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«Man entgeht der Herrlichkeit des Lebens nicht.» Katherine Mansfield
Gute Tage, schlechte Tage, Augenblicke himmlischer Glückseligkeit oder solche tiefer Bestürzung – aus allem macht die Sprachkünstlerin Katherine Mansfield reinste Poesie. Ihr Tagebuch gewährt Einblick in ein bei aller Kürze überreiches Leben: überreich an Hochgefühlen und Selbstzweifeln, überreich an musischen Begabungen, Liebeswagnissen, Dramen und Schicksalsschlägen. Die Auswahl reicht von ersten Talentproben der zwölfjährigen Neuseeländerin Kathleen Beauchamp bis hin zur brillanten Tagebuchprosa einer gereiften Schriftstellerin. Hier in Neuübersetzung vorgelegt, faszinieren die Texte durch gedankliche Tiefe, Intimität, Empfindungsreichtum und den Zauber der poetischen Weltbetrachtung.
Mit einem Nachwort von Dörte Hansen!
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Seitenzahl: 374
«Man entgeht der Herrlichkeit des Lebens nicht.» Katherine Mansfield
Gute Tage, schlechte Tage, Augenblicke himmlischer Glückseligkeit oder solche tiefer Bestürzung – aus allem macht die Sprachkünstlerin Katherine Mansfield reinste Poesie. Ihre Tagebuchprosa, hier neu übersetzt und in exklusiver Auswahl vorgelegt, fasziniert durch Empfindungsreichtum und literarische Meisterschaft. Sich nicht auf Rollen und Erwartungen festlegen lassen, nicht als Künstlerin, nicht als Tochter, Schwester, Freundin, generell nicht als Frau – das war ihre genuine Leistung, die sie bis heute zur Ikone moderner Weiblichkeitmacht. «Fliegen, tanzen, wirbeln, beben» ist viel mehr als das Journal einer Künstlerin – es ist ein intimes Sehnsuchtsprotokoll und nicht zuletzt ein weltliterarisches Selbstporträt voller Lyrismen und berückend schöner Prosaminiaturen.
Katherine Mansfield (1888–1923), aufgewachsen in der Kolonialwelt Neuseelands zwischen Maori-Bräuchen und Cellospiel, beginnt schon im Mädchenalter zu schreiben, entflieht, kaum volljährig, ihrer Familie nach London, wird schwanger, erleidet in Bad Wörishofen eine Fehlgeburt, wird zum Star der jungen Literaturszene und stirbt mit nur 34 Jahren in Fontainebleau. Ihr schmales Werk zählt zur modernen Weltliteratur.
Katherine Mansfield
FLIEGEN, TANZEN, WIRBELN, BEBEN
Vignetten eines Frauenlebens 1903–1922
Aus dem Englischen übersetzt von Irma Wehrli
Nachwort von Dörte Hansen
Herausgegeben von Horst Lauinger
MANESSE VERLAG
~ 1904 ~
Silvester. Es ist halb eins. Alle Glocken der Dorfkirchen läuten. Ein neues Jahr ist angebrochen. Bei seinem Einzug, mein Liebster, nehme ich mir vor, mit meinem Buch zu beginnen. Es wird nichts Großes oder Dramatisches sein, nur von all dem handeln, was mich beschäftigt hat. Du bist so weit weg von mir und weißt so wenig von dem, was mir begegnet, und es wäre egoistisch, dir nicht mehr zu erzählen. Ich bin soeben von einem Mitternachtsgottesdienst zurück. Es war wunderschön und feierlich. Die Luft draußen war kalt und erfrischend und die Nacht zauberhaft. Über die Wälder und Wiesen hatte die Natur einen gnädigen Schleier gegen den Frost geworfen, aber die Bäume hoben sich dunkel und schön gegen den klaren Sternenhimmel ab. Die Kirche machte heute Nacht ihrem Namen Gotteshaus alle Ehre. Sie sah so stark, trutzig und gastfreundlich aus.
Erst während des stillen Gebets entschloss ich mich, dies zu schreiben. Ich will in diesem Jahr versuchen, ein anderer Mensch zu werden, und möchte bei Jahresende sehen, wie es um meine Schwüre dieser Nacht steht. So viel ereignet sich in einem Jahr. Man kann sich so viel Gutes vornehmen und so wenig davon tun. Ich schreibe dies bei einem zarten Gasflämmchen und habe nur meinen Morgenrock an – mit tiefem Dekolleté. Ich bin so müde, ich glaube, ich muss jetzt ins Bett. Morgen ist Neujahrstag. Wie ist die Welt doch so herrlich und schön. Ich danke Gott heute Nacht dafür, dass ich bin.
Was, glaubst du, ist mir die wahrste Freude
Was, glaubst du, ist mir die wahrste Freude
Unten am Meer – der wilde, heftige Sturm der Wellen
Das schäumende Wüten der ineinander strudelnden Wasser
Die grausame salzige Gischt, die mir ins Gesicht bläst und schlägt.
Nassgrauer Sand auf geraden Wegen, die in die Ferne und Weite führen
Und mit keiner Spur verraten, wo eines Menschen Fuß auftrat
Bis nur der Himmel droben sich im Spiegel beäugt
Und die fliegenden Wolken stumm schreiend sich schaudernd betrachten …
Das Lied des Winds, wenn ich meine Arme ausbreite, ihn zu empfangen
Ja, das ist mir wahre Freude.
~ 1905 ~
Aus der Ferne jenseits der dunklen Häuserzeile ruft es wie das Meer nach einem Sturm – leidenschaftlich, feierlich und stark. Ich lehne mich in der warmen, reglosen Nachtluft weit, weit aus dem Fenster. Drunten in den Mews1 singt ein Lämpchen sein stilles Lied – als einsames Licht glüht es im Dunkel.
Eimerweise Wasser, das über die Kutschen klatscht, und die plötzlichen scharfen Zurufe, die heiseren Schreie der Männer, das leise, dünne Wimmern eines Babys und der Viertelstundenschlag der nahe gelegenen Kirche, das sind die einzigen Laute – unpersönlich, unbestimmt, tief bewegend.
Zu dieser Stunde, in dieser Einsamkeit streckt London seine begierigen Hände nach mir aus, und seine Augen leuchten wissend.
«Oh, in meinen Straßen», flüstert die Stadt, «gehen zahllose Füße vorbei, flammende Lichter leuchten, die Cafés sind voller Männer und Frauen, betörende Nachtmusik berauscht die Köpfe – o großartiger Glanz der Finsternis, eine gespannte Erwartung und über allem ein halb freudiges, halb ängstliches Lachen, das in einem seltsam befriedigten Schauder erstirbt, um von Neuem anzuschwellen. Die Männer und Frauen in den Cafés hören es – sie werfen einander auf einmal schnelle, forschende Blicke zu –, dann scheinen die Lichter greller, und die Musik der Nacht pocht noch lauter.
Aus den Theatern strömt eine Menschenmenge auf die Straße. Das durchdringende Räderrollen der Droschken ertönt. Die Biederkeit ist längst schon zu Bett gegangen – bei heruntergelassenen Jalousien und zugezogenen Vorhängen schläft sie und träumt. Hörst du meinen schnellen Herzschlag nicht? Fühlst du nicht, wie mir das Blut heiß in den Adern pocht? Deine Hände können den dünnen Schleier lüften und deine Augen sich an meiner schamlosen Schönheit weiden. In meinen Straßen liegt die Antwort auf all dein Suchen und Sehnen. Beweise dich. Besprühe deine Sinne mit dem berauschenden Duft der Nacht. Lass nichts im Verborgenen bleiben. Wer weiß, ob du nicht im Aufspüren meiner Geheimnisse die Antwort auf deine Fragen findest.
Ich lehne mich aus dem Fenster – die dunklen Häuser starren mich an und über ihnen ein weiter Himmel. Wo er auf die Häuser trifft, da ist eine seltsame Leichtigkeit – eine Anmutung – ein Versprechen.
Stille. Jetzt verstummt das Kinderwimmern in den Mews, und die Uhr scheint seltener zu schlagen, doch in der Ferne hinter der dunklen Häuserzeile ruft es wie das Meer nach einem Sturm. Maßlos und schrecklich schwillt es an – und kommt näher und näher – ein wildes, unbezähmbares Tosen, das bewusst oder unbewusst in jeder Menschenseele erwacht. Und doch ist es ein und dasselbe wie das leise, dünne Wimmern des Babys – der große Choral des Lebens.
Das Seufzen nach dem Mond. Es ist das uralte Heulen zum Mond, das ewiglich zur großen Weite emporsteigt.
1 Stallungen (ursprünglich die Königlichen Stallungen in Charing Cross, London) auf der Rückseite von Stadthäusern, mit darüberliegenden Wohnungen.
~ 1906 ~
Wege des Lebens1
«Den Keim der Furcht in sich tragen heißt Misserfolg gebären.» K. M.
«Glückliche Menschen sind niemals brillant. Dazu braucht es Reibung.» K. M.2
O lass mich etwas wirklich Gutes schreiben, lass mich eine Idee skizzieren und sie ausarbeiten. Hier ist Ruhe und Friede und Pracht, Buschland und Vögel. Von einem Haus in weiter Ferne höre ich Baulärm, und der Ginster macht mich halb verrückt. Lass es ein Gedicht sein. Also los. Ich brenne auf Ideen. Viel Glück, beste Kathie. Das braucht es, und es wird mir gelingen.
Die Sonne blinzelt inzwischen – freut mich, es wird ein schöner Nachmittag werden. Doch ich bitte dich, lass mich schreiben.
[November: auf der S. S. Corinthic3] Rasch kam die Nacht. Wie ein großer weißer Vogel flog das Schiff voran – voran ins Unbekannte. Durch die Dunkelheit glommen die Sterne, doch der Himmel war ein Garten voll goldener Blumen, farbenschwer. Ich lag auf dem Schiffsdeck, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und betrachtete sie mit seltsam zwiespältigem Gefühl – der raschen Einsicht, dass sie sich stetig und immer machtvoller zutiefst in meine Seele brannten. Ich fühlte, wie ihr stilles Licht bis in die Tiefen drang, war wie gelähmt vor Angst und Wonne – und schauderte. Es liegt eine Zaubermacht in ihrem Glanz, dachte ich. Wie eine Flamme in der Sonne blass wird und erlischt, so löscht dieses Sterneleuchten meine Lebensflamme aus. Ich sah sie wie eine ganz, ganz kleine Kerze wild und furchtbar flackern und dachte, bald wird sie erlöschen, und während ich es noch dachte, sah ich, dass dort, wo sie geschienen hatte, nichts als Dunkel blieb. Und ich trieb, trieb dahin – wo, woher, wohin? Ich trieb in einem großen, grenzenlosen Purpurmeer. Hin und her warf mich die Macht der Wellen, und das schwache Murmeln vieler Stimmen drang an mein Ohr. Ein Gefühl unaussprechlicher Einsamkeit durchdrang mein Gemüt. Ich wusste, dieses Meer war ewig. Ich war ewig. Und ewig war dieses Rufen.
1 Im Original dt.
2 Zwischen Fremdzitate von Oscar Wilde, Montaigne, Ibsen, Maeterlinck, John Stuart Mill, George Eliot, Marie Corelli etc. eingestreute eigene Aphorismen KMs.
3 Auf der Überfahrt nach Neuseeland.
~ 1907 ~
Januar. Da ist zwar Mr. Trowell. Aber ich habe endgültig beschlossen, nicht Musikerin zu werden. Das ist nicht mein Forte, das erkenne ich deutlich. Es bleibt dabei – ich muss Schriftstellerin werden. Caesar1 verliert seine Macht über mich. Edie wartet auf mich. Ich werde in ihre Arme schlüpfen. Sie sind am sichersten. Liebst du mich?
«Ehrgeiz ist ein Fluch, wenn man nicht gegen alles andere gefeit ist – es sei denn, man wolle sich seinem Ehrgeiz opfern.» – Eine Frau.2
«Alle Musiker, auch die unbedeutendsten, kommen ohne die Manneskraft, das Leben ernst zu nehmen zur Welt. Sie begehren nicht einen einzigen Mann, eine einzige Frau, sondern die volle Oktave der Sext.» E. F.
«Man fühlt sich hilflos unter dem Joch der Schöpfung.» E. F.
«Die Natur blamiert uns derart! Was sollen wir irgendwen mögen, wenn jede Waschfrau dasselbe tun kann? Aber mit dieser List sichert die Natur die Fortpflanzung.» E. F.
«Den Mut haben, über sich hinauszugehen – um seine Grenzen zu finden.» E. F.
«Die meisten Frauen werden zu Salzsäulen, wenn sie sich umdrehen.»3E. F.
«Große Menschen sind stets ihren eigenen Neigungen gefolgt. Weshalb sollten wir uns an die Namen von Leuten erinnern, die tun, was alle anderen auch tun? Wer das Gesetz erfolgreich bricht, wird berühmt.» E. F.
«Eine Frau kann Musik erst dann verstehen, wenn sie jene mühsam verborgenen Dinge am eigenen Leibe erfährt, die offensichtlich allem zugrunde liegen.» E. F.
1. Juni 1907. Day’s Bay
Und wieder Szenenwechsel. Ich sitze im ärmlichen kleinen Wohnzimmer – dem einzigen Zimmer des Cottage, bis auf den hüttenähnlichen Schlafraum mit den Kajütenbetten und dem Nebengebäude mit Bad, Holz- und Kohlenkeller, fertig. Auf der einen Seite reicht das Meer bis zum Hof herauf und auf der anderen wächst der Busch bis fast zur Haustür hinab.
Sonntagnacht
Hier bin ich, fast tot vor Kälte, fast tot vor Müdigkeit. Ich kann nicht schlafen, weil das Ende mit solcher Plötzlichkeit gekommen ist, dass selbst ich, die ich es mir so lange schon ausgemalt hatte, entsetzt und überwältigt bin. Sie ist müde. Letzte Nacht noch lag ich in ihren Armen, und heute Abend hasse ich sie – was übersetzt heißen soll, ich bete sie an, ich kann nicht für mich im Bett liegen und die Magie ihres Körpers nicht spüren. Was bedeutet, dass es mir auf das Geschlecht nicht ankommt. Mit ihr spüre ich das ganze sogenannte sexuelle Begehren stärker als je mit einem Mann. Sie fesselt mich und versklavt mich, und ich bete sie und ihren vollkommenen Körper an. Wenn ich den Kopf an ihre Brust lege, weiß ich, dass ich alles fühle, was das Leben bereithalten kann. All meine Nöte und meine elenden Ängste sind wie weggeblasen. Weg sind die Erinnerungen an Caesar und Adonis4, weg die schreckliche Belanglosigkeit meines Lebens. Nichts bleibt als die Geborgenheit in ihren Armen. Und natürlich hätte ich noch vor einer Woche alles ertragen, weil ich da nicht wusste, was es wirklich heißt, zu lieben und geliebt zu werden und leidenschaftlich zu verehren – aber nun weiß ich, bleibt sie mir versagt, muss ich – muss meine Seele auf die Straße hinauslaufen und bei x-beliebigen Fremden um ein wenig von dem kostbaren Gift bitten und betteln. Ich bin halb verrückt vor Liebe. Sie ist jetzt – noch vor meiner Musik – regelrecht alles für mich. Und jetzt geht sie. Die Ahnung ist Wirklichkeit geworden – die Seifenblase platzt wie ein Märchen. So ist dies wirklich meine letzte solche Erfahrung – meine letzte – ich halte es nicht länger aus. Sie vernichtet in der Tat meine Seele, jedes Mal empfinde ich es stärker, denn jedes Mal wird wieder in die Wunde gestochen, und das Messer senkt sich in neues Fleisch und weckt die Qualen im alten.
Neben mir brennt die ruhige Flamme der Kerze – golden und blütengleich –, aber wenn ich hier nur lange genug sitze, wird sie schwinden, flackern und erlöschen. Und genauso ist das Leben und vor allem auch die Liebe – irrlichternd, vorläufig und flüchtig, und öder, fürchterlicher Pessimismus starrt mir ins Gesicht, und ich klammere mich an die alten Illusionen. Ich bin in Regenbogen und Kristallgläser verliebt. Der Regenbogen verblasst, und das Glas springt in tausend Diamantsplitter. Wohin sind sie zerstreut – ins unendliche Firmament, in die vier Himmelswinde – verweht …
In meinem Leben – so viel eingebildete Liebe und in Wirklichkeit achtzehn fruchtlose Jahre. Nie eine reine, spontane, liebevolle Aufwallung. Adonis war – wenn ich es wage, mein Herz zu ergründen – nichts als Pose. Und da kommt sie, und gebettet an sie, geschmiegt an ihre Hände, ihr Gesicht neben meinem, bin ich Kind, Frau und mehr als zur Hälfte Mann.
Draußen flutet das Meer mit dem Klang vollkommener Harmonie das kahle Ödland aus grauem Sand und mächtigem Fels. Genau wie sie. Ich habe das kühle, heilsame Fließen im Wasser gespürt, den weißen Schaum, die grüne Kühle, und jetzt wieder die glühende Sonne und eine verzweifelte Ödnis. Ich kann nicht schlafen, ich werde nicht mehr schlafen. Das ist Wahnsinn, ich weiß, doch es ist allzu echt, um noch gesund zu sein, allzu oberflächlich unglaublich, um infrage gestellt zu werden. Wieder muss ich den Gezeitenwechsel ertragen – mein Leben ist ein Rosenkranz erbitterter Zweikämpfe, und die mächtige Anziehung des Sex verbindet die Kugeln zur Kette. Und am Ende hängt ganz gewiss das Zeichen des Gekreuzigten … Ich weiß nicht, und ich mag nicht hinschauen, aber ich bin so erschüttert vor Schmerz, dass ich spüre, es muss ein Ende haben mit meinem kompromisslosen Lieben und Entliebtwerden – mit den Liebesgeschenken, die mir wieder an den Kopf geschleudert werden, blass und wurmstichig. Pah! Wie sieht mein nächster Zug aus, frage ich mich – Tod, Resignation oder Lähmung? Es wird nicht von Dauer sein. Ich pfeife auf das Schicksal. Ich will nicht mittanzen im Marionettenspiel. Zum Teufel damit! Es wird wohl ein Ende haben. Ich kann keine tragische Figur bleiben?
Und dann bedrängten mich die Geräusche so sehr, dass ich wieder ins Schlafzimmer ging und mich im Dunkeln aus dem Fenster lehnte. Sie schlief friedlich. Ich konnte sie nicht wecken – ich versuchte es zwar, aber erfolglos, und mit jedem Moment schien mein Grauen vor allem und jedem zu wachsen. Im Hof wurde selbst der Zaun zum Schrecken. Während ich auf die Pfosten starrte, verwandelten sie sich in fratzenhafte Chinesen – höchst lebensecht und schrecklich. Sie lehnten sich lässig an nichts, mit gekreuzten Beinen und zuckenden Köpfen. Es war fürchterlich kalt. Ich lehnte mich weiter hinaus und fixierte eine Gestalt – sie beugte sich, grimassierte und krümmte sich, dann sprang ihr der Kopf ab und rollte unter das Haus – rollte immer ringsum wie ein schwarzer Ball – eine Katze vielleicht – und sprang davon. Ich blickte wieder auf die Gestalt – sie war gekreuzigt und hing leblos und doch höhnisch vor mir. Tiefe Stille – es war allzu grässlich. Ich zog meinen Morgenrock und die Pantoffeln aus und saß zitternd und halb weinend am Bettrand, außer mir vor Gram. Irgendwie erwachte sie still, kam zu mir herüber und nahm mich wieder in ihre bergenden Arme. Wir legten uns immer noch schweigend hin, und sie drückte mich immer wieder an sich und küsste mich, mein Kopf lag an ihrem Busen und mit den Händen umschlang ich sie, und sie streichelte mich liebevoll und wärmte mich, um mir neues Leben einzuhauchen. «Besser so, Liebling?», flüsterte ihre Stimme, und mir fehlten die Worte darauf. Dann wieder: «Du kannst es mir wohl nicht sagen …» Und ich schmiegte mich an ihren warmen, wonnigen Leib, glücklicher denn je und als ich es je erträumt hätte, während die Vergangenheit wieder begraben war – so klammerte ich mich an sie und wünschte, dass diese Dunkelheit ewig dauern möge …
Nie fühle ich so stark, dass sie mir gehört, dachte ich. Hier kann nur Eine bei ihr sein. Hier kann ich sie mit tausend zarten Listen umgarnen – vorläufig. Was für eine Erfahrung, und als wir in die Stadt zurückkehrten, war es kein Wunder, dass ich nicht schlafen konnte, mich bloß hin und her wälzte, mich sehnte und tausend Dinge erkannte, die ich nur erahnt hatte … Ach, Oscar5! Bin ich besonders empfänglich für Sex? Vermutlich ja, aber ich bin hocherfreut. Jetzt will ich stets, dass sie mich umarmt und herzt, wenn wir uns sehen. Sie will es wohl auch, aber sie scheut sich und beugt sich den Konventionen, finde ich. Wir werden wieder gehen, ein Wochenende mehr.
Ich will diesen Tag handfest damit krönen, dass ich ein Buch zu schreiben beginne. Wo ich geh und steh, beim Ankleiden, beim Reden oder selbst vor dem Cellospiel, schweben Tag für Tag tausend zarte Bilder durch meinen Kopf und entschwinden wieder. Ich will ein Buch schreiben – das unwirklich ist und doch grundsätzlich möglich, weil es außer Frage steht – das in den Herzen der Leser Gefühle und Empfindungen hervorruft, die zu lebhaft sind, um nicht zu wirken; das tausend zarte Tränen und tausendfach perlendes Gelächter weckt. Ich will nie etwas auch nur entfernt Theatralisches schreiben, und es muss ultramodern sein. Ich beuge mich über das Feuer beim Schreiben, traumverloren, und mein Gesicht glüht heiß von der Kohle. Ein Dampfschiff ruft und ruft in der Ferne und – Gott, Gott – auch meine rastlose Seele.
Hier, mein Freund, ist es Winter.
29. Juni
Ich glaube nicht, dass ich je wieder Kinderverse schreiben kann. Diese Fähigkeit ist mir abhandengekommen, glaube ich. Welch bezaubernden Morgen ich mit der Geigerin und der Sängerin6 verbracht habe. Sie sieht Mark Hambourg7 verblüffend ähnlich – dieses vollkommen musikalische Gesicht – – Wir saßen im Zimmer der Geigerin – die Vorhänge wehten zum Fenster herein und wieder hinaus, & die Veilchen im kleinen Glas, blau & weiß, waren wunderschön. Ich bin sicher, dass beide mich liebten. Aber der Nachmittag war schrecklich. E. K. B.8 langweilte mich. Und ich langweilte sie. Ich fühlte mich unglücklich und sie sich wohl auch – aber sie rührte keinen Finger.
Und jetzt gehört E. K. B. der Vergangenheit an, absolut und unwiderruflich. Dem Himmel sei Dank! Es war rückblickend betrachtet eine furchtbar rührselige Beziehung, die man besser beendet – und sie wird es auch nicht zu besonderer Größe bringen. Sie hat nicht den nötigen Antrieb.
Ob sich wohl auch andere Gleichaltrige so grenzenlos wollüstig fühlen, so fast krank vor Begehren. Mich allein in diesem stillen, vom Ticken der Uhr erfüllten Raum überfiel eine heftige – – – Ich begehre Maata9. Ich begehre sie so, wie ich sie besessen habe – fürchterlich. Es ist unrein, ich weiß, aber echt. Wie unglaublich – ich fühle mich barbarisch roh und wie verhext von dem Kind. Ich hatte gedacht, das sei vorbei. Ju-ja!!!!!!!!!! Mein Kopf ist wie ein russischer Roman.
Sonntag, 11. 8. 07
Liebster10 – auch wenn ich Dich nicht sehe, so wisse doch, ich bin Dein – jeder Gedanke, jedes Gefühl in mir gehört Dir. Am Morgen wache ich auf und habe von Dir geträumt, und den ganzen Tag, während mein äußeres Leben stetig, monoton und fast trostlos seinen Lauf nimmt, lebe ich mein inneres Leben mit Dir – in Sprüngen und Hüpfern – und erfahre mit Dir jede erdenkliche Spielart – der Liebe. Du bist für mich Mann, Geliebter, Künstler, Ehemann, Freund – gibst mir alles, & ich überlasse Dir alles – und jedes. Und darum ist diese Einsamkeit nicht so schrecklich für mich, weil mein äußeres Leben in Wirklichkeit nur ein Phantomleben ist – eine Welt ungreifbarer, sinnloser grauer Schatten. Mein inneres Leben pulsiert vor Sonnenschein, Musik und Glück – unerschöpfliche, tiefe, unergründliche Quellen des Glücks und von Dir. Eines Tages werden wir wieder zusammen sein, und dann – erst dann – werde ich mich verwirklichen und zu mir selbst finden. Weil ich fühle – und stets gefühlt habe –, dass Du die Schlusstakte in Deinen Händen hältst, die mein Lebenslied unvollendet lassen – weil Du mir unentbehrlicher bist als irgendetwas sonst. Nichts zählt, nichts ist, solange Du mein Leben an Dich gerissen hast.
O, lass es so bleiben. Zertritt nicht unversehens diese eine wunderschöne Blume. Ich habe Angst davor, während ich noch juble.
Doch was auch geschieht – und solltest Du eine andere heiraten und sollten wir uns nie mehr begegnen –, ich gehöre Dir, wir gehören einander. Und wann immer Du mich willst, so sag ich mit beiden Händen – ohne Scham, rasend stolz, jubilierend, triumphierend und endlich befriedigt – «nimm mich». Nacht für Nacht schlafe ich ein mit Deinen Briefen unter meinem Kissen und strecke meine Hände aus in der Dunkelheit und drücke den dünnen Umschlag fest an mich, damit er es dort warm hat, und ich lächle im Dunkeln, und dann schmerzt mein Körper manchmal wie vor Müdigkeit – aber ich weiß es besser.
Kätherine Schönfeld
27. August. Ein glücklicher Tag. Es war ein perfekter Tag für mich. Nie zuvor war ich Mr. Trowell so zugetan oder fühlte mich so sehr im Einklang mit ihm, und mein Cello drückte dies alles aus. Heute Morgen haben wir Webers Trio11 gespielt – tragisch, hochdramatisch, voller Rhythmus und Akzente und feiner Nuancierung. Und dann bekam ich heute Nachmittag Panik. Ich fand, ich könne nichts spielen, könne die Concerti nicht anrühren und hätte keine Fortschritte gemacht. Schrecklich war das – und dabei schien die Sonne auf den Boden des Musikzimmers, und mein Cello fühlte sich warm an. Er kam, und sogleich verstanden wir einander, und ich glaube, er war zufrieden. O herrliche Zeit – es war fast übermenschlich, und dann dieses «Eine reife Leistung – Sie haben einen ausgezeichneten Zugang – sehr gut.» Ich hätte diese Worte gegen keinen Lorbeerkranz der Welt getauscht. Und dann zum Schluss diese Weber-Fuge für Erste Violine und Cello.12 Sie senkte sich mir ins Blut. Danach gab es im Rauchersalon Tee und Rosinenbrötchen, die wir zur Fugenbegleitung verzehrten. Und wir sprachen über – Eheleben und Musik – und den Irrtum, dem eine Frau unterliege, wenn sie denkt, sie komme in der Wertschätzung eines Musikers an erster Stelle – diesen Platz nehme unweigerlich seine Kunst ein. Ich weiß schon, was er meint. Und auch von Gleichgestimmtheit war die Rede. Ja, wenn ich Caesar heiraten würde – und an ihn dachte ich die ganze Zeit –, könnte ich vieles beweisen. Mr. Trowell sagte, sie müsse an seinem Ruhm Anteil nehmen und dafür sorgen, dass er sein Spitzenniveau behielt. Sonderbarerweise kam Christian13 vor mir … und Adelaida14 & Edelweiß15. Er konnte heute Nachmittag für mich gar nicht genug Liebe in seine Stimme legen, noch ich für ihn … Gute Nacht, mein Geliebter – heute Nacht werde ich durch deine Musik sprechen.
28. August. Habe heute einen Brief von Adelaida bekommen, in dem sie von Arnold Trowell schreibt, und ich weiß noch gar nicht, was ich dabei fühlte. Erst war ich so betrübt, verletzt und gekränkt, dass ich die schlimmsten Dinge ins Auge fasste, und inzwischen nur noch alt und wütend und einsam, & als hätte alles außer meinem Cello seinen Reiz für mich verloren. Und was soll ich nun tun: Soll ich ihm gratulieren zu seinem Lebenswandel? Soll ich sagen: «Tu, was du willst, lebe so, wie du willst, sieh dir das Leben an, sammle Erfahrung und erweitere deinen Horizont?» Oder soll ich ihn verurteilen? Ich empfinde es so: Es ist sehr schade, dass Künstler so leben, doch da sie es nun einmal tun – sei’s drum –, aber ich tu es ihnen nicht gleich.
6. September. Ich habe Angst und versuche, tapfer zu sein. Dies ist die größte und schlimmste Folter, die ich mir je vorstellte, erleiden zu müssen, aber ich kann mutig sein, ihm erhobenen Hauptes entgegentreten und kämpfen – ja, um mein Leben. Oh, was mag geschehen. Hilf mir, steh mir bei. Hier mindestens stehe ich fürchterlich und ganz und gar alleine da. Was kann ich tun? O, was wird geschehen? Wird es Himmel sein oder Hölle? Ich muss obsiegen – aber zuerst muss ich tapfer in die Gewehrläufe blicken. Es nützt nichts, sich hinter Hecken und große Steine zu ducken und im Schatten zu bleiben.
Im gleißenden Licht muss ich in den Tod gehen oder ins Leben. Die Zeit meiner Bewährung ist da. Jetzt soll meine ganze Lebensanschauung, mein ganzes Wissen zum Ziel kommen. Denk nur einen Moment lang daran, was das heißt, denk daran, und du kannst dich den Gewehrsalven des Feindes stellen. Du besitzt das magische Kettenhemd. Der Glaube an den glücklichen Ausgang kleidet dich, aber sei fest und vernünftig und ruhig – und lerne am Ende, dass du mit festem Herzen in die große Schlacht ziehen musst. Doch ich kann nicht länger im Schatten bleiben. Mein Herz schmerzt vor Angst. Hier ist die ultimative Krise – hier ist die neunte Welle.16 Wenn sie über meinem Kopf zusammenschlägt, so muss ich mich aufrappeln, mir das Wasser aus Augen und Haar schütteln – und eintauchen. Oh – ich muss den Sieg erringen. Mit beiden Händen halte ich den Gedanken fest. Hilfe, Hilfe – bleib standfest, und lass die Musik dröhnen und donnern. Sie kann mein pochendes Herz nicht übertönen.
O Kathleen, du tust mir leid, aber ich sehe, dass dieser große Bruch kommen musste. Du bist in deinem Leben immer ein Feigling gewesen bis zum letzten Moment, doch hier kommt nun das Größte in deinem Leben. Erweise dich als stark. Liebste, ich halte deine Hände fest, und meine Augen versenken sich in deine – vertrauensvoll, fest, entschlossen, voll schönstem Frieden, Hoffnung und grenzenlosem Glauben. Du musst jetzt eine Frau sein und die Geburtswehen ertragen. Bewähre dich. Sei stark, sei freundlich und weise, und der Sieg ist dein. Verzage nicht im letzten Moment – argumentiere weise und ruhig. Sei mehr als eine Frau. Behalte einen kühlen Kopf. Bleibe gefasst! Überzeuge deinen Vater davon, es sei la seule chose17.Denk an den Himmel, den du gewinnen könntest und der dir nach diesem Kampf offensteht. Sie stehen da und warten mit ausgestreckten Händen auf dich, & mit einem freudigen Schrei fällst du ihnen in die Arme – den künftigen Jahren. Viel Glück, mein Liebling – ich liebe dich.
21. X. 07
Zum Teufel mit meiner Familie! Himmel, wie langweilig sie sind. Ich verabscheue sie alle von Herzen. Ich werde bestimmt nicht viel länger hier bleiben – dem Himmel sei Dank dafür! Selbst wenn ich allein in einem Zimmer bin, tauchen sie vor der Tür auf, rufen einander zu – verhandeln die Bestellung beim Metzger oder die schmutzige Wäsche – und ruinieren mein Leben, finde ich. Es ist so entwürdigend. Und heute Morgen will ich nicht schreiben, sondern Marie Bashkirtseff18 lesen. Aber wenn sie hereinkommen & mich nur mit einem Buch beschäftigt finden, entnerven mich ihre tragischen, anklagenden Blicke vollends.
Hier in meinem Zimmer komme ich mir vor wie in London. O London – nur schon das Wort zu schreiben, lässt mich beinahe in Tränen ausbrechen. Ist es nicht furchtbar, etwas so sehr zu lieben? Die Männer sind mir egal – aber London – das ist Leben.
Diese May N.19 & E. K.20, die mit mir spielen wollen, sind dumme Dinger, und ich verachte sie beide. Ich möchte mit Leuten verkehren, die mir überlegen sind. Wie steht es um mich? Bin ich denn ein Niemand und bloß maßlos eitel? Ich weiß nicht – aber jedenfalls bin ich furchtbar unglücklich. Ich bin so unglücklich, dass ich wünschte, ich wäre tot – nur würde ich höchst ungern sterben, wenn ich noch gar nicht gelebt habe.
Jetzt sitze ich schon seit zwei Stunden hier und lese – bis meine rechte Hand ganz kalt wird. Sie ist jung und dumm, und ich verachte sie. Ich lege Marie beiseite & nehme meine Feder zur Hand, als sie hereinkommt. Sie lehnt sich gegen die Tür, rüttelt an der Klinke und sagt: «Schreibst du etwas Kolossales, etwas Gewöhnliches oder etwas Aufregendes?» Wie furchtbar albern! Ich schreie, sie soll mein Zimmer sofort verlassen. Wenn dagegen die Tür aufginge & Mimi21 käme herein – Mimi oder Ida22 oder meine bezaubernde Gwen23 – wie glücklich wäre ich dann – ich kann ich selber sein bei allen dreien.
Durch das Fenster dringt das Rumpeln der Straßenbahnen und monotones Vogelgezwitscher. Der Tee wird serviert, & ich erliege der Versuchung – wie üblich.
Ich bin so ewig dankbar, dass ich J.24 nicht erlaubte, mich zu küssen – ich höre die ganze Zeit von ihm, und es wäre mir ein Graus, ihm zu begegnen. Warum eigentlich? Weil es lächerlich ist – er war für mich bloß eine Kopie. Ich fürchte mich stets sehr davor, lächerlich zu erscheinen. Oscar, dieser Inbegriff des savoir faire,25 bestärkt mich darin. Ich möchte in jeder Gesellschaft souverän wirken, mir meiner Bedeutung bewusst, die meiner Meinung nach grenzenlos ist – liebenswürdig und höchst aufmerksam. Ich mag es, leicht herablassend zu erscheinen, ganz im Stil von le grand monde26, und im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Ja, nur packt mich quelquefois27zu meinem unaussprechlichen Kummer eine unverkennbare Schüchternheit. Ist das nicht lachhaft – ich spüre meine Hände und die leise Gefahr zu erröten.
22.
Ich danke dem Himmel, dass ich gegenwärtig – Schande über mich – in niemanden verliebt bin außer in mich.
Donnerstag. Die Ebene, Regen, lange, unaufhörliche purpurrote Berge, Flussenten, ein Besenginster, Wildpferde, das große Bimssteinfeuer, Lämmer in der Sonne, Orchideen, Flaum in der Manuka28, Schneebeeren. Nach einer Weile Manuka und ein Baum oder zwei, noch mehr Pferde, es regnet heftig, die fürchterliche Straße. Kein Wasser. Nacht im Zelt, der Regen, klettern, um sich zu orientieren, die wabernde Luft, die Einsamkeit. Früh zu Bett, das seltsame Geräusch, das tiefste Hinterland. Furcht, ob das der Regen war, das karge Frühstück, die Küche – nachts und am Morgen, die nassen Kleider.
Am Morgen zunächst Regen, das Schnauben der Pferde – wir sind wirklich sehr früh dran und um sechs startklar, die Sonne bricht durch die grauen Wolken. Ein Lüftchen kommt auf, und am Himmel klafft ein großes Stück Blau. Nasse Stiefel, nasser Damenschleier, zerrissener Mantel, funkelnder Tau auf dem Gestrüpp. Kein Frühstück. Wir brechen auf, die Straße wird immer schlimmer. Wir scheinen nichts anderes zu durchqueren als mit Buschwerk bedeckte Täler, dann plötzlich taucht hinter der Biegung ein Stück Straße auf. Große Freude, aber die Pferde sinken richtig ein – die Zugriemen reißen, es wird immer hoffnungsloser. Das Wetter schlägt um, und Regen strömt herab. Wir kommen immer wieder vom Weg ab und sind ziemlich verzagt, als wir mit einem Male in der Ferne einen Reiter auf einem Schimmel erblicken. Die Männer springen von der Kutsche und eilen davon. Kurze Zeit später trafen wir zwei Maoris im schmutzigen Blaumann auf der Straße – einer spricht kaum Englisch. Es sind Landvermesser. Wir halten an, setzen den Feldkessel auf und nehmen Tee und Hering zu uns. Ach, wie wunderbar!
Vor uns der purpurrote Berg, die ausgemergelten armen Hunde – wir reden mit ihnen – dünn sind sie. Wir treiben die Pferde weg, aber es gibt kein Wasser, die dunkelhäutigen Menschen, das Gespräch – E ta, Haeremai te kai29 – es ist kalt. Das knisternde Feuer der Manuka, sich brusthoch durch die Manuka kämpfen, Maiglöckchen und Teebaum, als wir uns Galatea nähern. Wir essen zu Mittag am Galatea River – eine Insel liegt mittendrin samt einer großen Baumgruppe, das Wasser ist sehr grün und reißend. Ich sehe eine erstaunlich große Pferdebremse, die Sonne brennt heiß, und dann ziehen Wolken auf.
«Mutters Lämmlein is’ er, was?», sagte sie und warf das Baby in die Luft. «Ja, wenn er schläft», lachte das Mädchen und brachte eine saubere Schürze und ein gestärktes Lätzchen. «Haltet die Pferde fest, oder sie brennen euch durch zum Fluss.» Mein Erschrecken.
Begegnen dem vereinzelten Landvermesser auf seinem Schimmel, sein Gruß, raupo whare30 in der Ferne. Foto. Vor den Toren bleiben wir stehen und gehen zu Fuß in die «Stadt» hinein. Es gibt einen Laden, ein Gasthaus und ein Postamt. Mrs. Prodgers ist da mit ihrem Baby und die Engländer – es ist ein schöner Fluss, die Maori-Frauen sind ganz besonders, der Postbote, die Kinder, ein Pferdeunfall – das wunderbare Maori-Zimmer mit den Kissen. Dann eine schnurgerade Straße in einem Becken inmitten felsiger Berge. In weiter Ferne glänzt ein Wölkchen im Sonnenlicht. Hinter dem roten Tor lagen wogende Felder, ein frischer Flachssumpf, das Gehöft in der Ferne – von Bäumen umgeben, Weiden und Kohlpalmen auf einem kleinen Feld, und am Horizont die Purpurhügel im Schatten.
Die Schafe kommen zur Schur.
Hier fahren wir hinein und fragen nach einer Koppel. Am Schurstall und am Gehöft vorbei zu einem zauberhaften Ort mit etwas Gebüsch, Tuis,31 Elstern, Vieh und einem Wasserlauf. Aber ich weiß aus bitterer Erfahrung, dass die Mücken uns auffressen werden. Zwei Maori-Mädchen sind am Waschen. Ich gehe hin, um mit ihnen zu plaudern. Sie sind Kinder durch und durch. Während das Essen auf dem Feuer steht, entferne ich mich und beuge mich über einen riesigen Stamm. Vor mir ein perfektes Sonnenuntergangspanorama – längliche, anmutige stahlgraue Wolken vor dem blassen Blau, Hügel voller Düsternis, ein Flüsschen, an dem ein Baum steht: blank poliertes Silber wie das Meer, die Schafe und die seltsam leidenschaftliche Hingabe der Vögel, die Vogelrufe aus dem Busch und die bizarren Formen der Lianen. – – Dann die Ankunft von Bella, ihr Zauber in der Dämmerung, die leibhaftige Dämmerung. Ihr seltsames Kleid, ihr geflochtenes Haar und ihre scheu sich wiegende Gestalt. Das Leben, das die Leute hier führen.
In den Schurställen das gelbe Kleid mit Huia-Federn32 am Jackett mit scharlachroten Ratablüten33. Die Schnelligkeit, die Hitze und die Gesichter der Schafe. Lebewohl. Die Straße nach Te Whaiti. Begegnung mit dem Führer. Wilde Erdbeeren. Rosablättriger Farn. Matai.34 Aßen in einer Bresche, die ein Baum in den Busch geschlagen hatte, und gelangten über Umwege zum Pah35. Hinreißend. Bloß eine Ansammlung von Hütten, das Gerüst für die Kumara36 und Kartoffeln. Wir besuchen zuerst das Haus.
Kein Englisch, dann ein zauberhaftes kleines Geviert, Rosen und Nelken im Garten, hinter der Tür der Kessel, das Feuer und bunte Dosen, die Frau, das Kind im rosa Kleid mit den roten Ärmeln inmitten all dieser Pracht. Wie sie die Falten ihres Kleides rafft – sie kann bloß «Ja» sagen. Dann gehen wir in die Kammer – Fotos, eine Uhr mit Läutwerk, Matten, Kits37, ein rotes Tischtuch, ein Pferdehaarsofa. Das Kind, das artig «Danke» sagt, die scheuen Kinder, die Mutter und das braune Baby – dünn und nackt, die anderen lebhaften Kinder, ihr strahlendes Gesicht und die königliche Haltung. Dann vor der Post eine große, bunte Menschenmenge, fast bedrohlich wirkend – ein Rua-Anhänger38 mit langer Fidschi-Haartracht und seitlichen Kämmen, eine wunderschöne Fünfzehnjährige, sie ist mit einem Patriarchen verheiratet, ihr lachendes Gesicht, ihre Hände, die mit dem Haar der Kinder spielen, ihr Lächeln. Über den bösen Fluss, der Führer, die schwimmenden Hunde – der dahinströmende Fluss. Er steht im Wasser, eine königliche Gestalt, dann sein «absteigen», und wir ziehen los, die absolute Souveränität seiner Gestalt – wie entrückt, er entlässt uns auf die Reise, seine Stimme ist so klangvoll. Er spricht äußerst korrekt und artikuliert doch jedes Wort. Bei einem herrlich smaragdgrün leuchtenden Tutu39, wo er seine Pferde trocken reibt, erhaschen wir einen letzten Blick auf ihn. Die Sonne brennt entsetzlich heiß. Wir lagern am whare40 des Führers, der Glanz der Nacht, das späte Feuer, knisternde Zweige. Und die Vögel rufen die ganze Nacht hindurch.
Oh, welche Erleichterung
Blauer Rock, ein großer Nephrit, schwarzes Haar, wunderschöne Ohrringe aus Bein.
Wir tauchen wieder ein in den Busch und stoßen schließlich auf eine, mehrere whares, die jetzt verlassen sind, aber Spuren kürzlicher Benutzung zeigen – eine weiße Kuh und ihr Kalb sind am Straßenrand angepflockt, eine braune Kuh und ein braunes Kalb, eine graue Mähre und ein fehl am Platz wirkendes kleines Fohlen sind die einzigen Bewohner. Da gibt es eine große, offene Lichtung, und wir beschließen, dort unsere Zelte aufzuschlagen.
Hell und früh. Das nasse Gebüsch streift mein Gesicht wie Sonnentupfer die Straßen. Der junge Farn erinnert an H. G. Wells’ Traumblumen41 und an Perlenschnüre. Der Himmel im Wasser gleicht weißen Schwänen in einem blauen Spiegel.
Wir spielen ’nga maui42 mit den Maori-Kindern – bei Sonnenschein. Ihre Sprache und ihre seltsame, drollige Art. Sie lachen uns gründlich aus, aber wir lernen immerhin, obwohl es schwierig und auch mühsam ist, weil unsere Hände so steif sind. Ein Mädchen mit kastanienbraunem Haar und schwarzen Augen ist besonders anziehend. Sie hat ein unbeschreibliches Lachen und blendend weiße Zähne. Auch ein anderer Maori in rot-schwarz gestreifter Flanelljacke. Der kleine Junge ist in braune Lumpen gehüllt, seine Kleider sind da und dort zerrissen, und er hat einen braunen Filzhut auf, mit keck wippender koe-koea43-Feder. Hier treffe ich auch Prodgers44 – es ist großartig, wieder einmal richtigen Engländern zu begegnen. Die drittklassige Variante bin ich so satt. Gebt mir den Maori und den Touristen, aber nichts dazwischen. Auch war dieser Ort eine herbe Enttäuschung, nach dem überaus fesselnden Umuroa. Die Maoris hier können ein paar Brocken Englisch und Maori – im Gegensatz zu den anderen Einheimischen.
Kaingaroa Plain. Auf der Reise war das Meer wunderschön, eine Silberstiftzeichnung, und eine blasse Sonne brach durch perlgraue Wolken. Eisenbahnfahren hat für mich einen unaussprechlichen Zauber. Ich lehne mich aus dem Fenster, ein leichter Wind weht mir flatternd und freundlich ins Gesicht, und das unter hundertundeins grauen städtischen Hüllen verborgene Kind in mir strampelt sich frei und frohlockt. Ich sehe die lange Reihe brauner Koppeln vorbeiziehen, schön sind sie mit ihren dichten Büscheln von Butterblumen hier und den lieblichen weißen Calla-Lilien dort. Und manche Täler brennen vom schwankenden Licht des blühenden Besenginsters. In der Ferne graue whares, zwei Augen, ein Mund, um die sich ein Garten wie leuchtende Petticoat-Rüschen kräuselt.
Auf einer weißen Straße trotteten einmal geduldige Kühe daher, wie in einem Trauerzug, und hinter ihnen trabte ein Junge auf einem braunen Pferd. Etwas an seiner würdevollen Haltung, an seinen sonnengebräunten nackten Beinen erinnerte mich an Walt Whitman45.
Überall auf den Hügeln unzählige verkohlte Baumstrünke, die haargenau wie fantastische Ungeheuer aussehen – ein gähnendes Krokodil, ein kopfloses Pferd, ein gigantisches Gänseküken, ein Wachhund –, über die man bei Tag bloß lacht und spottet, die aber im Dunkeln zu einem wahren Albtraum werden. Und da und dort erobern die silbrigen Baumstämme wie Heerscharen von Gerippen die Hügel.
In Kaitoke hielt der Zug zum «Morgenlunch», dem unvermeidlichen Tee der Neuseeländer. F. T.46 und ich gingen auf dem Bahnsteig auf und ab, spähten in den langen Saloon aus Holz hinein, wo sich auf einem mächtigen Tresen Schinkenbrote und Limonadenkuchen türmten, Tassen und Unterteller und große Milchkessel standen. Wir wollten nichts essen, spazierten ans Ende des Bahnsteigs und blickten ins Tal hinaus. Unter uns lag eine bebende weiße Blütenpracht – ein Bäumchen mit scharlachrotem Hauch – ein Büschel toi-toi47, vom Winde verweht, das genauso aussah wie eine Familie mit kleinen Mädchen, die sich ihr Haar trocknen.
Am späteren Nachmittag machten wir in Jakesville Halt. Wie schön spielen wir im Haus, während das Leben auf der Stufe zur Eingangstür sitzt und der Tod auf der Rückseite Wache schiebt!
Die Renaissance züchtete die Persönlichkeit, so wie wir Orchideen züchten – im Streben nach einer Vergrößerung der natürlichen Schönheit, die nicht mehr natürlich war – eine Widernatürlichkeit, die verderblich sein kann – –
17. Dezember. Im Zug. Hat es je einen heißeren Tag gegeben? Das Land verdorrt – golden vor Hitze. Die Schafe suchen im Schatten der Felsen Zuflucht. In der Ferne flimmern die Hügel vor Hitze. M.48 und ich sitzen einander gegenüber. Ich sehe hinreißend aus.
28. Dezember. Wieder sitze ich im Zug, diesmal mit May Gilmour49. Ich bin ziemlich aufgekratzt und sehr glücklich. Ich weiß – oder fühle immerhin –, dass ich einen guten Tag haben werde, und dafür lohnt sich eine 6000-Meilen-Reise. Ich frage mich bloß, wie May Newman sich fühlt. Ich habe den Verdacht, dass sie mir den Laufpass gegeben hat. Aber ich mag mich, darum bin ich zufrieden. Ich habe seit meiner Rückkehr eine untätige Woche voller Nichtigkeiten verbracht. Jetzt müssen wir vor dem nächsten Sonntag etwas Konkretes erreichen. O, das Meer und Wagner zusammen! Gott sei Dank habe ich fünf Gedichte geschrieben.
1 KMs Tarnname für ihren Jugendschwarm Thomas Trowell (s. Personenverzeichnis).
2 Unter der Überschrift Reading Notes zwischen Oscar-Wilde-Zitate eingestreute eigene Aphorismen, im Original gezeichnet mit A. W. für A Woman.
3 1. Mose 19,26: «Und sein [=Lots] Weib sah hinter sich und ward zur Salzsäule».
4 KMs Tarnnamen für die Zwillingsbrüder Thomas und Garnet Trowell.
5 Gemeint ist der ir. Schriftsteller Oscar Wilde (1854–1900).
6 Nicht eruierbare Personen.
7 Von KM bewunderter brit. Pianist (1879–1960).
8 KM nahestehende Personen wie Edith Kathleen Bendall finden sich im Personenverzeichnis.
9 Martha Grace Mahupuku.
10 Vermutlich Thomas Trowell.
11 Trio in g-Moll für Klavier, Flöte und Violoncello (1819) von Carl Maria von Weber (1786–1826).
12 Vermutlich die Schlussfuge aus Carl Maria von Webers Klavierquartett in B-dur, op. 8 (1806/1809).
13 Unbekannte Person.
14 Einer von KMs Spitznamen für ihre Freundin Ida Baker.
15 Tarnname einer unbekannten Person.
16 Nach verbreiteter Auffassung soll in einer Abfolge von Wellen die jeweils siebte oder neunte besonders riesig sein.
17 Frz. «das Einzige».
18 Eine jung an Tuberkulose verstorbene russ. Malerin und Bildhauerin (1858–1884), deren bekenntnishaftes Tagebuch über ihre Boheme-Existenz in Paris KM in Bann zog.
19 Vermutlich May Newman, eine Mitschülerin.
20 Steht vermutlich für Edith Kathleen Bendall.
21 Spitzname von Vere Bartrick-Baker.
22 Ida Baker.
23 Wahrscheinlich Gwen Rouse, eine Mitschülerin.
24 Unbekannter Verehrer KMs.
25 Der Schriftsteller Oscar Wilde galt mit seiner spitzen Feder und scharfen Zunge auch als Experte in Fragen des guten Geschmacks und eleganten Lebensstils.
26 Frz. «die große Welt».
27 Frz. «manchmal».
28 Für den aus ihr gewonnenen Honig geschätzte Südsee- oder Neuseelandmyrte.
29 Maori für «Komm und iss etwas».
30 Maori für «Hütte mit Binsendach».
31 Maori für «Honigfresser», Singvogelart.
32 In Neuseeland endemischer, inzwischen ausgestorbener Vogel («Lappenhopf»), dessen imposante Schwanzfedern als Kopfschmuck begehrt waren.
33 «Südinsel-Eisenholz»: neuseeländ. Baumart mit kräftig roten Blüten.
34 Maori für die in Neuseeland heimische Steineibe.
35 Maori für «befestigtes Dorf».
36 Maori für «Süßkartoffeln».
37 Maori für Körbe aus geflochtenem Flachs.
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