-Seelen-Ort. Als im Juli 1796 der Weiler von französischen Truppen geplündert und viele Einwohner misshandelt worden waren, schlug gar die Stunde von Balg. Der für die Aufrechterhaltung der Ordnung im Dorf zuständige Dorfschütze Benno Rößle musste mit ansehen, wie die Franzosen seinen Freund Johannes Schleehauf totschlugen. Fast wäre es ihm genauso ergangen. Doch Balg kam ihm zu Hilfe. Die beiden konnten sich retten und vor den Franzosen fliehen. Als die fremden Truppen weitergezogen waren, setzte sich Rößle beim Stuttgarter Magistrat und beim Kirchenkonvent für Balg ein. Er wurde daraufhin zum Mitglied der Nachtwache für den Weiler bestellt. Fortan musste er des Nachts für Ruhe und Ordnung sorgen und bei der Entdeckung eines Feuers sofort Alarm schlagen. Diesen Aufgaben ging er gern nach. Er wurde alsbald von den Bewohnern nicht nur respektiert, sondern geschätzt, weil er rund um die Uhr für Sicherheit sorgte. Der Dorfschütze machte ihn zu seiner rechten Hand. Die ihm übertragene Verantwortung bekam dem Sohn von Bodelschwingh gut. Er hatte seine Aufgabe gefunden und machte sich sogar Hoffnung, das Amt des Dorfschützen übertragen zu bekommen, da dieser seinen Dienst nur noch wenige Jahre versehen wollte. Balg war nun 33 Jahre alt, ein Baum von einem Mann, den niemand zum Gegner haben wollte. Seit Jahren hoffte der alte Bodelschwingh, er würde vielleicht doch noch eines der jungen Dinger, die ihm schöne Augen machten, zur Frau nehmen. Sich selbst über seine Gefühlswelt wundernd, wünschte sich der Alte sogar seit geraumer Zeit einen Enkel. Aber Jahr für Jahr war dahingegangen. Bodelschwingh ahnte, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Umso hastiger rasten seine Gedanken. Tag für Tag überlegte er, wie er zu einem Enkelkind kommen könnte. Balg jedoch brach lieber manches Mädchenherz und wollte seine Freiheit behalten. Eine Familie gründen, eine feste Bindung eingehen? Niemals.

Bodelschwingh hielt, seit ihn sein Sohn in der schrecklichen Nacht beschützt hatte, fest zu ihm. Im Lauf der Zeit entwickelte er tatsächlich väterliche Gefühle. Er verspürte gar einen heimlichen Stolz. Nur wollte sich sein Sohn einfach keine Frau suchen.

Stuttgart/Heslach – August 1799

Elsbeth kam vorsichtigund umständlich auf ihr Thema zu sprechen. Schon ihre Nähe tat Agnes wohl, auch wenn ihre tiefe Niedergeschlagenheit dadurch kaum grundlegend gebessert werden konnte. Elsbeth gab ihr Sicherheit, ja so etwas wie Geborgenheit, und nach wie vor hörte sie auf deren Rat.

»Manche Frauen können einfach nicht empfangen. Die Natur richtet das ein und niemand kann helfen.«

»Warum muss das gerade mir passieren? Alles könnte so schön sein. Wie wundervoll es ursprünglich mit meinem Mann gewesen ist. Und jetzt stehe ich vor einem Scherbenhaufen. Ich fühle mich so elend, so schuldig.«

»Du musst die Schuld nicht bei dir suchen. Wir haben ja schon viel versucht. Selbst die Ärzte wissen keinen Rat. Wer weiß schon, woran das liegen mag.«

»Rüdiger wird von Mal zu Mal ungehaltener. Seine Vorwürfe ertrage ich kaum mehr. Und meine Schwiegermutter, die mich noch nie mochte, schürt beständig seinen Unwillen. Dass ich eine Bürgerliche bin, hat sie bis heute nicht verwunden. Wenn das so weitergeht, weiß ich nicht mehr, was werden soll.«

»Dein Mann ist ungerecht. Sicherlich steht er unter einem starken Einfluss seiner Frau Mutter. Aber er müsste doch sehen, dass du unter der Situation noch mehr leidest als er selbst.«

»Ich glaube, er wird sich von mir trennen. Oder er nimmt sich eine Geliebte, mit der er dann Kinder haben kann. Unlängst sagte er mir ins Gesicht, mit einer anderen Frau hätte er längst einen Stammhalter.«

»Der gnädige Herr weiß nicht mehr, was er sagt und tut. Er hat jegliches Maß verloren.«

»Was kann ich nur tun? Gibt es denn gar keinen Ausweg?«

Auf diese Fragen hatte Elsbeth nur gewartet. Sie boten die Gelegenheit, um einen Gedanken ins Spiel zu bringen, der sie in ihrem Innern selbst erschreckte. Aber er musste ausgesprochen werden. Es war vielleicht die letzte Chance, die letzte Möglichkeit, um Agnes’ Ehe zu retten.

»Es gibt da einen Heiler, einen alten, verhutzelten Mann in Heslach. Man sagt ihm Wunderdinge nach. Unter uns Hausmägden gibt es sogar die eine oder andere, die sich bereits an ihn gewandt hat. Er muss ein übler Mensch sein, wüst und roh und von hässlicher Gestalt. Aber scheinbar verfügt er über Fähigkeiten, die selbst in aussichtslosen Fällen geholfen haben.«

»Ich verstehe nicht ganz …«

»Ich zerbreche mir den Kopf, seit Wochen wäge ich ab, überlege, verwerfe wieder, um dann doch …«

»Gibt es denn einen Hoffnungsschimmer? Weißt du etwas?«

»Ich bin mir keineswegs sicher. Zudem erschrecke ich selbst bei dem Gedanken an ihn.«

»Wen meinst du?«

»Eben diesen Heiler. Hast du noch nie von ihm gehört?«

»Nein, ich habe keine Ahnung, wen du meinst.«

»Es handelt sich um den ehemaligen Scharfrichter. Man sagt ihm übernatürliche Fähigkeiten nach. Manche munkeln, er sei mit dem Teufel im Bund. Andere sprechen von Zauberei und Hokuspokus. Nicht wenige, die ihn kennen, äußern sich nur sehr vorsichtig über ihn und geben zu, dass er ihnen Angst einflöße.«

»Bist du ihm selbst schon einmal begegnet?«

»Ich habe ihn nur zweimal von Weitem gesehen. Ganz schwarz ist er gekleidet. Und selbst auf die Entfernung fürchtete ich mich vor ihm.«

»Aber er vermag vielleicht zu helfen?«

»Das ist ja das Geheimnisvolle. Da gibt es Berichte, auch von besseren Herrschaften. Danach hatte er sogar in aussichtsloser Lage Erfolg.«

»Kennst du seinen Namen? Und weißt du, wo genau er wohnt?«

»Ich kenne ihn nur unter dem Namen ›Der Heiler‹. Er haust mit seinem Sohn zusammen in einem finsteren, verfallenen Haus im Weiler Heslach.«

»Das hört sich übel an.«

»Ich weiß. Wer da nicht unbedingt hin muss, macht einen großen Bogen um ihn.«

»Falls er aber doch helfen könnte? Ich bin ja bereit, nach jedem Strohhalm zu greifen!«

»Meine Freundin weiß mehr über ihn. Sie war mit ihrer Tochter dort. Es muss überaus furchterregend gewesen sein. Aber nach zwei Besuchen bei dem Heiler hatten die Anfälle ihrer Tochter aufgehört. Und das, nachdem sie die Hoffnung schon fast aufgegeben hatten. Sie spricht zwar heute noch mit Angst in der Stimme von ihm. Doch lobt sie ihn gleichzeitig in höchsten Tönen als denjenigen, der als Einziger hatte helfen können.«

»Könntest du nicht versuchen, mit ihm in Verbindung zu treten?«

»Ich fürchte mich genauso vor ihm. Aber für dich würde ich es tun. Ich wäre so froh, wenn alles wieder gut werden würde.«

»Liebe Elsbeth. Bitte versuche es. Um meinetwillen. Versuche herauszubekommen, was er von meiner Situation hält. Wenn wir danach einen Funken Hoffnung sehen, würde ich zu ihm gehen.«

Die beiden Frauen besprachen noch manche Einzelheiten. Auch vereinbarten sie Stillschweigen. Niemand durfte von ihrem Plan wissen, schon gar nicht Agnes’ Mann oder die Schwiegermutter. Es sollte ihr Geheimnis bleiben. In Agnes keimte immerhin wieder etwas Hoffnung auf. Sie konnte sich nicht vorstellen, um wen es sich bei dem Heiler wirklich handelte. Aber sie war zum Äußersten bereit. Jede Möglichkeit, doch noch ein Kind zu bekommen, wollte sie probieren. Darüber hoffte sie, dass ihre Ehe mit Rüdiger von Hayden endlich wieder so schön und harmonisch werden würde wie am Anfang.

Elsbeth kümmerte sich bereits am nächsten Tag um die weiteren Schritte. Sie ging sehr vorsichtig zu Werke. Vor allem musste sie darauf achten, dass der gnädige Herr und dessen Mutter nichts bemerkten. Letztlich konnte sie es an einem ihrer seltenen freien Nachmittage einrichten. Sie suchte den Heiler auf. Ihr war nicht geheuer zumute, als sie, von der Tannenmühle kommend, auf Heslach zumarschierte. Dann stand sie vor den ersten Hütten. Ein betrunkener Bettler saß fluchend am Ortseingang. Er streckte ihr eine Hand entgegen. Als sie ihn ignorierte, fing er böse zu schimpfen an. Sie schritt eiligst das Sträßchen ab, zu dessen linker und rechter Seite verkommene einstöckige Häuser standen. Dann musste sie einen Moment innehalten, weil sie nicht genau wusste, welchen der abbiegenden Wege sie nehmen sollte. Zwei alte Frauen blickten ihr misstrauisch nach. Kaum dass sie weiterging, tuschelten sie miteinander. Ein bis auf einen ledernen Lendenschurz nackter, über und über mit Schmutz bedeckter Knabe folgte ihr. Als sie in eine schmale Gasse einbog, fasste der Junge nach ihr. Lallend versuchte er, sich verständlich zu machen. Er zerrte, blöde grinsend, an ihrem Rock. Elsbeth erschrak. Plötzlich kreischte er laut. Wehklagend legte er sich auf den Boden und hämmerte laut brüllend auf den Boden ein. Ein älterer Junge trat aus einer Haustür.

»Das ist unser Dorfdepp. Unser Idiot. Musst dich nicht erschrecken!«

Der Junge hielt ebenfalls eine Hand ausgestreckt. Er wartete auf eine Belohnung. Doch Elsbeth hatte nichts dabei, was sie ihm hätte geben können. Als sie einfach weiterging, schimpfte der Knabe enttäuscht hinter ihr her. Den Kopf gesenkt und die Arme fest vor der Brust verschränkt, lief sie raschen Schrittes durch die nächste Gasse. Es stank nach Fäkalien, da die armen Anwohner ihre Notdurft offensichtlich einfach vor ihren Häusern verrichteten. Ständig musste sie dem Unrat ausweichen. Am Ende der Gasse musste sie noch einmal rechts abbiegen. Dann sah sie das Haus, wie es ihr beschrieben worden war. Nachdem sie einen stinkenden Eingangsbereich durchquert hatte, stand sie nach wenigen Schritten in einem kleinen Hof, an dessen hinteren Teil sich ein weiteres einstöckiges Gebäude mit den zwei Wohnräumen des Heilers anschloss. Die Tür stand halb offen. Vorsichtig spähte Elsbeth in den dunklen Raum. Sie konnte aber kaum etwas erkennen. Zunächst zögerte sie, dann nahm sie all ihren Mut zusammen und klopfte an die Tür. Als nichts geschah, wiederholte sie ihr Klopfen ein wenig energischer als beim ersten Mal, und als gleich darauf eine alte Stimme zornig antwortete, schlug ihr Herz wild vor Aufregung und Angst. Jemand schlurfte schimpfend auf die Tür zu. Aus dem dunklen Innenraum tauchte ein recht großer, ganz in schwarz gekleideter Mann auf. Ein verlebtes, vernarbtes und schmutziges Gesicht, in dem ihr die tränenden und entzündeten Augen besonders auffielen, zeigte sich Elsbeth, die erschrocken einen Schritt zurückwich. Sich am Türknauf festhaltend, widerstand sie dem Impuls zu fliehen. Sie suchte nach Worten. Der Heiler kam ihr so nahe, dass sie seine Ausdünstungen riechen konnte. Angewidert drehte sie den Kopf zur Seite.

»Was willst du?«

Die knorrige, etwas schrille Stimme flößte Elsbeth noch mehr Angst ein. Sie wollte gerade zu sprechen beginnen, da blaffte sie der Heiler gleich wieder an.

»Ich kenne dich nicht. Hast du vor, mich unnötig zu stören? Sag, dummes Weib!«

Stotternd brachte Elsbeth hervor, dass sie von ihm und seiner Kunst, auch noch in aussichtslosen Fällen helfen zu können, gehört habe. Das schmeichelte dem Heiler. Er wurde etwas freundlicher und verzog seinen Mund, der nun einige verfaulte Zähne zeigte, zu einem Grinsen.

»Ich vermute, du hast ein Problem. Sag schon, worum geht es dabei? Meine Zeit ist begrenzt und ich lasse mich nicht gern aufhalten.«

Elsbeth wollte noch nicht mit der ganzen Wahrheit herausrücken. Sie druckste herum, was den Heiler erneut in Rage brachte. Er drehte sich um, stieß einen Fluch aus und wollte sich augenscheinlich wieder in den hinteren Teil des Raumes zurückziehen.

»Es geht nicht um mich. Ich komme im Auftrag meiner Herrin.«

Diese Worte ließen den Heiler umkehren. Jedenfalls hörte sich das interessant an. Er hatte Elsbeth sofort als Dienstmagd eingestuft. Bei so einer war nichts zu holen und nichts zu verdienen. Deshalb war er von vornherein abweisend aufgetreten. Nun schien sich aber doch mehr abzuzeichnen.

»Heraus mit der Sprache«, sagte er in verbindlicherem Ton.

Zögernd suchte Elsbeth nach den richtigen Worten. Manchmal geriet sie ins Stocken, weil sie ihre Worte sorgfältig abwägte. Dann jedoch hatte sie dem Heiler alles mitgeteilt, was wichtig war. Nur den Namen ihrer Herrin verschwieg sie. Der Heiler erkannte instinktiv seine Chancen. Er zeigte trotzdem lediglich ein geringes Interesse, fragte sogar, was er denn in einem solchen Falle wohl tun solle, und dass er keine Wunder vollbringen könne.

»Man spricht aber davon.«

»Wovon?«

»Aussichtslose Fälle! Bei denen Sie wahre Wunder bewirkt haben.«

»So, so! Wahre Wunder!«

»Ja. Mehrere Personen, denen Sie eine Hilfe gewesen sind, kenne ich persönlich. Deshalb meine Hoffnung. Oder besser, die Hoffnung meiner Herrin.«

Längst war das Interesse des Heilers geweckt. Dabei ging es ihm nicht in erster Linie um den wohl in Aussicht stehenden schönen Verdienst. Seine Gedanken kreisten um eine ganz andere Möglichkeit. Er musste sich sogar beherrschen, damit Elsbeth nicht mitbekam, wie sehr ihn die sich ihm bietende Chance in Aufregung versetzte. Das gesamte Gespräch wurde zwischen Tür und Angel geführt. Elsbeth war zunehmend mutiger geworden. Sie konnte ihm ins Gesicht sehen und hielt dabei sogar seinem stechenden Blick stand. Die schlechte Luft, seinen üblen Geruch und das ganze hässliche Äußere der Umgebung nahm sie schon gar nicht mehr wahr. Der Heiler konnte ihr Hoffnung machen. Das allein zählte und interessierte sie. Schließlich forderte er sie auf, alles ihrer Herrin zu berichten.

»Sie soll alsbald herkommen. Mir scheint Hilfe möglich. Sag ihr nur, ich halte ihren Fall keineswegs für aussichtslos.« Zu diesen Worten grinste der Heiler dämonisch. Elsbeth nickte. Sie murmelte einen Dank, drehte sich gleich darauf um und machte sich schleunigst auf den Rückweg.

Heslach – August 1799

Als Agnes ausdem Nebel der die Ohnmacht ablösenden Benommenheit erwachte, spürte sie fast augenblicklich, was ihr angetan worden war. Sie erschrak auf das Heftigste, wobei eine Welle der Übelkeit ihren geschundenen Körper überflutete. Voller Entsetzen erbrach sie sich. Kaum fähig, sich zu beruhigen, schüttelte sie heftig den Kopf, gerade so, als könnte sie damit das auslöschen, was ihr widerfahren war. Tränen der Verzweiflung liefen über ihr Gesicht. Voller Angst fing ihr Körper unkon­trolliert an zu zittern. Immer wieder musste sie würgen. Die Übelkeit nahm an Stärke zu. Sie schämte sich, fühlte eine nie gekannte Erniedrigung. Laut schluchzend warf sie sich auf das schmutzige Lager. Sie biss sich in die Faust, flehte ihren Herrgott um Vergebung an und ahnte doch zugleich, dass es keine Absolution geben würde.

Dann öffnete sich die Tür. Der Heiler trat ein. Sie kauerte auf der Pritsche, nicht fähig, ihn anzusehen. Als wäre sie irre geworden, biss sie sich ständig in die Faust, murmelte Unverständliches vor sich her. Dabei lief ihr das sauer Aufgestoßene ihres Mageninhaltes die Mundwinkel herunter. Sie bot einen jämmerlichen Anblick, von dem der Heiler aber gänzlich unberührt blieb.

»Dein Entsetzen wird nur vorübergehender Natur sein«, begann er, innerlich triumphierend. »Wenn du dich erst einmal beruhigt haben wirst und ein wenig Zeit vergangen sein wird, wirst du gar das Glück der werdenden Mutter verspüren. Das ist es doch, was zählt.«

Agnes nahm seine Worte wie etwas Unwirkliches wahr. Kopfschüttelnd wollte sie all das verneinen, was der Heiler zum Ausdruck brachte. Dieser fuhr ungerührt fort.

»Niemand wird erfahren, was heute vor sich gegangen ist. Das bleibt allein unser Geheimnis. Lebe einfach so wie bisher, sei deinem Ehegatten weiterhin die gute, treu sorgende Frau. Bestimmt wird er sich in wenigen Wochen freuen, wenn du ihm von den anderen Umständen berichten kannst. Mehr braucht es nicht, mehr braucht er auch gar nicht zu wissen.«

Wieder übermannte sie ein Brechreiz. Heftig würgend, drehte sie sich weg von dieser hässlichen Gestalt, die ihr solch ein Leid zugefügt hatte. Der Heiler drängte alsbald zum Aufbruch. Es war schon zu viel Zeit vergangen. Er musste sie nun rasch loswerden, ehe man sich im Haus des vornehmen Herrn von Hayden womöglich fragte, wo sich dessen hübsche Gattin so lange aufhielt. Es musste alles vermieden werden, was auf eine Unregelmäßigkeit hindeuten könnte.

»Weib, du wirst das bekommen, was dir und deinem Mann schon lang Wunsch gewesen ist. Das ist das einzig Wichtige. Beruhige dich jetzt! Ich habe schon gehört, dass deine Kutsche vorgefahren ist. Du musst dich unverzüglich auf den Weg machen.«

Als mit einem Knarren die Tür aufging und Balg ins Zimmer treten wollte, herrschte ihn sein Vater ungewohnt scharf an.

»Verschwinde! Ich habe dir doch gesagt, du sollst erst einmal wegbleiben. Ich erledige den Rest allein.«

Agnes’ Entsetzen und Übelkeit steigerten sich angesichts des Heilersohnes, der sich an ihr vergangen haben musste. Nur kurz hatte sie in das Gesicht dieses starken Mannes gesehen. Sie war sich ganz sicher: Erst hatte sie der Heiler den bitteren Saft schlucken lassen, worauf ihr die Sinne schwanden. Dann musste sein Sohn die Situation ausgenutzt und sich an ihr vergangen haben. Am liebsten hätte sie um Hilfe gerufen. Aber was würde das nutzen? Sie hatte sich in eine furchtbare Lage gebracht. Wenn sie es nur ungeschehen machen könnte! Ihr wurde wieder speiübel und sie drehte sich zur Seite. Ihr Magen rebellierte. Der Heiler wartete geduldig ab. Als sie wieder ruhiger atmete, mahnte er sie noch einmal zum Aufbruch. Agnes, obwohl sehr benommen, war aber nun in der Lage, die möglichen Konsequenzen einer zu späten Heimkehr abzuschätzen. Deshalb zwang sie sich mit der ihr verbliebenen Energie zum Aufstehen. Ihre Kleider ordnend, schleppte sie sich zur Tür, zwang sich mit einer großen Kraftanstrengung, ruhiger zu werden, und verließ den Heiler, ohne ihn noch einmal eines Blickes zu würdigen. Wenige Minuten später befand sie sich bereits auf dem Heimweg. Zuhause angekommen, eilte sie unverzüglich in ihr Schlafgemach. Sie entledigte sich ihrer Kleidung. Dann bat sie eine Dienerin, ihr warmes Wasser bereitzustellen. Sie musste sich jetzt um sich selbst kümmern. In der Kutsche hatte sie entschieden, niemanden etwas merken zu lassen. In dieser Hinsicht wollte sie den Rat des Heilers befolgen. Zwar schämte sie sich abgrundtief für das, was ihr angetan worden war. Doch nach und nach gewann die Einsicht die Oberhand, über alles Stillschweigen bewahren zu müssen. Sie wollte ihr Leben weiterführen wie bisher, auch wenn sie in ihrem Innersten spürte, dass die Schändung furchtbar auf ihr lasten würde. Sie begann sich sogar einzureden, alles wäre nur zur Rettung ihrer Ehe und Liebe geschehen. Und tatsächlich konnte sie darüber wieder ihre Fassung gewinnen. Wer sie am Abend dieses Tages gesehen und gesprochen hätte, wäre niemals auf den Gedanken gekommen, dass sie Schlimmes hinter sich hatte. Agnes hatte sich wieder in der Gewalt. Nicht einmal Elsbeth vertraute sie sich in diesen Stunden an. Ihre treue Beschützerin war die ganze Zeit voller Unruhe gewesen. Sie hatte sich selbst mit Vorwürfen gequält. Als Agnes in die Kutsche stieg, musste sie noch in ein bleiches, entsetztes Gesicht blicken. Sie wagte kein Wort. Agnes wollte sich auch nicht in den Arm nehmen lassen. Sie drehte sich von ihr weg. Erst beim Abendessen sprach Agnes mit ihr. Sie sah viel besser aus, hatte sich zurechtgemacht. Alles schien wieder in Ordnung.

»Geht es dir gut?«

Vorsichtig versuchte Elsbeth einen Gesprächsbeginn. Nach kurzem Zögern antwortete Agnes.

»Es muss unser Geheimnis bleiben. Was immer auch geschehen wird, niemand darf jemals von meinem Besuch beim Heiler erfahren. Verstehst du, Elsbeth? Niemand und niemals!«

Elsbeth nickte. Sie hielt den Blick gesenkt. In Gedanken prüfte sie noch einmal, ob ihre Vorsichtsmaßnahmen ausreichend gewesen waren. Der Einzige, den sie einweihen musste, war ihr Bruder, der als Kutscher die Hin- und Rückfahrt übernommen hatte. Auf ihn konnte sie sich 100-prozentig verlassen. Zudem ahnte er nicht im Entferntesten den Grund für den Besuch beim Heiler. Der Hausherr selbst befand sich auf einer Geschäftsreise in Salzburg, er wurde erst in zwei Tagen zurückerwartet. Zum wiederholten Mal bestätigte sie sich selbst ihre geschickte, verschwiegene Vorgehensweise. Sie hatte an alles gedacht. Sie hoffte nun inständig, die ganze Mühe würde sich lohnen. Mit einem gezwungenen Lächeln schaute sie jetzt Agnes an.

»Es wird schon alles gut werden, meinst du nicht auch?«

Agnes gab nicht sofort eine Antwort. Sie räusperte sich, tupfte ihren Mund mit der schneeweißen Serviette ab, zögerte noch einen Moment, beugte sich dann weit über den Tisch und sagte mit leiser Stimme: »Wenn wir zusammenhalten, kann nichts passieren.«

Agnes wusste genau, was sie sagte. Sie hatte sofort gewusst, dass ihr Gewalt angetan worden war. Ihr Entsetzen und ihr Ekel drohten sie zunächst in einen tiefen Strudel der Verzweiflung zu treiben. Zu Hause, als sie badete, löste sich dieses Gefühl. Zwar hatte sie sich mehrfach übergeben müssen, doch langsam verging der peinigende Brechreiz. Was wirklich geschehen war, sollte ihr Geheimnis bleiben. Nicht einmal Elsbeth erfuhr von der eigentlichen Untat des Heilersohnes, sonst hätte sie wohl den Verstand verloren. Agnes ließ sie in dem Glauben, irgendetwas Absonderliches hätte sich abgespielt.

Stuttgart – April 1800

Rüdiger von Hayden war außer sich vor Freude gewesen. Es schien, als ob alles strahlender, fröhlicher werden würde. Agnes erlebte nach Jahren erstmals wieder einen Ehemann, der sie glücklich in die Arme nahm, ihr Geschenke mitbrachte und ihr jeden Wunsch von den Augen ablas. Jetzt war es gewiss gewesen! Damals lag ihre letzte Monatsregel schon über drei Monate zurück. Zudem wurde Agnes in dieser Zeit an etlichen Tagen morgens immer von einer heftigen Übelkeit geplagt. Als sie sich ihrem Gatten an einem späten Herbsttag endlich offenbarte, änderte sich buchstäblich alles. Der für ihn so wichtige Stammhalter kündigte sich an. Dass er einen Sohn bekommen würde, stand für ihn außer Frage. Keinen Gedanken verschwendete er an die Geburt eines Mädchens. Fünf Monate später konnte Agnes’ Schwangerschaft nicht mehr übersehen werden. Sie gab sich tagsüber als heitere und sorgende werdende Mutter, die sich um die Kleidung des nahenden Nachwuchses und um das Einrichten des Kinderzimmers kümmerte. Niemand ahnte, wie sie in manchen Nächten von Albträumen heimgesucht wurde. Sie erwachte oft genug schweißgebadet und zitternd. Ihr Mann führte das auf die Schwangerschaft zurück und maß dem allem keine Bedeutung bei. Nur Agnes wusste um den wahren Grund. Je näher der Tag der Geburt rückte, umso mehr fragte sie sich, wessen Kind in ihrem Leib heranwuchs. Innerlich zitterte sie in solchen Momenten. Sie versuchte meist umsonst, diese quälenden Gedanken wegzuschieben. Elsbeth bemerkte an den Tagen nach solchen Nächten in den Augen von Agnes eine abgrundtiefe Angst. Sie wagte aber keine Frage. Sie fürchtete sich mehr und mehr vor den Blicken Agnes’. Das, was sie dort sehen konnte, ängstigte auch sie. Sie ahnte eine drohende Gefahr, die sie nicht beschreiben und benennen konnte. Doch sie war da, diese Gefahr, spürbar wie ein entfernt aufziehendes gewaltiges Gewitter, das niemanden verschonen würde. Von Hayden dagegen schwelgte in aufgeregter Erwartung. Er sehnte den Tag der Geburt herbei. Tatsächlich freute er sich über alle Maßen auf sein Kind.