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Margot von Lindner ist froh, als sie den Gütertermin mit ihrem Ehemann Fred hinter sich hat. Endlich kann die Scheidung zu ihren Gunsten ausgesprochen werden. Fred hat sie immer wieder betrogen und belogen und selbst jetzt lauert er ihr auf und versucht sie umzustimmen. An diesem Abend passiert bei ihr zu Hause, im sogenannten Nonnenhaus, ein großes Unglück. Eine Sage erzählt von einer Zeit, als noch grau gekleidete Nonnen durch die Gänge schritten. Eine von ihnen, unglücklich verliebt und darüber gestorben, erschreckt seitdem mit gellenden Schreien die Bewohner. Als an diesem Abend gleich zweimal ein solcher Schrei ertönt, stirbt Margots Mutter vor Schreck am Herzschlag. Auch weiterhin scheint das Unglück Margot treu zu bleiben. Sie findet heraus, dass das geliebte Kindermädchen Betty, wie so viele junge Frauen aus dieser Gegend, ebenfalls ein Verhältnis mit Fred hatte. Das größte Unglück aber geschieht auf Schlossgut Linden: Bei einem Brand kommt ihr Mann grausam ums Leben. Während Margot um ihres Rufes willen die trauernde Witwe spielt, als ob es nie den Gedanken einer Scheidung gegeben hätte, taucht per Zufall ein neuer Mann in ihrem Leben auf. Dr. Hans Hammerschlag fällt ihr buchstäblich vom Himmel vor die Füße. Doch ein Missverständnis trennt sie wieder. Und dann taucht auch noch plötzlich ihr totgeglaubter Mann wieder auf ...Die erst dreiundzwanzigjährige Margot ist eigentlich ein lebenslustiger Mensch voller Humor. Doch das Schicksal hat ihr viele Prüfungen auferlegt, bis sie das Glück ihres Lebens findet – ein ergreifender Frauenroman.-
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Seitenzahl: 314
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Frauenroman
Anny von Panhuys
Flammen um Margot
© 1955 Anny von Panhuys
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711592199
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Der Sühnetermin war ergebnislos verlaufen. Margot von Lindner hatte auf alle Vermittelungsversuche des Richters geantwortet:
„Ich kann mit meinem Mann nicht länger zusammen leben, er macht mir das Dasein zur Hölle. Ich kann nicht mehr und will nicht mehr!“
Endlich durfte sie das Gerichtsgebäude verlassen. Ihr Anwalt, Justizrat Doktor Lenz, begleitete sie ein Stück des Weges. Er sagte zufrieden:
„Die Scheidung wird nun ausgesprochen werden, gnädige Frau, dann sind Sie wieder frei. Alles wird gut gehen. Ihr Mann bekommt Unrecht, und das Kind bleibt bei Ihnen.“
Sie sah ihn groß an.
„Natürlich muß ich das Kind behalten. Sonst wäre das Leben ja gar nicht zu ertragen.“
Er blieb stehen.
„Verzeihung, gnädige Frau, daß ich mich jetzt empfehle. Ich habe noch einen Termin wahrzunehmen.“
Margot von Lindner reichte ihm die Hand, und beide verabschiedeten sich voneinander.
Margot ging langsam weiter. Ihre Gedanken waren noch bei dem Sühnetermin, und sie erinnerte sich mit leichtem Frösteln an den seltsamen Blick ihres Mannes, der sie getroffen, als sie am Schluß noch ziemlich scharf geantwortet: Lieber spränge ich mit meinem Kind in den Waldsee, als daß ich zu ihm zurückkehrte!
Sie hatte einen ziemlich weiten Weg. Ihre verwitwete Mutter wohnte draußen vor der Stadt, und sie hatte das Auto weggeschickt. Sie wollte laufen. Dabei hoffte sie frei zu werden von der Erregung der vergangenen Stunde. Die Häuser wurden seltener; die leicht aufwärts führende Straße näherte sich dem Friedhof.
Margot dachte daran, wie glücklich sie im Anfang ihrer Ehe gewesen war, und wie sich dann doch bald alles so ganz anders gestaltete, weil ihrem Mann jedes hübsche Mädchengesicht gefiel.
Immer wieder betrog er sie, machte sie schließlich lächerlich.
Erst weinte sie und bat ihn, vernünftig zu sein, und er versprach das Blaue vom Himmel herunter; schließlich aber blieb ihr doch nichts weiter übrig, als zu ihrer Mutter zurückzukehren. Wie schön, wie wunderschön war der Anfang einer Ehe gewesen, die nun schmutzig geworden — o, so häßlich und schmutzig!
Sie hatte den Friedhof erreicht.
Hinter den dichten Büschen trat ein schlanker Mann hervor, stand an ihrer Seite, ehe sie sich recht besinnen konnte. Er hatte ein schönes, ebenmäßiges Gesicht und dreiste Augen.
Margots Atem ging hörbar.
„Weshalb lauerst du mir hier auf, Fred? Laß mich in Frieden! Wir beide haben einander nichts mehr zu sagen.“
„Wir beide haben einander noch sehr viel zu sagen“ gab er zurück, und seine braunen Augen blitzten.
Plötzlich wurde sein Blick weich und seine Stimme war voll Zärtlichkeit:
„Versuche es noch einmal mit mir, Margot, ich bitte dich flehentlich. Und wenn ich dich betrog, verzeihe es mir. Trotz aller Torheiten, die ich beging, geliebt habe ich doch nur eine einzige — dich, Margot, dich! Du bist das Glück meines Lebens, und wenn du nichts mehr von mir wissen willst, gehe ich zugrunde.“
Sie kannte den zärtlichen Tonfall, den warmen, bittenden Blick und glaubte längst nicht mehr daran.
Sie sah sich um. Niemand war in der Nähe und so erwiderte sie rauh und hart:
„Befreie mich von deiner lästigen Gegenwart. Nach dem, was ich in der Ehe mit dir durchgemacht, graut mir vor dir!“
Sie bereute schon, nicht das Auto benützt zu haben.
Er bettelte: „Mache mich nicht für das ganze Leben unglücklich, Margot.“
Sie wußte ja, seine Bitten waren Lüge; ihm lag nur daran, sich ihren Reichtum zu erhalten. Seine Liebe war falsch gewesen von Anbeginn; nur hatte er sich im Anfang der Ehe gut zusammengenommen.
Sie stieß ihn beiseite. Dabei glitt er aus und stürzte, die Straße war feucht von dem Regen, der nachts gefallen war. Fred von Lindner erhob sich mit beschmutztem Paletot und großen Flecken an den Beinkleidern.
Margot kannte seine übertriebene Eitelkeit und als er den heruntergefallenen, ebenfalls schmutzig gewordenen Hut aufnahm, konnte sie nicht anders, sie mußte lachen, so wenig ihr sonst der Sinn danach stand.
Er maß sie von oben bis unten mit Blicken voller Wut.
„Das Lachen sollst du hundertfach bereuen, das schenke ich dir nicht, und die Blamage beim Sühnetermin auch nicht! Nichts schenke ich dir, nichts! Du wirst noch an mich denken!“
Verachtung kräuselte ihre Lippen. Sie ging hastig weiter. Jetzt hatte sich der Mann gegeben, wie er wirklich war.
Ekel empfand sie vor ihm und Widerwillen.
Er starrte ihr nach, und sein schön geschnittenes Gesicht war vor Wut verzerrt.
*
Margot von Lindner kam, zu Tode erschöpft von der Begegnung mit ihrem Manne, zu Hause an. Ihre Mutter war eine liebe, gute Frau, schleppte aber schon seit Jahren ein schweres Herzleiden mit sich herum. Schonung brauchte sie, immer wieder Schonung.
Margot erzählte ihr nun von dem Sühnetermin, doch nichts von der Begegnung mit Fred. Wozu die arme leidende Mutter mit der Wiederholung der Drohung ängstigen, die der Abscheuliche ausgestoßen, dessen Namen sie trug?
„Alles wird gut gehen, Mutter“, erklärte sie. „Der Justizrat meinte, ich werde nun bald frei sein.“
Die Frau mit dem milden Gesicht und dem ergrauten Haar nickte.
„Wenn es nur erst so weit wäre, Margot! Ich will Gott auf den Knien danken, wenn du all das Häßliche hinter dir hast, was mit deiner Ehe zusammenhängt.“
Später ging Margot in das Kinderzimmer, und beim Ankleiden ihres herzigen kleinen Mädelchens schwand alles, was sie quälte und verwirrte. Sie nahm die Kleine zärtlich auf den Arm, hauchte einige Küsse auf das niedliche Gesichtchen. Wundervolle tiefblaue Augen hatte Klein-Hedi. Von jenem seltenen Blau, das dem der Veilchen gleicht. Sie hatte die schönen Augen ihrer jungen Mutter.
Das Kinderfräulein war eine hübsche, üppige Person mit dunklen Augen und dunklem Haar. Sie war schon von der Geburt des Kindes an bei Margot in Stellung und hatte im Haushalt der jungen Eheleute manches Unerquickliche mitangesehen und mitangehört. Daß sie selbst ebenfalls Fred von Lindners Küsse geduldet hatte, davon ahnte Margot nichts, und sie ahnte auch nicht, daß Betty Fellner sich heimlich mit ihrem Manne traf — ahnte nichts von den ehrgeizigen Träumen des dunkelhaarigen Mädchens.
Als Betty jetzt fragte: „Haben Sie mit dem heutigen Gang zum Sühnetermin nun alles Unangenehme hinter sich, gnädige Frau?“ hörte sie nur Anhänglichkeit, Treue und Ergebenheit aus der Frage heraus; das Lauernde, das hinter den Worten stand, hörte sie nicht.
Sie wiegte das einjährige Kind zärtlich im Arm hin und her, während sie antwortete:
„Ich habe mich auf keinen Versöhnungsversuch meines Mannes eingelassen und werde bald frei sein.“
„Gott sei Dank, daß Sie dann endlich Ruhe bekommen werden, gnädige Frau!“ kam es teilnehmend über die Lippen Bettys. In ihren Augen glomm es freudig auf. Sie selbst liebte Fred von Lindner; sie gönnte ihn keiner anderen.
Die Lösung dieser Ehe war ihr Herzenswunsch. Sie fragte:
„Darf ich heute gegen Abend ein Stündchen ausgehen, gnädige Frau? Meine Freundin hat sich verlobt, und wir hängen sehr aneinander. Ich möchte mich doch einmal mit ihr über ihren Verlobten unterhalten.“
„Natürlich dürfen Sie ausgehen, Betty. Aber kommen Sie nicht zu spät wieder.“
Betty dachte gar nicht daran, eine Freundin zu besuchen, sondern traf sich, als es Abend wurde, mit Fred von Lindner in einer abgelegenen Gegend der kleinen Stadt.
Es war ein stürmischer Frühlingsabend, und Fred von Lindner hatte den Rockkragen aufgeschlagen, die Mütze tief in das Gesicht gezogen. Niemand erkannte in ihm den Gutsherrn von Lindenhof. Es regnete etwas; doch die beiden eifrig miteinander Sprechenden störte das nicht. Wohl eine Stunde lang gingen sie durch abgelegene Straßen, ehe sie sich endlich trennten, nachdem der Mann das verliebte Mädchen in einer dunklen Ecke fest an sich gezogen und geküßt hatte.
Die kleine Stadt besaß eine elektrische Straßenbahn, doch fuhr sie nur jede Stunde einmal vom Bahnhof bis zum Friedhof. Betty benutzte sie. Vom Friedhof an mußte sie gehen. Aber sie war nicht furchtsam. Und bald kam auch schon das Nonnenhaus in Sicht, in dem Frau Werner mit ihrer Tochter, Frau von Lindner, wohnte.
Der große langgestreckte Bau hieß noch immer das Nonnenhaus, weil er einmal das Hauptgebäude eines Nonnenklosters gewesen. Das Gebäude, das man als Lagerhaus benützte, war vor etwa hundert Jahren von einem reichen Fabrikbesitzer namens Werner der Stadt abgekauft und in ein Wohnhaus umgewandelt worden. Seitdem lebten die Werners im Nonnenhaus wie in einem alten Schlosse. Lange verzweigte Gänge gab es darin und tiefe geheimnisvolle Keller, Nischen mit den Heiligenfiguren und sogar noch einige Klosterzellen, die der Bauherr in ihrem früheren Zustand gelassen. Es war interessant, das alte Nonnenhaus, in dem man trotz allem Alten und Spukhaften doch so bequem und traulich wohnte.
Und eine Sage gab es im Nonnenhaus auch, eine Sage aus jener längst verschollenen Zeit, als noch grau gekleidete Nonnen hier durch lange Gänge geschritten oder vor den Heiligenbildern um gnädigste Fürsprache im Himmel gefleht. Es ging die Sage, daß eine Nonne, von irdischer Liebe zu einem Manne erfaßt, aus dem Kloster habe fliehen wollen und daß sie auf diesem Wege etwas Furchtbares gesehen haben müsse. Sie habe zweimal einen markerschütternden Schrei ausgestoßen und sei dann tot umgesunken.
Es hieß nun, sie fände keine Ruhe im Grabe, und zuweilen in stiller Nacht ertönten wieder ihre gellenden Verzweiflungsschreie durch das Nonnenhaus, wie einstmals vor fast dreihundert Jahren.
Dieser und jener behauptete, früher die Schreie gehört zu haben; aber alle, die jetzt im Nonnenhaus wohnten, lächelten über die alte Sage. Niemand von ihnen glaubte daran.
*
Frau Werner und Margot saßen beim Abendbrot und redeten darüber, daß sie, sobald die Scheidung ausgesprochen, nach Nauheim reisen wollten. Der Arzt hatte der alten Dame dringend geraten, auch in diesem Jahr eine Kur in Nauheim zu machen, wie seit langem alljährlich.
„Die Kur wird dir bestimmt gut tun, Mutter“, meinte Margot; „du wirst dich in Nauheim sehr erholen. Doktor Breitschwert sagte auch letzthin, wenn du vor großem Schreck und vor Aufregungen bewahrt bleibst, sei dein Leiden gar nicht gefährlich.“
Frau Werner lächelte dankbar.
„Du hältst mir ja alles Erregende fern, meine liebe Margot, und wachst äußerst sorgfältig darüber, daß mein Leben glatt und ruhig verläuft.“
Das unregelmäßige, feine, nur etwas zu blasse Gesicht der jungen Frau rötete sich.
„Ich konnte dir leider den Schmerz meiner unglücklichen Ehe nicht ersparen, Mutter, aber jetzt liegt das alles hinter uns. Ich freue mich schon darauf, mit dir und Klein-Hedi nach Nauheim zu reisen. Betty nehmen wir natürlich mit. Sie ist anhänglich und zuverlässig.“
Die grauhaarige Frau zuckte leicht die Achseln.
„Ich möchte Betty kein Unrecht zufügen; aber sie ist mir nicht besonders sympathisch.“
Margot schüttelte den Kopf.
„Betty ist treu und zuverlässig, Mutter, glaube mir, und sorgt für das Kind, als sei es ihr eigenes.“
„Du wirst schon recht haben, Margot“, gab Frau Werner zu, „aber man hat manchmal gegen jemand ein Vorurteil, ohne erklären zu können, weshalb. So geht es mir in diesem Fall wohl auch.“
Fast im gleichen Augenblick horchten beide Frauen auf und wechselten entsetzte Blicke.
Ein Mark und Bein durchdringender Schrei gellte durch das Haus, aus allernächster Nähe scheinbar, draußen auf dem Gange, hallte schaurig von den Mauern wider.
Frau Werner kannte die alte Sage; ihr Verstand glaubte nicht daran; aber ihr Herz schlug plötzlich ganz toll, um danach beinahe stillzustehen. Angst überfiel und schüttelte sie.
Ihre Linke zuckte nach dem Herzen.
Margot war aufgesprungen. Sie beugte sich über die Mutter und flüsterte angstvoll:
„Was ist dir, liebes, gutes Mütterchen? Sei ruhig, bitte! Ich hole dir deine Tropfen.“
In diesem Augenblick klopfte es an die Tür.
Sie rief mechanisch herein.
Die Köchin trat ein und fragte erregt
„Ich wollte nur sehen, was es gibt. Sie haben so furchtbar laut geschrien, gnädige Frau.“
Margot schüttelte den Kopf.
„Ich habe nicht geschrien, Marie, und meine Mutter auch nicht. Aber jetzt halten Sie mich nicht auf. Meiner Mutter ist nicht wohl. Ich muß ihre Tropfen holen. Bleiben Sie indessen bei ihr.“
Sie verließ schnell das Zimmer.
Man hatte im Erdgeschoß gegessen, und die Schlafzimmer lagen im ersten Stock. Von dort holte Margot die Tropfen, die ihre Mutter einnehmen mußte, wenn das Herz zu sehr erregt war. Sie flog förmlich die Treppe hinauf und wieder hinunter.
Die Mutter saß jetzt mit geöffneten Augen da, lächelte ihr entgegen.
„Habe ich dich erschreckt, Margot? Aber der Schrei hat mich so konfus gemacht.“
Die Köchin trat zurück, als Margot in ein halb gefülltes Glas ein paar Tropfen der Medizin mischte und es der Mutter an die Lippen führte.
Aber gerade, als Frau Werner trinken wollte, gellte ein zweiter Schrei auf — ein Schrei, der imstande war, die ruhigsten Nerven aus der Fassung zu bringen — ein Schrei, so entsetzlich, daß die Köchin mit dem Ausruf „Himmlischer Vater!“ in eine Ecke des Zimmers flüchtete, dort Schutz suchend vor einer unbekannten Gefahr. Margot aber mußte das Glas auf den Tisch stellen, um den Inhalt nicht zu verschütten. Auch hatte ihre Mutter fast heftig abgewehrt.
*
Die Tür sprang auf. Das Hausmädchen Else stürzte ins Zimmer wie auf der Flucht, das Kind im Arm. Sie hatte an diesem Abend Betty vertreten und am Bettchen des Kindes gesessen. Sie rief zitternd vor Aufregung:
„Wer hat denn schon zum zweiten Male so furchtbar geschrien? Wer?“
Sie blickte sich ganz verstört um. Die Köchin gab ihr Antwort.
„Niemand von uns, Else, niemand. Es ist die Nonne gewesen. Die alte Sage ist wahr. Gott behüte uns alle! Der Schrei im Nonnenhaus bedeutet Unglück!“
„Unken Sie nicht so törichtes Zeug zusammen, Marie!“ verwies sie Margot, die sich jetzt zusammenriß. Sie fuhr fort:
„Wir werden herausbringen, wer die Schreie ausgestoßen hat.“ Sie nahm das Glas wieder auf. „Trink‘, bitte, Mutter, trinke!“
Sie neigte sich über die Mutter, und dann fiel ihr plötzlich das Glas aus der Hand.
„Mutter!“ rief sie angstvoll, „Mutter, höre mich doch!“
Doch kein Laut antwortete ihr, kein Blick der geliebten Mutteraugen. Starr lagen die Lider darüber. Der Ausdruck des Schreckens hatte sich auf dem Antlitz der Regungslosen festgehängt.
„Mutter! Mutter, bitte, sieh mich doch an! Sprich nur ein einziges Wort zu mir!“ flehte Margot, an allen Gliedern bebend, von einer furchtbaren Ahnung bedrängt.
Die alte Köchin näherte sich langsam und blickte forschend in die regungslosen Züge ihrer Herrin, der sie seit vierzig Jahren eine treue und ergebene Dienerin gewesen. Sie atmete dabei so laut, daß es in der Stille des Zimmers klang, als arbeite ein kleiner Blasebalg. Dann aber sank sie wie niedergerissen in die Knie, schluchzte laut auf und begann zu beten: „Vater unser, der du bist im Himmel!“
Margot faßte sie rauh an einer Schulter.
„Was soll das, Marie? Was soll das?“
Die alte Köchin schluchzte lauter als bisher.
„Lassen Sie mich beten. Tote haben Gebete nötig Der Weg in die Ewigkeit wird einer armen Seele leicht, wenn man hier unten für sie betet!“
Margot fuhr sich mit einer Hand über Stirn und Augen.
Ach, Unsinn! Es war ja gar nicht wahr, was Marie gesagt hatte! Ihre Mutter war nur ohnmächtig, nicht tot! Nein, nicht tot!
Sie stürzte an das Telefon, rief den Hausarzt an. Er war zu Hause und versprach, sofort im Auto zu kommen.
Doch als Margots Blick wieder die Mutter suchte, schwand ihre Hoffnung. Ihr war, als hätte sich das geliebte Gesicht in wenigen Minuten unsäglich verändert. Ein fahler Schein breitete sich darüber aus, wie der Abglanz eines seltsam blauen Lichtes, und der Kopf lag schlaff, kraftlos da.
Sie kniete neben dem Stuhl nieder und weinte fassungslos. Sie zweifelte jetzt nicht mehr daran, daß ihre Mutter tot war.
In einem Stuhl hockte das Hausmädchen mit dem Kinde im Arm. Auch die Kleine fing an zu weinen, als ahne sie etwas von dem Schmerz, der nun in das stille, trauliche Nonnenhaus Einkehr gehalten.
Das Mädchen versuchte Klein-Hedi zu beruhigen, die sie vorhin aus dem Schlaf gerissen, weil der zweite Schrei sie aus dem Zimmer getrieben, nach unten, zu den anderen Hausbewohnern.
Die Klingel am Eingang schrillte, und die Köchin erhob sich langsam.
„Es wird Doktor Breitschwert sein. Ich werde ihm öffnen.“
Sie fragte, ehe sie das tat, erst durch die Haustür: „Wer ist draußen?“
Eine bekannte Stimme gab Antwort. Da öffnete Marie. Es war Betty Fellner, die heimkam. Sie lachte Marie vergnügt entgegen:
„Fein war es bei meiner Freundin. Wir haben uns glänzend unterhalten und —“
Marie legte ihr eine Hand auf den Mund.
„Still, Betty, still! Die alte Gnädige ist eben gestorben. Vor Schreck, glaube ich. Zweimal haben wir vorhin alle einen entsetzlichen Schrei gehört. Sie kennen ja die Sage vom Nonnenhaus! Der furchtbare Schrei hat der alten Gnädigen den letzten Rest gegeben. Ihr Herz war für dergleichen nicht mehr widerstandsfähig genug.“
Betty machte eine Bewegung nach der Stirn.
„Das mit dem Schrei ist doch heller Blödsinn, Marie. Eine Sage ist eine Sage! In Wirklichkeit kann doch kein Mensch den Schrei gehört haben.“
„Zweimal haben wir ihn gehört, wir alle, im Hause“, berichtete Marie eifrig, „und die arme alte Gnädige hat den Tod davon gehabt.“
„Frau Werner ist wirklich tot?“ fragte Betty und klammerte sich an das Treppengeländer.
„Ja, wirklich!“ versicherte Marie. „Und nun wartet die junge Gnädige auf Doktor Breitschwert; er muß gleich kommen.“
Betty sah ganz fassungslos aus.
„Das ist ja schrecklich!“ murmelte sie. „Das ist ja unglaublich!“
Das Ereignis schien ihr sehr nahe zu gehen. Marie sah, wie sie zitterte. Sie klopfte ihr auf die Schulter.
„Zusammennehmen! Sonst regen wir die junge Gnädige noch mehr auf. Gehen Sie, und holen Sie das Kind! Else wird doch nicht so damit fertig wie Sie. Sie ist mit dem Kind auch im Eßzimmer. Dort ist nämlich die alte Gnädige gestorben.“
Man hörte das Anfahren eines Autos. Marie ging öffnen. Es mußte der Arzt sein.
Der alte Doktor Breitschwert trat ein, und Marie erzählte ihm flüsternd unter neuen Tränen, was geschehen war.
Er ging neben ihr den Gang entlang nach dem Eßzimmer.
Betty folgte in Mantel und Hut und trat mit in das Zimmer hinein.
Margot schwankte dem alten Hausarzt entgegen; aber zu sprechen vermochte sie nicht.
Doktor Breitschwert brauchte nur einen einzigen Blick auf das Gesicht der im Lehnstuhl Sitzenden zu werfen, der genügte, den Tod der alten Dame festzustellen.
Er nahm Margots Hände.
„Liebe gnädige Frau, Ihre gute Mutter ist für immer von Ihnen gegangen. Mein herzlichstes Beileid!“
Margot schwankte. Sie hatte nicht mehr an der Wahrheit gezweifelt, daß ihre Mutter tot war, aber eine ganz, ganz winzige Hoffnung war doch noch in ihr gewesen.
Lautlos brach sie zusammen.
Frau Werner wurde beerdigt. In tiefe Trauer gehüllt, stand Margot am Grabe der Mutter, ihre Augen brannten von den vielen Tränen, die sie vergossen. Als die Feier vorüber war, blieb sie zurück. Sie hatte alle gebeten, sie noch ein paar Minuten hier ganz allein zu lassen. Ihr Auto wartete vor dem Friedhof.
Da stand sie nun und starrte auf den frisch aufgeworfenen Hügel, unter den man die eingebettet, die ihr das Leben gegeben.
„Mutter, liebe, liebe Mutter!“ flüsterte sie — „lebe wohl, Mutter — nein, auf Wiedersehen!“
Sie blickte zum blauen Frühlingshimmel auf, der heute so wundervoll rein und klar war, an dem die Sonne wie ein goldener, strahlender Ball hing. Der herrliche Himmel paßte nicht zu dem Gedanken an Tod und Vergehen.
Wie aus dem Boden gewachsen, stand plötzlich ein Mann neben ihr. Zärtlich klang seine Stimme:
„Nun stehst du allein in der Welt, Margot, und brauchst wieder einen Menschen, der zu dir gehört, mit dem du dich aussprechen kannst. Ich schwöre dir, ich will dir fortan die Hände unter die Füße legen. Sei wieder mein! Ich flehe dich an. Ich gehe zugrunde vor Sehnsucht nach dir!“
Sie wendete sich mit Widerwillen ab und ging, ohne ihn auch nur einer Antwort zu würdigen, dem nahen Ausgangsportal zu.
Er blieb an ihrer Seite.
„Wenn mir etwas zustößt, trägst du die Schuld und die Verantwortung“, raunte er ihr zu.
Erregt erwiderte sie: „Zerstöre mir durch deine Gegenwart nicht die Trauerstimmung um meine geliebte Mutter. Ich will nie und nimmermehr etwas von dir wissen.“
Er blieb jetzt zurück, rief ihr aber nach:
„Was nun Böses geschieht, ist dein Werk! Vergiß das nicht, Närrin!“
Sie beeilte sich, den Ausgang des Friedhofes zu erreichen. Dort wartete Dr. Breitschwert, der den Autoschlag vor ihr öffnete und nach ihr in den Wagen stieg.
Er schien Fred von Lindner nicht bemerkt zu haben und sagte sanft:
„Denken Sie an Ihr Kind, und seien Sie stark, liebe gnädige Frau.“
Margot fuhr sich mit dem Tuch über die Augen.
„Sie haben recht, Herr Doktor, ich will an mein Kind denken, nur an mein Kind!“
Damit schob sie den letzten Gedanken an ihren Mann zurück. Nach einem Weilchen meinte sie:
„Wenn ich nur das Rätsel der beiden Schreie lösen könnte! Immer noch liegt mir ihr Klang marternd im Ohr.“
Er schüttelte den Kopf.
„Ich muß wohl an die Schreie glauben, gnädige Frau, weil Sie nicht die einzige sind, die sie vernahm. Schade nur, daß der Chauffeur Stefan und seine Mutter, die in dem angebauten Garagenhäuschen wohnen, nichts hören konnten. An schreiende Geister glaube ich nicht. Es muß sich jemand einen Unfug erlaubt haben.“
Margot macht eine verneinende Bewegung.
„Das ist völlig ausgeschlossen, Herr Doktor, beim ersten Schrei befand sich die Köchin, beim zweiten auch das Hausmädchen bei meiner Mutter und mir im Eßzimmer. Das Kinderfräulein hatte ein paar Stunden Urlaub erbeten und kam erst nach Hause, nachdem Mutter schon gestorben war. Ins Haus aber kann sich niemand heimlich einschleichen, es wird streng verschlossen gehalten. Sogar der Chauffeur Stefan und seine Mutter müssen klingeln, wenn eins von beiden Einlaß begehrt.“
Dr. Breitschwert wußte nichts darauf zu erwidern, er murmelte nur nochmals, was er vorhin laut gesagt: „An schreiende Geister glaube ich nicht!“
Die Tage vergingen. Margot verbrachte sie sehr einsam und zurückhaltend. Selbst ihre besten Bekannten bat sie, ihr jetzt keine Besuche zu machen. Sie mußte erst ein wenig über den großen Verlust, der sie betroffen hatte, hinwegkommen.
Acht Tage waren seit der Beerdigung verflossen, als die Bewohner des Nonnenhauses eines Nachts — die Uhr ging schon auf zwölf — von Feuerlärm geweckt wurden. Vom obersten Stockwerk sah man ferne den Schein eines Feuers in der Umgebung der Stadt.
Alle Bewohner des Nonnenhauses waren wach geworden von dem nervenzermarternden Geheul der Feuersirenen.
Margot stand am geöffneten Bodenfenster und fragte die neben ihr stehende Köchin:
„Wo mag das Feuer nur sein?“
Die behäbige Alte erwiderte etwas gepreßt:
„Ich glaube fast, es brennt auf Gut Lindenhof.“
Margot erschrak doch. Wenn sie auch nichts mehr von Fred wissen wollte, so hatte sie ihn doch einmal geliebt, obwohl sie das kaum noch begreifen konnte. War er ihr jetzt auch widerwärtig, so wünschte sie, im Andenken an glücklichere Tage, doch nicht, daß sein Besitz Schaden erleiden sollte. Lindenhof war ein so schönes kleines Gut, und sie dachte in diesem Augenblick fast mit Sehnsucht an das hübsche weiße Herrenhaus mit der breiten Freitreppe, auf der zwei steinerne Panther Wache hielten.
Man hörte die Tür der Garage gehen. Margot fragte hinunter:
„Sind Sie es, Stefan?“
Der Chauffeur gab Antwort:
„Ich wollte mal sehen, wo es brennt, gnädige Frau.“
Sie rief ihm zu:
„Nehmen Sie das Auto, und bringen Sie bald Nachricht, wo das Feuer ist.“
Fünf Minuten später fuhr Stefan vom Hofe.
Betty schlief im Zimmer bei dem Kinde. Auch sie war aufgestanden; der Feuerlärm hatte sie aufgeweckt, wie die anderen Hausbewohner. Sie fragte nicht, wo es brannte. Sie hatte es nicht nötig, danach zu fragen. Sie wußte es schon. Aber sie war sehr aufgeregt. Tausend wirre Gedanken schossen ihr durch den Kopf.
Ob der Plan glücken würde?
Der Lindenhof war gut versichert. Hoffentlich gelang alles planmäßig. Dann war Fred mit einem Male alle seine drängenden Gläubiger los.
Ein stolzes Lächeln glitt über ihr hübsches Gesicht. Dann wurde sie Fred von Lindners Frau. Er hatte es ihr versprochen, fest versprochen. Und er würde sein Wort halten, er liebte sie ja — liebte sie anders als die verwaschene blonde Frau, deren Scheidung von ihm vor der Türe stand.
Die Köchin kam leise und flüsterte, um das Kind nicht zu wecken:
„Es scheint auf dem Lindenhof zu brennen. Die Gnädigste ist ganz aufgeregt.“
Betty antwortete so ruhig, wie sie nur konnte:
„Ich verstehe nicht, wie sich die Gnädige darüber aufregen kann. Der Lindenhofer Herr geht sie doch gar nichts mehr an.“
„Sie ist aber noch nicht geschieden. Sie hat es noch nicht schwarz auf weiß“, entgegnete die alte Köchin.
Sie ging wieder nach oben. Der Blick vom Bodenfenster war interessanter als die Unterhaltung mit Betty.
Eine Stunde später hörte man ein Auto sich nähern. Margot sagte dem Hausmädchen Bescheid, Stefan solle, sobald er in den Hof gefahren, zu ihr ins Zimmer kommen. Sie suchte ihre Wohnstube auf, setzte sich dort in einen der hohen Ledersessel und wartete.
*
Stefan, ein junger Mensch von vierundzwanzig Jahren, trat ein. Er blieb an der Tür stehen, die Mütze in der Hand.
„Das Feuer ist auf dem Lindenhof, gnädige Frau. Zwei Scheunen sind abgebrannt und zwei große Ställe. Das Vieh ist mit Mühe und Not gerettet worden. Auch das Herrenhaus brennt. Alles soll gleich an verschiedenen Stellen lichterloh in Flammen gestanden haben. Die Leute munkeln, es handele sich um Brandstiftung.“
Er senkte den Kopf, sichtlich verlegen und verwirrt.
„Was haben Sie sonst noch gehört?“ fragte Margot. „Sie sehen aus, als möchten Sie noch etwas sagen.“
Der junge Chauffeur druckste. Es fiel ihm sichtlich schwer, zu antworten.
Margot redete ihm zu:
„Warum wollen Sie mit irgend etwas hinter dem Berge halten? Sie wissen doch so gut wie alle, die mich kennen, daß ich mit meinem Mann in Scheidung liege.“
Stefan drehte verlegen seine Mütze.
„Man sagt, Herr von Lindner wäre mitverbrannt, und man hätte ihn bereits gefunden!“
Margots Gesicht war entsetzlich blaß geworden. Diese Mitteilung hatte sie nicht erwartet; das traf sie doch wie etwas Elementares, Überwältigendes und Furchtbares.
Sie winkte dem Manne, er möge sich entfernen. Zu reden vermochte sie nicht.
Als Stefan gegangen war, falteten sich ihre Hände, und sie betete leise und innig:
„Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern!“
Sie dachte jetzt milde und versöhnend über alles, was Fred von Lindner ihr angetan. Er tat ihr leid, und Tränen drängten sich in ihre Augen. Der Vater ihres Kindes war eines grausamen und jammervollen Todes gestorben.
Mit einem Male aber fielen ihr die Worte ihres Mannes ein, die er zu ihr gesagt, als er sie, nach dem Begräbnis ihrer Mutter, auf dem Friedhof mit der Bitte behelligte, sich wieder mit ihm auszusöhnen. Silbe für Silbe war in diesem Augenblicke wieder da und fand sich zusammen zu dem Satz: „Wenn mir etwas zustößt, trägst du die Schuld und die Verantwortung!“
Der Satz beschwerte sie, setzte ihren armen Nerven böse zu.
Als Betty durch Marie von dem Geschehenen erfuhr, brach sie beinahe zusammen; die alte Köchin mußte sie stützen. Erst nach geraumer Zeit gab sie den hilfreichen Arm frei; sie sah entsetzlich bleich aus. Doch auf Maries teilnehmende Fragen antwortete sie nur:
„Mir fehlt nichts, gar nichts! Es ist nur zu gräßlich, das mit dem Verbrennen.“
Marie schüttelte den Kopf.
„Wenn es auch noch so gräßlich ist, wundert mich doch, daß Sie bei der Nachricht beinahe zusammenbrachen.“
Marie machte sich ihre eigenen Gedanken. Herr von Lindner hatte ja kein hübsches Mädchen in Ruhe lassen können. Betty gehörte wahrscheinlich auch zu denen, die Gnade vor seinen Augen gefunden hatten — vor seinen oft so leichtsinnig und übermütig blitzenden Augen.
Aber Betty tat ihr nicht so leid wie ihre junge Herrin. Der hatte die Unglücksbotschaft fast einen schwereren Schlag versetzt als der jähe Tod der Mutter. Sie schien völlig abwesend, als sänne sie ständig über etwas nach, was sie nicht fassen konnte.
Marie hatte richtig beobachtet, Margot von Lindner grübelte fortwährend, ob sie die Schuld daran trug, daß ihr Mann so entsetzlich geendet hatte.
Die letzten Worte, die er an sie gerichtet, waren zu lebendig in ihr. Sie quälte sich mit ihnen herum: Wenn mir etwas zustößt, trägst du die Schuld und die Verantwortung.
Stunde auf Stunde sann sie darüber nach: Hatte er die Gutsgebäude angezündet und freiwillig den Tod in den Flammen gesucht? Hatte er sie, trotz allem, doch vielleicht so sehr geliebt, daß er das Leben ohne sie nicht mehr ertragen konnte?
O, wer ihr diese marternde Frage beantwortet hätte! Aber sie wußte niemand, mit dem sie darüber hätte sprechen können.
In ihrer Not fiel ihr der Justizrat Dr. Lenz ein. Sie fuhr zu ihm und klagte ihm mit Tränen in den Augen, was sie so sehr bedrängte.
Die beiden saßen einander im Privatbüro des Justizrats gegenüber, und dieser hörte aufmerksam zu, was ihm Margot von Lindner erzählte.
Als sie zu Ende war, machte er mit der Rechten eine Bewegung der Abwehr.
„Liebe gnädige Frau, verzeihen Sie, aber Sie verrennen sich in Einbildungen. Sie müssen sich selbst Halt gebieten.“ Er sah Margot teilnehmend und freundlich an. „Man soll über Tote nur Gutes reden. Aber das geht manchmal nicht, wenn sie keine guten Menschen waren. Fred von Lindner war ein durch und durch selbstsüchtiger Charakter, der nur seine eigene Person liebte. Wenn er sich freiwillig das Leben nahm, geschah es aus schwerwiegenden Gründen. Dann muß er nicht mehr ein und aus gewußt haben. Aber aus Verzweiflung, weil Sie nichts mehr von ihm wissen wollten, geschah es bestimmt nicht. Sie haben ja leider die traurige Erfahrung gemacht, daß er nur Ihr Geld liebte. Sie dürfen keinen Gedanken mehr an Ihre Einbildung verlieren. Was er Ihnen auf dem Friedhof zugerufen hat, war eine Drohung, um Sie zu erschrecken, damit Sie nachgeben oder sich mindestens schwere Gedanken machen sollten.“
Margot atmete auf. Sie fühlte sich etwas erleichtert.
Der Justizrat meinte: „Die Scheidung braucht nun aber nicht mehr ausgesprochen zu werden. Das ist zum Vorteil Ihres Kindes. Ihre Tochter braucht später niemals zu erfahren, wie unglücklich ihre Mutter in der Ehe gewesen ist. Sie sind dann keine geschiedene Frau, und das macht immerhin etwas aus.“
Margot neigte den Kopf.
„Sie haben recht, Herr Justizrat, und wenn sich das noch einrichten läßt, wäre es mir lieb.“
„Ich werde gleich die nötigen Schritte tun“, versprach der Justizrat. „Sie werden dann natürlich die Erbin des Toten; aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie sich dann mit seinen Gläubigem einigen müssen. Da offenkundig Brandstiftung vorliegt und schon jetzt, wie ich hörte, alles zu beweisen scheint, daß Fred von Lindner selbst der Brandstifter gewesen, wird die Versicherungsgesellschaft kaum etwas zahlen. Ohne Klage bestimmt nicht. Und von einer solchen rate ich dringend ab.“
Margot lächelte traurig:
„Es ist doch selbstverständlich, daß ich keinen solchen Schritt tun werde. Das wäre ja, als wollte ich den Vater meines Kindes noch nach seinem Tode an den Pranger stellen, ihn laut als Brandstifter beschimpfen — ich, die ich seinen Namen trage.“
Schon am nächsten Tage konnte der Justizrat Margot die Mitteilung machen, daß ihrer Bitte vom Scheidungsrichter sofort entsprochen worden sei. Der Tod Fred von Lindners habe die letzten Formalitäten überflüssig gemacht. Die Scheidungsakten seien null und nichtig.
*
Margot war nun die ungeschiedene Witwe Fred von Lindners und sorgte für die Vorbereitungen zum Begräbnis, als sei ihr der geliebteste Mann gestorben. Sie tat es besonders um ihres Kindes willen. Niemals sollte in späteren Jahren jemand zu Hedi sagen dürfen, ihre Mutter hätte sich nicht darum gekümmert, auf welche Weise ihr Vater ins Grab gebettet worden, nur fremde, bezahlte Hände hätten sich gemüht. Nein, das sollte nicht geschehen. Sie kümmerte sich, obwohl sie oft am Zusammenbrechen war, selbst um alles; nichts war ihr gut und teuer genug, um die Feierlichkeit der Beerdigung zu heben durch äußeren Pomp.
Hätte sie allerdings ihren Empfindungen nachgegeben, so wäre Fred von Lindner zu stiller Nachtstunde in die Erde gebettet worden, und niemand hätte dabei sein dürfen als ein Pfarrer, der Totengräber mit seinem Helfer und sie. Wenn droben am Himmel die Sterne wie ferne silberne Lichter aufgegangen und der Mond mit seinem geheimnisvollen fahlen Schein auf den Kirchhof niedergesehen, wäre die rechte Stunde gewesen, den unseligen Menschen ins letzte Bett zu tragen, den unseligen Menschen, den sie doch einmal, vor noch nicht allzu langer Zeit, geliebt. Tief hatte sie ihn verachten gelernt; an ihrer Verachtung war ihre schöne, warme Liebe rasch zugrunde gegangen.
Aber sie durfte nicht tun, was ihrem Herzen sympathisch gewesen wäre. Fred Lindner mußte am hellen Tage beerdigt werden, mit allem Drum und Dran, das zu einer großen Beerdigung gehörte. Jedermann sollte sehen, daß sie am Grabe ihres Mannes stand, daß sie dem Toten die letzte Ehre erwies als sein Weib, als die Mutter seines Kindes!
Fred von Lindner würde auf dem Friedhof des Dorfes begraben werden, zu dessen Amtsbezirk Gut Lindenhof gehörte. Margot fürchtete nicht, daß Schwierigkeiten sich dem Begräbnis entgegenstellen könnten; aber der Dorfpfarrer, den sie aufsuchte, weigerte sich, den Toten einzusegnen.
Margot saß vor dem Geistlichen in dessen Amtszimmer.
Er schüttelte langsam den Kopf, um den das silbergraue Haar einen Lockenkranz bildete, der über den scharfen, großen Zügen wie ein seltsamer Heiligenschein lag. Er sagte mit seiner warmen, milden Stimme:
„Nennen Sie mich altmodisch, gnädige Frau, oder wie Sie wollen. Aber ich führe den Namen Gottes nicht unnütz im Munde. Es geht mir gegen meine Anschauungen, am Grabe eines Menschen Gottes Wort zu reden, der die übergroße Sünde beging, sich das Leben zu nehmen.“
Margot richtete sich etwas auf.
„Es steht mir nicht zu, Hochwürden, Ihrer Ansicht die meine entgegenzusetzen, aber ich bitte Sie recht sehr und von ganzem Herzen, dem Begräbnis beizuwohnen. Bedenken Sie, es ist durch nichts und niemand erwiesen, daß mein Mann wirklich Selbstmord beging. Man sagt das. Aber wieviel haben Menschen schon behauptet von ihren Mitmenschen! Mein Mann war nicht die Natur, sein Leben hinzuwerfen wie ein Nichts, besaß nicht den Mut, einen so grauenhaften Tod zu suchen. Ein Zufall, den wir nicht kennen, spielte da mit. Sein Tod ist ein düsteres Verhängnis, aber kein Selbstmord.“
Sie schwieg vor Erregung sekundenlang und fuhr dann fort:
„Ich weiß genau, Hochwürden, man nennt meinen Mann nicht nur einen Selbstmörder, sondern auch einen Brandstifter. Ich möchte ihn auch dagegen verteidigen; aber wenn ich ganz offen sein will, kann ich das nicht. Ich muß zu Ihnen ehrlich sein, wenn ich auch anderen gegenüber so tun werde, als glaube ich nicht daran, daß mein Mann ein Brandstifter war. Aber Selbstmörder war er wohl nicht, und einem Unglücklichen, einem Verunglückten, einem in entsetzlicher Weise ums Leben gekommenen Mann werden Sie Gottes Wort nicht versagen.“
Der Pfarrer rang mit sich. Allgemein hieß es, Fred Lindner hätte selbst den Tod gesucht; aber wenn er sich das meist vergnügte, lachende Gesicht des Gutsherrn vom Lindenhof vergegenwärtigte und an seine Daseinsfreude dachte, schien auch ihm unmöglich, daß Fred Lindner dem Tode vorgegriffen haben sollte.
Er schob an seiner Brille herum.
„Verehrte gnädige Frau, Sie verwahren sich für den Verstorbenen so bestimmt gegen das Wort ‚Selbstmörder‘, daß Sie mich zu Ihrer Ansicht bekehrt haben. Ich werde meine Pflicht tun als Seelsorger.“
Da löste es sich wie ein schwerer Bann von Margot, der sie gedrückt und beengt, seit sie die Nachricht von dem grausigen Tod ihres Mannes erhalten. Nun würde der Vater ihres Kindes doch nicht eingescharrt werden wie ein armes, am Wege verendetes Tier, nun würde über seinen entseelten Körper doch Gottes Wort hinklingen, ihm den Weg leicht machen in die Ewigkeit.
Sie reichte dem Pfarrer die Hand.
„Ich danke Ihnen, Hochwürden, auch im Namen meines Kindes, dessen Vater so traurig endete.“
Der Pfarrer lächelte ein ganz klein wenig.
„Sie haben keinen Grund, mir zu danken, gnädige Frau. Für einen armen Verunglückten tue ich gern, was ich einem Selbstmörder hätte verweigern müssen.“
Margot verließ das Pfarrhaus.
Wie hell die Sonne draußen schien! Wie die Büsche um Gut Lindenhof in so wundersam leuchtendem Grün standen! Das Schloß selbst war wenig beschädigt worden von dem Feuer; nur das Arbeitszimmer ihres Mannes war fast ausgebrannt. Darin hatte man den Toten gefunden, bis zur Unkenntlichkeit verkohlt.
Nur seine Ringe, Teile seines Anzuges waren von dem lockeren Lebemann Fred Lindner übriggeblieben.
Margot wurden die Augen feucht, als sie sich vorstellte, wie er gewesen in der Bräutigamszeit am Anfang ihrer Ehe.
Frühling war es, grün- und golddurchwirkter Frühling! Sie atmete, lebte, durfte sich an Sonne und Wärme freuen; er aber, der vor dem Altar gelobt, ein guter Gatte zu sein, war ausgelöscht aus dem Frohsinn des Lebens. Wie in einer Woge von Mitleid bewegte sich Margots Denken, und mitleidig gegen den Mann wollte sie handeln — seine vielen Schulden bezahlen, damit ihm kein böses Wort ins Grab folge.
Der Tag des Begräbnisses kam heran. In dem Saale des Schlosses, der vom Feuer völlig unberührt geblieben, stand der Sarg, und von dort trugen die Knechte des Gutes ihn hinüber nach dem Friedhof. Der Pfarrer schritt hinter dem Sarge, und neben ihm, in lange, düstere Schleier gehüllt, ging Margot. Der Gang wurde ihr sehr schwer. Ihr war, als könne sie die traurigen Reste des Verunglückten durch die Sargwände hindurch sehen, und ihr Herz krampfte sich zusammen vor Mitleid.
Fast das ganze Dorf hatte sich eingefunden, um dem Begräbnis beizuwohnen, auch Leute aus dem Städtchen. Neugierde, Gutmütigkeit und Sensationslust waren versammelt, und alle die vielen Augen schienen sich nur auf die schwarzgekleidete schlanke Frau zu richten, die am offenen Grabe den Schleier zurückschlug und ihre schmalen, feinen Züge ernst allen Blicken preisgab.
Man sah in ihr blasses junges Antlitz und hörte den Pfarrer beginnen mit seiner Rede. Er sprach nicht lange, aber sehr eindringlich und legte seiner Rede das Bibelwort zugrunde: Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!
Da war manchem, der noch kurz zuvor verächtlich von dem Entseelten gesprochen, als würde alles in ihm wach, was er selbst je Unrechtes getan, und das Urteil über den Toten milderte sich.
Weil Fred Lindners Frau, obwohl er sie abscheulich behandelt, an seinem offenen Grabe stand, und weil der Pfarrer so gütig und hinreißend redete, dachte man plötzlich anders als eben noch über den Toten, den man „Brandstifter“ und „Selbstmörder“ genannt. Ein paar Dorffrauen konnten ihre Rührung nicht unterdrücken; sie schluchzten laut auf; die Taschentücher kamen in Bewegung.