Finsternebel - Camilla Läckberg - E-Book
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Finsternebel E-Book

Camilla Läckberg

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Beschreibung

Raffinierter Nervenkitzel aus Skandinavien um ein mörderisches Schachspiel gegen eine Sekte »Finsternebel«, der 2. Teil der soghaft-düsteren schwedischen Krimi-Trilogie um Kommissarin Mina Dabiri und Mentalist und Profiler Vincent Walder, ist ein Wettlauf gegen die Zeit, um ein vertracktes Rätsel zu lösen und das Leben eines Kindes zu retten. Stockholm wird von einer Hitzewelle heimgesucht. Mitten in dieser brütenden Sommerzeit verschwindet ein kleiner Junge aus einer Vorschule in Södermalm. Unter Hochdruck ermitteln die Stockholmer Kommissarin Mina Dabiri und ihr Team. Als Mina auf weitere Fälle von Kindesentführungen stößt, ahnt sie, dass etwas Größeres, Dunkles im Gange ist. Da jede Spur in eine Sackgasse zu führen scheint, wendet sich Mina erneut an den genialen Mentalisten und Profiler Vincent Walder. Nur gemeinsam kann es dem ungewöhnlichen Duo gelingen, das Rätsel hinter den Fällen zu entschlüsseln. Doch die Uhr tickt … Gelingt es den beiden, dem Grauen rechtzeitig ein Ende zu setzen? Die hochspannende skandinavische Thriller-Trilogie von Spiegel-Bestsellerautorin Camilla Läckberg und Mentalist Henrik Fexeus – beängstigend, fesselnd und abgründig. Mit der »Dabiri-Walder-Trilogie« haben Camille Läckberg und Henrik Fexeus außergewöhnliche skandinavische Spannung geschaffen: Ein faszinierendes Ermittler-Duo mit Ecken und Kanten trifft auf menschliche Abgründe und trickreiche Rätsel und Codes. »Läckberg und Fexeus nutzen alle Mittel, um mit den Schrecken des Geschehens zu spielen und den Leser in seinen Bann zu ziehen. Es fällt schwer, sich von dieser packenden Geschichte loszureißen.« Frankfurter Rundschau Online  Die Dabiri-Walder-Trilogie ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Schwarzlicht - Finsternebel - Nachtwasser

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Seitenzahl: 962

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Camilla Läckberg / Henrik Fexeus

Finsternebel

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Katrin Frey

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Ein neuer Fall für Schwedens ungewöhnlichstes Ermittlerpaar Mina und Vincent.

 

Stockholm wird von einer Hitzewelle heimgesucht. Mitten in dieser brütenden Sommerzeit verschwindet ein kleiner Junge aus einer Vorschule in Södermalm.

Für die Stockholmer Kommissarin Mina Dabiri und ihre Kollegen beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Sie stellen sofort Ähnlichkeiten mit einer früheren Kindesentführung fest, die tödlich endete, und fürchten, dass sie es mit einem Wiederholungstäter oder gar einer Gruppe von Tätern zu tun haben. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass weitere Kinder verschwinden werden.

Mina nimmt Kontakt zu dem Mentalisten Vincent Walder auf und bittet ihn um Hilfe. Sein Talent, aus kleinsten Details erstaunliche Schlüsse über die Psyche eines Täters zu ziehen, hat sich schon einmal in einem Fall als äußerst nützlich erwiesen.

Können Mina und Vincent dem Grauen rechtzeitig ein Ende setzen?

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

DIE ERSTE WOCHE

An der Tür blieb [...]

Denken Sie daran«, sagte [...]

Sie nahm die Sonnenbrille [...]

Vincent holte tief Luft, [...]

Vor lauter Wiedersehensfreude kamen [...]

Die komische Tante ist [...]

Neugierig, aber diskret beäugte [...]

Da Christer in seinem [...]

Sind wir wirklich die [...]

Tom sah unglücklicher aus, [...]

Vincent sah aus einem [...]

Sie sagen, er bräuchte [...]

Die Wohnung in der [...]

Julias Brüste spannten schon, [...]

Das Notebook auf Vincents [...]

Sie steckte den Schlüssel [...]

Vincent fühlte sich wie [...]

Sie sah die Frau [...]

Wenn ich aufwache, setze [...]

Ruben rieb sich seufzend [...]

Du hättest nicht mitkommen [...]

Mina saß mit Christer [...]

Während Vincent das gelbe [...]

Warum habe ich dich [...]

Der Einsatzwagen parkte nicht [...]

Fünf neue Nachrichten von [...]

Oh, so früh schon [...]

Das ist ja ein [...]

Mina fiel auf, dass [...]

Auf dem Fernsehschirm an [...]

Sie läuft die Strecke [...]

Vincent ging auf dem [...]

Adam starrte auf die [...]

Ihr wisst alle, was [...]

Milda Hjort fragte sich [...]

Sorgenvoll betrachtete Mina die [...]

Er parkte ganz in [...]

In Mildas Büro in [...]

Vincent saß in seinem [...]

Mina hatte die ganze [...]

Auf den Dächern der [...]

In Lillys Obduktionsprotokoll stehen [...]

Ich habe Anette versprochen, [...]

Hallo!«

DIE ZWEITE WOCHE

Hallo Vincent, ich bin’s.«

Ruben ging wie jeden [...]

Mina war allein im [...]

Kaum saß er im [...]

Hat dir mein Vortrag [...]

Sie spazierten durch den [...]

Am Ende des Tages [...]

Nathalie wusste nicht, wo [...]

Haben Sie … Haben Sie [...]

Hallo?«, sagte Mina fragend.

Vincent stützte sich mit [...]

Mina hielt das Handy [...]

Als sie aus Upplands [...]

Kann das Zufall sein?« [...]

Der Kellner stellte ihm [...]

Verärgert sah Julia auf [...]

Sie gab etwas Desinfektionsgel [...]

Nathalie durchwühlte ihren Rucksack, [...]

Ringsherum wurde fieberhaft gearbeitet. [...]

Die schwarzen und weißen [...]

Vincent versuchte, nicht so [...]

Mina holte tief Luft. [...]

Da bist du ja! [...]

Ich dachte, du würdest [...]

Die Klimaanlage im Eingangsbereich [...]

Die Gruppe war größer [...]

Seit wann lebst du [...]

Mina kannte die Gänge [...]

Nathalie sammelte die Werkzeuge [...]

Peder lehnte sich an [...]

Ruben querte den Hinterhof. [...]

DIE DRITTE WOCHE

Ruben nahm die Armbanduhr [...]

Wir haben einen Hinweis!«

Vincent klopfte an Benjamins [...]

Mina fand es merkwürdig, [...]

Nathalie lag auf ihrem [...]

Vincent hatte sich erst [...]

Im Besprechungsraum stand die [...]

Wie ist es denn [...]

Ruben stand vor dem [...]

Vincent las die Mail [...]

Mina wurde von einem [...]

Dir ist bewusst, dass [...]

Nach dem Besuch bei [...]

Für so was hast [...]

Wenn Milda ihren Großvater [...]

Die Polizeimütze schützte zwar [...]

Julia räusperte sich. Es [...]

Vincent stand auf der [...]

Als Vincent in die [...]

Peder stand schon vor [...]

Gute Arbeit«, sagte Milda [...]

Vincent klingelte bei der [...]

In fetten schwarzen Lettern [...]

Ich verstehe kein Wort.«

Mit Abscheu betrachtete Ruben [...]

Im Fahrstuhl versuchte Vincent, [...]

Ist Ihnen klar, was [...]

Nathalies Großmutter saß mit [...]

Christer wischte sich den [...]

Ein freier Tag war [...]

Die anderen verließen den [...]

Da alle außer Ruben [...]

DIE VIERTE WOCHE

Peder musste widerwillig zugeben, [...]

Was ist das hier, [...]

Ich verstehe das nicht! [...]

Oh, welch hochherrschaftlicher Besuch! [...]

Unter dem hohen Hut [...]

DIE FÜNFTE WOCHE

Zur Abwechslung aß er [...]

Ich schlage ihn und [...]

Julia ging im Flur [...]

Es war scheußlich für [...]

Mina legte auf. Vincent [...]

Wir fahren lange mit [...]

Alle Mitglieder der Gruppe [...]

Julia bat Christer, im [...]

Ich habe schreckliche Halsschmerzen, [...]

Als die asphaltierte Straße [...]

Großartige Arbeit.« Julia strahlte. [...]

Vincent ließ sich von [...]

Du weißt, dass du [...]

Mina zog erneut an [...]

Mina sah Vincents Kopf [...]

Du meinst, uns hat [...]

Als Vincent sie aus [...]

Zum vierten Mal im [...]

Mina wischte den beschlagenen [...]

Es war eine bescheuerte [...]

Vincent hatte alle Teile [...]

Seit Nathalie am vergangenen [...]

Maria saß im Wohnzimmer [...]

Sie konnte nicht atmen. [...]

Vincent hätte sich ohrfeigen [...]

Wieder kramte Vincent in [...]

Vincent fühlt sich ohnmächtiger [...]

Das wird spannend«, sagt [...]

Mina zuckte zusammen. Sie [...]

Vincents Telefon klingelte. Mina. [...]

Meine Tochter ist auf [...]

Vincent fuhr auf dem [...]

Synchron mit Vincent leert [...]

Nathalie!«

Angewidert betrachtete Christer die [...]

Möchtest du eine Tasse [...]

Im Besprechungsraum herrschte Schweigen. [...]

Sie saßen in Anettes [...]

Adam saß am Schreibtisch [...]

Christer bereute, dass er [...]

Mina schlich sich ins [...]

Torkel! Was ist passiert? [...]

Mina spazierte durch den [...]

Vincent hüpfte mit seinen [...]

Fredrik Walthersson parkte auf [...]

Es war Abend. Die [...]

REITERHOF SORUNDA 1996

Dank

Kultkarta

Leseprobe »Nachtwasser«

DIE ERSTE WOCHE

Zum wahrscheinlich hundertsten Mal kontrolliert Fredrik, dass durch die Plastiktüte nichts zu sehen ist. Er will die Bombe nicht zu früh platzen lassen. Die Sommersonne knallt ihm ins Gesicht, draußen ist es noch immer drückend heiß. Trotzdem geht er zu Fuß vom Büro am Skanstull bis zu Ossians Kita in der Nähe des Zinkensdamm. Es ist zwar Mittwoch, aber er konnte heute trotzdem etwas eher Schluss machen. Wenn es so heiß ist, spielt die Einhaltung der Arbeitszeiten keine so große Rolle, und die meisten seiner Kollegen sitzen schon mit frisch gezapftem Bier im Schatten.

Für den Spaziergang braucht er zwar nur ungefähr zwanzig Minuten, aber angesichts der Temperaturen hätte er trotzdem eine Flasche Wasser mitnehmen sollen. Das Jackett hat er ausgezogen, die Hemdsärmel hochgekrempelt. Der Stoff klebt schweißnass am Rücken. Aber das macht nichts. Heute ist alles genau so, wie es sein soll.

Er kontrolliert die Tüte noch einmal. Die Schachtel von Lego Technik ist so groß, dass sie kaum hineinpasst. Ein McLaren Senna GTR. Ossians Begeisterung für Autos ist ihm immer noch ein Rätsel, denn sowohl Fredrik wie Josefin hegen ein geradezu intensives Desinteresse gegenüber Autos. Aber Lego bauen Vater und Sohn beide gern.

Die Altersangabe auf der Schachtel lautet 10+. Ossian ist erst fünf, aber Fredrik weiß, dass ihm der Bausatz keine Schwierigkeiten bereiten wird. Der Junge ist schlau. Manchmal sogar schlauer als sein Vater, denkt Fredrik und muss laut lachen. Wie unheimlich intelligent von ihm, seinen Sohn an einem der schönsten Tage dieses Sommers mit einem Geschenk zu überraschen, das stundenlange Indoor-Aktivitäten erfordert. Jaja. Doch was soll’s. Morgen ist bestimmt auch gutes Wetter.

Außerdem war Ossian ja schon den ganzen Tag draußen. Was er auch nötig hat. Wenn er nicht Lego bauen kann, geht er zu Hause die Wände hoch. Josefin fragt sich ständig, ob man ihrem Sohn nicht eine dieser Buchstabenkombinationen diagnostizieren wird. Nicht, dass sie vorhätten, ihn untersuchen zu lassen. Angesichts der vielen handysüchtigen Kinder, die sich beim Abholen gleich auf die iPhones ihrer Eltern stürzen, ist Ossians Tatendrang bislang ein Grund zur Freude.

Als Fredrik die Kita Backen erreicht, sieht er auf die Uhr. Er ist zu früh dran. Sie sind vermutlich noch im Skinnarvikspark.

»Ey, sexy lady …«, singt er leise, während er den Hügel hinter der Kita hinaufsteigt.

»Gangnam Style« ist zurzeit Ossians Lieblingssong. Es ist sinnlos, dagegen anzugehen, denkt Fredrik. Er grinst in sich hinein. Sie haben sogar schon die Choreografie zusammen geübt.

Auf dem Hügel gibt es einen großen Spielplatz und ein paar Bäume. Für Ossian ist es ein Wald, und er liebt es, im Wald zu sein.

»Oppan Gangnam Style«, singt Fredrik. Ein paar Kinder, die ihm höchstens bis zu den Knien reichen, blicken verwirrt auf, bevor sie sich wieder ihren Spielen zuwenden.

Die Kinder tragen gelbe Westen mit den Logos verschiedener Kindergärten. Der Park ist beliebt. Überall wird gekreischt und gelacht. Mit Lego Technik wird es heute wohl nichts. Der Tag ist wie gemacht, um zwischen den Bäumen Verstecken zu spielen. Sie brauchen sich auch nicht zu beeilen, denn Josefin kocht heute das Abendessen. Er sieht sich um und entdeckt Tom, einen der Erzieher von der Kita Backen.

»Hallo.« Er lächelt Tom an, der einem der Kinder gerade dicken Rotz abwischt.

»Opp, opp, opp, opp«, erwidert Tom in fröhlichem Singsang. »Rate mal, wer heute beim Turnen die Musik aussuchen durfte?«

»Ich habe euch gewarnt. Bis Ende der Woche habt ihr dreißig ›Gangnam‹ tanzende Kinder an der Backe. Aber sag mal, wo steckt denn eigentlich mein Tanzgenie? Ich sehe ihn hier nirgends.«

Tom steckt das Taschentuch ein und überlegt einen Moment.

»Guck mal bei den Schaukeln«, sagt er dann. »Da bleibt er manchmal noch ein bisschen sitzen.«

Ach, natürlich. Wenn Ossian nicht gerade hyperaktiv herumspringt, schaukelt er gerne. Oder liebt es, besser gesagt, auf der Schaukel zu sitzen. Schaukeln sind für ihn ein Rückzugsort, wo er ungestört nachdenken kann.

Fredrik hält auf die Schaukeln zu. Einige sind besetzt, aber auf keiner sitzt Ossian. Felicia, eine etwas ältere Kitafreundin von Ossian, geht gerade von dort weg. Fredrik holt sie ein.

»Hallo, Felicia, hast du Ossian gesehen?«

»Nein, nur vorhin.«

Er legt die Stirn in Falten. Ein leises Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt, beschleicht ihn. Das Gefühl ist irrational, sagt er sich, und lediglich ein Ausdruck seines übertriebenen Beschützerinstinkts. Der springt an, sobald möglicherweise etwas nicht in Ordnung sein könnte, und fragt nicht erst nach Beweisen. In der Savanne hat dieses Reaktionsmuster sicherlich vielen das Leben gerettet, aber an dieser Stelle ist es vollkommen unbegründet. Sagt ihm sein Verstand. Das nützt aber nichts, das Unbehagen sitzt ihm im Nacken wie ein etwas zu kalter Windhauch. Die große Legoschachtel, die ihm eben noch so spannend erschien, ist eher ein Klotz am Bein, als er zurück zu Tom eilt.

»Bei den Schaukeln ist er auch nicht«, sagt er.

»Das ist ja komisch.«

Tom wirft einen Blick auf die Namensliste mit den abgehakten Namen der Kinder.

»Er müsste doch … ach, warte mal. Jenya hat die Krippenkinder reingebracht. Vielleicht ist er mitgegangen, weil er aufs Klo musste, und dann drinnen geblieben. Tut mir leid, Jenya hätte Bescheid sagen müssen, aber du weißt ja, wie das ist.«

Stimmt, er weiß, wie das ist. Das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, verfliegt. Er seufzt auf. Tom und Jenya sind kompetente Erzieher, aber Kinder haben eben auch einen eigenen Willen sowie das hartnäckige Talent, nicht dort zu sein, wo man sie vermutet. Er bekommt Mitleid mit Tom, der sich augenscheinlich schämt. Denn andererseits erfordern Kinder natürlich höchste Aufmerksamkeit. Es gibt bestimmt Eltern, die schon wegen kleinerer Missgeschicke einen Aufstand gemacht hätten.

»Klar«, sagt er. »Schönes Wochenende, Tom. Wir sehen uns Montag. Oppa oppa!«

Fredrik trabt den Hügel wieder hinunter. Die Tür der Kita steht offen. Er geht in den Eingangsbereich mit den beschrifteten Kleiderhaken und Kisten mit Ersatzklamotten. Ossians Haken ist leer. An und für sich muss das nichts bedeuten. Wenn Ossian hereingekommen ist, um aufs Klo zu gehen, kann seine Jacke auch vor der Toilette auf dem Boden liegen. Und angesichts der Wärme natürlich auch noch auf dem Spielplatz. Eigentlich hätte Fredrik seinem Sohn an einem Tag wie diesem gar keine Jacke anziehen sollen. Blöd von ihm. Ossian muss es viel zu warm gewesen sein.

Fredrik macht sich nicht die Mühe, die Schuhe auszuziehen.

»Ossian?« Er klopft an die erste Toilettentür. »Bist du da drin?«

Jenya kommt ihm entgegen. Im Schlepptau hat sie eine Horde von Zweijährigen, die sich kreischend mit Fingerfarben bewerfen.

»Hallo, Fredrik«, sagt sie. »Habt ihr was vergessen? Ossian ist noch draußen bei Tom.«

Das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, kehrt mit einer Wucht zurück, die ihn fast umwirft. Es ist jetzt kein kalter Windzug im Nacken mehr, sondern ein Schlag in die Magengrube.

»Im Park ist er nicht«, sagt er. »Da war ich gerade. Tom hat gesagt, er wäre bestimmt bei dir.«

»Nein, hier drinnen ist er nicht. Hast du schon bei den Schaukeln nachgesehen?«

»Ja. Da ist er nicht, das habe ich doch schon gesagt, verdammt.«

Er dreht sich um und rennt wieder nach draußen. Es ist schon vorgekommen, dass ein Kind abgehauen ist. Wie Felicia zum Beispiel. Die hatte es sogar bis nach Hause geschafft, bevor die Erzieher ihre Abwesenheit bemerkten. Seitdem ist ihren Eltern mit Sicherheit immer ein bisschen mulmig zumute. Ob man sich jemals an dieses Gefühl gewöhnt? Er hasst es.

Erneut hastet er den Hügel hinauf. Der elende Legokarton knallt ihm gegen das Bein. Überall wuseln Kinder herum. Während er verzweifelt nach seinem eigenen Ausschau hält, versucht er, sich zu beruhigen. Jetzt in Panik zu verfallen, nützt auch nichts. Von Ossian keine Spur.

Von seinem Sohn keine Spur.

Tom zieht die Augenbrauen hoch, als er Fredrik zurückkommen sieht. Er scheint sofort zu begreifen, was los ist.

»Aber er muss hier sein.« Fredrik stellt die Tüte ab, damit er schneller laufen kann.

Tom fragt die Kinder in seiner unmittelbaren Nähe, ob sie Ossian gesehen haben. Die Spielhäuser. Ossian könnte sich in einem der Spielhäuser versteckt haben. Fredrik läuft hin, sieht aber schon von Weitem, dass die Häuser leer sind. Wo könnte er denn noch …? Zwischen den Bäumen wird er ja wohl kaum sein. Ganz allein. Davon müsste doch jemand wissen.

Felicia.

Sie hat gesagt, dass sie Ossian vorhin noch gesehen hat.

Er rennt zurück zu Tom und den anderen Kindern. Er hat einen trockenen Hals von der Anstrengung, und der Schweiß strömt ihm über Stirn und Rücken. Felicia baut eine Sandburg. Als ob nichts Besonderes passiert wäre. Als ob nicht gerade die Welt unterginge.

»Felicia.« Er gibt sich Mühe, sich seinen inneren Aufruhr nicht anmerken zu lassen. »Du hast doch gesagt, du hättest Ossian vorhin gesehen. Wann war das?«

»Als er mit der blöden Frau geredet hat«, sagt sie, ohne von ihrem Eimer aufzublicken.

»Der blöden …« Sein trockener Hals fühlt sich schlagartig an wie Sandpapier. »War es eine alte Frau?«

Felicia schüttelt entschieden den Kopf, während sie die Burg mit einer Schippe dem Erdboden gleichmacht.

»Nein, alt nicht«, sagt sie. »So wie meine Mama. Die ist neulich fünfunddreißig geworden.«

Er schluckt. Es ist jemand hier gewesen. Eine Frau war hier und hat mit seinem Kind gesprochen. Eine Frau, die weder Erzieherin noch Mutter von einem der Kinder ist. Eine Fremde. Er hockt sich neben Felicia und unterdrückt den Impuls, sie zu schütteln.

»Kennst du sie?« Er muss sich beherrschen, um nicht zu schreien. »Und wieso war sie blöd?«

Mit Tränen in den Augen sieht Felicia ihn an. Beinahe verliert er das Gleichgewicht. Sie braucht gar nichts zu sagen; er weiß auch so, was passiert ist. Das, was einfach nicht passieren darf.

»Die Spielzeugautos waren mir egal«, sagt Felicia. »Ossian fand sie toll, ich nicht. Aber die Hundebabys wollte ich auch streicheln. Sie hatte sie im Auto. Aber ich durfte nicht mit.«

In Fredriks Brust öffnet sich ein Abgrund, und er stürzt in die Tiefe.

An der Tür blieb Mina stehen und sah sich prüfend im Raum um. Im Fitnessstudio war an diesem Nachmittag nicht viel los. Gut. Und diejenigen, die sich aufgerafft hatten, waren hauptsächlich ältere Leute. Die Schüler, die Gewichtheberinnen und die Muskelmänner waren schon da gewesen. Um fünfzehn Uhr dominierten hier die Senioren. Jedenfalls unter der Woche. Wenn auch nur für eine Stunde. Das Gute daran war, dass sie die Geräte sorgfältiger abwischten. Sie säuberten sie nicht nur von ihrem eigenen Schweiß, sondern auch von dem der Fitnessmonster, die sie vor ihnen besudelt hatten. Nicht, dass Mina in dieser Hinsicht Risiken eingegangen wäre. Wie immer hatte sie zwei Sprühflaschen Desinfektionsmittel, Mikrofasertücher und einen Zipbeutel dabei, in dem sie die benutzten Lappen verstauen konnte.

Heute standen Beine und Po auf dem Trainingsprogramm. Sie zog die Handschuhe über, ging zu einer freien Beinpresse und sprühte alle Teile sorgfältig ein. Ihr war aufgefallen, dass einige nur die Griffe einsprühten. Oder, noch schlimmer, nur den Sitz. Doch Dreck und Bakterien konnten überall sein. Sie verstand nicht, warum manche Leute so unachtsam waren.

Sie faltete das Tuch zusammen, steckte es in den Zipbeutel und zog ein frisches aus der Tasche. Das Fitnessstudio war ein einziger Infektionsherd. Deswegen konnte sie auch nicht im hauseigenen Kraftraum der Polizei trainieren. Sie wusste ganz genau, was für Ferkel dort herumliefen. Hier brauchte sie den Siff wenigstens nicht bestimmten Gesichtern zuzuordnen.

Am liebsten hätte sie mit Mundschutz trainiert. Sie hatte gehört, dass Gewichtheber häufig furzten, und bekam Atemnot beim Gedanken an die Fäkalkeime, die im Lüftungssystem zirkulierten. Aber ein Mundschutz hätte noch mehr Aufmerksamkeit erregt, und das musste ja nicht sein. Vielleicht würde sie sich eine dieser Trainingsmasken zulegen, die hier einige trugen, um ihre Atemmuskulatur zu stärken.

»Willst du trainieren oder putzen? Wenn du fertig bist, würde ich gerne an die Presse gehen.«

Mina zuckte zusammen und blickte erschrocken von der Rückenlehne auf, die sie gerade abwischte. Ein etwa siebzigjähriger Mann mit Nickelbrille und weißem Bart sah sie fragend an. Sein rotes T-Shirt war aus ganz normaler Baumwolle und nicht aus atmungsaktivem Funktionsmaterial. Auf der Brust hatte er einen dunklen Schweißfleck. Sie erschauerte.

»Ist Ihnen klar, wie unhygienisch Baumwolle ist?«, fragte sie. »Sie wird klitschnass und durchnässt anschließend die Geräte. Es dürfte gar nicht erlaubt sein, in so ungeeigneter Kleidung zu trainieren.«

Wenn Blicke töten könnten, hätte sie seinen nicht überlebt. Dann ging er kopfschüttelnd davon. Offenbar war ihm seine Zeit zu schade. Ihr war das nur recht. Sie rieb noch einige Male mit dem Tuch über die Lehne, stopfte dann Tuch und Handschuhe in den Plastikbeutel. Setzte sich auf die Beinpresse und stellte das Gewicht ein. Der Mann mit dem roten T-Shirt saß mit dem Rücken zu ihr am Lastzug. Hinten hatte er natürlich einen genauso großen Schweißfleck. Sie rümpfte die Nase. Ihrer Gesundheit zuliebe verzichtete sie gerne auf die Sympathien anderer. Die konnten ihr nämlich mit all ihren Bakterien gestohlen bleiben.

Mina war es gewohnt, für ein Alien gehalten zu werden. Sie brauchte niemanden. Das ganze Gerede vom Zugehörigkeitsgefühl war vermutlich ein genauso großer Mythos wie die sogenannte »Seelenverwandtschaft« oder die »große Liebe«. Völlig unrealistische Konzepte, mit denen Hollywood Geld scheffelte, normalen Menschen jedoch Angst einjagte. Die Wissenschaft bestätigte das. Sie hatte gelesen, dass Menschen sowohl den eigenen Partner als auch die Qualität der Beziehung schlechter bewerteten, wenn sie zuvor eine romantische Komödie gesehen hatten. Denn mit der frei erfundenen Idee von der »ewigen Liebe« konnte keine reale Beziehung mithalten.

Sie selbst hatte sich weder als Erwachsene noch in ihrer Jugend jemals zugehörig gefühlt. Mit Ausnahme der kurzen Zeit, die sie mit ihrer Tochter verbracht hatte. Der Mann jedoch, mit dem sie mal zusammengelebt hatte, rief alles andere als herzliche Gefühle in ihr hervor. Nein, von Zugehörigkeit hatte auch da keine Rede sein können. Sie kam in ihrem Leben einfach nicht vor.

Außer …

Mit ihm.

Dem Mentalisten.

Aber das war jetzt lange her.

Auf Facebook hatte sie Werbung für Vincents neue Show gesehen. Beinahe hätte sie sich eine Karte gekauft. Doch dann hatte sie es bleiben lassen. Sie wusste nicht, wie sie reagieren würde, wenn sie ihn auf der Bühne sah. Was, wenn er sie im Zuschauersaal nicht bemerkte?

Und was, wenn doch?

Sie runzelte die Stirn. Sie hielt lieber Abstand. Zur Sicherheit. Schließlich hatte er sich kein einziges Mal bei ihr gemeldet. Sie verstand natürlich, wieso nicht. Erstens hatte er eine Familie. Seiner Frau wäre es nicht zu verübeln gewesen, wenn sie sich gefragt hätte, was er und Mina da vor bald zwei Jahren eigentlich getrieben hatten. Vincent hatte ihr erzählt, dass Maria unglaublich eifersüchtig war. Und die Ereignisse auf der Insel hatten das Ganze nicht besser gemacht. Mina und Vincent wären fast gestorben. Zusammen. Es lag nahe, dass Vincents Frau Mina seitdem hasste. Nicht, dass sie schuld an der Sache gewesen wäre. Aber sie war immerhin Polizistin.

Außerdem hatte sie und Vincent etwas verbunden, das man Außenstehenden nicht erklären konnte. Und der Vorfall auf Lidö hatte sie noch enger zusammengeschweißt.

Gleichzeitig hatte genau diese Verbindung einen normalen Kontakt erschwert. Sie waren sich extrem nah gekommen. Näher, als sie ertragen konnte. Und daher war es besser so, wie es war. Wenn sie allein war, konnte ihr niemand etwas anhaben. Dann war sie sicher. Und er empfand es vermutlich genauso.

Aber dennoch.

Denken Sie daran«, sagte Vincent, »dass das, was Sie jetzt zu sehen bekommen, nicht real ist. Ich demonstriere Ihnen nur, wie man übernatürliche Fähigkeiten vorweist, ohne welche zu besitzen. Denn glauben Sie mir, das tue ich wirklich nicht.«

Er zog eine Augenbraue hoch, als fragte er stumm: oder doch? Ungefähr die Hälfte des Publikums lachte. Es war jedoch kein entspanntes Lachen. Eher ein unsicheres. Und genauso sollte es sein.

Die Cruselhalle in Linköping war ausgebucht, obwohl es ein ganz gewöhnlicher Mittwochabend war. 1200 Begeisterte aus Linköping und Umgebung hatten sich auf den Weg gemacht, um den Meistermentalisten zu sehen. Eigentlich war das Publikum für seinen Geschmack etwas zu groß, aber seine Mitarbeit bei den Ermittlungen in diesem Mordfall vor fast zwei Jahren hatte ein großes Medieninteresse nach sich gezogen. Sofern er nicht vorher auch schon eine Person des öffentlichen Lebens gewesen war, war er es spätestens seit diesem Zeitpunkt auf jeden Fall. Natürlich nicht er selbst. Wer Vincent war, wusste niemand. Aber den Meistermentalisten liebten die Medien. Und das Publikum auch. Seit bekannt war, dass er beinahe in einem Wassertank ertrunken wäre, hatte sich der Ticketverkauf verdoppelt.

Vincents persönliche Verwicklung in den Fall hatte Umberto jedoch irgendwie vor der Presse geheim halten können. Und das war auch der Grund, wieso Vincent noch Erfolg hatte. Hätte die Öffentlichkeit gewusst, dass er indirekt der Grund für drei Morde gewesen war, hätte sie ihn wahrscheinlich mit anderen Augen gesehen. Vincent war natürlich unschuldig. Zumindest, was die Morde betraf. Aber Unschuld war für die Presse immer ein relativer Begriff. Und daher hatten er und sein Agent getan, was sie konnten, um die Öffentlichkeit über Janes Motiv und ihre Identität im Dunkeln zu lassen. Dass Jane und Kenneth vom Erdboden verschluckt zu sein schienen, machte die Sache natürlich einfacher.

Der Expressen hatte zwar einen Anlauf unternommen, die alte Geschichte über seine Mutter wieder auszugraben, aber als Umberto davon erfuhr, hatte er der Zeitung die Hölle heißgemacht. Nie wieder Exklusivmeldungen oder Interviews mit den von ihm vertretenen Künstlern, hatte er dem Expressen gedroht. Und wollte das Boulevardblatt für eine schmuddelige Story wirklich diesen Draht zur Hälfte der schwedischen Prominenz aufs Spiel setzen? Die Antwort hatte, wie vermutet, Nein gelautet. Vincent nahm an, dass Umbertos italienisches Temperament das Seine dazugetan hatte.

Ein Ermittlungsdetail hatte sich allerdings doch herumgesprochen. Mithilfe der Tatzeitpunkte hatte der Mörder seinen Namen buchstabiert. Die Story war einfach zu gut, um kein Eigenleben zu entwickeln.

Seitdem schickten die Leute Vincent Rätsel, Rebusse und andere Denksportaufgaben, ohne sich auch nur die geringsten Gedanken darüber zu machen, wie unsensibel das eigentlich war. Doch wenn Menschen leicht zu verstehen gewesen wären, hätte er ja auch kein Mentalist zu werden brauchen.

»Was ich jetzt tun werde, mag Ihnen wie ein Relikt aus dem vorvorigen Jahrhundert erscheinen«, fuhr er fort. »Aber die Gründer von Religionen und Sekten setzen bis heute noch die gleichen Methoden ein.«

Die Bühne war wie ein Salon aus dem neunzehnten Jahrhundert gestaltet, und Vincent trug passende Kleidung. Zwei voluminöse Ledersessel standen sich schräg gegenüber. Auf einem saß ein offensichtlich aufgeregter Mann.

Vincent hatte zuvor gefragt, ob im Publikum jemand sei, der Medizin studiert habe oder zumindest einer Person den Puls messen könne. Dieser Mann hatte sich gemeldet. Als Vincent ihn bat, auf die Bühne zu kommen, war er vollkommen ruhig gewesen. Er hatte sogar gelacht. Doch nachdem Vincent ihn aufgefordert hatte, ein Dokument zu unterschreiben, das den Mann von jeglicher medizinischen oder juristischen Verantwortung für die bevorstehenden Ereignisse freisprach und besagte, dass Vincent die volle Verantwortung für alle seine Handlungen übernehme, war der Mann deutlich nervöser geworden. Und nicht nur er, sondern das gesamte Publikum. Vincent liebte diesen Effekt. Mit der schriftlichen Vereinbarung ließ sich auf einfache Art Dramatik erzeugen. Andererseits wurde ihm jedes Mal, wenn er eine Unterschrift verlangte, wieder bewusst, dass diese Nummer auch tatsächlich richtig schiefgehen konnte.

»So, Adrian.« Er setzte sich dem Mann gegenüber. »Wir werden jetzt versuchen, mit der anderen Seite in Kontakt zu treten. Mit den Toten, besser gesagt. Hast du verstorbene Verwandte, mit denen du gern Verbindung aufnehmen würdest? Ich spüre, dass du jemanden vermisst, aber nicht deine Großmutter … denn die ist noch am Leben, das kann ich fühlen … aber vielleicht deinen Großvater. Vermisst du ihn?«

Der Mann lachte verkrampft und wand sich.

»Stimmt, Elsa lebt noch«, sagte er. »Aber Arvid ist vor zehn Jahren gestorben. Also, mein Großvater.«

Es war ein simpler Trick, den jede dahergelaufene Jahrmarktwahrsagerin hätte ausführen können. Er basierte auf einer naheliegenden Schlussfolgerung. Der Mann war dem Aussehen nach um die dreißig. Seine Eltern mussten folglich zwischen fünfzig und sechzig sein. Und ihre eigenen Eltern wiederum zwischen achtzig und neunzig. Da Frauen statistisch eine längere Lebenszeit als Männer hatten, war es wahrscheinlicher, dass die Großmutter des Mannes noch lebte. In jedem anderen Kontext hätte sich Vincent für den Bluff geschämt, vor allem, da ihm durchaus auffiel, wie sehr das Thema den Mann berührte. Aber bei dieser Nummer ging es nun einmal darum, zu demonstrieren, wie man andere einwickelte und sich zuerst ihr Vertrauen und dann ihr Geld erschlich. Zu diesem Zweck war jedes Mittel erlaubt.

»Dann versuchen wir jetzt, Ihren Großvater zu finden«, sagte Vincent.

Er wandte sich ans Publikum.

»Noch mal zur Erinnerung, das hier ist nicht real.«

Mit ernstem Gesicht drehte er sich wieder zu dem Mann um.

»Ich werde jetzt Kontakt zur anderen Seite aufnehmen«, sagte er. »Aber dafür muss ich als Erstes selbst … die Seite wechseln.«

Gut sichtbar hielt er einen Gürtel hoch. Dann legte er ihn sich wie eine Schlinge um den Hals und zog das Ende durch die Schnalle. Er hielt dem zunehmend blassen Mann seinen linken Unterarm hin.

»Fühlen Sie meinen Puls«, sagte er. »Und stampfen Sie ihn gleichzeitig mit dem Fuß, damit das Publikum ihn auch hören kann.«

Der Mann umfasste sein Handgelenk und tastete eine Weile mit Zeige- und Mittelfinger nach der richtigen Stelle. Dann stampfte er zu Vincents Pulsschlag. Vincent sah ihm in die Augen.

»Wir sehen uns, wenn ich wieder da bin«, sagte er. »Hoffentlich. Sie begleiten meinen Puls die ganze Zeit mit dem Fuß.«

Dann zog er den Gürtel straff. Das schmerzverzerrte Gesicht brauchte er nicht vorzutäuschen, denn es tat wirklich weh. Adrian stampfte den Rhythmus mit, doch nach einer Weile wurde das Stampfen langsamer.

Vincent schloss die Augen und ließ den Kopf hängen, hielt den Gürtel aber immer noch festgezurrt. Adrian stampfte noch ein paar Male zögerlich mit dem Fuß auf, dann stand er still. Ein schockiertes Zischen ging durch die Halle. Adrian hielt immer noch sein Handgelenk umfasst, bewegte jedoch den Fuß nicht mehr. Das Signal war eindeutig. Vincent hatte keinen Puls mehr. Er hatte sich selbst soeben stranguliert.

Vincent wartete, bis er die Leute mit den Stühlen scharren hörte. Das war das Zeichen, dass sie richtig Angst bekamen. Langsam hob er den Kopf und ließ den Gürtel los. Dann drehte er sich zu Adrian um und sah ihn verschlafen an.

»Adrian«, murmelte er.

Adrian zuckte zusammen.

»Es ist ein Geist im Raum, der sich Arvid nennt«, fuhr Vincent mit belegter Stimme fort. »Lassen Sie uns prüfen, ob es sich wirklich um Ihren Großvater handelt. Stellen Sie ihm eine Frage, die nur er beantworten kann. Vielleicht eine, die mit Ihrer Kindheit zu tun hat. Arvid sagt … Arvid sagt, er hätte Ihnen das Fahrradfahren beigebracht. Wollen Sie da einhaken?«

Adrian nickte verwirrt.

»Fragen Sie ihn, wo ich mir wehgetan habe«, sagte er.

Vincent schwieg eine Weile, als lauschte er einer Stimme, die nur er hören konnte.

»Sie haben sich das Knie aufgeschürft«, sagte er. »Und dann haben Sie beide beschlossen, Ihrer Mutter nichts davon zu sagen. Die Narbe haben Sie immer noch.«

Adrian ließ Vincents Arm los. Er war sichtlich geschockt. Tatsächlich erinnerten sich die meisten Menschen an aufgeschürfte Knie in ihrer Kindheit. Der Rest war ein Schuss ins Blaue gewesen. Doch Erinnerungen waren eine formbare Angelegenheit. Falls sich das Ereignis nicht genau so zugetragen haben sollte, tat es das jetzt, in Adrians Kopf.

»Arvid möchte Ihnen etwas mitteilen«, fuhr Vincent fort. »Er sagt … er sagt, Sie sollen durchhalten und an sich glauben. Irgendwann werden Sie es schaffen, es dauert nur etwas länger, als Sie anfangs dachten. Aber Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Verstehen Sie, was das heißt?«

Adrian nickte stumm.

»Er meint meine Firma«, sagte er. »Das war das Letzte, worüber wir geredet haben, bevor er starb. Ich habe sie immer noch nicht gegründet.«

»Er sagt, was passiert sei, tue ihm leid. Was meint er damit?«

»Wir haben in den letzten Jahren nicht viel miteinander geredet«, sagte Adrian leise. »Wir hatten Streit.«

»Ja, das bereut er jetzt. Er sagt, er habe Sie trotzdem lieb gehabt und liebe Sie noch immer.«

Nun liefen Adrian Tränen über das Gesicht. Dieser Teil der Show war wichtig für die Botschaft, die Vincent vermitteln wollte, aber es war ihm ein Graus, dass er den Leuten immer so naheging. Er hatte nichts anderes getan, als sich den sogenannten Barnum-Effekt zunutze zu machen, indem er scheinbar persönliche Aussagen machte, die auf die meisten Menschen zutrafen. Und auch, dass er Adrian animiert hatte, die Aussagen des »Geistes« selbst zu deuten, war ein klassischer Trick, den alle Medien verwendeten. Auf diese Weise lag das Medium niemals falsch, und wenn doch, konnte es immer noch dem Klienten die Schuld geben.

»Die Verbindung wird schwächer«, ächzte er. »Möchten Sie noch etwas sagen, bevor es zu spät ist?«

»Nein, nur … Danke«, flüsterte Adrian. »Danke für alles.«

Vincent streckte den Arm aus und ließ wie bewusstlos den Kopf hängen. Im Saal herrschte Stille. Unsicher griff Adrian nach seinem Handgelenk und ertastete Vincents Puls. Nach einer Weile begann er, leise zu stampfen. Zunächst noch langsam und unregelmäßig, dann immer kräftiger und rhythmischer, bis sich Vincents Puls normalisiert hatte.

Vincent öffnete die Augen. Mit einem zaghaften Lächeln griff er nach Adrians Hand. Beifallsstürme rief diese Nummer nie hervor. Dafür war das Publikum zu durcheinander. Die Leute waren sich unsicher, was sie da gerade miterlebt hatten. Aber er wusste genau, dass sie noch monatelang darüber sprechen würden.

»Denken Sie daran«, sagte er ans Publikum gewandt und wiederholte damit, allerdings in sehr viel sanfterem Tonfall, die Worte, mit denen er begonnen hatte.

Die Zuschauer waren jetzt verletzlich. Damit musste er respektvoll umgehen.

»Ich kann nicht mit Geistern in Kontakt treten. Ich glaube auch nicht, dass irgendjemand anders es kann, weil ich nicht glaube, dass Geister existieren. Genau wie überzeugende Medien kann ich jedoch den Anschein erwecken, ich wäre dazu in der Lage. Es werden heute noch genau die gleichen psychologischen und verbalen Techniken wie vor hundertfünfzig Jahren angewendet, wenn jemand für viel Geld so tut, als könnte er Kontakt zu Ihren verstorbenen Angehörigen aufnehmen. Und wie immer gilt: Erscheint etwas zu schön, um wahr zu sein, dann ist es das meistens auch. Vielen Dank.«

Er ging von der Bühne ab, bevor der Applaus einsetzte. Diesmal wollte er sie nachdenklich zurücklassen.

Sein Hals schmerzte. Dieser verdammte Gürtel. Er musste vorsichtiger sein. Und außerdem hatte er seinen Puls heute viel zu lange zum Stillstand gebracht. Der Jenseitskontakt war zwar vorgetäuscht, aber das Aussetzen des Pulses war echt. Auch wenn er es nicht mit dem Gürtel, sondern mit einer anderen Methode herbeiführte, und auch nur im Arm und nicht im ganzen Körper. Dass es Techniken gab, mit denen sich in einzelnen Teilen des Körpers der Puls zum Stillstand bringen ließ, war eins der bestgehüteten Geheimnisse der Mentalistenzunft, und Vincent hatte noch nie jemandem verraten, wie er das machte. Es spielte jedoch keine Rolle, dass es nur den Arm betroffen hatte. Nach dreißig Sekunden wurde es trotzdem gefährlich. Meistens ließen die Leute seinen Arm los, sobald der Puls ausblieb, aber Adrian hatte die Hand nicht weggenommen. Daher war Vincent nichts anderes übrig geblieben, als durchzuhalten. Er würde unheimlich erleichtert sein, wenn er die Tournee hinter sich hatte. Die Durchblutung einzelner Körperteile so oft und lange zu unterbrechen, war nicht gesund.

Er ging hinunter in den Warteraum hinter der Bühne und sah die Mineralwasserflaschen der Marke Loka auf dem Tisch stehen. Drei Stück. Er biss die Zähne zusammen. Der Anblick der drei Flaschen war wie ein schriller Missklang. Schnell öffnete er den Kühlschrank und stellte eine vierte dazu. Erst jetzt entspannte sich seine Kiefermuskulatur. Dann ließ er sich am Handwaschbecken ein Glas Leitungswasser einlaufen, setzte sich aufs Sofa und atmete auf.

Draußen wurde immer noch geklatscht, aber er reagierte nicht. Es wäre zu einfach gewesen, breit grinsend auf die Bühne zurückzugehen und dem, was die Zuschauer vorhin erlebt hatten, die Spitze zu nehmen. Sollten sie ruhig noch ein wenig grübeln.

Ein Augenblick Ruhe, dann würde er sich umziehen. Er gewöhnte sich gerade ab, sich nach der Vorstellung auf dem Fußboden auszustrecken. Manchmal schaffte er es, der Versuchung zu widerstehen. Meistens nicht. Er griff zum Handy. Sains Bergander, Vincents Freund, der Illusionen baute und ihnen geholfen hatte, die Morde an Tuva und den anderen aufzuklären, hatte im Publikum gesessen. Vincent war gespannt, was er von der neuen Show hielt. Tatsächlich hatte Sains ihm eine Nachricht geschickt. Offenbar hatte er sie in der Sekunde, in der Vincent von der Bühne ging, versendet. Doch Sains’ Nachricht musste warten. Möglicherweise hatten sich noch mehr Leute gemeldet.

Oder, besser gesagt, eine ganz bestimmte Person.

Vincent öffnete die Liste der ungelesenen Nachrichten. Es waren einige, aber die, auf die er wartete, war nicht dabei. Von der Person, die sein Leben verändert hatte, als sie ein Teil davon geworden war. Der er sein Innerstes anvertraut hatte. Und die dann ebenso plötzlich verschwand, wie sie aufgetaucht war.

Als er sie zuletzt gesehen hatte, war es Oktober gewesen. Dann war der Winter gekommen. Und dann Frühling, Sommer, Herbst und nun wieder Sommer. Seit über anderthalb Jahren hatte er nicht mit ihr gesprochen. Fast zwei. Nicht dass er selbst sich gemeldet hätte, so gern er das auch getan hätte. Aber er und Maria hatten mit einer Paartherapie begonnen, und er wollte es nach Möglichkeit vermeiden, einen unnötigen Eifersuchtsanfall seiner Frau auszulösen.

Da die Therapie nicht den erhofften Erfolg mit sich brachte, hatten sie sie inzwischen wieder abgebrochen, und nun war natürlich noch mehr Zeit vergangen. Nach monatelangem Schweigen wollte er sich nicht aufdrängen. Sie legte großen Wert auf ihre Privatsphäre, und er musste das respektieren. Auch wenn er die Nähe zu ihr vermisste.

Außerdem hatte sie gar keinen Grund, sich bei ihm zu melden. Sie hatte einen unmissverständlichen Schlussstrich gezogen. Er hatte keine Ahnung, wie ihr Leben mittlerweile aussah. Vielleicht war sie verheiratet. Vielleicht hatte sie jetzt Familie. Oder war ins Ausland gegangen.

Er konnte jedoch nichts dagegen tun. Nach einer Vorstellung hatte er sie zum ersten Mal gesehen. Und seitdem hielt er jedes Mal, wenn er von der Bühne ging, Ausschau nach ihr. Doch die Liste der ungelesenen Nachrichten räumte auch den letzten Zweifel aus.

Mina hatte sich auch an diesem Abend nicht gemeldet.

Sie nahm die Sonnenbrille ab und lächelte ihn an. Dann schlug sie die Beine übereinander und beugte sich vor. Sie saßen sich gegenüber, ohne einen Tisch zwischen sich zu haben. Anfangs hatte Ruben sich extrem unwohl gefühlt. Ausgeliefert. Aber er hatte sich daran gewöhnt. Mittlerweile unternahm er nicht einmal mehr den Versuch, ihr in den Ausschnitt zu gucken. Und dabei war Amanda alles andere als unattraktiv.

»Wollen Sie damit sagen, dass ich fertig bin?« Ruben sah auf die Uhr.

Er war erst seit einer halben Stunde hier. Aber Amanda schien die Sitzung bereits beenden zu wollen.

»Fertig ist man wahrscheinlich nie«, sagte sie. »Aber wenn nichts Neues auftaucht, sehe ich eigentlich keinen triftigen Grund für Sie, weiter herzukommen. Wobei ich das eigentlich nicht beurteilen kann. Wie ist denn Ihr Gefühl?«

Ruben sah Amanda an, die Psychotherapeutin, zu der er seit über einem Jahr an jedem zweiten Donnerstag ging. Die Frage nach seinem Gefühl fand er immer noch furchtbar, aber er ärgerte sich nicht mehr gar so sehr darüber wie am Anfang.

»Meine Gefühle überlasse ich Sigmund Freud«, sagte er. »Wenn ich eins gelernt habe, dann, dass meine Gefühle nicht unbedingt das sind, wofür ich sie halte. Und daher habe ich mich entschieden, mein Handeln nicht mehr nach meinen Gefühlen auszurichten, sondern auf rationales Denken zu gründen. Und daher war ich auch ein halbes Jahr lang sexuell enthaltsam. So gern meine Hormone auch ficken würden.«

Amanda zog fragend eine Augenbraue hoch.

»Nein, es ist nicht so, als wäre ich überhaupt nicht auf der Jagd gewesen«, erklärte er. »Das hatten wir ja besprochen. Genau das meine ich. Ich werde nicht ganz damit aufhören, schließlich bin ich ein Mann in den besten Jahren. Aber seitdem mir bewusst ist, welche Bedürfnisse mein Verhalten erfüllen sollte, spielt das alles nicht mehr so eine große Rolle.«

»Und was waren das für Bedürfnisse?«

Ruben seufzte. Da waren sie wieder. Diese beschissenen Gefühle.

»Frauen rumzukriegen gab mir ein Gefühl von Macht. Aber es erfüllte auch ein tieferes Bedürfnis nach …«

Wieder seufzte er.

»Nach Nähe«, sagte er gequält. »Zufrieden?«

Nähe. Nie im Leben hätte er geglaubt, dass er dieses Wort mal in den Mund nehmen würde. Es klang unerträglich schwul. Doch auch dieser Gedanke war ein Abwehrmechanismus, hatte er gelernt. Scheiße. Gunnar und die anderen Kollegen aus der Spezialeinheit hätten sich ausgeschüttet vor Lachen, wenn sie gewusst hätten, dass er zu einer Psychotherapeutin ging. Gunnar attestierte sich selbst nordschwedische Unerschütterlichkeit. Seiner Ansicht nach bestand die Lösung aller Probleme darin, mit einem Eimer Selbstgebranntem in den Wald zu gehen. Die Männer hätten seinen Helm rosa angemalt, wenn sie gewusst hätten, dass er hier bei Amanda saß. Wieder warf er einen Blick auf die Wanduhr. Kurz nach halb neun. Er hätte längst am Arbeitsplatz sein müssen. Bevor irgendjemand sich zu fragen begann, was er eigentlich jeden zweiten Donnerstagmorgen trieb. Die übliche Ausrede, er hätte sich erst die Frau vom Hals schaffen müssen, die er am Abend zuvor abgeschleppt hätte, zog nicht unendlich oft.

Abschleppen, tja. Um ehrlich zu sein, wusste er kaum noch, wie das ging. Natürlich hatte er bei der ersten Sitzung auch versucht, Amanda zu verführen. Mit mäßigem Erfolg.

»Es gibt nur noch eine Sache, die ich tun muss«, sagte er. »Ich will Ellinor treffen.«

»Ruben«, sagte Amanda in warnendem Ton. »Vergiss nicht, was wir über das Loslassen gesagt haben. Ellinor hat dein Leben all die Jahre überschattet. Dein Verhalten war eine Reaktion darauf. Du bist erst fertig, wenn du dich von diesem Schatten befreit hast.«

»Ich weiß. Und genau deshalb will ich mich ja mit ihr treffen. Um mit der Vergangenheit abzuschließen. Ich schwöre, ich will nur mal Hallo sagen. Um sie von dem Sockel zu holen, auf den ich sie gestellt habe.«

»Das klingt … überraschend vernünftig.« Amanda kniff die Augen zusammen. »Sind Sie sicher?«

»Das Schlimmste, was mir passieren kann, wären doch ein paar Therapiestunden mehr«, sagte er lachend.

Er war sich hundertprozentig sicher. Er war jetzt ein besserer Ruben als noch vor einem Jahr. Gunnar sollte die Schnauze halten.

Sie standen auf und gaben sich die Hand. Zum fünfzigsten Mal widerstand er der Versuchung, sie auf einen Drink einzuladen. Der Gedanke an sich war einfach nur ein Gedanke, solange keine Taten folgten. Er war schließlich immer noch Ruben. Und außerdem hatte er Wichtigeres zu tun. Er hatte bereits herausgefunden, wo Ellinor wohnte. Nur mal kurz Hallo sagen. Schauen, wie es ihr ging. Und sie um Verzeihung bitten. Dann war er fertig.

Vincent holte tief Luft, bevor er in die Küche ging, um Frühstück zu machen. Seine Frau Maria hielt sich bereits seit einer Stunde in der Küche auf. Er wusste, dass der Geruch, der ihm mittlerweile entgegenschlagen würde, nicht nur penetrant, sondern überwältigend war. Und tatsächlich. Verschiedenste Duftkerzen, Kräutersäckchen, Seifen und Raumsprays bildeten eine Wolke aus Aromaschwaden, die sich um ihn legte wie eine feuchte Wolldecke.

»Liebling, wie lange werden wir das ganze Zeug denn noch hier haben?« Er griff sich irgendeinen Becher aus dem Küchenschrank und erwischte den mit der Aufschrift Ich bin nicht unreif, du bist kacka. Als er sich Kaffee eingeschenkt hatte, setzte er sich an den Küchentisch.

»Hast du denn alles vergessen, was wir in der Paartherapie besprochen haben?«, fragte Maria, die mit dem Rücken zu ihm auf dem Fußboden hockte. »Es ist wichtig, dass du mich bei meiner Unternehmensgründung unterstützt.«

Seine Frau drehte sich nicht einmal zu ihm um, sondern packte seelenruhig kleine Keramikengel in einen Karton.

»Doch, das weiß ich natürlich noch. Und du weißt, dass ich dich in jeder Hinsicht unterstütze. Diesen Onlineshop, den du eröffnet hast, finde ich wirklich, äh, interessant. Es wäre nur möglicherweise besser, wenn du dein Lager in, tja … Lagerräumen einrichten würdest?«

Maria seufzte tief. Sie wandte ihm noch immer ausschließlich ihre Rückseite zu.

»Wie Kevin schon gesagt hat, sind Lagerräume teuer«, sagte sie. »Und da deine neue Show noch immer nicht die Produktionskosten eingespielt hat, werde ich wohl die Erwachsene in der Familie sein und Geld verdienen müssen.«

Vincent starrte sie an. Das war das vernünftigste Argument, das er seit Jahren von seiner Frau gehört hatte. All die Existenzgründungsseminare, die sie besucht hatte, waren vielleicht doch keine Zeitverschwendung gewesen. Auch wenn ihm Seminarleiter Kevin, den sie in jedem zweiten Satz zitierte, mittlerweile ziemlich auf die Nerven ging. Aber Maria war nun mal eine Suchende. Sich an Vorbildern zu orientieren, lag in ihrer Natur. Dass ihr aktueller Guru jedoch ein Gründungsberater war, hatte ihn, gelinde gesagt, verblüfft.

»Geld verdienen?« Wie immer in letzter Zeit kam Rebecka mit versteinerter Miene in die Küche. »Mit dem Zeug machst du doch nie ein Plus. Wer kauft denn so einen Scheiß?«

Angewidert hielt sie ein weißes Holzschild hoch.

»Leben Lachen Lieben. Nicht dein Ernst, oder? Sterben Heulen Hassen trifft es eher.«

»Seid doch mal nett«, sagte Vincent.

Insgeheim musste er seiner Tochter jedoch recht geben.

»Kevin sagt, ich hätte einen unschlagbaren Riecher für kommerzielle Produkte.« Maria warf ihrer Bonustochter einen erbosten Blick zu.

Rebecka ging ungerührt zum Kühlschrank.

»Was zum Teufel? Aston!«

Aus dem Wohnzimmer wurde prompt zurückgebrüllt.

»Was ist?«

»Hast du etwa den letzten Rest Milch für dein Müsli verbraucht und die leere Packung in den Kühlschrank gestellt?«

»Die ist gar nicht leer, da ist noch was drin!«

Astons Stimme hallte schrill von den Wänden wider. Rebecka sah Vincent herausfordernd an, während sie die Packung umdrehte. Drei Tropfen klatschten träge auf den Küchenfußboden.

»Was machst du?« Maria stand auf. »Wisch das sofort weg.«

Der Engel, den sie noch auf dem Schoß gehabt hatte, zersprang in tausend Scherben. Besonders robust war das Material offenbar nicht.

»Oh, nein! Siehst du, was du wieder angerichtet hast?«

»Ich?«, zischte der Teenager. »Du hast dich wie üblich selber blöd angestellt. Und hinterher gibst du mir die Schuld. Typisch. Und du, Papa, nimmst mich nie in Schutz. Egal, wie scheiße sie mich behandelt. Hier kann man es echt nicht aushalten. Ich gehe zu Denis.«

Vincent öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber es war schon zu spät. Rebecka war bereits an der Haustür.

»Spätestens um acht bist du zu Hause!«, rief Maria ihr hinterher. »Es ist Donnerstag.«

»Es sind Sommerferien!« Rebecka schnappte sich ihre dünne Sommerjacke und knallte die Tür hinter sich zu.

»Aha. Dann vielen Dank für deine Hilfe!« Maria verschränkte die Arme vor der Brust. »Würdest du Aston jetzt bitte zur Ferienbetreuung bringen. Ihr seid spät dran.«

Vincent machte den Mund wieder zu. Es war besser, jetzt den Mund zu halten. Er hatte noch immer nicht die geringste Ahnung, wie er mit diesen Gefühlsstürmen umgehen sollte. Was immer er dazu sagte, war sowieso meistens falsch. Daher hatte er sich angewöhnt, möglichst nichts zu sagen.

Er durchforstete sein Gedächtnis nach irgendeinem nützlichen Ratschlag des Paartherapeuten. Es fiel ihm nicht leicht, Hilfe auf einem Gebiet anzunehmen, von dem er selbst viel mehr verstand. Doch Vincent hatte sich wirklich um Demut bemüht.

Anfangs war im Gespräch gewesen, ob er nicht zusätzlich eine Einzeltherapie machen sollte, um das zu verarbeiten, was in seiner Kindheit mit seiner Mutter passiert war. Ein Ereignis, das er vierzig Jahre lang verdrängt hatte. Doch darauf hatte er sich nicht eingelassen. In ihm lebte ein Schatten, der sein Innerstes streng bewachte, und es gab niemanden, dem er genug vertraute, um ihn bis an diesen Ort vordringen zu lassen.

Vincent hätte sich gewünscht, die Paartherapie wäre eine Art Wunderkur, die ihn und Maria vereinte, indem sie ihm wieder Verständnis für ihre Art zu denken vermittelte. Und sie von der krankhaften Eifersucht befreite, die sie befiel, sobald er in einer anderen Stadt war. Da sein Beruf häufiges Reisen mit sich brachte, war diese Eifersucht ungeheuer belastend für beide. Und sie hatten sich wirklich Mühe gegeben. Vor allem Maria.

Der Therapeut hatte zur Sprache gebracht, was ohnehin auf der Hand lag. Die Eifersucht war in Marias mangelndem Selbstwertgefühl begründet. Und möglicherweise auch in den Umständen, unter denen er und Maria zusammengekommen waren. Denn er hatte seine damalige Ehefrau Ulrika für deren jüngere Schwester Maria verlassen.

Vincent wusste jedoch, dass es nicht ganz so einfach war. Maria hatte noch etwas anderes an sich, das weder sie selbst noch der Therapeut zu fassen bekamen, und dieses Etwas ging zum Angriff über, sobald er seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes oder jemand anderen als ihr Zuhause und die Familie richtete. Er wusste, dass es eigentlich nicht Marias Schuld war, dass sie so reagierte. Sie handelte aus purem Instinkt. Und deswegen sah sie ihn jetzt auch an wie ein Ufo. Und wie schon so oft wünschte er, er hätte gewusst, was sie von ihm wollte.

Am Anfang war es so einfach gewesen. Als die Verliebtheit sie dazu trieb, sich über alles und alle hinwegzusetzen, die ihrer Liebe im Weg standen. Er erinnerte sich noch gut an das Gefühl. Irgendwo tief in seinem Innern hatte er es sich bewahrt. Er wusste noch genau, wie es gewesen war, als sie seine Sätze beendete, und sie eigentlich auch ohne Worte hatten kommunizieren können. Doch mit den Jahren war ihnen die gemeinsame Sprache allmählich abhandengekommen. Als ob sie sich immer weniger in den anderen einfühlen könnten, obwohl es genau umgekehrt hätte sein müssen. Er wollte es nicht so. Er wusste nur nicht, wie er wieder an sie herankommen sollte. Was er tun musste, um ihr Wir wiederzufinden.

Ganz offensichtlich erwartete sie von ihm, dass er etwas sagte. Und ein kleines bisschen war ja bei einer der Therapiesitzungen vielleicht doch hängen geblieben. Der Therapeut hatte vorgeschlagen, dass Vincent sich Maria freundlich zuwandte, wenn sie sich aufregte, selbst wenn er sich ungerecht behandelt fühlte. Auf diese Weise konnte er ihr vielleicht ein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Und auf der Grundlage dieser Sicherheit konnte Maria ihre Gefühle vielleicht auf konstruktivere Weise ausdrücken, bevor sie sich in Wut verwandelten. Meistens funktionierte es nicht. Aber einen Versuch war es trotzdem wert.

»Liebling, ich merke, dass du dich ärgerst«, sagte er in bewusst sanftem und ruhigem Ton. »Aber die Wut tut deinem Körper nicht gut. Du spürst doch sicher, dass du deine Muskeln anspannst. Dadurch werden deine Gefäße schlechter durchblutet, und sowohl dein Nervensystem als auch dein kardiovaskuläres und hormonelles Gleichgewicht geraten durcheinander. Mit deinem Blutdruck schießen sowohl dein Puls als auch der Testosterongehalt in die Höhe, und ein Überschuss an Gallenflüssigkeit belastet Regionen deines Körpers, in denen diese nichts zu suchen hat.«

Maria sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Der Rat des Therapeuten funktionierte anscheinend.

»Außerdem verändert sich die Aktivität deines Gehirns, wenn du wütend bist«, fuhr er fort. »Vor allem im Frontal- und Temporallappen. Wie gesagt. Wut ist nicht gut für dich. Könntest du nicht vielleicht auf konstruktivere Weise mit Rebecka kommunizieren?«

Er riskierte ein zaghaftes Lächeln. Maria starrte ihn an. Dann verzog sie das Gesicht, als ob sie in eine Zitrone gebissen hätte, und verließ wortlos die Küche.

Vor lauter Wiedersehensfreude kamen Julia fast die Tränen. Nie im Leben hätte sie es für möglich gehalten, dass man sich so danach sehnen konnte, das im Grunde ziemlich hässliche Präsidium in Kungsholmen zu betreten. In dem es zur Feier des Tages auch noch so heiß wie in einem Backofen war. Pünktlich zum heißesten Sommer, den Stockholm je erlebt hatte, war die Klimaanlage zusammengebrochen. Sie fächelte sich mit einem Blatt Papier Luft zu, während sie in den Konferenzraum ging. Für ihre Kollegen war es möglicherweise ein ganz normaler Donnerstag. Für sie war es der Himmel auf Erden.

Zumindest, solange sie den anderen noch nicht gesagt hatte, warum sie hier waren.

»Julia!« Ein Mann mit Bart strahlte sie an.

Sie machte große Augen, als sie Peder wiedererkannte.

»Das ist kein Hipsterbart, sondern ein Papabart«, antwortete er auf ihren fragenden Blick.

»Natürlich ist das ein Hipsterbart«, brummte Ruben, der kurz nach ihr hereinkam. »Zum Glück ist es zu heiß für diese kleine Mütze, die du das ganze Frühjahr aufhattest.«

Offenbar hatte sich nichts verändert. Und wenn sie nicht alles täuschte, waren sogar Mina und Christer erfreut, sie zu sehen.

»Herzlichen Glückwunsch nachträglich«, murmelte Christer.

Der hechelnde Golden Retriever Bosse lag an derselben Stelle wie vor einem halben Jahr zu seinen Füßen, konnte sich aufgrund der Hitze jedoch zu keiner stürmischen Begrüßung aufraffen, warf ihr aber zumindest ein fröhliches Bellen zu.

»Ja, Glückwunsch!«, sagte Mina, während sie ängstlich Julias Jackett beäugte.

Julia warf einen Blick auf den Fleck auf ihrer linken Schulter, den Mina ins Visier genommen hatte, und stieß einen Fluch aus.

»Verdammt, kann man denn kein einziges Mal ohne diese beschissenen Kotzflecken aus dem Haus gehen?«

Sie zog das Jackett aus und wollte es gerade über den Stuhl legen, als sie sich Mina zuliebe eines Besseren besann und es stattdessen an einen Haken neben der Tür hängte.

»Noch wird ja nur Brei erbrochen«, sagte Peder mit verständnisvoller Miene. »Den bekommt man leicht weg. Wenn sie erst Banane und Bœuf Stroganoff aus dem Gläschen essen, hilft nur noch Vanish Oxi. Du weißt schon, die pinken Dosen. Alles einweichen, natürlich bei neunzig Grad waschen und viel Bleichmittel dazutun. Eigentlich dürfte man ja am Anfang nur weiße Sachen tragen …«

»Ich behalte das im Hinterkopf.« Julia signalisierte mit erhobener Hand, dass es jetzt reichte. »Guten Morgen.«

Sie hatte schon genug mit der Sisyphusarbeit zu tun, die ein sechs Monate altes Baby mit sich brachte. Mit den Ärgernissen zukünftiger Entwicklungsphasen würde sie sich beschäftigen, wenn es so weit war.

»So. Schön, wieder da zu sein. Wie wunderbar, euch alle zu sehen. Ich habe eure Arbeit während meiner Abwesenheit natürlich genau verfolgt und bin stolz auf euch. Großes Lob, Mina, für deine Führungsqualitäten. Aber jetzt bin ich froh, wieder hier zu sein, und kann es kaum erwarten, mich in die Arbeit zu stürzen. Ausgeschlafen bin ich zwar nicht, aber man kann eben nicht alles haben.«

Sie gab ein halbherziges Lachen von sich. Ein Teil von ihr hätte gern von den Streitigkeiten erzählt, die der Grund dafür gewesen waren, dass sie heute ins Präsidium zurückgekehrt war. Streitigkeiten, die ihr bewusst gemacht hatten, dass die gleichberechtigte Beziehung, in der sie zu leben geglaubt hatte, nichts als eine Illusion gewesen war. Eine Illusion, die nur deshalb so lange Bestand gehabt hatte, weil sie bisher nicht von den Widernissen der Kinderbetreuung auf die Probe gestellt worden war. Die Argumente, die ihr an den Kopf geknallt worden waren, hatten ihr früher immer nur ein müdes Seufzen entlockt, wenn sie sie aus dem Mund ihrer Freundinnen gehört hatte. Sie sei eben aus biologischen Gründen geeigneter dafür, ein Baby zu versorgen. Und dass Torkel in seiner Firma unentbehrlich war. Ohne ihn würde nicht nur sie, sondern das gesamte schwedische Bruttosozialprodukt zusammenbrechen, der Euro abstürzen und eine globale Wirtschaftskrise den unausweichlichen und sofortigen Weltuntergang auslösen.

Am meisten regte sie auf, dass sie eine Abmachung gehabt hatten. Sie sollte das erste halbe Jahr übernehmen und er das zweite. Beide hatten Elternzeit beantragt und bewilligt bekommen. Nicht klar gewesen war ihr, dass Torkel es damit zu keinem Zeitpunkt ernst gewesen war. Und er wäre im Leben nicht auf den Gedanken gekommen, sie könnte wirklich glauben, dass er sich die Elternzeit mit ihr teilen würde. Sie hatte noch vor Augen, wie entsetzt er sie angestarrt hatte, als sie ihn in der vergangenen Woche daran erinnerte, dass sie an diesem Donnerstag wieder anfangen würde zu arbeiten.

Torkel hatte offenbar geglaubt, dass sie, Zitat, »selber merken würde, dass sie viiiel lieber mit Harry zu Hause blieb und gar nicht wieder arbeiten wollte«.

Anschließend hatten sie tagelang nicht miteinander geredet.

Als sie sich vor einer guten Stunde auf den Weg gemacht hatte, schien ein Fremder vor ihr zu stehen. Panisch, wütend und unfrisiert hatte er etwas von »Bindung« und »biologischen Grundlagen« gefaselt. Außerdem müsse er dringend mit seinem Chef sprechen. Am Ende seines Sermons hatte sie ihm Harry wortlos überreicht und eilig das Haus verlassen. Seitdem wagte sie nicht mehr, auf ihr Handy zu sehen.

»Willkommen zurück.« Ruben grinste hinterlistig.

Julia ignorierte, so gut es ging, die Tatsache, dass er den Blick kaum von ihren Brüsten losreißen konnte. Sie hatte vor einer Woche aufgehört zu stillen, aber ihre Brüste schienen davon noch nichts mitbekommen zu haben. Wie so vieles andere, hatte sie auch ihre B-Körbchen schmerzlich vermisst. Mit den E-Körbchen war sie nie so richtig warm geworden.

»Falls du noch ein bisschen erschöpft bist, weiß ich eine perfekte Methode, um dich aufzumuntern.« Gut gelaunt fischte Peder sein Telefon aus der Tasche.

»Nicht schon wieder«, stöhnten Mina, Christer und Ruben wie aus einem Mund.

Peder achtete gar nicht auf sie. Er drückte Julia das Handy in die Hand und startete das Video.

»Das sind die Drillinge«, juchzte er. »Sie singen den ESC-Hit von Anis Don Demina mit. So unglaublich süß!!!«

Julia sah drei Babys in Windeln begeistert vor einem großen Fernseher wippen. Sie nahm an, dass sie wahnsinnig niedlich waren, aber von Kindern hatte sie heute die Nase voll.

»Moment, ich stelle den Ton lauter«, sagte Peder. »Sie singen auch.«

Seine Kollegen stöhnten auf.

»Danke, ich hab’s verstanden.« Sie gab ihm das Handy zurück. »Wirklich goldig. Wie dem auch sei. Ich schlage vor, wir fangen sofort an. Gestern Nachmittag wurde die Entführung eines Kindes namens Ossian Walthersson gemeldet. Fünf Jahre alt. Aufgrund eines Versehens hat der Fall nicht sofort die höchste Dringlichkeitsstufe erhalten. Das ist leider erst heute Morgen aufgefallen.«

»Oh, mein Gott«, rief Peder. »So was darf nicht passieren!«

»Stimmt, ist es aber. Jedenfalls hat die Leitung uns mit dem Fall betraut. Er hat höchste Priorität.«

Mina nickte und trank einen großen Schluck Wasser. Als sie ihre Flasche wieder abstellte, bemühte sie sich, sie so weit entfernt wie möglich von Peders Bart zu platzieren. Als Bosse das bemerkte, trottete er hechelnd auf sie zu.

»Christer!«, sagte Mina. »Wenn der Hund sich in diesem Raum aufhält, musst du ihm auch etwas zu trinken geben. Sollte er sich meiner Wasserflasche noch weiter nähern, kaufst du mir eine neue.«

»Reg dich nicht so auf«, seufzte Christer. »Hundezungen sind erstaunlich sauber. Aber in Anbetracht der Zeit, die wir hier voraussichtlich verbringen werden, sollte ich ihm wirklich eine Schale Wasser hinstellen. Für Bosse ist das auch kein Vergnügen.«

Er winkte den Hund zu sich zurück, der Mina einen beleidigten Blick zuwarf, bevor er sich wieder neben sein Herrchen legte. Julia überlegte, ob sie Christer erklären sollte, dass die Zungen von Hunden alles andere als sauber waren. Ihr Belag wies eine vollkommen andere Bakterienzusammensetzung auf als die von Menschen und konnte teilweise sogar gesundheitsgefährdend sein, aber als sie bemerkte, wie liebevoll Christer das Tier ansah, ließ sie es bleiben.

»Ich hatte ganz vergessen, was für eine Kita das hier ist«, sagte sie. »Wir sollten uns jetzt konzentrieren und schnellstens an die Arbeit machen. Unsere Gruppe bekommt Verstärkung von einer Person, die mit ähnlichen Fällen Erfahrung hat. Er kommt von den Verhandlern … aus der Verhandlungsgruppe … also, es ist ein bisschen schwierig, sich für eine Bezeichnung zu entscheiden. Ihr wisst schon, was ich meine.«

Sie schwieg einen Moment und sah in die erstaunten Gesichter.

»Wieso hat die Abteilung eigentlich keinen Namen?«, fragte Peder.

»Reine Psychologie«, sagte Julia. »Solange sie keinen Namen hat, gibt es sie auch nicht. Und dann kann man auch nicht auf ihr herumhacken.«

»Wow.« Peder zog die Augenbrauen hoch.

»Aber, wie gesagt, er gehört jetzt nicht mehr zu den Verhandlern, sondern ist ein willkommener Zuwachs zu unserer kleinen Schar. Er hat sich auch schon ein paar Gedanken über den Fall Ossian gemacht und müsste jeden Augenblick hier sein.«

»Brauchen wir wirklich noch mehr Leute?« Mina runzelte die Stirn.

»Du meinst, wir reichen dir vollauf?« Christer lachte grunzend und stieß andeutungsweise einen Ellbogen in Minas Richtung.

Offenbar kannte er seine Kollegin gut genug, um zu wissen, dass Körperkontakt nach Möglichkeit vermieden werden musste. Julia hatte Minas Reaktion bereits vorhergesehen. Veränderungen waren Mina Dabiri ein Gräuel. Vor allem dann, wenn sie zwischenmenschliche Kontakte mit sich brachten. Wobei gerade diese ihr guttun würden. Seit die Zusammenarbeit mit Vincent im Herbst vor zwei Jahren abgeschlossen war, hatte Julia sie mit niemandem außer den Kollegen reden sehen. Und während ihrer Elternzeit war Mina wahrscheinlich auch nicht geselliger geworden. Ihren Bekanntenkreis zu erweitern, konnte also nicht schaden.

»Das haben die Chefs bestimmt aus politischen Gründen entschieden«, sagte Christer.

Er kraulte Bosse den Nacken und erntete einen zärtlichen Blick.

»Gleichberechtigung und Vielfalt sind ja unheimlich in, und da wir bereits zwei Frauenzimmer im Team haben, werden wir diesmal entweder einen Schwulen oder Importware dazubekommen.«

»Christer!« Peder sah den älteren Kollegen tadelnd an. »Wegen genau solcher Bemerkungen bist du hierher versetzt worden. Haben all die teuren Seminare, die dir die Polizeibehörde spendiert hat, um dich aus der Steinzeit abzuholen, denn gar nichts gebracht?«

Seufzend streichelte Christer Bosse hinter dem Ohr.

»Ach, das war doch nur ein Witz«, sagte er verlegen. »Die Leute sind heutzutage alle so dünnhäutig. Außerdem enthielt meine Aussage keinerlei Wertung, was dir auch aufgefallen wäre, wenn du dieselben Seminare besucht hättest wie ich.«

»Manchmal verbirgt sich die Wertung in der Wortwahl …«

Ein diskretes Klopfen unterbrach Peder. Alle sahen zur Tür.

»Du kommst wie gerufen.« Julia deutete auf den Neuankömmling. »Darf ich euch unser neues Gruppenmitglied vorstellen? Das ist Adam Balondemu Blom.«

»Beeindruckende Aussprache.« Der Mann trat ein. »Aber Adam Blom reicht vollkommen.«

Die komische Tante ist richtig, richtig doof. Sie sagt, sie hat Welpen, aber sie hat gar keine. Dafür ist ihr Auto ein richtiges Rennauto. Es sieht genauso aus wie ihre Spielzeugautos, ist aber ein normales Auto. Als sie gestern in die Kita kam, hat sie mich gefragt, ob ich mal ausprobieren wollte, wie es ist, in einem Rennauto zu sitzen, und das wollte ich gerne. Aber dann sind wir losgefahren. Sie hat gesagt, wir würden nach einer Minute oder so umkehren und nur ein bisschen fahren, damit ich merke, wie schnell das Rennauto ist. Wir sind aber nicht umgekehrt.

Da habe ich Angst bekommen. Große Angst.