Figurina - Gitta Glöckner - E-Book

Figurina E-Book

Gitta Glöckner

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Beschreibung

Die Blicke der vielen Schlangenaugen fräsen sich einen Weg in sein Gehirn, verfestigen seine Datenbahnen, kalzinieren seine Synapsen. Seit dieser Zeit schreibt die Furcht vor dem Zeitlosen mit. Mehr als er sieht, spürt Peter die unzähligen Schlangenhände, die gierig nach ihm greifen und unwiderruflich in die Pendelscheibe hinein ziehen. Eine irrwitzige Wette mit Wesen aus einer unbekannten Welt führt Peter auf eine Reise zu seinen Geschöpfen. Er steht vor der übermenschlichen Aufgabe, alle je von ihm geschaffenen Figuren zu retten oder mit ihrem Untergang auch sein kreatives Leben zu beenden.

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Inhalt

Peter schreibt als Autor für einen Verlag. Früher einmal erfolgreich mit seinen Geschichten, fehlt ihm heute der Zugang zu seinen Figuren und damit zu einer schlüssigen und spannenden Story. Er schreibt nur noch, weil er vertraglich gebunden ist. Er hetzt von Buch zu Buch und vergisst dabei seine Passion und fast sich selbst.

Eine irrwitzige Wette mit Wesen aus einer unbekannten Welt führt ihn auf eine Reise zu seinen Geschöpfen. Er steht vor der übermenschlichen Aufgabe, alle je von ihm geschaffenen Figuren zu retten oder mit ihrem Untergang auch sein kreatives Leben zu beenden.

Dramatische Ereignisse wechseln sich ab mit phantastischen Begegnungen und psychischen Bewährungsproben, die aus einem Lehrling der Schreibkunst eventuell einen Magier der Worte erwachsen lassen.

Begleiten Sie Peter auf seinem Weg. Schafft er die Kehrtwende vom Sklaven seines Tuns zum Helden seines Lebens?

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Das Ultimatum der Uhr

Treffen in Grau

Die geheime Schublade

Die Töchter der Kunst

Der gefangene Riese

Träume und Klarheit

Mnemosgyne

Der Apfelprinz

Der Uralte

Ein Begleiter

Die weiße Abteilung

Geschöpfe und Wünsche

Noch eine Frage an Mnemosgyne

Auf den Punkt gebracht

Ein Ende und ein Anfang

Der heimatliche Schreibtisch

Abgabetermin

Lesung im Theater

Ein unverhofftes Wiedersehen

Die Hüterin der Zeit

Weitere Bücher der Autorin

Impressum

Das Ultimatum der Uhr

Er schwitzt.

Seine Hände sind feucht.

Die Augen starren bereits minutenlang auf den Bildschirm.

Peter verspürt starke Schmerzen im Nacken.

Er kann sich nicht rühren und will es auch gar nicht.

Die Angst umschleicht ihn, dass die Schmerzen dann noch stärker werden könnten.

Lähmender Stillstand schwebt durch den Raum, tauscht

wissende Blicke mit der Angst.

Plötzlich zuckt der Mann am Schreibtisch zusammen. Der daraus resultierende Stich drückt seinen Kopf tiefer in Richtung der Tastatur. Seine Finger verkrallen sich in der

Tischplatte.

Die Uhr hat geschlagen.

Wieder!

Hart, kalt, unerbittlich!

Peter kann sie nicht sehen. Sie hängt hinter ihm an der Wand.

Es ist ein uraltes, wunderschönes Technikwerk mit einem Pendel. Der Pendelkörper ist eine Scheibe aus Messing. Eine Sonnenblüte mit unzähligen Blütenblättern ist darauf abgebildet.

So sieht es aus, für jeden Außenstehenden.

Er aber weiß es besser!

Was man wirklich sieht, ist das Haupt der Medusa. Wenn die alte Uhr mit ihrem Blumen verzierten Holzkörper schlägt, erwachen die Schlangenköpfe. Es zischt und wispert dann hinter seinem Rücken. Und obwohl er seine Medusa nicht anschaut, spürt er die steinige Kälte des Erstarrens.

Die Blicke der vielen Schlangenaugen fräsen sich einen Weg in sein Gehirn, verfestigen seine Datenbahnen, kalzinieren seine Synapsen.

Mit jedem Stundenschlag wird es kälter, dauert der Versteinerungsprozess länger.

Peter ballt die Fäuste, presst kurz die Augen zusammen und schreibt weiter.

Er schreibt und schreibt und schreibt.

Die Uhr schlägt. Noch drei Stunden! Er kann es schaffen!

Er schreibt und schreibt.

Der Text ist nicht besonders gut, nicht mal gut. Aber er schreibt und füllt seine Seiten.

Die Uhr schlägt! Zwei Stunden nur noch. Nicht denken!

Schreiben!

Er schreibt. Er hetzt seine Figuren durch die Geschichte.

Was soll das?

Egal!

Die Uhr schlägt. Die Schlangenköpfe erwachen, kriechen durch die Luft heran mit hämisch grinsenden, verstehenden Augen, schauen ihm über die Schulter, auf seine Zeilen.

Noch eine Stunde.

Während seine Finger auf die Tastatur einhämmern, verselbständigt sich ein Teil von ihm und denkt an das Abkommen, den Handel mit der Uhr.

Es liegt alles schon so weit zurück.

Er saß in dieser Nacht am Schreibtisch und arbeitete an seinem neuesten Roman. Die Geschichte steckte in einer Sackgasse. Das war ihm nicht unbekannt, aber gerade zu diesem Zeitpunkt sehr unpassend. Er musste seinen Abgabetermin einhalten. Ärger und Frust überfluteten ihn wie nicht gewollter Konfettiregen, weil alles danach einer Reinigung bedurfte. Er aber – er brauchte einen klaren Kopf.

Jetzt!

Hinter ihm an der Wand schlug die Uhr Mitternacht. Er hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt und die Schläge des Uhrwerkes mitgezählt. Die Zeit verrann ihm zwischen Stift und Papier.

Blödes Teil! Er drehte den Kopf. Seine Augen folgten noch immer dem Pendel. Er sah eine kleine Schlange aus der Blüte aus dem Messingrund des Pendelkörpers sich hervor schlängeln. Sie kam direkt auf sein Gesicht zu, sich wiegend im Hin und Her der alles beherrschenden Scheibe.

„Warum vergisst du nicht einfach mal die Zeit?“

Er halluzinierte sicherlich schon.

„Was meinst du, würde passieren, wenn du es tust?“

„Was willst du? So ein dummer Einfall. Wenn ich die Zeit vergesse, verpasse ich meinen Termin, werde schlecht oder gar nicht bezahlt, verliere eventuell meinen Auftrag. Das hat Auswirkungen auf meinen Lebensstandard und vor allem auf alle Folgeaufträge, die es dann vielleicht nie geben wird.“

„Irgendwann wird es passieren.“

„Niemals! Das lasse ich nicht zu!“

„Es gibt immer ein erstes Mal. Du wirst schreiben und feststellen, dass deine Zeit nicht ausreicht. Du wirst den Termin, den du dir selbst gestellt hast, so nicht einhalten können.“

„Jede Wette, dass das niemals geschieht.“

Die Schlange verformte sich zu einer mit Schuppen bedeckten Hand, die sich ihm entgegenstreckte.

„Die Wette nehme ich an. Solltest du, von heute an,

irgendwann in der Zukunft, deinen Wettlauf mit der Zeit verlieren, dann gehörst du mir und folgst mir ins Zeitlose.“

Er musste weiter arbeiten und war gleichzeitig davon überzeugt, jederzeit alles im Griff zu haben, auch das Schreiben. Schließlich lebte er davon.

Um sich wieder seiner Aufgabe widmen zu können und weil es vielleicht doch nur ein von seinem übernächtigten Geist erfundenes Nachtbild war, schlug er ein.

Die schuppige Hand fühlte sich erstaunlich warm und kräftig an. Kurz, nur sehr kurz, verspürte er das Bedürfnis, diese Hand weiter zu halten. Er rief sich zur Ordnung. Die Hand verwandelte sich zurück.

Die kleine Schlange verschwand in der Sonnenscheibe des Pendels.

Seit dieser Nacht war er ein Getriebener. Wann immer, was immer er schrieb, die Uhr erinnerte ihn mit jedem Schlag an seine Wette. Die Schlange brachte ab da jedes Mal ihre ungezählten Geschwister mit. Warum nur gab es so viele von ihnen?

Er hatte versucht, die Uhr zu entfernen. Sie ließ sich nicht vom Haken nehmen.

Er stellte das Pendel ab, es begann sofort wieder mit der Arbeit.

Als er das nächste Mal sein Arbeitszimmer betrat, fand er einen Zettel auf seinem Schreibtisch vor:

„Einer Wette mit der Hüterin der menschlichen Zeit entkommt man nicht durch Entfernen des Zeitmessers. Unsere Vereinbarung ist in der Ewigkeit hinterlegt.“

Seit dieser Zeit schrieb die Furcht vor dem Zeitlosen mit.

Peter hetzte von Projekt zu Projekt, die tickende Uhr im

Nacken als ewige Erinnerung an eine absurde Wette, seinen Verleger vor Augen, dessen Kritik an seinen Handlungssträngen und künstlerischen Umsetzungen jedes Mal heftiger wurden.

Die Schläge des Uhrwerkes weckten den Teil seines Gehirns, welches die Erinnerungen hervorgekramt hatte. Entsetzt blickte er auf den Bildschirm seines Laptops.

Der schreibende Teil seines Gehirns hatte heute versagt.

Diese Geschichte war nicht zu Ende geschrieben!

„Na endlich! Es wurde aber auch höchste Zeit, mein Freund!“

Mehr als er sah, spürte Peter die unzähligen Schlangenhände, die gierig nach ihm griffen und unwiderruflich in die Pendelscheibe hinein zogen.

Ein merkwürdiges Ende für einen schreibenden Menschen, einen Menschen überhaupt.

„Warum Ende, Peter, und warum merkwürdig? Öffne deine Augen und schau dich um.“

Peter folgte der Aufforderung der voll tönenden dunklen Stimme, die so gar nicht bedrohlich klang. Er stand inmitten einer mit bunten Blumen übersäten Wiese. Ihm gegenüber saß auf einer ebenso prachtvoll geschmückten Steinbank eine Frau, zeitlos jung, zeitlos schön, mit klaren freundlichen Augen und einem warmen, fast mütterlichen Lächeln. Sie strahlte Würde und Beständigkeit aus. Der leichte Wind spielte mit sich selbst Verstecken in ihren wundervollen langen schwarzen Locken. Gekleidet war sie nach griechischem Vorbild.

„Ich verstehe gerade nicht – bin ich tot? Wer bist du?“

„Ich bin Figurina, die Hüterin aller literarischen Figuren. Du bist nicht tot, im Gegenteil. Du bist lebendiger denn je.“

„Aber sollte das Zeitlose nicht furchtbar grässlich sein?“

„Das ist es bisher in deinen Gedanken gewesen, Peter.“

„Die Schlange hat doch aber gesagt -“

„Nichts von furchtbar und schrecklich. Sie hat nur davon gesprochen, dich mitzunehmen. Der Rest ist nur deine Annahme und entspringt deiner Phantasie.“

„Ich verstehe das nicht.“

„Lass uns einen Spaziergang machen.“

Die Hüterin erhob sich von ihrer Bank. Peter wehrte ab.

„Ich habe dafür keine Zeit. Meine Geschichte -“

„Muss warten. Du hast jetzt deine Wettschuld zu zahlen und Zeit spielt für dich gerade überhaupt keine Rolle. Vergiss nicht, wo du bist.“

Damit griff sie nach seinem Arm, legte ihn um ihren und zog ihn mit sich.

Peter setzte widerwillig einen Fuß vor den anderen, nur um nicht zu stürzen. Der verspielte Wind wehte ihm mit einer von Figurinas schwarzen Locken einen Hauch Parfüm um die Nase.

Peter sog den Duft ein.

„Gefällt es dir?“

„Mhm, riecht nach Sommer.“

„Wonach genau? Was siehst du?“

„Es riecht nach unendlich langen Sandstränden, nach leise rauschenden Wellen, nach sternenklaren Sommernächten. Es riecht nach... Leichtigkeit, Unbeschwertheit.“

„Gut erkannt, Peter. Es heißt Lebensfreude. Und ich freue mich, dass du noch rechtzeitig zu uns gefunden hast. Doch nun komm. Wir sind da.“

„Was meinst du mit rechtzeitig?“

Peter bekam keine Antwort auf seine letzte Frage und als er all die anderen plötzlich vor sich sah, vergaß er sie, allerdings nur, um sogleich neue zu stellen.

Treffen in Grau

Während des lockeren Plausches über Figurinas Parfüm hatte Peter nicht mehr auf seine Umgebung geachtet. Als Figurina jetzt seinen Fokus wieder auf die momentane Situation lenkte, erschrak er doch etwas. Noch vor wenigen Augenblicken hatte er in einem blühenden Garten gestanden, voller phantastischer Blüten und Farben.

An diesem Ort war es grau und eine alles überspannende Traurigkeit wühlte sich in seine Poren und trieb ihm salzige Tränen in die Augen.

Peter schluckte. Er suchte mit der Hand nach Figurina, nach ihrem Arm oder Kleid, um den Halt nicht zu verlieren.

Die Hüterin war verschwunden. Statt ihrer traten andere Wesen rund um ihn heran. Sie gingen allesamt leicht gebeugt, den Kopf gesenkt und wenn er einen Blick erhaschen konnte, schauten ihn leere, traurige, mit Wehmut gefüllte Augen an. In ihren Kleidern, auf ihrer Haut und vor allem natürlich in ihren Blicken fehlte jeglicher Glanz.

Peter drehte sich langsam um seine Achse und betrachtete die menschlichen und anders artigen Geschöpfe.

Mit jeder Sekunde schärfte sich sein Blick. Ein Raunen ging durch die Versammelten, erst leise, dann so laut, dass er verstehen konnte, was sie sagten.

„Er erkennt uns! Freunde, er erkennt uns!“

„Entschuldigung. Es ist richtig, dass ich glaube, euch schon einmal begegnet zu sein. Aber kennen, nein. Ich kenne euch leider nicht.“

Eine höhnische Stimme hinter ihm polterte ihn an:

„Das war so klar! Wie kannst du uns auch kennen, wenn du dich nie auch nur um uns bemüht hast!“

„Ja, richtig. Ohne Liebe werden wir geboren, benutzt und ohne uns zu fragen, hast du uns in ein Gefängnis deiner Wahl eingesperrt!“

Peter hob entsetzt die Hände über den Kopf.

„Um Gottes Willen! Wer seid ihr! Woher kommen eure so grausigen Vorhaltungen? Ich habe keine Ahnung, was ihr von mir wollt. Erklärt euch!“

Ein kleines, hässliches, affenähnliches Wesen trat nahe an ihn heran und schaute ihn von unten her an.

„Peter, erkennst du uns wirklich nicht? Nimm dir Zeit, schau uns an und horche in dich hinein, bitte!“

Peter senkte die Arme. Das zottelige Etwas vor ihm hatte eine klare, sanfte Stimme und war ihm, ja, irgendwie vertraut. Nun griff es nach seiner Hand.

„Wie heiße ich, Peter? Denk nach, erinnere dich.“

Tränen kullerten aus den großen hellen Augen. Nicht doch, es waren Perlen. Ja doch, diese Kreatur wurde gefangen gehalten und gequält, um Perlen zu weinen.

Peters Augen weiteten sich in einem ersten Verstehen.

„Das kann nicht sein, oder? So einen wie dich habe ich in einem meiner Fantasy-Romane beschrieben. Du warst dabei der Retter des Königreiches.

Ein Strahlen trat in die Augen des Affen.

„Ja, Peter, ja. Wie heiße ich?“

Peter kramte in seinem Gedächtnis, suchte die Schublade mit dieser Geschichte. Dann hatte er die richtige gefunden.

„Das Buch heißt – die Tränen des Affenkobolds – und, und der bist du. Du bist Zoto!“

Der Kobold riss die langen Arme nach oben, machte einen

Satz, sprang an Peter hoch und umklammerte ihn mit Armen und Beinen. Die besagten Perlen fielen als Strom unablässig zur Erde.

„Hurra! Ja, ich bin Zoto! Du hast mich erkannt! Danke, danke,

Peter!“

Damit sprang Zoto zurück auf den Boden. Dort, wo die Perlen aufgekommen waren, sah man nun Keimlinge und erste Blüten und Gräser.

„Freunde, er hat mich erkannt! Er wird uns alle erkennen! Es besteht Hoffnung für uns!“

Ein ungeahnter Jubel brach unter den Anwesenden aus.

Plötzlich war auch Figurina wieder neben Peter.

„Nun, du hast Zoto wiedererkannt. Was ist mit den anderen?“

Peter blickte sich um. Stille senkte sich über den Platz. Jeden einzelnen betrachtete er genau.

Aber das konnte unmöglich sein?

Er schaute Figurina an.

„Doch, Peter. Es ist so. Ich kann deine Gedanken lesen. Hast du vergessen, wer ich bin?“

„Du bist die, warte, wie hast du es genannt, die Hüterin aller literarischen Figuren.“

Dieser Blitzschlag der Erkenntnis konnte nicht heller im Geist, tiefer im Herzen einschlagen. Peter griff, Hilfe suchend, nach einem Halt. Die Hüterin umfasste seine Schultern.

„Da du nun verstanden hast, begrüße bitte jeden hier mit seinem Namen und gib ihnen so ihre Würde zurück. Alles andere erkläre ich dir anschließend.“

Damit schob sie den noch immer wie gelähmt dastehenden Mann näher an seine Erfindungen heran.

Peter schaute sich den ersten vor sich an.

„Du bist Gorgos, der Recke, richtig?“

Das Muskelpaket spannte sich im Nu voller Stolz und hob den Blick.

„Ja, das bin ich!“

Peter wandte sich an die nächste Figur, eine junge Frau.

„Du bist... du heißt Josefine.“

Das Antlitz des Mädchens, eben noch grau umwölkt, strahlte im selben Augenblick wie eine Sonne.

„Ja, so heiße ich!“

Er lief nun von Figur zu Figur, Mensch, Wesen, Tier. Immer schneller lief Peter, immer einfacher fielen ihm die Namen seiner Schöpfungen ein.

Zum Schluss rannte er, als gelte es, einen Olympiasieg einzufahren. Im Laufen zeigte er auf den- oder diejenige und rief laut, immer lauter ihre Namen. Sie fielen ihm alle ein – er vergaß keinen.

Nach dem letzten gerufenen Namen hielt er an. Peter staunte über sich selbst. Er war nicht müde, energielos, schwer atmend. Er fühlte sich so gut wie noch nie in seinem Leben.

Um ihn herum standen strahlende Krieger, Feen, Geister, Recken, Zauberer, Könige. Ein Leuchten ging von ihnen aus, ein helles, warmes Licht, was sich in sein Herz senkte. Sie standen gemeinsam auf einer grünen Wiese, über ihnen strahlte ein klarer blauer Himmel. Nichts erinnerte mehr an das traurige Grau zu Beginn dieses Treffens.

Der Kobold Zoto trat noch einmal vor.

„Im Namen aller deiner Figuren danke ich dir dafür, dass du

uns nicht vergessen hast und unsere Namen kennst. Du hast

uns unsere Würde zurückgegeben. Wir wissen jedoch, dass noch ein weiter Weg vor dir und uns liegt. Wir glauben aber, dass wir dir vertrauen können und freuen uns auf eine glückliche Wiederbegegnung.“

Seine Figuren verneigten sich grüßend vor Peter und zogen singend und lachend davon.

Peter schaute ihnen nach, immer noch fassungslos und trotzdem voller Adrenalin.

„Figurina, ich fürchte, ich habe immer noch nicht völlig verstanden, was hier gerade passiert ist!“

„Dafür bedarf es noch weiterer Treffen und Übungen, um das zu können. Für`s erste spüre ich deinen Stolz und die Freude über die von dir geschaffenen Kreaturen.“

„Es ist so lange her, das ich mir über jeden einzelnen Gedanken gemacht und sie aus der Vergangenheit geholt habe.“

Peter machte eine Pause.

„Wenn ich ehrlich bin, habe ich das noch nie gemacht. Ich habe sie erdacht, bewegt -“

„Und dann allein gelassen.“

Figurina hatte seinen Satz beendet.

„Heute hast du ihnen gezeigt, dass sie dir nicht gleichgültig sind. Und du musst zugeben, dass du stolz darauf bist, sie geschaffen zu haben.“

„Sag, warum waren sie so traurig, was ist das mit der Würde und welcher Weg liegt noch vor mir?“

„Du wirst es verstehen, wenn du alles gesehen hast, was ich dir zeigen will. Wenn du alle getroffen hast, die ich dir vorstellen möchte.

Für heute soll es genug sein. Ich habe dir ein Lager bereitet.

Ruh dich aus.“

Ein Tisch voller leckerer Speisen stand bereit. Peter hatte bisher noch gar nicht bemerkt, wie hungrig er war. Er aß mit Bedacht und Genuss. Ihm fiel auf, dass er auch das lange nicht mehr so getan hatte. Satt und zufrieden legte er sich schlafen.

Er glaubte nicht, nach solch einem aufwühlenden Tag sofort einschlafen zu können. Doch Bruder Schlaf wartete nur darauf, dass er die Augen schloss.

Peter schlief tief und traumlos und erwachte frisch gestärkt am nächsten Morgen.

Figurina erwartete ihn mit dem Frühstück. Wie ein hungriger Bär stürzte sich Peter über die Brötchen, die Früchte, den Honig, den Kaffee und all die zahlreichen Leckereien, unter denen der Tisch fast brach.

„Tut mir leid, aber so gut habe ich mich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gefühlt.“

„Ich weiß. Lang zu!“

Zum Abschluss griff sich Peter noch ein kleines Heidelbeertörtchen und drehte es nachdenklich in der Hand.

Figurina wartete geduldig auf die Frage, die Peter gerade geistig formulierte.

„Sag mir, warum waren all meine Bücherhelden an einem Platz versammelt. Ich schreibe seit etlichen Jahren.“

„Das ist hier ein normaler Vorgang. Es existiert kein Zeitstrahl, so wie du ihn kennst. Alles und jedes existiert in jedem Moment.“

„Warum sind dann gerade nur wir zwei hier?“

„Weil du niemanden gerufen hast.“

„Ich hatte auch gestern niemanden gerufen.“

„Das hast du wohl. In einigen Tagen wirst du das verstehen.“

„Du sprichst ständig in Rätseln.“

„Tue ich das? Aber genug davon. Lass uns heute über dich sprechen. Was hast du für Wünsche? Was steckt hinter deinem Schreiben?“

Peter machte sich erst einmal über das Törtchen her. Langsam verzehrte er jede einzelne Beere.

„Du brauchst keine Zeit schinden, Peter. Die ist hier wirkungslos. Ich weiß, dass du darauf keine Antworten mehr hast.“

„Warum fragst du dann?“

„Weil ich glaube, dass du sie nur vergessen hast. Willst du sie wiederfinden?“

„Wie soll das gehen? Wirst du mich hypnotisieren?“

Figurina lachte ein dunkles, fast zärtliches Lachen, das keinen Nachklang von Ärger, Verdrossenheit oder Ungeduld aufwies. Sie erhob sich leicht und schwungvoll und streckte die Hand nach dem Mann ihr gegenüber aus.

„Komm, gehen wir auf die Suche.“

Peter erhob sich, noch ein wenig zögernd und abweisend.

„Was passiert jetzt?“

„Das selbe wie mit deinen Figuren.“

Die geheime Schublade

Sie legten nur wenige Schritte zurück, vorwärts. Doch Peter befand sich von jetzt auf gleich in der Vergangenheit, seiner eigenen.