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Die Geschichte der grenzenlosen Liebe von Hope und Devon zwischen Erinnerungen und Konfettiregen. Der Abschluss der fesselnden New-Adult-Reihe von Rebekka Wedekind. Devon Wilson hat sein Leben fest im Griff. Er ist mit 27 Jahren Bürgermeister seiner Heimatstadt Tipton und hat einen festen Karriereplan, der ihn einmal in den Senat führen soll. Alles läuft nach seinen Vorstellungen, bis plötzlich seine Jugendliebe Hope in die Stadt zurückkehrt. Nicht genug, dass sie ihn völlig aus der Bahn wirft, sie hat auch noch eine Tochter dabei, die ihm wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Auf seiner Suche nach Antworten merkt Devon schnell, dass Hope nicht seinetwegen zurückkam - und dass trotz verletzter Gefühle und tiefer Enttäuschung immer noch diese allumfassende Anziehungskraft von damals zwischen ihnen herrscht. Doch Hopes Zeit in der Stadt ist begrenzt, und schon bald muss Devon sich fragen, ob er bereit ist, sein Herz ein weiteres Mal zu riskieren …
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Seitenzahl: 460
Rebekka Wedekind
Finding Hope – Schatten der Liebe
Roman
Knaur e-books
Die Geschichte der grenzenlosen Liebe von Hope und Devon zwischen Erinnerungen und Konfettiregen. Der Abschluss der fesselnden New-Adult-Reihe von Rebekka Wedekind.
Devon Wilson hat sein Leben fest im Griff. Er ist mit 27 Jahren Bürgermeister seiner Heimatstadt Tipton und hat einen festen Karriereplan, der ihn einmal in den Senat führen soll. Alles läuft nach seinen Vorstellungen, bis plötzlich seine Jugendliebe Hope in die Stadt zurückkehrt. Nicht genug, dass sie ihn völlig aus der Bahn wirft, sie hat auch noch eine Tochter dabei, die ihm wie aus dem Gesicht geschnitten ist.
Auf seiner Suche nach Antworten merkt Devon schnell, dass Hope nicht seinetwegen zurückkam - und dass trotz verletzter Gefühle und tiefer Enttäuschung immer noch diese allumfassende Anziehungskraft von damals zwischen ihnen herrscht. Doch Hopes Zeit in der Stadt ist begrenzt, und schon bald muss Devon sich fragen, ob er bereit ist, sein Herz ein weiteres Mal zu riskieren …
Für Nadine
Ohne dich gäbe es dieses Buch schlichtweg nicht
»Every moment of your life is a second chance.«
[Rick Price]
Snow Patrol – I Think Of Home
Max Giesinger & Lotte – Auf das, was da noch kommt
Taylor Swift – Paper Rings
Westlife – Catch My Breath
Delta Goodrem – My Big Mistake
Walking On Cars – Nothing’s Impossible
Kygo & One Republic – Lose Somebody
George Ezra – Only A Human
Mumford & Sons – Forever
Xavi – Analoge Liebe
The Script – The Last Time
Måns Zelmerlöw – Hearts Collide
Scouting for Girls – Count On Me
Dermot Kennedy – What Have I Done
Westlife – My Blood
George Ezra – The Beautiful Dream
Tim Bendzko – An deiner Seite
Picture This – One Night
Dean Lewis – A Place We Knew
Ben Platt – Rain
Lukas Graham – Lie
Westlife – Without You
Sia – Fire Meet Gasoline
Måns Zelmerlöw – The Core Of You
The 1975 – A Change Of Heart
James Arthur – Quite Miss Home
Delta Goodrem – Keep Climbing
Westlife – One Last Time
Lewis Capaldi – Leaving My Love Behind
12 Jahre
Es war an einem Mittwoch, als sich Lex Wilson mal wieder wie ein Idiot aufführte. Das wusste ich so genau, weil Granny mir jeden Mittwoch ein Stück Schokolade zu meinem Mittagessen legte. Verborgen im Schatten einer großen Eiche saß ich auf der Wiese und beobachtete Lex mit seinen Freunden. Er versuchte, dieses blinde Mädchen zu beeindrucken, indem er komische Tiergeräusche von sich gab. Alle lachten. Außer Devon. Er sah aus, als wäre ihm sein Bruder ziemlich peinlich. Und die Karotte, an der er nagte, schien ihm auch nicht zu schmecken. Vor seinen Füßen lag ein roter Ball, mit dem sie manchmal in der Pause spielten.
Immer wieder drang Lex’ Stimme zu mir. Gerade imitierte er einen Affen. Obwohl Claire ihn nicht sehen konnte, fuchtelte er dabei wild mit den Armen durch die Luft. Ich mochte Lex. Er war lustig. Devon und er waren die beliebtesten Jungs an der ganzen Schule. Grace war sogar in Lex verliebt. Sie versuchte es zwar geheim zu halten, aber eigentlich wussten es alle. Sie starrte ihn ständig an. Nur Lex bemerkte nichts davon. Vielleicht war er das ja gewohnt. Es gab viele Mädchen, die ihn toll fanden. Grace war nicht die Einzige. Sie saß neben Devon, der immer noch an seiner Karotte kaute. Eigentlich sah er Lex gar nicht so ähnlich. Im Gegensatz zu seinem Bruder war Devon nicht blond. Ich mochte seine dunklen Haare lieber. Sie erinnerten mich an die Märchen, die Granny mir früher immer vorgelesen hatte, wenn Mom wieder einmal nicht nach Hause gekommen war. Der Prinz hatte jedes Mal dunkle Haare gehabt. Im Märchen wurde die Prinzessin am Ende immer vom Prinzen gerettet. Granny sagte oft, dass Märchen ein Spiegelbild der Realität seien. Was das genau bedeuten sollte, wusste ich nicht, aber ich war mir ziemlich sicher, dass es keine echten Prinzen gab.
Plötzlich riss mich ein lautes »Achtung!« aus meinen Gedanken. Ich blickte auf – und sah den Ball direkt auf mich zufliegen. Wie von selbst hob ich die Hände nach oben und fing ihn auf, bevor er in meinem Gesicht landete. Als ich den Ball sinken ließ, stand Devon vor mir.
»Sorry«, murmelte er. »Das war keine Absicht.« Dann streckte er die Hände aus. »Kann ich ihn wiederhaben?«
Mit großen Augen starrte ich ihn an. Wir gingen zwar in dieselbe Klasse, aber ich konnte mich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal etwas zu mir gesagt hatte. Wortlos nickte ich und gab ihm den Ball zurück.
»Danke.« Er grinste kurz, dann drehte er sich um und rannte zurück zu seinen Freunden. Mein Herz klopfte rasend schnell, als ich ihm hinterhersah und beobachtete, wie Lex ihm ein High Five gab.
Ich glaubte immer noch nicht, dass es echte Prinzen gab. Nur Jungs, die wie welche aussahen.
Flipp jetzt nicht aus, Dev.« Mit diesen Worten ließ sich mein Bruder auf einen der beiden Besucherstühle vor meinem Schreibtisch fallen und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Hast du wieder einen Strafzettel kassiert und willst, dass ich das für dich regle?« Es wäre nicht das erste Mal. Grinsend legte ich den Stift beiseite und lehnte mich in meinem Ledersessel zurück. Doch anstatt meine Belustigung zu teilen, wie wir das sonst an dieser Stelle taten, sah er mich heute ernst an. Schlagartig wurde mir klar, dass es sicher nicht um zu schnelles Fahren oder Falschparken ging.
»Okay, was ist los?« Ich imitierte seine Haltung und verschränkte ebenfalls die Arme.
»Sie ist hier, Dev.«
»Wer?« Ich hatte ehrlich keine Ahnung, von wem er sprach, aber da war augenblicklich dieser Knoten in meinem Magen. Dieser Knoten, der nur dann auftauchte, wenn ich intuitiv wusste, dass ich die Antwort auf meine Frage gar nicht hören wollte.
Lex gab sie mir trotzdem. Sein Blick lag fest auf mir, als er den Namen aussprach, den ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gehört hatte.
»Hope.«
Ihr Name war wie ein Katapult zurück in eine andere Zeit. In eine, in der es mich glücklich gemacht hatte, wenn jemand ihn erwähnt hatte. Vor allem in Verbindung mit meinem eigenen Namen.
Devon und Hope. Hope und Devon.
Wir waren eine Einheit gewesen, eines dieser furchtbaren Pärchen, die nicht ohneeinander hatten sein können. Zumindest mir war es so gegangen, bis sie entschieden hatte, dass sie das nicht mehr wollte. Einfach so, von einer Sekunde auf die andere, war es vorbei gewesen.
Ihren Namen aus Lex’ Mund zu hören, ließ allerdings auch noch ein anderes Gefühl in meiner Magengrube entstehen. Etwas, das ich nicht benennen konnte. Doch es war genau dieses Etwas, das dafür sorgte, dass das Blut in meinen Ohren rauschte und meine Handflächen schweißnass wurden. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass Lex die Wahrheit sagte, aber das bedeutete nicht, dass ich darauf vorbereitet war. Nicht jetzt, da ich es endlich geschafft hatte, mir das Leben aufzubauen, das ich immer hatte haben wollen. Jahrelang hatte ich mir gewünscht, dass sie zurückkommen würde. Aber jetzt nicht mehr. Nicht nach fast sieben verdammten Jahren.
Als ich nichts erwiderte, hob Lex eine Augenbraue und erinnerte mich damit automatisch an unseren Vater. Patrick Wilson hatte genauso ausgesehen, wenn er mit meinem Verhalten als Teenager nicht einverstanden gewesen war. Und es ergab überhaupt keinen Sinn, jetzt an meinen Vater zu denken.
Hope war wieder da.
Ich hatte keinen blassen Schimmer, was ich davon halten sollte. Oder was Lex nun von mir hören wollte. Ein Danke für die Info? Hope war meine erste große Liebe gewesen. Aber sie war auch die Frau, die mich klammheimlich verlassen und mir das Herz zerfetzt hatte. Es war mir vollkommen egal, wo sie war. Mittlerweile war es das.
Gemächlich erhob ich mich. Trat an das Sideboard. Goss mir eine Tasse Kaffee ein. Schüttete Milch in das schwarze Gesöff. Rührte um.
Hope Lucille Russell.
Wir hatten die Highschool überlebt und die ersten eineinhalb Jahre am College. Dann hatte sie ohne Vorwarnung das Studium geschmissen, mit mir Schluss gemacht und war verschwunden. Im wahrsten Sinne des Wortes. Am Abend war sie noch da gewesen, am nächsten Morgen hatte nur noch das Foto auf meinem Nachttisch daran erinnert, dass es sie gegeben hatte.
»Warum erzählst du mir das?« Ganz langsam drehte ich mich zu Lex um. Er saß immer noch mit vor der Brust verschränkten Armen da. »Wieso ist diese Information so wichtig, dass du extra dafür in mein Büro kommst?« Er hätte auch anrufen können. Oder es sich gleich sparen. Hope war … Sie war Geschichte. Unsere Trennung … Das alles spielte schon lange keine Rolle mehr.
»Sie ist nicht allein hier.«
»Okay?« Dann hatte sie eben einen Freund. Oder einen Ehemann. Unsere Trennung war mittlerweile sieben Jahre her, und ich ging nicht davon aus, dass sie in all der Zeit keine neue Beziehung eingegangen war oder gar keusch gelebt hatte. Das hatte ich schließlich auch nicht getan. Ich war längst über sie hinweg und hatte mit Sophie eine wundervolle Frau an meiner Seite. Eine, die niemals in einer Nacht-und-Nebel-Aktion das Weite suchen würde.
»Du hast keine Ahnung, oder?«
»Wovon?«
»Sie hat ein Kind, Dev.«
»Sie hat was?«
Es sollte mich nicht interessieren. Nein, ganz im Gegenteil, es sollte mir sogar vollkommen egal sein, ob Hope mittlerweile Kinder hatte und vergeben oder verheiratet war. Aber das war es nicht. Scheiße, das war es ganz und gar nicht, weil ich mich zu gut daran erinnern konnte, wie oft ich mir vorgestellt hatte, der Vater ihrer zukünftigen Kinder zu sein. Gott, ich war so ein Idiot gewesen. Unweigerlich umklammerte ich das Getränk in meiner Hand fester und befahl mir, mich zusammenzureißen. Für zwei Sekunden schaffte ich es, mir nichts anmerken zu lassen. Zumindest glaubte ich das. Doch dann sprach Lex weiter und ließ damit meine sorgsam errichtete Maske in sich zusammenfallen.
»Ich glaube, es ist von dir.«
Mein Herzschlag setzte für einen Moment aus, ehe er in doppelter Geschwindigkeit wieder loslegte. War das ein schlechter Scherz? Lex konnte doch nicht ernsthaft glauben, dass ich mit Hope ein Kind hatte. Wie sollte das möglich sein? Sie war abgehauen, verdammt noch mal.
»Hast du den Verstand verloren?«
Er wusste genauso gut wie ich, dass ich Hope seit damals nicht mehr gesehen hatte. Ich hatte versucht, sie zu finden. Hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt und jede Möglichkeit genutzt, die sich mir geboten hatte. Wochenlang hatte ich nach ihr gesucht, doch Hope wollte nicht gefunden werden. Und wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann war sie genauso stur wie ich. Nichts und niemand konnte sie aufhalten. Auch, oder vor allem, nicht ich. Wenn sie also tatsächlich ein Kind hatte, war es ganz sicher nicht von mir.
Lex jedoch schien das anders zu sehen. »Ich habe keine Ahnung von Kindern, aber wenn ich schätzen müsste … Sechs? Sieben?«
»Was? Augen? Finger?« Ich war genervt, verwirrt und durcheinander und hatte definitiv keine Lust auf dämliche Ratespiele. Stirnrunzelnd musterte ich ihn. »Hör auf, in Rätseln zu sprechen, Mann.«
»Jahre, Bruderherz. Ich schätze sie auf sechs oder sieben Jahre.«
»Das heißt gar nichts.«
»Stimmt.« Er nickte bedächtig, was eher untypisch für ihn war. Normalerweise sprach er einfach direkt aus, was er sagen wollte.
»Aber?« Seine Antwort schrie nach einem Aber.
»Sie sieht dir ähnlich.«
»Das ist doch Blödsinn, Lex.«
Ich stellte die Tasse mit mehr Schwung ab, als nötig gewesen wäre. Der Kaffee schwappte über und ergoss sich über die darunter liegende Mappe, doch es kümmerte mich nicht. Mit einem Mal war mir furchtbar heiß, und ich lockerte den Krawattenknoten an meinem Hals. Ich konnte kein Kind mit Hope haben. Warum behauptete Lex so etwas? Was zur Hölle war hier los? Die Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich. Wenn das Kind schon so alt war, bedeutete das, dass Hope bereits schwanger gewesen war, als sie verschwunden war. Hektisch ließ ich unsere letzten gemeinsamen Tage Revue passieren. Wir hatten die bestandenen Prüfungen gefeiert, uns mit Freunden getroffen, ihrer Großmutter einen Besuch abgestattet. Waren bei meiner Familie gewesen, im Kino, in der Hütte am See. Sie hatte mich auf eine Praktikumsveranstaltung begleitet, und wir hatten zusammen gekocht. Nichts hatte auf eine Schwangerschaft hingedeutet.
»Mag sein, dass ich mich irre.« Lex unterbrach das Durcheinander in meinem Kopf.
»Du liegst falsch«, schob ich dazwischen, bevor er weitersprechen konnte. Er musste einfach falschliegen.
»Aber ich würde an deiner Stelle trotzdem mit Hope sprechen.«
»Worüber? Dass mein großer Bruder Gespenster sieht?« Ich konnte der Alternative keinen Raum geben. Ein Kind mit Hope, das war unmöglich.
»Es ist deine Entscheidung.« Mit diesen Worten erhob sich Lex und klopfte mir auf die Schulter. Regungslos ließ ich ihn gewähren. Er war schon fast an der Tür, als er noch einmal innehielt und sich zu mir umdrehte. »Aber, Dev?«
Wortlos begegnete ich seinem Blick.
»Stell sie zur Rede! Ich weiß, dass Menschen Fehler machen. Nur hast du Antworten verdient. Tu es für dich und deinen Seelenfrieden.«
Ich starrte immer noch auf die Stelle, an der Lex gestanden hatte, nachdem die Tür schon lange ins Schloss gefallen war. Was war hier gerade passiert? War mein Bruder tatsächlich mitten am Tag in mein Büro geplatzt und hatte mir erzählt, dass er glaubte … Nein! Er musste sich täuschen. Wenn es so wäre – wenn! –, dann hätte sie mir davon erzählt. Ich war mir nicht mehr über viel sicher, was meine Beziehung zu Hope anging, aber das … etwas so Großes hätte sie mir niemals verschwiegen. Andererseits … Sie hatte mich verlassen, ohne ein Wort zu sagen! Und allem Anschein nach war sie jetzt zurück in Tipton. Davon hatte ich bis eben auch nichts gewusst.
Ich stieß die Luft kräftig aus, als ich den Kopf schüttelte und mich wieder in meinen Sessel setzte. Wenn Hope ernsthaft zurück war, würde sie bei ihrer Großmutter wohnen. Sie würde kein Geld ausgeben, wenn ihre einzige noch lebende Verwandte in Tipton ein kleines Häuschen bewohnte und sich garantiert sehr darüber freute, ihre Enkeltochter zu sehen. Ihren Vater hatte Hope nie kennengelernt, und ihre Mom war gestorben, als wir noch in der Highschool gewesen waren. Ich hatte sie zur Beerdigung begleitet und ihre Hand den ganzen Tag über nicht losgelassen. Es hatte nie eine andere Möglichkeit für mich gegeben, als für sie da zu sein. Ich hatte sie gehalten, wenn sie geweint hatte, hatte ihr die alten Gläser gereicht, damit sie ihre Wut an die Wand pfeffern konnte, und ich hatte mit ihr geschwiegen, wann immer sie das Bedürfnis nach Stille gehabt hatte. Ihr Kummer war mein Kummer gewesen, und es hatte mich Jahre gekostet, mit der Erkenntnis klarzukommen, dass sie das alles gar nicht gewollt hatte. Dass es nicht genug gewesen war.
Und nun war sie zurück.
Wenn ich mit ihr sprechen wollte – und das wollte ich trotz der vergangenen Jahre mit einer Intensität, die mich selbst überraschte –, würde ich also an den Stadtrand fahren müssen. Zum Haus von Mrs Russell, Hopes Großmutter. Sie schuldete mir Antworten, auch wenn ich nicht an Lex’ Theorie glaubte. Er täuschte sich. Nicht in der Tatsache, dass Hope ein Kind hatte. Aber darin, dass es von mir sein könnte.
Sie.
Lex hatte von einer Sie gesprochen. Ein Mädchen, also. Ein kleines Mädchen, das vielleicht Zöpfe trug oder Puppen liebte oder auf Baseball stand, wenn sie nach ihrem Dad kam. Fuck! Ich hatte keine Tochter mit Hope. Von wem auch immer das Kind war, von mir sicherlich nicht.
Das versuchte ich mir zumindest die nächsten zwei Stunden einzureden, während ich durch die Dokumente vor mir auf dem dunklen Holzschreibtisch blätterte. Die neue Vorlage für das geplante Gewerbegebiet im Osten der Stadt lenkte mich jedoch genauso wenig ab wie der Antrag für die nächste Wohltätigkeitsveranstaltung der Feuerwehr. Nichts von dem, was ich las, kam in meinem Kopf an. Das Einzige, was sich immer deutlicher herauskristallisierte, war das Verlangen nach Klarheit. Lex’ Worte hatten mich erschüttert. Ich musste wissen, ob an seinem Verdacht etwas dran war. Halt, nein, ich musste mich davon überzeugen, dass Lex falschlag!
Susan, meine Assistentin, blickte mich aus fragenden Augen an, als ich mein Büro verließ und in mein Jackett schlüpfte. Sie war es nicht gewohnt, dass ich mich so früh verabschiedete.
»Ich mache für heute Feierabend«, verkündete ich und richtete im Gehen meine Krawatte. Nicht dass ich damit vor Hope groß Eindruck schinden würde. Es war ihr immer völlig egal gewesen, was ich trug.
»Alles in Ordnung, Sir?«
Ich hatte hundertmal versucht, ihr diese Anrede abzugewöhnen, doch Susan weigerte sich nach wie vor standhaft, auf dieses Wort zu verzichten. Sie hatte bereits dreißig Jahre lang für meinen Vorgänger gearbeitet, und ich war mir ziemlich sicher, dass sie irgendwann auch meinem Nachfolger die Akten sortieren und vehement auf dieses Mindestmaß an Förmlichkeit bestehen würde. Irgendwann hatte ich resigniert und es hingenommen, dass sie mich mit meinen lächerlichen siebenundzwanzig Jahren so ansprach wie meinen Großvater.
»Natürlich.« Ich bemühte mich um ein Lächeln, nach dem mir gerade wirklich nicht zumute war. »Bis morgen, Sue.«
»Bis morgen, Sir.« In ihrem Blick lag immer noch etwas Skeptisches, aber sie fragte nicht weiter nach. Eine Eigenschaft, die ich sehr an ihr schätzte. Susan war die Professionalität in Person.
Es dämmerte bereits, während ich durch den Ort fuhr, in dem ich aufgewachsen war. Tipton war eine klassische amerikanische Kleinstadt, in der es alles gab, was das Herz begehrte. Die bunte Bücherei direkt neben der Kirche am Marktplatz, Mrs Bennett und ihren Waschsalon, Straßencafés, die rustikalen Charme versprühten, und vor ein paar Jahren hatte sogar eine französische Bäckerei auf der Main Street eröffnet, die sich großer Beliebtheit erfreute. Normalerweise hätte ich Ausschau nach bekannten Gesichtern gehalten oder sogar für einen kurzen Small Talk angehalten.
Heute nicht.
Ohne Zwischenstopp fuhr ich an den Stadtrand, wo Hopes Großmutter wohnte. Hier draußen hatte sich im Lauf der Jahre wenig verändert. Es lebten noch immer die gleichen Leute in den gleichen kleinen Häusern, die sie mehr oder weniger gut in Schuss hielten. Tipton war nicht New York City, aber selbst hier waren Klassenunterschiede so sichtbar wie die ausgeblichene blaue Farbe, mit der Hopes Großvater vor mehr als zwanzig Jahren das kleine Häuschen gestrichen hatte. Es bedurfte so dringend einer Renovierung wie die ganze Gegend hier.
Im Haus brannte Licht, als ich den Motor abstellte. Und erst einmal im Wagen sitzen blieb.
Was tat ich hier überhaupt?
Sie war ohne ein Wort der Erklärung verschwunden und hatte sich nie wieder bei mir gemeldet. Wieso ging ich davon aus, dass sie nun auf einmal mit mir reden würde? Wir waren über drei Jahre zusammen gewesen, eine Ewigkeit mit gerade einmal Anfang zwanzig. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich ohne zu zögern eine Null an die Drei gehängt, doch Hope hatte diese Seifenblase platzen lassen, noch ehe ich richtig darüber hatte nachdenken können.
Ich saß immer noch im Auto, als die Haustür geöffnet wurde und die Silhouette einer Frau im Türrahmen erschien. Sie war klein, keine 1,70 Meter, in eine dicke Strickjacke gehüllt, und dennoch hätte ich sie unter Millionen Menschen sofort erkannt. Auf der schmalen, hölzernen Terrasse, die einmal um die ganze Vorderfront des Hauses führte, stand Hope.
Und das bedeutete, dass sie wirklich zurück war.
Mein Blick ruhte auf ihr, als sie ein paar Schritte auf die Terrasse machte, die Tür hinter sich ins Schloss zog und in meine Richtung starrte. Ich konnte ihr Gesicht in der Dunkelheit nicht richtig erkennen, aber es kostete mich nicht viel Anstrengung, mir den Ausdruck darauf vorzustellen. Er war mit hoher Wahrscheinlichkeit grimmig. Oder, im besten Fall, misstrauisch. Auch wenn ich nur ihre Umrisse sah, war das genug, um mich daran zu erinnern, wie es früher gewesen war, als ich hier gestanden und auf sie gewartet hatte. Anfangs, als alles noch neu zwischen uns gewesen war. Genau diese Aufregung spürte ich jetzt wieder – gepaart mit dem Drang, zu ihr zu gehen und sie dazu zu bringen, mir all die Antworten zu geben, die sie mir seit so langer Zeit schuldig war. Mit einem tiefen Atemzug zog ich den Schlüssel und legte meine Hand auf den Türgriff.
Um einfach wieder zu verschwinden, war es zu spät. Hope hatte mich bereits gesehen und … Herrgott, im Gegensatz zu ihr war ich nie jemand gewesen, der einfach so abhaute. Schwungvoll stieß ich die Tür auf und stieg aus. Der Kies unter meinen Schuhen knirschte und hallte laut durch die Nacht. Schritt für Schritt kam ich ihr näher. Meine Beine waren schwer wie Blei, meine Brust zum Zerbersten angespannt.
Hope rührte sich nicht. Sie stand einfach nur da und beobachtete jede meiner Bewegungen, während ich vor Aufregung zitterte und nicht wusste, was ich sagen sollte. Sie so nah vor mir zu sehen, immer mehr zu begreifen, dass sie wahrhaftig zurück war, verschlug mir vollkommen die Sprache. Da war nichts in meinem Kopf, kein einziges Wort.
Am unteren Treppenrand blieb ich stehen. Das Herz hämmerte gegen meine Brust. Schweigend sahen wir uns an. Das Erste, was mir auffiel, waren ihre Haare. Sie waren um einiges kürzer als früher, reichten ihr gerade noch bis zu den Schultern. Das viele Pink, mit dem sie sie gefärbt hatte, war einem warmen Braunton gewichen. Ihre Füße steckten in dicken Socken, die nun das einzig Farbenfrohe an ihr waren. Das bunte Mädchen, in das ich mich vor so langer Zeit so heftig verliebt hatte, war erwachsen geworden.
Und sie war immer noch wunderschön.
»Hi.« Irgendwie gelang es mir, meine Sprache wiederzufinden.
»Devon.« Nichts an ihrer Stimme verriet, was sie dachte. Freute sie sich, mich zu sehen? Hätte sie mich am liebsten weggeschickt? Oder war sie genauso nervös wie ich?
Ich hatte so viele Fragen in meinem Kopf und keine Ahnung, welche davon ich zuerst stellen sollte.
Wo bist du gewesen?
Warum kommst du erst jetzt zurück?
Wieso hast du mich verlassen?
Bleibst du hier?
Anstatt etwas davon auszusprechen, fuhr ich mir mit den Fingern durch die Haare und schüttelte den Kopf.
Sie war hier. Nach all den Jahren war Hope zurück in Tipton und stand leibhaftig vor mir. Genauso, wie ich es mir nach ihrem Verschwinden monatelang gewünscht hatte, und doch … Alles war anders als in meiner Vorstellung. Alles.
»Was willst du, Devon?« Ihre Stimme war leise und fest zugleich, doch mit diesen Worten hatte ich nicht gerechnet. Denn die Frage war nicht, was ich wollte, sondern was sie hier machte.
»Was ich will?«, wiederholte ich und erwachte endlich aus meiner Starre. Mit den Händen zu Fäusten geballt, ging ich noch einen Schritt auf sie zu. »Ist das dein Ernst?«
Antworten, verflucht noch mal. Ich wollte Antworten auf jede einzelne meiner Fragen. Und am allermeisten wollte ich wissen, warum sie damals gegangen war. Wir waren doch glücklich gewesen. Oder nicht? Es hatte keine Anzeichen gegeben, dass sie das anders empfunden hatte als ich. Himmel, ich hatte bereits darüber nachgedacht, was wohl ein guter Zeitpunkt wäre, um ihr den Antrag zu machen.
Hope schwieg. Sie blickte mich stumm an und zog die Strickjacke noch ein wenig enger um sich. Wie von selbst nahm ich die erste Stufe nach oben.
»Wo zur Hölle warst du sieben Jahre lang?«
Mit einem Mal waren die Gefühle wieder da und erschlugen mich mit ihrer geballten Kraft beinahe. Wut. Unverständnis. Enttäuschung. Trauer. All das, was ich jahrelang so sorgfältig unter Verschluss gehalten hatte, kochte erneut an die Oberfläche. »Ein beschissener Zettel auf dem Boden, Hope. Das war alles, was du mir dagelassen hast. Ein lächerliches Stück Papier!«
»Ich weiß.« Sie nickte kaum merklich und sah dabei so zerbrechlich aus, dass mir mein Ausbruch fast schon leidtat. Aber eben nur fast.
Stell sie zur Rede. Lex’ Worte tauchten aus dem Nichts in meinem Kopf auf. Du hast Antworten verdient. Und die würde ich mir holen, egal, wie schwer sie es mir mit diesem bekümmerten Anblick machte.
»Okay.« Ich vergrub meine Hände tief in den Taschen meiner Hose und sah sie eisern an. »Wir müssen reden, Hope. In Ruhe.« Und das am besten nicht hier draußen in der Dunkelheit, auf dieser Terrasse.
Zu meiner puren Verwunderung stimmte sie sofort zu. »Sollten wir.« Dieses Mal war ihr Nicken kräftiger. »Aber nicht jetzt.«
»Gut.« Wie sie wollte. »Wann dann?« Allzu viel Zeit würde ich nicht verstreichen lassen. Und schon gleich gar nicht würde ich gehen, ohne dass wir einen Termin ausgemacht hatten. Zeitnah.
»Das Diner?«, schlug sie vor. »Morgen um … zwei?«
»Okay.« Ich nickte, auch wenn ich mir ziemlich sicher war, dass ich um vierzehn Uhr einen Termin mit den Bauherren für das neue Tierheim hatte. Susan würde ihn verschieben müssen. Das hier war wichtiger.
»Okay.«
Sie imitierte meine Kopfbewegung ein weiteres Mal und wollte in dem Moment einen Schritt nach hinten machen, als die Tür geöffnet wurde. Ein kleines blondes Mädchen tapste mit einem verschlissenen Teddy in der Hand zu uns nach draußen. Das Licht aus dem Flur hinter ihr genügte, um mich erkennen zu lassen, was ich wissen musste. Ich blickte von Hope zu ihr und wieder zu Hope, die mich erschrocken ansah. Schnell machte sie einen Schritt zur Seite, sodass sie zwischen der Kleinen und mir war und die Sicht auf das Mädchen versperrte. Mit dem Rücken zu mir ging Hope vor ihrer Tochter in die Hocke und strich ihr liebevoll eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Hey, Süße. Was machst du denn hier draußen?« Sie sprach unglaublich sanft. Da schwang eine Wärme in ihrer Stimme mit, die ich noch nie zuvor von ihr gehört hatte. »Willst du nicht wieder zu Granny reingehen? Es ist kalt. Nicht dass du krank wirst.«
Die einzige Reaktion, die Hope für ihren Vorschlag erhielt, war ein bestimmtes Kopfschütteln und eine Schnute. Es sah niedlich aus, wie sie schüchtern zu mir aufblickte.
Und dennoch … Fassungslos starrte ich zwischen Hopes Rücken und der Kleinen hin und her. Es war eindeutig, Lex hatte recht gehabt.
Verdammte Scheiße, er hatte es mir gesagt! Ich hatte eine Tochter. Jeglicher Zweifel, den ich bis zu diesem Augenblick noch gehabt hatte, verpuffte beim Anblick des kleinen Mädchens. Sie war mir wie aus dem Gesicht geschnitten. Dieselben blonden Locken, die auch ich als Kind gehabt hatte. Dieselbe Nase. Und dasselbe kleine Muttermal seitlich am Kinn.
»Hope …«, murmelte ich leise. Und erschüttert. Ich stand gerade zum ersten Mal meinem Kind gegenüber. Meinem Kind, von dessen Existenz ich nichts gewusst hatte. Und auch die Kleine schien keine Ahnung zu haben, dass der Mann hinter ihrer Mommy ihr Daddy war. Vollkommen überwältigt griff ich nach der Verandaabgrenzung neben mir und hielt mich an dem alten Holz fest.
Über ihre Schulter sah Hope bittend zu mir auf. »Morgen, Dev. Okay?« Mit der Kleinen auf dem Arm erhob sie sich wieder. »Ich werde da sein«, beteuerte sie. Und seltsamerweise glaubte ich ihr.
Ich war mir nicht sicher, was die letzten Sekunden in mir ausgelöst hatten, aber das hier … Das war nicht mehr die Hope, die mich vor sieben Jahren verlassen hatte. Das hier war eine Löwin, die das Wohl ihres Kindes über alles andere stellte. Und im Moment bedeutete das, ihre Tochter wieder ins Warme zu bringen.
»Um zwei«, sagte sie noch einmal. »Versprochen.«
Es war nicht viel los, als ich Molly’s Diner fünf Minuten vor der ausgemachten Zeit betrat. Molly selbst stand hinter der Theke und winkte mir zu, während ich meinen Stammplatz ansteuerte. Ich kam mittlerweile nicht mehr oft hierher, doch wenn ich die Zeit für einen Besuch fand, wählte ich immer den Tisch ganz links am Fenster. Ich rutschte auf die ausgebleichten Sitzpolster und sah auf, als Molly mit einer großen Cola in der Hand zu mir kam.
»Wie immer?«, fragte sie und stellte den roten Plastikbecher vor mir ab. Sie kannte mich zu gut. Wie die ganze Stadt.
»Danke, Molly.« Ich lächelte ihr zu und steckte einen Strohhalm in mein Getränk.
»Willst du auch was essen?«
»Ich warte noch, danke.«
»Dann komme ich später wieder zu dir.«
Das war das Besondere an Molly. Sie versuchte nie, mich in ein Gespräch zu verwickeln oder gar Dinge aus mir herauszuquetschen, die ich als Bürgermeister wusste, die ansonsten aber topsecret waren. Es gab genug andere in der Stadt, die diesbezüglich weniger Schamgefühl besaßen.
Während ich auf Hope wartete, tippelte ich unruhig mit den Fingern auf die Tischplatte. Kurz überlegte ich, mein Handy hervorzuziehen und ein paar Mails zu bearbeiten, aber ich war zu unkonzentriert dafür. Immer wieder blickte ich nervös in Richtung Tür oder sah durch die Fensterfront hinaus auf den Parkplatz vor dem Diner.
Der Zeiger der alten Bahnhofsuhr an Mollys Wand passierte die große Zwölf, doch von Hope war weit und breit nichts zu sehen. Gut, ein paar Minuten Verspätung waren nicht schlimm. Selbst in Tipton konnte es passieren, dass gleichzeitig alle Ampeln auf Rot sprangen und man eine Weile stand. Zehn Minuten waren nicht die Welt.
Als jedoch zwanzig vergangen waren und Hope immer noch nicht aufgetaucht war, wurde mir klar, dass sie ihr Versprechen brach. Sie würde nicht kommen. Sie würde mir keine Antworten geben. Und sie würde mir nicht sagen, warum zum Teufel sie …
»Hey.« Atemlos ließ sie sich auf der Bank mir gegenüber nieder und rutschte bis ans Fenster durch. »Sorry. Ich musste noch …« Sie unterbrach sich selbst, schüttelte den Kopf und straffte die Schultern. »Egal. Ist nicht wichtig. Hier bin ich. Reden wir.«
Seit den frühen Morgenstunden hatte ich auf diesen Moment gewartet. Hatte mir ausgemalt, wie es sein würde, sie bei Tageslicht zu sehen und ihr gegenüberzusitzen. Mit versteinerter Miene und fest entschlossen, es ihr nicht leicht zu machen. Ihre braunen Haare hingen ihr wirr ins Gesicht, und während man sie früher nie ohne tiefschwarz getuschte Wimpern zu Gesicht bekommen hatte, trug sie heute keinerlei Make-up. Ihre Augen waren noch genauso grün, wie ich sie in Erinnerung hatte. Neu waren nur die dunklen Schatten darunter, die ein untrügliches Zeichen dafür waren, dass sie zu wenig Schlaf bekam. Hope wirkte müde und erschöpft, doch das änderte nichts an ihrer Schönheit. Sie war immer noch atemberaubend.
Stell sie zur Rede. Du hast Antworten verdient.
Richtig. Ich musste mich konzentrieren. Auf das, was wesentlich war. Ich war nicht hier, um mir Gedanken über Hopes Aussehen zu machen oder um ihr Absolution zu erteilen. Beides wäre nicht zielführend. Ich brauchte eine Erklärung. Die Fakten. Also zwang ich mich, ihr Zuspätkommen unkommentiert zu lassen, und fiel stattdessen mit der Tür ins Haus.
»Sie ist von mir.«
Es war keine Frage. Wir kannten die Wahrheit beide. Trotzdem schien Hope das Gefühl zu haben, meine Aussage bestätigen zu müssen.
»Sie heißt Sara«, sagte sie und nickte.
»Wie alt ist sie?«
»Sechs. Im Mai wird sie sieben.«
Lex hatte also gut geschätzt.
»Und du dachtest somit fast sieben Jahre lang, dass es okay wäre, mir nichts von ihr zu erzählen. Wow, Hope! Das ist einfach nur … wow.« Ich hatte keine Ahnung, was es war, wusste nur, dass mich diese Tatsache absolut fassungslos machte und schneidende Bitterkeit in jedem einzelnen meiner Worte mitschwang.
»Wir werden wieder gehen, Devon.« Da war eine Entschlossenheit in ihrem Blick, die mich keine Sekunde daran zweifeln ließ, wie ernst es ihr war. »Granny hat sich das Bein gebrochen. Sie braucht momentan meine Hilfe, aber sobald sie den Gips abbekommt, sind wir weg. Für dich … für dich muss sich rein gar nichts ändern.«
Je länger sie sprach, umso mehr begann die Wut in mir zu brodeln. Das konnte nicht ihr Ernst sein! »Soll das ein Witz sein?«, fuhr ich sie an. »Es muss sich nichts ändern? Ich habe eine Tochter, und du sagst, dass das keine Rolle für mich spielen soll?« Ich wusste nicht, warum ich nicht misstrauischer war, hatte Sara nur einmal kurz gesehen. Unsere optische Ähnlichkeit, selbst das Muttermal, konnte im Prinzip nur Zufall sein und nichts weiter bedeuten. Aber ich zweifelte nicht. Ich zweifelte kein bisschen daran, ihr Vater zu sein. Ein Blick in die Augen dieses kleinen Mädchens, und ich hatte es einfach gewusst.
»Ich bin nicht hier, um dein Leben durcheinanderzubringen.« Hope verschränkte fast schon trotzig die Arme vor der Brust.
»Dafür ist es ja wohl ein bisschen zu spät.« Wenn sie ernsthaft glaubte, dass sich für mich rein gar nichts ändern würde, hatte sie mich nie wirklich gekannt. Und ich sie ganz offensichtlich auch nicht. Gott, was war in unserer Beziehung so unglaublich schiefgelaufen, dass sie geglaubt hatte, nicht mit mir reden zu können? Wir hatten einander doch geliebt. Hatte ich jedenfalls angenommen.
»Devon …«
»Wusstest du, dass du schwanger warst?«, schnitt ich ihr barsch das Wort ab. »Als du gegangen bist? Wusstest du von Sara?« Ich hatte keinen Schimmer, was ich von ihr hören wollte. Worauf ich hoffte. Ob ich wollte, dass sie zumindest anfangs genauso ahnungslos gewesen war wie ich bis gestern Abend. Es war eine Sache, mich zu verlassen, aber es war eine völlig andere, mir ein Kind vorzuenthalten.
Ein Kind, Herrgott. Ich hatte eine Tochter, die sie mir jahrelang bewusst verschwiegen hatte.
»Ja.« Hopes Antwort war leise. Zu leise. Ich musste es noch einmal von ihr hören.
»Ja?«, hakte ich nach, die Hände unter dem Tisch wieder zu Fäusten geballt, den Blick starr auf sie gerichtet. Ich wollte ihr Gesicht sehen, wenn sie mir mit ihrer Antwort das Herz in der Brust zerquetschte.
Ihr Nicken kam zögerlich, aber es kam. Und es zerstörte mir nicht nur das Herz, es riss mir auch den Boden unter den Füßen weg.
»Warum hast du es mir nicht erzählt, verdammt?« Ich hatte so ewig auf den Moment gewartet, in dem ich endlich erfahren würde, warum sie ohne ein Wort der Erklärung gegangen war, hatte mir alles Mögliche ausgemalt. Doch nie, nie war mir in den Sinn gekommen, dass ein Kind der Grund dafür hätte sein können. Scheiße, sie hatte mir nicht einmal eine Wahl gelassen.
»Es hat sich … Es hat sich nicht richtig angefühlt.«
»Es hat sich …« Ich stockte, brachte es nicht über mich, ihren Satz zu wiederholen. »Du willst mir weismachen, dass dich ein … dass dich ein Gefühl davon abgehalten hat, mir von meiner Tochter zu erzählen. Ernsthaft?« Für was für ein Monster musste sie mich gehalten haben, dass sie glaubte, ich wollte mein eigenes Kind nicht kennenlernen?
»Dev …«
»Nein, Hope. Hör endlich mit diesen Spielchen auf und sag mir die Wahrheit. Warum hast du nichts gesagt?«
»Weil ich nie in dein Leben gepasst habe, Devon.« Ihr Kopf war leicht gesenkt, als fehlte ihr jeglicher Mut, mich anzusehen. Dabei war sie immer der mutigste Mensch gewesen, den ich gekannt hatte.
»Bitte, was?« Was redete sie da? »Hope! Das ist doch Blödsinn.« Offenbar war die Ungläubigkeit in meiner Stimme Anlass genug, um sie ihren Blick heben zu lassen.
Bei ihren nächsten Worten sah sie mir fest in die Augen. »Du weißt ganz genau, wie dein Vater mich immer angesehen hat.«
»Mein Vater?« Wovon zum Henker sprach sie? »Was hatte er mit unserer Beziehung zu tun?«
»Die Tochter einer alleinerziehenden Stripperin, die in der ganzen Stadt als … als Hure verschrien war. In seinen Augen war ich nicht ansatzweise gut genug für dich. Und damit … Er hatte recht. Er hatte immer recht.«
Fassungslos starrte ich sie an. Das konnte sie nicht allen Ernstes glauben.
»Ich hätte dir den Mond vom Himmel geholt.« Die Sterne. Das gesamte Universum. Ich hätte alles für sie getan, und ich war immer davon ausgegangen, dass sie das gewusst hatte. Es hatte mich nie gestört, dass sie aus einfachen Verhältnissen stammte. Nie!
»Ich weiß.« Ein unglückliches Lächeln erschien auf ihren Lippen. »Und genau deshalb bin ich gegangen.«
»Aber das … das ergibt keinen Sinn.« Ich konnte ihrer Logik nicht folgen. Anstatt mir Antworten zu geben, verwirrte sie mich nur noch zusätzlich. Und Verwirrung gemischt mit Wut und völliger Fassungslosigkeit, das war keine gute Kombination. Sie ließ mich nicht mehr klar denken.
»Glaubst du ernsthaft, du hättest es so weit gebracht mit einem Kind im Schlepptau? Du bist Bürgermeister, Devon.« Ihr Blick glitt an mir auf und ab, und ich glaubte, so etwas wie Traurigkeit darin zu sehen.
»Natürlich hätte ich das.« Wir lebten nicht mehr in den Siebzigern, auch wenn man das in Tipton manchmal glauben konnte. »Du hast es mich nicht einmal versuchen lassen!«
Hope griff nach einem der Strohhalme in der Box und drehte ihn zwischen ihren Fingern hin und her. »Weil ich wusste, wie du dich entschieden hättest, wenn es nicht funktioniert hätte.«
Natürlich tat sie das. »Für euch.« Ich hätte immer sie gewählt.
Sie nickte. »Du hättest deinen Traum, ohne mit der Wimper zu zucken, aufgegeben und irgendwo angefangen zu jobben, um uns zu versorgen.«
»Was ist daran schlecht?«
»Alles, Devon. Alles. Verstehst du denn nicht? Ich konnte dir deinen Traum nicht wegnehmen. Ich wollte nicht, dass du zu einem von uns wirst. Zu einem von diesen Menschen, die ihre Träume begraben, nur weil sie das Richtige tun wollen. Ich war immer ein … ein Abstieg für dich.«
»Das ist doch völliger Blödsinn. Du hättest ihn mir nicht weggenommen. Es wäre meine Entscheidung gewesen«, hielt ich dagegen. Sah sie denn nicht, dass sie mir so zwar meine Karriere gelassen, dafür aber mein Kind weggenommen hatte?
»Nein. Wäre es nicht. Ich hätte es mir nie verziehen, dir deinen Weg verbaut zu haben. Die Politik war immer das, was du wolltest. Kinder kamen nicht in deinen Plänen vor.«
»Das ist nicht wahr.« So langsam schwirrte mir der Kopf.
Ja, sie hatte nicht ganz unrecht. Ich hatte einen Plan gehabt. Das Studium abschließen, so schnell wie möglich in die Politik gehen. Der Posten des Bürgermeisters war nur der erste Schritt in Richtung Senat. Aber wann immer ich als Jugendlicher darüber gesprochen hatte, hatte ich Hope dabei an meiner Seite gesehen. Hope, und irgendwann auch meine eigene kleine Familie. Mir war nie in den Sinn gekommen, dass sie das anders empfinden könnte. Weil sie das verdammt noch mal nie gesagt hatte, wenn ich über unsere Zukunft gesprochen hatte. Und doch saßen wir nun hier, und sie erzählte mir genau das. Wann waren wir damals nur so dermaßen falsch abgebogen?
Bevor Hope etwas sagen konnte, trat Molly an unseren Tisch. »Entschuldige, dass du warten musstest.« Sie lächelte mich freundlich an. »In der Küche gab es einen kleinen Notfall. Die Spülmaschine zickt mal wieder. Was darf ich dir bringen?«
Ich hatte meine Cola immer noch nicht angerührt, weshalb ich nur den Kopf schüttelte. Jeglicher Appetit war mir vergangen. Es kostete mich einiges an Mühe, mir vor Molly nicht anmerken zu lassen, wie aufgewühlt ich war. Ich wollte nicht der Gegenstand neuer Gerüchte sein, die sich wie ein Lauffeuer in Tipton verbreiten würden. Wahrscheinlich war es keine gute Idee gewesen, mich mit Hope für dieses Gespräch überhaupt irgendwo in der Öffentlichkeit zu treffen. Nicht, weil ich mich dafür geschämt hätte, mit ihr gesehen zu werden. Das hatte ich nie, und das würde ich nie, und die Meinung der Stadt war mir prinzipiell völlig egal. Doch jetzt war ein Kind Teil dieser Gleichung.
Mein Kind.
Von dem ich bis vor wenigen Stunden nichts gewusst hatte.
Während Hope einen Milchshake bestellte, massierte ich mir mit beiden Händen die Schläfen. Als wäre es so möglich, diese Tatsache in mein Hirn zu bekommen. Aber es war egal, wie viel Druck ich ausübte, ich verstand einfach nicht, wie sie uns das hatte antun können.
Ohne ein Wort zu sagen, notierte sich Molly Hopes Bestellung. Dann riss sie mich aus meinen Gedanken. »Das ist alles?«, fragte sie und musterte mich eindringlich. Was tut sie hier?, schien ihr Blick zu sagen. Hat sie nicht schon genug angerichtet? Ich konnte ihr diese Fragen nicht verübeln. Trotzdem versuchte ich mich an einem kurzen Lächeln. Es gelang mir nicht. »Ja, danke, Molly«, sagte ich deshalb nur.
Nachdem sie uns wieder allein gelassen hatte, trank ich einen großen Schluck Cola. Doch das kühle Getränk verfehlte seine Wirkung. Im Gegenteil, vermutlich befeuerte der viele Zucker das Chaos in mir noch viel mehr. Es fiel mir nach wie vor schwer zu glauben, dass Hope mir gegenübersaß.
Sieben Jahre.
Sieben elend lange Jahre hatte sie mich auf eine Erklärung warten lassen, und nun war es dieser Unsinn. Mein Dad war vielleicht kein Fan von ihr gewesen, aber das war er von Lex’ damaliger Freundin auch nicht. Mir das als Grund für ihr Verschwinden zu nennen, war absolut lächerlich. Und definitiv nichts, was ich ihr abkaufte. Man lief nicht weg, vor allem nicht, wenn man schwanger war, nur weil einem der Schwiegervater in spe nicht in den Kram passte.
»Ich weiß, dass ich keine Ansprüche stellen darf«, durchbrach Hope schließlich die eingekehrte Stille und rieb sich nervös über die Stirn. Sie sah immer noch furchtbar müde aus. »Darf ich … darf ich dich trotzdem um etwas bitten?« Es fiel ihr schwer, zu verbergen, wie unangenehm es für sie war, diese Worte auszusprechen. Gut so. Vielleicht machte es mich zu einem Arsch, doch ich genoss die Genugtuung, die ich in diesem Moment empfand.
Als ich ihr keine Antwort gab, sprach sie weiter.
»Können wir …« Sie stockte, ehe sie von Neuem anfing. »Können wir für uns behalten, dass es Sara gibt?« Und mit jedem weiteren Wort, das sie von sich gab, verengten sich meine Augen mehr zu Schlitzen. Hatte sie jetzt vollkommen den Verstand verloren? Das konnte sie nicht ernst meinen. War ihr überhaupt klar, was sie da von mir verlangte?
»Du willst, dass ich sie verleugne?«, stieß ich hervor und spürte sofort, wie das Brodeln in mir stärker wurde, als Hope neues Öl ins Feuer goss.
»Nein!« Immerhin dieser Protest kam prompt. »Nein, so habe ich das nicht gemeint.« Ich hörte sie tief Luft holen. »Aber du bist der Bürgermeister. Dich kennt jeder hier, und Sara ist … Sie ist noch klein und würde nicht verstehen, warum auf einmal alle in Tipton Interesse an ihr haben. Sobald die Leute erfahren, dass du ihr … dass du ihr Vater bist, werden sie …«
»Wie stellst du dir das vor?«, unterbrach ich sie schroff. »Willst du sie einschließen? Einen Turm für sie bauen wie bei Rapunzel und den Schlüssel wegwerfen?« Realisierte sie überhaupt, was für einen Schwachsinn sie da von sich gab?
»Nein, natürlich nicht, aber …« Der Blick, mit dem sie mich ansah, war hilflos. Hilflos und verzweifelt und mit einer Spur von … Angst? »Wir müssen doch nur einfach niemandem auf die Nase binden, wer sie ist. In ein paar Wochen sind wir eh wieder weg, und bis dahin …«
»… willst du sie geheim halten, und ich soll meine Tochter ignorieren?«
»Ja?« Ihre Haare waren nicht mehr lang genug, um sich dahinter zu verstecken, doch mir war klar, dass Hope das in diesem Moment am liebsten getan hätte. Weil sie ganz genau wusste, wie vollkommen absurd und dreist es war, was sie da von mir verlangte.
»Auf gar keinen Fall!«, lehnte ich entschieden ab. »Du hast mir fast sieben Jahre mit ihr gestohlen. Ich werde Sara kennenlernen, Hope, ob es dir passt oder nicht.« Meine Stimme war gefährlich leise geworden. Nicht, weil ich ihr drohen oder sie gar einschüchtern wollte, sondern einfach deshalb, weil die einzige Alternative gewesen wäre, sie anzuschreien oder diesen ganzen Scheiß aus ihr herauszuschütteln. Und beides war keine Option.
»Devon …« Sie senkte den Blick auf ihre Hände. Sie hatte ihre Finger miteinander verknotet, und ihre Daumen strichen unaufhörlich übereinander. »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.«
»Ich halte das sogar für eine ganz hervorragende Idee«, widersprach ich ihrem Einwand entschieden. Mit meinem Blick fixierte ich sie, auch wenn sie es nicht wagte, von ihren Händen auf- und in mein Gesicht zu sehen. »Es ist mir scheißegal, dass du gegangen bist. Mit uns habe ich schon vor Jahren abgeschlossen.« Dass ich inzwischen mit Sophie zusammen war, war der beste Beweis dafür. »Aber die Tatsache, dass du mir meine Tochter und ihr den Vater genommen hast … Das ist … das ist einfach nur falsch.«
»Es wird Sara das Herz brechen«, murmelte sie in Richtung Tischkante.
»Es wird ihr das Herz brechen, ihren Vater kennenzulernen?« Sie war übergeschnappt. Eindeutig. Es kostete mich alle Kraft, die ich hatte, nicht doch lauter zu werden. »Hope, das kann nicht …«
»Sie ist ein Engel!« Ich hatte keine Ahnung, was plötzlich passierte, doch mit einem Mal waren Tränen in Hopes Augen, und ihre Stimme brach. »Sara lässt selbst an schwarzen Tagen die Sonne scheinen, und ich weiß, dass du dich rettungslos in sie verlieben wirst, wenn du sie kennenlernst. Sie wird sich genauso in dich verlieben, und wenn wir wieder gehen, dann … dann …« Was auch immer sie sich gerade ausmalte, es wurde zu viel für sie. »Ihr Herz wird brechen, Devon. Ihr kleines, unschuldiges Herz. Und das kann ich nicht zulassen.« Verzweifelt vergrub sie ihr Gesicht in den Händen. Ihre Schultern bebten, aber sie gab keinen Ton von sich, während sie weinte.
Löwin, schoss es mir wie schon gestern Abend durch den Kopf. Hope kämpfte für Sara, auch wenn es an der vollkommen falschen Stelle war. Ich war Saras Vater und würde ihr ganz bestimmt nicht das Herz brechen.
»Wieso bist du zurückgekommen?«
Sie so zu sehen, so verloren und voller Schmerz … Mein Magen krampfte sich bei ihrem Anblick unangenehm zusammen. Ich hatte es noch nie ertragen, sie leiden zu sehen. Scheinbar hatten auch sieben Jahre komplette Funkstille nichts daran geändert. Oder war das etwa alles nur Berechnung? Eine Show, die sie abzog, weil ich nun von Sara wusste und nicht klein beigab?
Meine Stimme klang immer noch zornig, als ich weitersprach. »Ehrlich, Hope, dir muss doch klar gewesen sein, dass ich von ihr erfahren würde. Lex hat euch gesehen. Und ich glaube auch nicht, dass du ernsthaft angenommen hast, ich wolle sie nicht treffen. Du kennst mich besser, also … Wiesobist du hier?«
»Weil ich keine andere Wahl hatte.« Ihre Augen waren gerötet und voller Tränen, als sie ihre Hände von ihrem Gesicht nahm und zu mir aufblickte. »Granny hat doch nur noch mich. Ich kann sie nicht im Stich lassen, selbst wenn das bedeutet, Sara an den Ort zu bringen, wo ich nie wieder hinwollte.«
Nie wieder nach Tipton.
Nie wieder zu mir.
Die Erkenntnis, dass ich ihre Rückkehr nur einem gebrochenen Bein zu verdanken hatte, war wie ein Schlag ins Gesicht. Ohne dieses Bein wüsste ich nach wie vor nicht, dass es Sara überhaupt gab.
»Ich will sie sehen, Hope«, betonte ich noch einmal. Davon würde ich nicht abweichen. »Sie nicht zum Stadtgespräch zu machen, okay. Da bin ich ganz auf deiner Seite.« Dieser Punkt war überhaupt keine Diskussion wert. Natürlich würde ich Sara nicht zu einer Zielscheibe für Kleinstadttratsch werden lassen. »Aber falls mich jemand fragt, wer sie ist, werde ich ganz bestimmt nicht lügen. Das kannst du nicht von mir erwarten.« Wenn jemand einen Skandal in meinem unehelichen Kind sah, dann war das sein Problem. Ich würde zu Sara stehen. Und ich würde Hope und sie nicht wieder ziehen lassen, ohne Sara wenigstens kennengelernt zu haben.
Als Molly mit dem Milchshake an unseren Tisch trat, wischte Hope sich hastig mit dem Handrücken über die tränennasse Wange. Für einen kurzen Augenblick schaffte sie es sogar zu lächeln, obwohl Molly ihr keinerlei Beachtung schenkte. Sie stellte den Shake wortlos vor ihr ab und verschwand sofort wieder, um neue Gäste zu begrüßen.
Hopes Lächeln erstarb. »Es tut mir leid, Devon.« Es stand immer noch die pure Verzweiflung in ihrem Blick, als sie sich erhob. »Aber das geht einfach nicht.«
In der nächsten Sekunde eilte sie aus dem Diner. Ihren Erdbeershake hatte sie nicht einmal angerührt.
13 Jahre
Der Tag fing mit Chemie an, meinem Lieblingsfach. Mom hatte einmal zu mir gesagt, dass alles im Leben reine Chemie war. Sie hatte mir nicht erklärt, was sie damit meinte, also musste ich es selbst herausfinden. Mit meinem Chemiebuch und dem Block in der Hand schlug ich den Spind wieder zu und verdrehte die Zahlen meines Schlosses. Gleich würde es klingeln, ich durfte nicht zu spät kommen. Die Lehrer der Tipton Highschool waren streng. Wer nach dem Läuten noch auf den Fluren unterwegs war und keine schriftliche Erlaubnis dafür hatte, musste direkt nachsitzen. Das hatte ich in meinem ersten Schuljahr hier schnell gelernt.
Ich wollte gerade zum Chemiesaal gehen, als sich mir eine Dreiergruppe in den Weg stellte. Parker, Oliver – und Devon Wilson. Olivers Spind befand sich gleich neben meinem, aber es sah nicht so aus, als wären sie deshalb hier. Automatisch drückte ich mein Buch fester an mich. Parker musterte mich mit einem abschätzigen Blick von oben bis unten. Am liebsten hätte ich mir eine Jacke angezogen, aber es war Sommer und heiß. Ich hatte keine dabei.
»Sie sieht aus wie ihre Mutter, findet ihr nicht?«, sagte er an seine Freunde gewandt.
»Du meinst billig und nuttig?«
Parker lachte bei Olivers Antwort laut los. »Was hast du erwartet?« Er zuckte mit den Schultern. »Wie die Mutter, so die Tochter. Aus dem Weg, Trash-Queen.« Er machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand, mit der er mich zum Gehen auffordern wollte. Tränen schossen mir in die Augen. Ich versuchte sie wegzublinzeln, aber es gelang mir nicht.
»Awww. Sieh mal.« Parker stieß Devon in die Seite. »Jetzt weint sie.« Sein Blick war voller gespieltem Mitleid und so gehässig, dass ich unweigerlich einen Schritt zurück machte und mit dem Rücken gegen die Spinde krachte. Sofort spürte ich, wie Wärme in meine Wangen stieg.
»Ob ihre Mom das auch tut, wenn sie mit all diesen Männern Sex hat?« Parker drehte sich grinsend zu seinen Freunden um. Oliver nickte lachend. Devon sagte nichts. Er stand einfach nur da und sah mich aus undurchdringlichen Augen an. Wahrscheinlich dachte er genau dasselbe wie seine Freunde. Und dieses Wissen machte mich auf einmal rasend.
»Vielleicht solltest du das deinen Dad fragen«, sagte ich zu Parker und reckte das Kinn. Wenn er meine Mom beleidigte, war es okay, dass ich dasselbe mit seinem Vater tat.
»Was hast du da gerade gesagt?« Sein Lachen erstarb blitzartig. In seinen Augen funkelte es gefährlich.
Parker ballte die Hände zu Fäusten und wollte auf mich losgehen. Innerlich bereitete ich mich bereits darauf vor, gleich von ihm getroffen zu werden. Er würde nicht davor zurückschrecken, ein Mädchen zu schlagen. Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich versuchte, mich kleiner zu machen. Doch Parkers Faust kam nicht. Devon legte ihm fest die Hand auf den Arm und hielt ihn zurück.
»Lass das, Mann. Sie ist es nicht wert, dass du deswegen suspendiert wirst.«
Das Blut in meinen Ohren begann bei seinen Worten zu rauschen. Ich sah, wie er an Parkers Arm zerrte und versuchte, ihn zum Gehen zu bewegen. Irgendwo über uns läutete die Glocke. Doch ich nahm nichts davon wirklich wahr. Da waren nur noch Devons Worte in meinem Kopf.
Sie ist es nicht wert.
Meine Mom hatte recht. Alles im Leben war Chemie. Wir bestanden beide aus Atomen und Molekülen, die man besser nicht in die Nähe voneinander brachte. Ich hatte geglaubt, dass Devon einer von den Guten war. Aber ganz offensichtlich hatte ich mich getäuscht.
Sie ist es nicht wert.
Ich war nichts wert.
Das geht nicht.
Ihre Worte hallten in meinem Kopf nach.
Das geht nicht.
Eine Sekunde. Zwei. Fünf.
Das geht nicht.
Je mehr Zeit verstrich, umso wütender wurde ich. Was zur Hölle fiel ihr ein, mich einfach so sitzen zu lassen? Es sollte nicht möglich sein, dass ich meine Tochter kennenlernte? Weil sie das so festlegte?
Ganz sicher nicht.
Ruckartig stand ich auf. Wenn sie ernsthaft glaubte, dass ich mich so einfach abwimmeln lassen würde, hatte sie sich geschnitten. Ob sie wollte oder nicht, ich hatte ein Recht darauf, mein Kind zu sehen. Und ich verdiente verdammt noch mal mehr als ein simples Es tut mir leid. Sie war diejenige gewesen, die mich hatte sitzen lassen. Die mir das Größte, das Wichtigste im Leben vorenthalten, ja sogar verschwiegen hatte. Jetzt war ich derjenige, der die Spielregeln aufstellen würde. Weil es scheinbar keinen anderen Weg gab.
»Ich bin gleich wieder da, Molly«, rief ich der Diner-Besitzerin zu, als ich auf den Ausgang zueilte. Ihre Antwort hörte ich nicht mehr. Mit großen Schritten hastete ich Hope hinterher. So einfach würde ich sie nicht davonkommen lassen. Nicht schon wieder.
Sie war noch nicht weit gekommen. Ich entdeckte sie am anderen Ende des Parkplatzes.
»Hey!«, brüllte ich ihr hinterher. Auf einmal war es mir egal, wie laut ich war. Sollte mich doch die ganze Stadt hören.
Hope ignorierte mich. Ohne sich umzudrehen, verließ sie den Parkplatz und trat auf den Gehweg.
»Hope! Warte!«
Ich begann zu laufen. Offenbar waren Worte und Bitten nicht genug.
Als ich sie erreichte, fasste ich nach ihrem Oberarm und wirbelte sie zu mir herum. Aus großen Augen sah sie mich an, wirkte fast schon ertappt. Anstatt sie loszulassen, hielt ich sie am Arm. Nicht so fest, dass sie sich nicht hätte losreißen können, aber genug, dass ihr klar werden musste, wie ernst es mir war. Wenn ich eins in den vergangenen Minuten gelernt hatte, dann war es der Fakt, dass ich nicht darauf vertrauen konnte, dass sie tatsächlich hierblieb, wenn ich sie freigab.
»Lass mich los«, fauchte sie.
»O nein«, entfuhr es mir. »Du hast genug Forderungen gestellt. Jetzt bin ich dran.«
Am liebsten hätte ich sie geschüttelt, versucht, ihr auf diese Art und Weise klarzumachen, dass sie nicht mehr allein über Saras Wohlergehen bestimmen durfte. Ich war kein Teil ihrer ersten Jahre gewesen. Sollte mich der Teufel persönlich holen, wenn ich auch ihre weiteren Lebensjahre verpassen würde.
»Devon.«
»Nein!«, fuhr ich sie an. »Jetzt hörst du mir zu.«
Ich ließ sie los, auch wenn ich sie am liebsten weiterhin festgehalten hätte. Einfach nur, um sicherzugehen, dass sie nicht abhauen konnte. Demonstrativ baute ich mich vor ihr auf und versperrte ihr den Weg. Erstaunlicherweise tat sie, was ich von ihr verlangte. Sie blieb stehen und presste die Lippen in einem festen Strich zusammen. Hope war nicht dumm. Sie wusste ganz genau, dass ihr nicht gefallen würde, was ich im Begriff war zu sagen.
»Ich werde Sara kennenlernen. Ob es dir passt oder nicht. Du hast mir damals keine Wahl gelassen, ich lasse dir heute keine. Wir können dieses Treffen wie zivilisierte Menschen gemeinsam organisieren und uns so verhalten, wie Sara das von ihren Eltern verdient. Oder wir machen es auf die harte Tour und ziehen vor Gericht.«
Ich hörte sie erschrocken nach Luft schnappen.
»Ich meine das ernst, Hope. Du hast mir sieben Jahre mit meiner Tochter gestohlen. Ich habe das Recht auf meiner Seite.«
Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung von Familienrecht, meine Vorlesungen waren Jahre her, und ich hatte mich damals für eine andere Fachrichtung entschieden. Doch der Jurist in mir wusste, dass es nicht schwer sein würde, ein Gericht davon zu überzeugen, dass ich Kontakt zu Sara haben durfte. Ich hatte mir nie etwas zuschulden kommen lassen, war der Bürgermeister einer Bilderbuchkleinstadt und konnte mit großer Wahrscheinlichkeit besser für Saras materielles Wohlergehen sorgen als Hope. Ich wollte sie ihr nicht wegnehmen, aber ich wollte ein Teil ihres Lebens sein. Und das ließ ich mir von Hope nicht länger nehmen.
»Zwing mich nicht dazu, es zu nutzen.« Ich würde, wenn ich es musste.