Fontane,T.,Gesammelte Werke - Theodor Fontane - E-Book

Fontane,T.,Gesammelte Werke E-Book

Theodor Fontane

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Beschreibung

Die Lebenswelt des deutschen Adels und Bürgertums im 19. Jahrhundert ist bei Fontane gleichsam mit Händen zu greifen. In seinen Romanen wird geredet und gestritten, geliebt und verzweifelt – ganz gegenwärtig und anschaulich, so als wäre der Leser ‘live’ dabei. Theodor Fontane ist der wohl bedeutendste deutsche Schriftsteller seiner Epoche und ganz sicher der Schöpfer ihrer faszinierendsten Frauenfiguren. Das belegt die in diesem Band versammelte Auswahl einiger seiner besten Romane: ‘Irrungen, Wirrungen’, ‘Frau Jenny Treibel’, ‘Effi Briest’, ‘Die Poggenpuhls’ und ‘Der Stechlin’.

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Seitenzahl: 1828

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Theodor Fontane

Gesammelte Werke

Die Reihenfolge der Romane in diesem Band entspricht der Chronologie der jeweils ersten Buchausgaben: Irrungen, Wirrungen erschien zuerst 1888 bei Steffens in Leipzig. Frau Jenny Treibel erschien zuerst 1893 bei F. Fontane & Co. in Berlin. Effi Briest ebd. 1895. Die Poggenpuhls ebd. 1896. Der Stechlin ebd. 1899. Orthografie und Interpunktion wurden unter Wahrung von Lautstand und grammatischen Eigenheiten den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2014 Anaconda Verlag GmbH, Köln

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotiv: Richard Brend’amour (1831–1915):

»Dr. Theodor Fontane«, Holzschnitt

Umschlaggestaltung: Druckfrei. Dagmar Herrmann, Köln

ISBN 978-3-7306-0156-3eISBN 978-3-7306-9084-0

www.anacondaverlag.de

[email protected]

INHALT

Irrungen, Wirrungen

Frau Jenny Treibel

Effi Briest

Die Poggenpuhls

Der Stechlin

Irrungen, Wirrungen

ERSTES KAPITEL

An dem Schnittpunkte von Kurfürstendamm und Kurfürstenstraße, schräg gegenüber dem »Zoologischen«, befand sich in der Mitte der Siebzigerjahre noch eine große, feldeinwärts sich erstreckende Gärtnerei, deren kleines, dreifenstriges, in einem Vorgärtchen um etwa hundert Schritte zurückgelegenes Wohnhaus, trotz aller Kleinheit und Zurückgezogenheit, von der vorübergehenden Straße her sehr wohl erkannt werden konnte. Was aber sonst noch zu dem Gesamtgewese der Gärtnerei gehörte, ja die recht eigentliche Hauptsache derselben ausmachte, war durch eben dies kleine Wohnhaus wie durch eine Kulisse versteckt, und nur ein rot und grün gestrichenes Holztürmchen mit einem halb weggebrochenen Zifferblatt unter der Turmspitze (von Uhr selbst keine Rede) ließ vermuten, dass hinter dieser Kulisse noch etwas anderes verborgen sein müsse, welche Vermutung denn auch in einer von Zeit zu Zeit aufsteigenden, das Türmchen umschwärmenden Taubenschar und mehr noch in einem gelegentlichen Hundegeblaff ihre Bestätigung fand. Wo dieser Hund eigentlich steckte, das entzog sich freilich der Wahrnehmung, trotzdem die hart an der linken Ecke gelegene, von früh bis spät aufstehende Haustür einen Blick auf ein Stückchen Hofraum gestattete. Überhaupt schien sich nichts mit Absicht verbergen zu wollen, und doch musste jeder, der zu Beginn unserer Erzählung des Weges kam, sich an dem Anblick des dreifenstrigen Häuschens und einiger im Vorgarten stehenden Obstbäume genügen lassen.

Es war die Woche nach Pfingsten, die Zeit der langen Tage, deren blendendes Licht mitunter kein Ende nehmen wollte. Heut aber stand die Sonne schon hinter dem Wilmersdorfer Kirchturm, und statt der Strahlen, die sie den ganzen Tag über herabgeschickt hatte, lagen bereits abendliche Schatten in dem Vorgarten, dessen halb märchenhafte Stille nur noch von der Stille des von der alten Frau Nimptsch und ihrer Pflegetochter Lene mietweise bewohnten Häuschens übertroffen wurde. Frau Nimptsch selbst aber saß wie gewöhnlich an dem großen, kaum fußhohen Herd ihres die ganze Hausfront einnehmenden Vorderzimmers und sah, hockend und vorgebeugt, auf einen rußigen, alten Teekessel, dessen Deckel, trotzdem der Wrasen auch vorn aus der Tülle quoll, beständig hin und her klapperte. Dabei hielt die Alte beide Hände gegen die Glut und war so versunken in ihre Betrachtungen und Träumereien, dass sie nicht hörte, wie die nach dem Flur hinausführende Tür aufging und eine robuste Frauensperson ziemlich geräuschvoll eintrat. Erst als diese Letztere sich geräuspert und ihre Freundin und Nachbarin, eben unsere Frau Nimptsch, mit einer gewissen Herzlichkeit bei Namen genannt hatte, wandte sich diese nach rückwärts und sagte nun auch ihrerseits freundlich und mit einem Anfluge von Schelmerei: »Na, das is recht, liebe Frau Dörr, dass Sie mal wieder ’rüberkommen. Und noch dazu von’s ›Schloss‹. Denn ein Schloss is es und bleibt es. Hat ja ’nen Turm. Un nu setzen Sie sich … Ihren lieben Mann hab ich eben weggehen sehen. Und muss auch. Is ja heute sein Kegelabend.«

Die so freundlich als Frau Dörr Begrüßte war nicht bloß eine robuste, sondern vor allem auch eine sehr stattlich aussehende Frau, die, neben dem Eindruck des Gütigen und Zuverlässigen, zugleich den einer besonderen Beschränktheit machte. Die Nimptsch indessen nahm sichtlich keinen Anstoß daran und wiederholte nur: »Ja, sein Kegelabend. Aber, was ich sagen wollte, liebe Frau Dörr, mit Dörren seinen Hut, das geht nicht mehr. Der is ja schon fuchsblank und eigentlich schimpfierlich. Sie müssen ihn ihm wegnehmen und einen andern hinstellen. Vielleicht merkt er es nich … Un nu rücken Sie ’ran hier, liebe Frau Dörr, oder lieber da drüben auf die Hutsche … Lene, na Sie wissen ja, is ausgeflogen un hat mich mal wieder in Stich gelassen.«

»Er war woll hier?«

»Freilich war er. Und beide sind nu ein bisschen auf Wilmersdorf zu; den Fußweg ’lang, da kommt keiner. Aber jeden Augenblick können sie wieder hier sein.«

»Na, da will ich doch lieber gehn.«

»O nich doch, liebe Frau Dörr. Er bleibt ja nich. Und wenn er auch bliebe, Sie wissen ja, der is nich so.«

»Weiß, weiß. Und wie steht es denn?«

»Ja, wie soll es stehn? Ich glaube, sie denkt so was, wenn sie’s auch nich wahrhaben will, und bildet sich was ein.«

»O du meine Güte«, sagte Frau Dörr, während sie, statt der ihr angebotenen Fußbank, einen etwas höheren Schemel heranschob. »O du meine Güte, denn is es schlimm. Immer wenn das Einbilden anfängt, fängt auch das Schlimme an. Das ist wie Amen in der Kirche. Sehen Sie, liebe Frau Nimptsch, mit mir war es ja eigentlich ebenso; man bloß nichts von Einbildung. Und bloß darum war es auch wieder ganz anders.«

Frau Nimptsch verstand augenscheinlich nicht recht, was die Dörr meinte, weshalb diese fortfuhr: »Und weil ich mir nie was in’n Kopp setzte, darum ging es immer ganz glatt und gut, und ich habe nu Dörren. Na, viel is es nich, aber es is doch was Anständiges, und man kann sich überall sehen lassen. Und drum bin ich auch in die Kirche mit ihm gefahren und nich bloß Standesamt. Bei Standesamt reden sie immer noch.« Die Nimptsch nickte.

Frau Dörr aber wiederholte: »Ja, in die Kirche, in die Matthäikirche un bei Büchseln. Aber, was ich eigentlich sagen wollte, sehen Sie, liebe Frau Nimptsch, ich war ja woll eigentlich größer und anziehlicher als die Lene, und wenn ich auch nich hübscher war (denn so was kann man nie recht wissen, un die Geschmäcker sind so verschieden), so war ich doch so mehr im Vollen, un das mögen manche. Ja, so viel is richtig. Aber wenn ich auch sozusagen fester war un mehr im Gewicht fiel un so was hatte, nu ja, ich hatte so was, so war ich doch immer man ganz einfach un beinahe simpel; un was nu er war, mein Graf mit seine fuffzig auf’m Puckel, na, der war auch man ganz simpel und bloß immer kreuzfidel un unanständig. Und da reichen ja keine hundert Mal, dass ich ihm gesagt habe: ›Ne, ne, Graf, das geht nicht, so was verbitt ich mir …‹ Und immer die Alten sind so. Und ich sage bloß, liebe Frau Nimptsch, Sie können sich so was gar nich denken. Grässlich war es. Und wenn ich mir nu der Lene ihren Baron ansehe, denn schämt es mir immer noch, wenn ich denke, wie meiner war. Und nu gar erst die Lene selber. Jott, ein Engel is sie woll grade auch nich, aber propper und fleißig un kann alles und is für Ordnung und fürs Reelle. Und sehen Sie, liebe Frau Nimptsch, das is gerade das Traurige. Was da so ’rumfliegt, heute hier un morgen da, na, das kommt nicht um, das fällt wie die Katz’ immer wieder auf die vier Beine; aber so’n gutes Kind, das alles ernsthaft nimmt uns alles aus Liebe tut, ja, das ist schlimm … Oder vielleicht is es auch nich so schlimm; Sie haben sie ja bloß angenommen un is nicht Ihr eigen Fleisch und Blut, un vielleicht is es eine Prinzessin oder so was.«

Frau Nimptsch schüttelte bei dieser Vermutung den Kopf und schien antworten zu wollen. Aber die Dörr war schon aufgestanden und sagte, während sie den Gartensteig hinuntersah: »Gott, da kommen sie. Un bloß in Zivil un Rock un Hose ganz egal. Aber man sieht es doch! Und nu sagt er ihr was ins Ohr, und sie lacht vor sich hin. Aber ganz rot is sie geworden … Und nu geht er. Und nu … wahrhaftig, ich glaube, er dreht noch mal um. Nei, nei, er grüßt bloß noch mal, und sie wirft ihm Kussfinger zu … Ja, das glaub ich; so was lass ich mir gefallen … Nei, so war meiner nich.«

Frau Dörr sprach noch weiter, bis Lene kam und die beiden Frauen begrüßte.

ZWEITES KAPITEL

Andern Vormittags schien die schon ziemlich hoch stehende Sonne auf den Hof der Dörr’schen Gärtnerei und beleuchtete hier eine Welt von Baulichkeiten, unter denen auch das »Schloss« war, von dem Frau Nimptsch am Abend vorher mit einem Anfluge von Spott und Schelmerei gesprochen hatte. Ja, dies »Schloss«! In der Dämmerung hätte es bei seinen großen Umrissen wirklich für etwas Derartiges gelten können, heute aber, in unerbittlich heller Beleuchtung daliegend, sah man nur zu deutlich, dass der ganze bis hoch hinauf mit gotischen Fenstern bemalte Bau nichts als ein jämmerlicher Holzkasten war, in dessen beide Giebelwände man ein Stück Fachwerk mit Stroh- und Lehmfüllung eingesetzt hatte, welchem vergleichsweise soliden Einsatze zwei Giebelstuben entsprachen. Alles andere war bloße Steindiele, von der aus ein Gewirr von Leitern zunächst auf einen Boden und von diesem höher hinauf in das als Taubenhaus dienende Türmchen führte. Früher, in Vor-Dörr’scher Zeit, hatte der ganze riesige Holzkasten als bloße Remise zur Aufbewahrung von Bohnenstangen und Gießkannen, vielleicht auch als Kartoffelkeller gedient; seit aber, vor soundso viel Jahren, die Gärtnerei von ihrem gegenwärtigen Besitzer gekauft worden war, war das eigentliche Wohnhaus an Frau Nimptsch vermietet und der gotisch bemalte Kasten, unter Einfügung der schon erwähnten zwei Giebelstuben, zum Aufenthalt für den damals verwitweten Dörr hergerichtet worden, eine höchst primitive Herrichtung, an der seine bald danach erfolgende Wiederverheiratung nichts geändert hatte. Sommers war diese beinahe fensterlose Remise mit ihren Steinfliesen und ihrer Kühle kein übler Aufenthalt, um die Winterszeit aber hätten Dörr und Frau samt einem aus erster Ehe stammenden zwanzigjährigen, etwas geistesschwachen Sohn einfach erfrieren müssen, wenn nicht die beiden großen, an der andern Seite des Hofes gelegenen Treibhäuser gewesen wären. In diesen verbrachten alle drei Dörrs die Zeit von November bis März ausschließlich, aber auch in der besseren und sogar in der heißen Jahreszeit spielte sich das Leben der Familie, wenn man nicht gerade vor der Sonne Zuflucht suchte, zu großem Teile vor und in diesen Treibhäusern ab, weil hier alles am bequemsten lag: Hier standen die Treppchen und Estraden, auf denen die jeden Morgen aus den Treibhäusern hervorgeholten Blumen ihre frische Luft schöpfen durften; hier war der Stall mit Kuh und Ziege; hier die Hütte mit dem Ziehhund, und von hier aus erstreckte sich auch das wohl fünfzig Schritte lange Doppelmistbeet, mit einem schmalen Gange dazwischen, bis an den großen, weiter zurückgelegenen Gemüsegarten. In diesem sah es nicht sonderlich ordentlich aus, einmal weil Dörr keinen Sinn für Ordnung, außerdem aber eine so große Hühnerpassion hatte, dass er diesen seinen Lieblingen, ohne Rücksicht auf den Schaden, den sie stifteten, überall umherzupicken gestattete. Groß freilich war dieser Schaden nie, da seiner Gärtnerei, die Spargelanlagen abgerechnet, alles Feinere fehlte. Dörr hielt das Gewöhnlichste zugleich für das Vorteilhafteste, zog deshalb Majoran und andere Wurstkräuter, besonders aber Porree, hinsichtlich dessen er der Ansicht lebte, dass der richtige Berliner überhaupt nur drei Dinge brauche: eine Weiße, einen Gilka und Porree. »Bei Porree«, schloss er dann regelmäßig, »ist noch keiner zu kurz gekommen.« Er war überhaupt ein Original, von ganz selbstständigen Anschauungen und einer entschiedenen Gleichgültigkeit gegen das, was über ihn gesagt wurde. Dem entsprach denn auch seine zweite Heirat, eine Neigungsheirat, bei der die Vorstellung von einer besondren Schönheit seiner Frau mitgewirkt und ihr früheres Verhältnis zu dem Grafen, statt ihr schädlich zu sein, gerade umgekehrt den Ausschlag zum Guten hin gegeben und einfach den Vollbeweis ihrer Unwiderstehlichkeit erbracht hatte. Wenn sich dabei mit gutem Grunde von Überschätzung sprechen ließ, so doch freilich nicht vonseiten Dörrs in Person, für den die Natur, soweit Äußerlichkeiten in Betracht kamen, ganz ungewöhnlich wenig getan hatte. Mager, mittelgroß und mit fünf grauen Haarsträhnen über Kopf und Stirn, wäre er eine vollkommene Trivialerscheinung gewesen, wenn ihm nicht eine zwischen Augenwinkel und linker Schläfe sitzende braune Pocke was Apartes gegeben hätte. Weshalb denn auch seine Frau nicht mit Unrecht und in der ihr eigenen ungenierten Weise zu sagen pflegte: »Schrumplich is er man, aber von links her hat er so was Borsdorfriges.«

Damit war er gut getroffen und hätte nach diesem Signalement überall erkannt werden müssen, wenn er nicht tagaus tagein eine mit einem großen Schirm ausgestattete Leinwandmütze getragen hätte, die, tief ins Gesicht gezogen, sowohl das Alltägliche wie das Besondere seiner Physiognomie verbarg.

Und so, die Mütze samt Schirm ins Gesicht gezogen, stand er auch heute wieder, am Tage nach dem zwischen Frau Dörr und Frau Nimptsch geführten Zwiegespräche, vor einer an das vordere Treibhaus sich anlehnenden Blumenestrade, verschiedene Goldlack- und Geraniumtöpfe beiseite schiebend, die morgen mit auf den Wochenmarkt sollten. Es waren sämtlich solche, die nicht im Topf gezogen, sondern nur eingesetzt waren, und mit einer besonderen Genugtuung und Freude ließ er sie vor sich aufmarschieren, schon im Voraus über die »Madams« lachend, die morgen kommen, ihre herkömmlichen fünf Pfennig abhandeln und schließlich doch die Betrogenen sein würden. Es zählte das zu seinen größten Vergnügungen und war eigentlich das Hauptgeistesleben, das er führte. »Das bisschen Geschimpfe … Wenn ich’s nur mal mit anhören könnte.«

So sprach er noch vor sich hin, als er vom Garten her das Gebell eines kleinen Köters und dazwischen das verzweifelte Krähen eines Hahns hörte, ja, wenn nicht alles täuschte, seines Hahns, seines Lieblings mit dem Silbergefieder. Und sein Auge nach dem Garten hin richtend, sah er in der Tat, dass ein Haufen Hühner auseinandergestoben, der Hahn aber auf einen Birnbaum geflogen war, von dem aus er gegen den unten kläffenden Hund unausgesetzt um Hilfe rief.

»Himmeldonnerwetter«, schrie Dörr in Wut, »das is wieder Bollmann seiner … Wieder durch den Zaun … I, da soll doch …« Und den Geraniumtopf, den er eben musterte, rasch aus der Hand setzend, lief er auf die Hundehütte zu, griff nach dem Kettenzwickel und machte den großen Ziehhund los, der nun sofort auch wie ein Rasender auf den Garten zuschoss. Ehe dieser jedoch den Birnbaum erreichen konnte, gab »Bollmann seiner« bereits Fersengeld und verschwand unter dem Zaun weg ins Freie, – der fuchsgelbe Ziehhund zunächst noch in großen Sätzen nach. Aber das Zaunloch, das für den Affenpinscher gerade ausgereicht hatte, verweigerte ihm den Durchgang und zwang ihn, von seiner Verfolgung Abstand zu nehmen.

Nicht besser erging es Dörr selber, der inzwischen mit einer Harke herangekommen war und mit seinem Hunde Blicke wechselte. »Ja, Sultan, diesmal war es nichts.« Und dabei trottete Sultan wieder auf seine Hütte zu, langsam und verlegen, wie wenn er einen kleinen Vorwurf herausgehört hätte. Dörr selbst aber sah dem draußen in einer Ackerfurche hinjagenden Affenpinscher nach und sagte nach einer Weile: »Hol mich der Deubel, wenn ich mir nich ’ne Windbüchse anschaffe, bei Mehles oder sonst wo. Un denn pust ich das Biest so stille weg, und kräht nich Huhn nich Hahn danach. Nich mal meiner.«

Von dieser ihm vonseiten Dörrs zugemuteten Ruhe schien der Letztere jedoch vorläufig nichts wissen zu wollen, machte vielmehr von seiner Stimme nach wie vor den ausgiebigsten Gebrauch. Und dabei warf er den Silberhals so stolz, als ob er den Hühnern zeigen wolle, dass seine Flucht in den Birnbaum hinein ein wohlüberlegter Coup oder eine bloße Laune gewesen sei.

Dörr aber sagte: »Jott, so’n Hahn. Denkt nu auch wunder, was er is. Un seine Courage is doch auch man so so.«

Und dann ging er wieder auf seine Blumenestrade zu.

DRITTES KAPITEL

Der ganze Hergang war auch von Frau Dörr, die gerade beim Spargelstechen war, beobachtet, aber nur wenig beachtet worden, weil sich Ähnliches jeden dritten Tag wiederholte. Sie fuhr denn auch in ihrer Arbeit fort und gab das Suchen erst auf, als auch die schärfste Musterung der Beete keine »weißen Köppe« mehr ergeben wollte. Nun erst hing sie den Korb an ihren Arm, legte das Stechmesser hinein und ging langsam und ein paar verirrte Küken vor sich hertreibend, erst auf den Mittelweg des Gartens und dann auf den Hof und die Blumenestrade zu, wo Dörr seine Marktarbeit wieder aufgenommen hatte.

»Na, Suselchen«, empfing er seine bessere Hälfte, »da bist du ja. Hast du woll gesehn? Bollmann seiner war wieder da. Höre, der muss dran glauben, und denn brat ich ihn aus; ein bisschen Fett wird er woll haben, un Sultan kann denn die Grieben kriegen … Und Hundefett, höre Susel …« und er wollte sich augenscheinlich in eine seit einiger Zeit von ihm bevorzugte Gichtbehandlungsmethode vertiefen. In diesem Augenblick aber des Spargelkorbes am Arme seiner Frau gewahr werdend, unterbrach er sich und sagte: »Na, nu zeige mal her. Hat’s denn gefleckt?«

»I nu«, sagte Frau Dörr und hielt ihm den kaum halb gefüllten Korb hin, dessen Inhalt er kopfschüttelnd durch die Finger gleiten ließ. Denn es waren meist dünne Stangen und viel Bruch dazwischen.

»Höre, Susel, es bleibt dabei, du hast keine Spargelaugen.«

»Oh, ich habe schon. Man bloß hexen kann ich nich.«

»Na, wir wollen nich streiten, Susel; mehr wird es doch nich. Aber zum Verhungern is es.«

»I, es denkt nich dran. Lass doch das ewige Gerede, Dörr; sie stecken ja drin, un ob sie nu heute ’rauskommen oder morgen, is ja ganz egal. Eine tüchtige Husche, so wie die vor Pfingsten, und du sollst mal sehn. Und Regen gibt es. Die Wassertonne riecht schon wieder, un die große Kreuzspinn’ is in die Ecke gekrochen. Aber du willst jeden Dag alles haben; das kannst du nich verlangen.«

Dörr lachte. »Na, binde man alles gut zusammen. Und den kleinen Murks auch. Und du kannst ja denn auch was ablassen.«

»Ach, rede doch nich so«, unterbrach ihn die sich über seinen Geiz beständig ärgernde Frau, zog ihn aber, was er immer als Zärtlichkeit nahm, auch heute wieder am Ohrzipfel und ging auf das »Schloss« zu, wo sie sich’s auf dem Steinfliesenflur bequem machen und die Spargelbündel binden wollte. Kaum aber, dass sie den hier immer bereitstehenden Schemel bis an die Schwelle vorgerückt hatte, so hörte sie, wie schräg gegenüber in dem von der Frau Nimptsch bewohnten dreifenstrigen Häuschen ein Hinterfenster mit einem kräftigen Ruck aufgestoßen und gleich darauf eingehakt wurde. Zugleich sah sie Lene, die mit einer weiten, lila gemusterten Jacke über dem Friesrock und einem Häubchen auf dem aschblonden Haar, freundlich zu ihr hinüber grüßte.

Frau Dörr erwiderte den Gruß mit gleicher Freundlichkeit und sagte dann: »Immer Fenster auf; das ist recht, Lenchen. Und fängt auch schon an, heiß zu werden. Es gibt heute noch was.«

»Ja. Und Mutter hat von der Hitze schon ihr Kopfweh, und da will ich doch lieber in der Hinterstube plätten. Is auch hübscher hier; vorne sieht man ja keinen Menschen.«

»Hast recht«, antwortete die Dörr. »Na, da werd ich man ein bisschen ans Fenster rücken. Wenn man so spricht, geht einen alles besser von der Hand.«

»Ach, das is lieb und gut von Ihnen, Frau Dörr. Aber hier am Fenster is ja grade die pralle Sonne.«

»Schad’t nichts, Lene. Da bring ich meinen Marchtschirm mit, altes Ding und lauter Flicken. Aber tut immer noch seine Schuldigkeit.«

Und ehe fünf Minuten um waren, hatte die gute Frau Dörr ihren Schemel bis an das Fenster geschleppt und saß nun unter ihrer Schirmstellage so behaglich und selbstbewusst, als ob es auf dem Gendarmenmarkt gewesen wäre. Drinnen aber hatte Lene das Plättbrett auf zwei dicht ans Fenster gerückte Stühle gelegt und stand nun so nahe, dass man sich mit Leichtigkeit die Hand reichen konnte. Dabei ging das Plätteisen emsig hin und her. Und auch Frau Dörr war fleißig beim Aussuchen und Zusammenbinden, und wenn sie dann und wann von ihrer Arbeit aus ins Fenster hinein sah, sah sie, wie nach hinten zu der kleine Plättofen glühte, der für neue heiße Bolzen zu sorgen hatte.

»Du könntest mir mal ’nen Teller geben, Lene, Teller oder Schüssel.« Und als Lene gleich danach brachte, was Frau Dörr gewünscht hatte, tat diese den Bruchspargel hinein, den sie während des Sortierens in ihrer Schürze behalten hatte. »Da, Lene, das gibt ’ne Spargelsuppe. Un is so gut wie das andre. Denn dass es immer die Köppe sein müssen, is ja dummes Zeug. Ebenso wie mit’n Blumenkohl; immer Blume, Blume, die reine Einbildung. Der Strunk ist eigentlich das Beste, da sitzt die Kraft drin. Und die Kraft is immer die Hauptsache.«

»Gott, Sie sind immer so gut, Frau Dörr. Aber was wird nur Ihr Alter sagen?«

»Der? Ach, Leneken, was der sagt, is ganz egal. Der red’t doch. Er will immer, dass ich den Murks mit einbinde, wie wenn’s richtige Stangen wären; aber solche Bedrügerei mag ich nich, auch wenn Bruch- und Stückenzeug grade so gut schmeckt wie’s Ganze. Was einer bezahlt, das muss er haben, un ich ärgere mir bloß, dass so’n Mensch, dem es so zuwächst, so’n alter Geizkragen is. Aber so sind die Gärtners alle, rapschen und rapschen un können nie genug kriegen.«

»Ja«, lachte Lene, »geizig is er und ein bisschen wunderlich. – Aber eigentlich doch ein guter Mann.«

»Ja, Leneken, er wäre so weit ganz gut, un auch die Geizerei wäre nich so schlimm un is immer noch besser als die Verbringerei, wenn er man nich so zärtlich wäre. Du glaubst es nich, immer is er da. Un nu sieh ihn dir an. Es is doch eigentlich man ein Jammer mit ihm, un dabei richtige Sechsundfünfzig, und vielleicht is es noch ein Jahr mehr. Denn lügen tut er auch, wenn’s ihm gerade passt. Un da hilft auch nichts, gar nichts. Ich erzähl ihm immer von Schlag und Schlag und zeig ihm welche, die so humpeln und einen schiefen Mund haben, aber er lacht bloß immer und glaubt es nich. Es kommt aber doch so. Ja, Leneken, ich glaub es ganz gewiss, dass es so kommt. Und vielleicht balde. Na, verschrieben hat er mir alles, un so sag ich weiter nichts. Wie einer sich legt, so liegt er. Aber was reden wir von Schlag und Dörr, un dass er bloß O-Beine hat. Jott, mein Lenechen, da gibt es ganz andre Leute, die sind so grade gewachsen wie ’ne Tanne. Nich wahr, Lene?«

Lene wurde hierbei noch röter, als sie schon war, und sagte: »Der Bolzen ist kalt geworden.« Und vom Plättbrett zurücktretend, ging sie bis an den eisernen Ofen und schüttete den Bolzen in die Kohlen zurück, um einen neuen herauszunehmen. Alles war das Werk eines Augenblicks. Und nun ließ sie mit einem geschickten Ruck den neuen glühenden Bolzen vom Feuerhaken in das Plätteisen niedergleiten, klappte das Türchen wieder ein und sah nun erst, dass Frau Dörr noch immer auf Antwort wartete. Sicherheitshalber aber stellte die gute Frau die Frage noch mal und setzte gleich hinzu: »Kommt er denn heute?«

»Ja. Wenigstens hat er es versprochen.«

»Nu sage mal, Lene«, fuhr Frau Dörr fort, »wie kam es denn eigentlich? Mutter Nimptsch sagt nie was, un wenn sie was sagt, denn is es auch man immer so so, nich hüh un nich hott. Und immer bloß halb un so konfuse. Nu sage du mal. Ist es denn wahr, dass es in Stralau war?«

»Ja, Frau Dörr, in Stralau war es, den zweiten Ostertag, aber schon so warm, als ob Pfingsten wär, und weil Lina Gansauge gern Kahn fahren wollte, nahmen wir einen Kahn, und Rudolf, den Sie ja wohl auch kennen, und der ein Bruder von Lina ist, setzte sich ans Steuer.«

»Jott, Rudolf. Rudolf is ja noch ein Junge.«

»Freilich. Aber er meinte, dass er’s verstünde, und sagte bloß immer: ›Mächens, ihr müsst still sitzen; ihr schunkelt so‹, denn er spricht so furchtbar berlinsch. Aber wir dachten gar nicht dran, weil wir gleich sahen, dass es mit seiner ganzen Steuerei nicht weit her sei. Zuletzt aber vergaßen wir’s wieder und ließen uns treiben und neckten uns mit denen, die vorbeikamen und uns mit Wasser bespritzten. Und in dem einen Boote, das mit unsrem dieselbe Richtung hatte, saßen ein paar sehr feine Herren, die beständig grüßten, und in unserem Übermut grüßten wir wieder, und Lina wehte sogar mit dem Taschentuch und tat, als ob sie die Herren kenne, was aber gar nicht der Fall war, und wollte sich bloß zeigen, weil sie noch so sehr jung ist. Und während wir noch so lachten und scherzten und mit dem Ruder bloß so spielten, sahen wir mit einem Male, dass von Treptow her das Dampfschiff auf uns zukam, und wie Sie sich denken können, liebe Frau Dörr, waren wir auf den Tod erschrocken und riefen in unserer Angst Rudolfen zu, dass er uns heraussteuern solle. Der Junge war aber aus Rand und Band und steuerte bloß so, dass wir uns beständig im Kreise drehten. Und nun schrien wir und wären sicherlich überfahren worden, wenn nicht in eben diesem Augenblicke das andre Boot mit den zwei Herren sich unsrer Not erbarmt hätte. Mit ein paar Schlägen war es neben uns, und während der eine mit einem Bootshaken uns fest und scharf heranzog und an das eigne Boot ankoppelte, ruderte der andere sich und uns aus dem Strudel heraus, und nur einmal war es noch, als ob die große, vom Dampfschiff her auf uns zukommende Welle uns umwerfen wolle. Der Kapitän drohte denn auch wirklich mit dem Finger (ich sah es inmitten meiner Angst); aber auch das ging vorüber, und eine Minute später waren wir bis an Stralau heran und die beiden Herren, denen wir unsre Rettung verdankten, sprangen ans Ufer und reichten uns die Hand und waren uns als richtige Kavaliere beim Aussteigen behilflich. Und da standen wir denn nun auf der Landungsbrücke bei Tübbeckes und waren sehr verlegen, und Lina weinte jämmerlich vor sich hin, und bloß Rudolf, der überhaupt ein störrischer und großmäuliger Bengel is und immer gegen’s Militär, bloß Rudolf sah ganz bockig vor sich hin, als ob er sagen wollte: »Dummes Zeug, ich hätt euch auch rausgesteuert‹.«

»Ja, so is er, ein großmäuliger Bengel; ich kenn ihn. Aber nu die beiden Herren. Das ist doch die Hauptsache …«

»Nun, die bemühten sich erst noch um uns und blieben dann an dem andren Tisch und sahen immer zu uns ’rüber. Und als wir so gegen Sieben, und es schummerte schon, nach Hause wollten, kam der eine und fragte, ›ob er und sein Kamerad uns ihre Begleitung anbieten dürften?‹ Und da lacht ich übermütig und sagte, ›sie hätten uns ja gerettet, und einem Retter dürfe man nichts abschlagen. Übrigens sollten sie sich’s nochmal überlegen, denn wir wohnten so gut wie am andern Ende der Welt. Und sei eigentlich eine Reise‹. Worauf er verbindlich antwortete: ›desto besser‹. Und mittlerweile war auch der andre herangekommen … Ach, liebe Frau Dörr, es mag wohl nicht recht gewesen sein, gleich so frei weg zu sprechen; aber der eine gefiel mir, und sich zieren und zimperlich tun, das hab ich nie gekonnt. Und so gingen wir denn den weiten Weg, erst an der Spree und dann an dem Kanal hin.«

»Und Rudolf?«

»Der ging hinterher, als ob er gar nicht zugehöre, sah aber alles und passte gut auf. Was auch recht war; denn die Lina is ja erst achtzehn un noch ein gutes, unschuldiges Kind!«

»Meinst du?«

»Gewiss, Frau Dörr. Sie brauchen sie ja bloß anzusehn. So was sieht man gleich.«

»Ja, mehrstens. Aber mitunter auch nich. Und da haben sie euch denn nach Hause gebracht?«

»Ja, Frau Dörr.«

»Und nachher?«

»Ja, nachher. Nun, Sie wissen ja, wie’s nachher kam. Er kam dann den andern Tag und fragte nach. Und seitdem ist er oft gekommen, und ich freue mich immer, wenn er kommt. Gott, man freut sich doch, wenn man mal was erlebt. Es ist oft so einsam hier draußen. Und Sie wissen ja, Frau Dörr, Mutter hat nichts dagegen und sagt immer: ›Kind, es schad’t nichts. Eh man sich’s versieht, is man alt‹.«

»Ja, ja«, sagte die Dörr, »so was hab ich die Nimptschen auch schon sagen hören. Und hat auch ganz recht. Das heißt, wie man’s nehmen will, und nach’m Katechismus is doch eigentlich immer noch besser und sozusagen überhaupt das Beste. Das kannst du mir schon glauben. Aber ich weiß woll, es geht nich immer, und mancher will auch nich. Und wenn einer nich will, na, denn will er nich, un denn muss es auch so gehn und geht auch mehrstens, man bloß, dass man ehrlich is un anständig und Wort hält. Un natürlich, was denn kommt, das muss man aushalten und darf sich nicht wundern. Un wenn man all so was weiß und sich immer wieder zu Gemüte führt, na, denn is es nich so schlimm. Und schlimm is eigentlich man bloß das Einbilden.«

»Ach, liebe Frau Dörr«, lachte Lene, »was Sie nur denken. Einbilden! Ich bilde mir gar nichts ein. Wenn ich einen liebe, dann lieb ich ihn. Und das ist mir genug. Und will weiter gar nichts von ihm, nichts, gar nichts; und dass mir mein Herz so schlägt und ich die Stunden zähle, bis er kommt, und nicht abwarten kann, bis er wieder da ist, das macht mich glücklich, das ist mir genug.«

»Ja«, schmunzelte die Dörr vor sich hin, »das is das Richtige, so muss es sein. Aber is es denn wahr, Lene, dass er Botho heißt? So kann doch einer eigentlich nich heißen; das is ja gar kein christlicher Name.«

»Doch, Frau Dörr.« Und Lene machte Miene, die Tatsache, dass es solchen Namen gäbe, des Weiteren zu bestätigen. Aber ehe sie dazu kommen konnte, schlug Sultan an, und im selben Augenblick hörte man deutlich vom Hausflur her, dass wer eingetreten sei. Wirklich erschien auch der Briefträger und brachte zwei Bestellkarten für Dörr und einen Brief für Lene.

»Gott, Hahnke«, rief die Dörr dem in großen Schweißperlen vor ihr Stehenden zu, »Sie drippen ja man so. Is es denn so’ne schwebende Hitze? Un erst halb zehn. Na, so viel seh ich woll, Briefträger is auch kein Vergnügen.«

Und die gute Frau wollte gehn, um ein Glas frische Milch zu holen. Aber Hahnke dankte. »Habe keine Zeit, Frau Dörr. Ein andermal.« Und damit ging er.

Lene hatte mittlerweile den Brief erbrochen.

»Na, was schreibt er?«

»Er kommt heute nicht, aber morgen. Ach, es ist so lange bis morgen. Ein Glück, dass ich Arbeit habe; je mehr Arbeit, desto besser. Und ich werde heut Nachmittag in Ihren Garten kommen und graben helfen. – Aber Dörr darf nicht dabei sein. –«

»I, Gott bewahre.«

Und danach trennte man sich, und Lene ging in das Vorderzimmer, um der Alten das von der Frau Dörr erhaltene Spargelgericht zu bringen.

VIERTES KAPITEL

Und nun war der andere Abend da, zu dem Baron Botho sich angemeldet hatte. Lene ging im Vorgarten auf und ab; drinnen aber, in der großen Vorderstube, saß wie gewöhnlich Frau Nimptsch am Herd, um den herum sich auch heute wieder die vollzählig erschienene Familie Dörr gruppiert hatte. Frau Dörr strickte mit großen Holznadeln an einer blauen, für ihren Mann bestimmten Wolljacke, die, vorläufig noch ohne rechte Form, nach Art eines großen Vließes auf ihrem Schoße lag. Neben ihr, die Beine bequem übereinandergeschlagen, rauchte Dörr aus einer Tonpfeife, während der Sohn in einem dicht am Fenster stehenden Großvaterstuhle saß und seinen Rotkopf an die Stuhlwange lehnte. Jeden Morgen bei Hahnenschrei aus dem Bett, war er auch heute wieder vor Müdigkeit eingeschlafen. Gesprochen wurde wenig, und so hörte man denn nichts als das Klappern der Holznadeln und das Knabbern des Eichhörnchens, das mitunter aus seinem Schilderhäuschen herauskam und sich neugierig umsah. Nur das Herdfeuer und der Widerschein des Abendrots gaben etwas Licht.

Frau Dörr saß so, dass sie den Gartensteg hinaufsehen und trotz der Dämmerung erkennen konnte, wer draußen, am Heckenzaun entlang, des Weges kam.

»Ah, da kommt er«, sagte sie. »Nu, Dörr, lass mal deine Pfeife ausgehen. Du bist heute wieder wie’n Schornstein un rauchst un schmookst den ganzen Tag. Un son’n Knallerballer wie deiner, der is nich für jeden.«

Dörr ließ sich solche Rede wenig anfechten, und ehe seine Frau mehr sagen oder ihre Wahrsprüche wiederholen konnte, trat der Baron ein. Er war sichtlich angeheitert, kam er doch von einer Maibowle, die Gegenstand einer Klubwette gewesen war, und sagte, während er Frau Nimptsch die Hand reichte: »Guten Tag, Mutterchen. Hoffentlich gut bei Weg’. Ah, und Frau Dörr; und Herr Dörr, mein alter Freund und Gönner. Hören Sie, Dörr, was sagen Sie zu dem Wetter? Eigens für Sie bestellt und für mich mit. Meine Wiesen zu Hause, die vier Jahre von fünf immer unter Wasser stehen und nichts bringen als Ranunkeln, die können solch Wetter brauchen. Und Lene kann’s auch brauchen, dass sie mehr draußen ist; sie wird mir sonst zu blass.«

Lene hatte derweilen einen Holzstuhl neben die Alte gerückt, weil sie wusste, dass Baron Botho hier am liebsten saß; Frau Dörr aber, in der eine starke Vorstellung davon lebte, dass ein Baron auf einem Ehrenplatz sitzen müsse, war inzwischen aufgestanden und rief, immer das blaue Vließ nachschleppend, ihrem Pflegesohn zu: »Will er woll auf! Ne, ich sage. Wo’s nich drin steckt, da kommt es auch nich.« Der arme Junge fuhr blöd und verschlafen in die Höh’ und wollte den Platz räumen, der Baron litt es aber nicht. »Ums Himmels willen, liebe Frau Dörr, lassen Sie doch den Jungen. Ich sitz am liebsten auf einem Schemel wie mein Freund Dörr hier.«

Und damit schob er den Holzstuhl, den Lene noch immer in Bereitschaft hatte, neben die Alte und sagte, während er sich setzte: »Hier neben Frau Nimptsch, das ist der beste Platz. Ich kenne keinen Herd, auf den ich so gern sähe; immer Feuer, immer Wärme. Ja, Mutterchen, es ist so; hier ist es am besten.«

»Ach, du mein Gott«, sagte die Alte. »Hier am besten! Hier bei’ ner alten Wasch- und Plättefrau.«

»Freilich. Und warum nicht? Jeder Stand hat seine Ehre. Waschfrau auch. Wissen Sie denn, Mutterchen, dass es hier in Berlin einen berühmten Dichter gegeben hat, der ein Gedicht auf seine alte Waschfrau gemacht hat?«

»Is es möglich?«

»Freilich ist es möglich. Es ist sogar gewiss. Und wissen Sie, was er zum Schluss gesagt hat? Da hat er gesagt, er möchte so leben und sterben wie die alte Waschfrau. Ja, das hat er gesagt.«

»Is es möglich?«, simperte die Alte noch einmal vor sich hin.

»Und wissen Sie, Mutterchen, um auch das nicht zu vergessen, dass er ganz recht gehabt hat, und dass ich ganz dasselbe sage? Ja, Sie lachen so vor sich hin. Aber sehen Sie sich mal um hier, wie leben Sie? Wie Gott in Frankreich. Erst haben Sie das Haus und diesen Herd und dann den Garten und dann Frau Dörr. Und dann haben Sie die Lene. Nicht wahr? Aber wo steckt sie nur?«

Er wollte noch weitersprechen, aber im selben Augenblicke kam Lene mit einem Kaffeebrett zurück, auf dem eine Karaffe mit Wasser samt Apfelwein stand, Apfelwein, für den der Baron, weil er ihm wunderbare Heilkraft zuschrieb, eine sonst schwer begreifliche Vorliebe hatte.

»Ach Lene, wie du mich verwöhnst. Aber du darfst es mir nicht so feierlich präsentieren, das ist ja, wie wenn ich im Klub wäre. Du musst es mir aus der Hand bringen, da schmeckt es am besten. Und nun gib mir deine Patsche, dass ich sie streicheln kann. Nein, nein, die Linke, die kommt von Herzen. Und nun setze dich da hin, zwischen Herr und Frau Dörr, dann hab ich dich gegenüber und kann dich immer ansehn. Ich habe mich den ganzen Tag auf diese Stunde gefreut.«

Lene lachte.

»Du glaubst es wohl nicht? Ich kann es dir aber beweisen, Lene; denn ich habe dir von der großen Herren- und Damenfete, die wir gestern hatten, was mitgebracht. Und wenn man was zum Mitbringen hat, dann freut man sich auch auf die, die’s kriegen sollen. Nicht wahr, lieber Dörr?«

Dörr schmunzelte, Frau Dörr aber sagte: »Jott, der. Der un mitbringen. Dörr is bloß für rapschen und sparen. So sind die Gärtners. Aber neugierig bin ich doch, was der Herr Baron mitgebracht haben.«

»Nun, da will ich nicht lange warten lassen, sonst denkt meine liebe Frau Dörr am Ende, dass es ein goldener Pantoffel ist oder sonst was aus dem Märchen. Es ist aber bloß das.«

Und dabei gab er Lenen eine Tüte, daraus, wenn nicht alles täuschte, das gefranste Papier einiger Knallbonbons hervorguckte.

Wirklich, es waren Knallbonbons, und die Tüte ging reihum.

»Aber nun müssen wir auch ziehen, Lene; halt fest und Augen zu.«

Frau Dörr war entzückt, als es einen Knall gab, und noch mehr, als Lenes Zeigefinger blutete. »Das tut nich weh, Lene, das kenn ich; das is, wie wenn sich ’ne Braut in’n Finger sticht. Ich kannte mal eine, die war so versessen drauf, die stach sich immerzu un lutschte und lutschte, wie wenn es Wunder was wäre.«

Lene wurde rot. Aber Frau Dörr sah es nicht und fuhr fort: »Un nu den Vers lesen, Herr Baron.«

Und dieser las denn auch:

In Liebe selbstvergessen sein,

Freut Gott und die lieben Engelein.

»Jott«, sagte Frau Dörr und faltete die Hände. »Das is ja wie aus’n Gesangbuch. Is es denn immer so fromm?«

»I bewahre«, sagte Botho, »nicht immer. Kommen Sie, liebe Frau Dörr, wir wollen auch mal ziehen und sehn, was dabei herauskommt.«

Und nun zog er wieder und las:

Wo Amors Pfeil recht tief getroffen,

Da stehen Himmel und Hölle offen.

»Nun, Frau Dörr, was sagen Sie dazu? Das klingt schon anders; nicht wahr?«

»Ja«, sagte Frau Dörr, »anders klingt es. Aber es gefällt mir nicht recht … Wenn ich einen Knallbonbon ziehe …«

»Nun?«

»Da darf nichts von Hölle vorkommen; da will ich nich hören, dass es so was gibt.«

»Ich auch nicht«, lachte Lene. »Frau Dörr hat ganz recht; sie hat überhaupt immer recht. Aber das ist wahr, wenn man solchen Vers liest, da hat man immer gleich was zum Anfangen, ich meine zum Anfangen mit der Unterhaltung; denn anfangen ist immer das schwerste, gerade wie beim Briefschreiben, und ich kann mir eigentlich keine Vorstellung machen, wie man mit so viel fremden Damen (und ihr kennt euch doch nicht alle) so gleich mir nichts, dir nichts ein Gespräch anfangen kann.«

»Ach, meine liebe Lene«, sagte Botho, »das ist nicht so schwer, wie du denkst. Es ist sogar ganz leicht. Und wenn du willst, will ich dir gleich eine Tischunterhaltung vormachen.«

Frau Dörr und Frau Nimptsch drückten ihre Freude darüber aus, und auch Lene nickte zustimmend.

»Nun, fuhr Baron Botho fort, »denke dir also, du wärst eine kleine Gräfin. Und eben hab ich dich zu Tische geführt und Platz genommen, und nun sind wir beim ersten Löffel Suppe.«

»Gut. Gut. Aber nun?«

»Und nun sag ich: Irr ich nicht, meine gnädige Komtesse, so sah ich Sie gestern in der Flora, Sie und Ihre Frau Mama. Nicht zu verwundern. Das Wetter lockt ja jetzt täglich heraus, und man könnte schon von Reisewetter sprechen. Haben Sie Pläne, Sommerpläne, meine gnädigste Gräfin? Und nun antwortest du, dass leider noch nichts feststünde, weil der Papa durchaus nach dem Bayrischen wolle, dass aber die sächsische Schweiz mit dem Königstein und der Bastei dein Herzenswunsch wäre.«

»Das ist es auch wirklich«, lachte Lene.

»Nun sieh, das trifft sich gut. Und so fahr ich denn fort: Ja, gnädigste Komtesse, da begegnen sich unsere Geschmacksrichtungen. Ich ziehe die sächsische Schweiz ebenfalls jedem anderen Teile der Welt vor, namentlich auch der eigentlichen Schweiz. Man kann nicht immer große Natur schwelgen, nicht immer klettern und außer Atem sein. Aber sächsische Schweiz! Himmlisch, ideal! Da hab ich Dresden; in einer viertel oder halben Stunde bin ich da, da seh ich Bilder, Theater, Großen Garten, Zwinger, Grünes Gewölbe. Versäumen Sie nicht, sich die Kanne mit den törichten Jungfrauen zeigen zu lassen, und vor allem den Kirschkern, auf dem das ganze Vaterunser steht. Alles bloß durch die Lupe zu sehen.«

»Und so sprecht ihr!«

»Ganz so, mein Schatz. Und wenn ich mit meiner Nachbarin zur Linken, also mit Komtesse Lene fertig bin, so wend ich mich zu meiner Nachbarin zur Rechten, also zu Frau Baronin Dörr …«

Die Dörr schlug vor Entzücken mit der Hand aufs Knie, dass es einen lauten Puff gab …

»Zu Frau Baronin Dörr also. Und spreche nun worüber? Nun, sagen wir über Morcheln.«

»Aber mein Gott, Morcheln. Über Morcheln, Herr Baron, das geht doch nicht.«

»O warum nicht, warum soll es nicht gehen, liebe Frau Dörr? Das ist ein sehr ernstes und lehrreiches Gespräch und hat für manche mehr Bedeutung, als Sie glauben. Ich besuchte mal einen Freund in Polen, Regiments- und Kriegskameraden, der ein großes Schloss bewohnte, rot und mit zwei dicken Türmen, und so furchtbar alt, wie’s eigentlich gar nicht mehr vorkommt. Und das letzte Zimmer war sein Wohnzimmer; denn er war unverheiratet, weil er ein Weiberfeind war …«

»Ist es möglich?«

»Und überall waren morsche, durchgetretene Dielen, und immer, wo ein paar Dielen fehlten, da war ein Morchelbeet, und an all den Morchelbeeten ging ich vorbei, bis ich zuletzt in sein Zimmer kam.«

»Ist es möglich?«, wiederholte die Dörr und setzte hinzu:

»Morcheln. Aber man kann doch nicht immer von Morcheln sprechen.«

»Nein, nicht immer. Aber oft oder wenigstens manchmal, und eigentlich ist es ganz gleich, wovon man spricht. Wenn es nicht Morcheln sind, sind es Champignons, und wenn es nicht das rote polnische Schloss ist, dann ist es Schlösschen Tegel oder Saatwinkel oder Valentinswerder. Oder Italien oder Paris oder die Stadtbahn, oder ob die Panke zugeschüttet werden soll. Es ist alles ganz gleich. Über jedes kann man ja was sagen, und ob’s einem gefällt oder nicht. Und ›ja‹ ist gerade so viel wie ›nein‹.«

»Aber«, sagte Lene, »wenn es alles so redensartlich ist, da wundert es mich, dass ihr solche Gesellschaften mitmacht.«

»Oh, man sieht doch schöne Damen und Toiletten und mitunter auch Blicke, die, wenn man gut aufpasst, einem eine ganze Geschichte verraten. Und jedenfalls dauert es nicht lange, sodass man immer noch Zeit hat, im Klub alles nachzuholen. Und im Klub ist es wirklich reizend, da hören die Redensarten auf, und die Wirklichkeiten fangen an. Ich habe gestern Pitt seine Graditzer Rappenstute abgenommen.«

»Wer ist Pitt?«

»Ach, das sind so Namen, die wir nebenher führen, und wir nennen uns so, wenn wir unter uns sind. Der Kronprinz sagt auch Vicky, wenn er Viktoria meint. Es ist ein wahres Glück, dass es solche Liebes- und Zärtlichkeitsnamen gibt. Aber horch, eben fängt drüben das Konzert an. Können wir nicht die Fenster aufmachen, dass wir’s besser hören? Du wippst ja schon mit der Fußspitze hin und her. Wie wär es, wenn wir anträten und einen Konter versuchten oder eine Française? Wir sind drei Paare: Vater Dörr und meine gute Frau Nimptsch und dann Frau Dörr und ich (ich bitte um die Ehre) und dann kommt Lene mit Hans.«

Frau Dörr war sofort einverstanden, Dörr und Frau Nimptsch aber lehnten ab, diese, weil sie zu alt sei, jener, weil er so was Feines nicht kenne.

»Gut, Vater Dörr. Aber dann müssen Sie den Takt schlagen; Lene, gib ihm das Kaffeebrett und einen Löffel. Und nun antreten, meine Damen. Frau Dörr, Ihren Arm. Und nun Hans, aufwachen, flink, flink.«

Und wirklich, beide Paare stellten sich auf, und Frau Dörr wuchs ordentlich noch an Stattlichkeit, als ihr Partner in einem feierlichen Tanzmeister-Französisch anhob: »en avant deux, Pas de basque.« Der sommersprossige, leider noch immer verschlafene Gärtnerjunge sah sich maschinenmäßig und ganz nach Art einer Puppe hin- und hergeschoben, die drei andern aber tanzten wie Leute, die’s verstehen, und entzückten den alten Dörr derart, dass er sich von seinem Schemel erhob und, statt mit dem Löffel, mit seinem Knöchel an das Kaffeebrett schlug. Auch der alten Frau Nimptsch kam die Lust früherer Tage wieder, und weil sie nichts Besseres tun konnte, wühlte sie mit dem Feuerhaken so lange in der Kohlenglut umher, bis die Flamme hoch aufschlug.

So ging es, bis die Musik drüben schwieg; Botho führte Frau Dörr wieder an ihren Platz, und nur Lene stand noch da, weil der ungeschickte Gärtnerjunge nicht wusste, was er mit ihr machen sollte. Das aber passte Botho gerade, der, als die Musik drüben wieder anhob, mit Lene zu walzen und ihr zuzuflüstern begann, wie reizend sie sei, reizender denn je.

Sie waren alle warm geworden, am meisten die gerade jetzt am offenen Fenster stehende Frau Dörr. »Jott, mir schuddert so«, sagte sie mit einem Male, weshalb Botho verbindlich aufsprang, um die Fenster zu schließen. Aber Frau Dörr wollte davon nichts wissen und behauptete: »Was die feinen Leute wären, die wären alle für frische Luft, und manche wären so fürs Frische, dass ihnen im Winter das Deckbett an den Mund fröre. Denn Atem wäre dasselbe wie Wrasen, gerade wie der, der aus der Tülle käme. Also die Fenster müssten aufbleiben, davon ließe sie nicht. Aber wenn Lenechen so fürs Innerliche was hätte, so was für Herz und Seele …«

»Gewiss, liebe Frau Dörr; alles, was Sie wollen. Ich kann einen Tee machen oder einen Punsch, oder noch besser, ich habe ja noch das Kirschwasser, das Sie Mutter Nimptschen und mir letzten Weihnachten zu der großen Mandelstolle geschenkt haben …«

Und ehe sich Frau Dörr zwischen Punsch und Tee entscheiden konnte, war auch die Kirchwasserflasche schon da, mit Gläsern, großen und kleinen, in die sich nun jeder nach Gutdünken hinein tat. Und nun ging Lene, den rußigen Herdkessel in der Hand, reihum und goss das kochsprudelnde Wasser ein. »Nicht zu viel, Leneken, nicht zu viel. Immer aufs Ganze. Wasser nimmt die Kraft.« Und im Nu füllte sich der Raum mit dem aufsteigenden Kirschmandelaroma.

»Ah, das hast du gut gemacht«, sagte Botho, während er aus dem Glase nippte. »Weiß es Gott, ich habe gestern nichts gehabt und heute im Klub erst recht nicht, was mir so geschmeckt hätte. Hoch Lene! Das eigentliche Verdienst in der Sache hat aber doch unsere Freundin, Frau Dörr, ›weil’s ihr so geschuddert hat‹, und so bring ich denn gleich noch eine zweite Gesundheit aus: Frau Dörr, sie lebe hoch!«

»Sie lebe hoch!«, riefen alle durcheinander, und der alte Dörr schlug wieder mit seinem Knöchel ans Brett.

Alle fanden, dass es ein feines Getränk sei, viel feiner als Punschextrakt, der im Sommer immer nach bitterer Zitrone schmecke, weil es meistens alte Flaschen seien, die schon von Fastnacht an im Ladenfenster in der grellen Sonne gestanden hätten. Kirschwasser aber, das sei was Gesundes und nie verdorben, und ehe man sich mit dem Bittermandelgift vergifte, da müsste man doch schon was Ordentliches einnehmen, wenigstens eine Flasche.

Diese Bemerkung machte Frau Dörr, und der Alte, der es nicht darauf ankommen lassen wollte, vielleicht weil er diese hervorragendste Passion seiner Frau kannte, drang auf Aufbruch: »Morgen sei auch noch ein Tag.«

Botho und Lene redeten zu, doch noch zu bleiben. Aber die gute Frau Dörr, die wohl wusste, »dass man zuzeiten nachgeben müsse, wenn man die Herrschaft behalten wolle«, sagte nur: »Lass Leneken, ich kenn ihn; er geht nu mal mit die Hühner zu Bett.« »Nun«, sagte Botho, »wenn es beschlossen ist, ist es beschlossen. Aber dann begleiten wir die Familie Dörr bis an ihr Haus.«

Und damit brachen alle auf und ließen nur die alte Frau Nimptsch zurück, die den Abgehenden freundlich und kopfnickend nachsah und dann aufstand und sich in den Großvaterstuhl setzte.

FÜNFTES KAPITEL

Vor dem »Schloss« mit dem grün und rot gestrichenen Turme machten Botho und Lene Halt und baten Dörr in aller Förmlichkeit um Erlaubnis, noch in den Garten gehen und eine halbe Stunde darin promenieren zu dürfen. Der Abend sei so schön. Vater Dörr brummelte, dass er sein Eigentum in keinem besseren Schutz lassen könne, worauf das junge Paar unter artigen Verbeugungen Abschied nahm und auf den Garten zuschritt. Alles war schon zur Ruhe, und nur Sultan, an dem sie vorbei mussten, richtete sich hoch auf und winselte so lange, bis ihn Lene gestreichelt hatte. Dann erst kroch er wieder in seine Hütte zurück.

Drinnen im Garten war alles Duft und Frische; denn den ganzen Hauptweg hinauf, zwischen den Johannis- und Stachelbeersträuchern, standen Levkojen und Reseda, deren feiner Duft sich mit dem kräftigeren der Thymianbeete mischte. Nichts regte sich in den Bäumen und nur Leuchtkäfer schwirrten durch die Luft.

Lene hatte sich in Bothos Arm gehängt und schritt mit ihm auf das Ende des Gartens zu, wo zwischen zwei Silberpappeln eine Bank stand.

»Wollen wir uns setzen?«

»Nein«, sagte Lene, »nicht jetzt«, und bog in einen Seitenweg ein, dessen hoch stehende Himbeerbüsche fast über den Gartenzaun hinauswuchsen. »Ich gehe so gern an deinem Arm. Erzähle mir etwas. Aber etwas recht Hübsches. Oder frage.«

»Gut. Ist es dir recht, wenn ich mit den Dörrs anfange?«

»Meinetwegen.«

»Ein sonderbares Paar. Und dabei, glaub ich, glücklich. Er muss tun, was sie will, und ist doch um vieles klüger.«

»Ja«, sagte Lene, »klüger ist er, aber auch geizig und hartherzig, und das macht ihn gefügig, weil er beständig ein schlechtes Gewissen hat. Sie sieht ihm scharf auf die Finger und leidet es nicht, wenn er jemand übervorteilen will. Und das ist es, wovor er Furcht hat und was ihn nachgiebig macht.«

»Und weiter nichts?«

»Vielleicht auch noch Liebe, so sonderbar es klingt. Das heißt Liebe von seiner Seite. Denn trotz seiner Sechsundfünfzig oder mehr ist er noch wie vernarrt in seine Frau, und bloß weil sie groß ist. Beide haben mir die wunderlichsten Geständnisse darüber gemacht. Ich bekenne dir offen, mein Geschmack wäre sie nicht.«

»Da hast du aber unrecht, Lene; sie macht eine Figur.«

»Ja«, lachte Lene, »sie macht eine Figur, aber sie hat keine. Siehst du denn gar nicht, dass ihr die Hüften eine Hand breit zu hoch sitzen? Aber so was seht ihr nicht, und ›Figur‹ und ›stattlich‹ ist immer euer drittes Wort, ohne dass sich wer drum kümmert, wo denn die Stattlichkeit eigentlich herkommt.«

So plaudernd und neckend blieb sie stehen und bückte sich, um auf einem langen und schmalen Erdbeerbeete, das sich in Front von Zaun und Hecke hinzog, nach einer Früherdbeere zu suchen. Endlich hatte sie, was sie wollte, nahm das Stängelchen eines wahren Prachtexemplares zwischen die Lippen und trat vor ihn hin und sah ihn an.

Er war auch nicht säumig, pflückte die Beere von ihrem Munde fort und umarmte sie und küsste sie.

»Meine süße Lene, das hast du recht gemacht. Aber höre nur, wie Sultan blafft; er will bei dir sein; soll ich ihn losmachen?«

»Nein, wenn er hier ist, hab ich dich nur noch halb. Und sprichst du dann gar noch von der stattlichen Frau Dörr, so hab ich dich so gut wie gar nicht mehr.«

»Gut«, lachte Botho, »Sultan mag bleiben, wo er ist. Ich bin es zufrieden. Aber von Frau Dörr muss ich noch weitersprechen. Ist sie wirklich so gut?«

»Ja, das ist sie, trotzdem sie sonderbare Dinge sagt, Dinge, die wie Zweideutigkeiten klingen und es auch sein mögen. Aber sie weiß nichts davon, und in ihrem Tun und Wandel ist nicht das Geringste, was an ihre Vergangenheit erinnern könnte.«

»Hat sie denn eine?«

»Ja. Wenigstens stand sie jahrelang in einem Verhältnis und ›ging mit ihm‹, wie sie sich auszudrücken pflegt. Und darüber ist wohl kein Zweifel, dass über dies Verhältnis und natürlich auch über die gute Frau Dörr selbst viel, sehr viel geredet worden ist. Und sie wird auch Anstoß über Anstoß gegeben haben. Nur sie selber hat sich in ihrer Einfalt nie Gedanken darüber gemacht und noch weniger Vorwürfe. Sie spricht davon wie von einem unbequemen Dienst, den sie getreulich und ehrlich erfüllt hat, bloß aus Pflichtgefühl. Du lachst, und es klingt auch sonderbar genug. Aber es lässt sich nicht anders sagen. Und nun lassen wir die Frau Dörr und setzen uns lieber und sehen in die Mondsichel.«

Wirklich, der Mond stand drüben über dem Elefantenhause, das in dem niederströmenden Silberlichte noch fantastischer aussah als gewöhnlich. Lene wies daraufhin, zog die Mantelkapuze fester zusammen und barg sich an seine Brust.

So vergingen ihr Minuten, schweigend und glücklich, und erst als sie sich wie von einem Traume, der sich doch nicht festhalten ließ, wieder aufrichtete, sagte sie: »Woran hast du gedacht? Aber du musst mir die Wahrheit sagen.«

»Woran ich dachte, Lene? Ja, fast schäm ich mich, es zu sagen. Ich hatte sentimentale Gedanken und dachte nach Haus hin an unsren Küchengarten in Schloss Zehden, der genau so daliegt wie dieser Dörrsche, dieselben Salatbeete mit Kirschbäumen dazwischen, und ich möchte wetten, auch ebenso viele Meisenkästen. Und auch die Spargelbeete liefen so hin. Und dazwischen ging ich mit meiner Mutter, und wenn sie guter Laune war, gab sie mir das Messer und erlaubte, dass ich ihr half. Aber weh mir, wenn ich ungeschickt war und die Spargelstange zu lang oder zu kurz abstach. Meine Mutter hatte eine rasche Hand.«

»Glaub’s. Und mir ist immer, als ob ich Furcht vor ihr haben müsste.«

»Furcht? Wie das? Warum, Lene?«

Lene lachte herzlich, und doch war eine Spur von Gezwungenheit darin. »Du musst nicht gleich denken, dass ich vorhabe, mich bei der Gnädigen melden zu lassen, und darfst es nicht anders nehmen, als ob ich gesagt hätte, ich fürchte mich vor der Kaiserin. Würdest du deshalb denken, dass ich zu Hofe wollte? Nein, ängstige dich deshalb nicht; ich verklage dich nicht.«

»Nein, das tust du nicht. Dazu bist du viel zu stolz und eigentlich eine kleine Demokratin und ringst dir jedes freundliche Wort nur so von der Seele. Hab ich recht? Aber wie’s auch sei, mache dir auf gut Glück hin ein Bild von meiner Mutter. Wie sieht sie aus?«

»Genau so wie du: groß und schlank und blauäugig und blond.«

»Arme Lene«, und das Lachen war diesmal auf seiner Seite, »da hast du fehlgeschossen. Meine Mutter ist eine kleine Frau mit lebhaften schwarzen Augen und einer großen Nase.«

»Glaub es nicht. Das ist nicht möglich.«

»Und ist doch so. Du musst nämlich bedenken, dass ich auch einen Vater habe. Aber das fällt euch nie ein. Ihr denkt immer, ihr seid die Hauptsache. Und nun sage mir noch etwas über den Charakter meiner Mutter. Aber rate besser.«

»Ich denke mir sie sehr besorgt um das Glück ihrer Kinder.«

»Getroffen …«

»… Und dass all ihre Kinder reiche, das heißt sehr reiche Partien machen. Und ich weiß auch, wen sie für dich in Bereitschaft hält.«

»Eine Unglückliche, die du …«

»Wie du mich verkennst. Glaube mir, dass ich dich habe, diese Stunde habe, das ist mein Glück. Was daraus wird, das kümmert mich nicht. Eines Tages bist du weggeflogen …«

Er schüttelte den Kopf.

»Schüttle nicht den Kopf; es ist so, wie ich sage. Du liebst mich und bist mir treu, wenigstens bin ich in meiner Liebe kindisch und eitel genug, es mir einzubilden. Aber wegfliegen wirst du, das seh ich klar und gewiss. Du wirst es müssen. Es heißt immer, die Liebe mache blind, aber sie macht auch hell und fernsichtig.«

»Ach, Lene, du weißt gar nicht, wie lieb ich dich habe.«

»Doch, ich weiß es. Und weiß auch, dass du deine Lene für was Besondres hältst und jeden Tag denkst: ›wenn sie doch eine Gräfin wäre.‹ Damit ist es nun aber zu spät, das bring ich nicht mehr zuwege. Du liebst mich und bist schwach. Daran ist nichts zu ändern. Alle schönen Männer sind schwach, und der Stärkere beherrscht sie … Und der Stärkere … ja, wer ist dieser Stärkere? Nun, entweder ist’s deine Mutter oder das Gerede der Menschen, oder die Verhältnisse. Oder vielleicht alles drei … Aber sieh nur.«

Und sie wies nach dem Zoologischen hinüber, aus dessen Baum- und Blätterdunkel eben eine Rakete zischend in die Luft fuhr und mit einem Puff in zahllose Schwärmer zerstob. Eine zweite folgte der ersten, und so ging es weiter, als ob sie sich jagen und überholen wollten, bis es mit einem Male vorbei war und die Gebüsche drüben in einem grünen und roten Lichte zu glühen anfingen. Ein paar Vögel in ihren Käfigen kreischten dazwischen, und dann fiel nach einer langen Pause die Musik wieder ein.

»Weißt du, Botho, wenn ich dich nun so nehmen und mit dir die Lästerallee drüben auf- und abschreiten könnte, so sicher wie hier zwischen den Buchsbaumrabatten, und könnte jedem sagen: ›Ja, wundert euch nur, er ist er und ich bin ich, und er liebt mich und ich liebe ihn‹, – ja, Botho, was glaubst du wohl, was ich dafür gäbe? Aber rate nicht, du rätst es doch nicht. Ihr kennt ja nur euch und euren Klub und euer Leben. Ach, das arme bisschen Leben.«

»Sprich nicht so, Lene.«

»Warum nicht? Man muss allem ehrlich ins Gesicht sehn und sich nichts weismachen lassen, und vor allem sich selber nichts weismachen. Aber es wird kalt, und drüben ist es auch vorbei. Das ist das Schlussstück, das sie jetzt spielen. Komm, wir wollen uns drin an den Herd setzen, das Feuer wird noch nicht aus sein, und die Alte ist längst zu Bett.«

So gingen sie, während sie sich leicht an seine Schulter lehnte, den Gartensteig wieder hinauf. Im »Schloss« brannte kein Licht mehr, und nur Sultan, den Kopf aus seiner Hütte vorstreckend, sah ihnen nach. Aber er rührte sich nicht und hatte bloß mürrische Gedanken.

SECHSTES KAPITEL

Es war die Woche danach, und die Kastanien hatten bereits abgeblüht; auch in der Bellevuestraße. Hier hatte Baron Botho von Rienäcker eine zwischen einem Front- und einem Gartenbalkon gelegene Parterrewohnung inne: Arbeitszimmer, Esszimmer, Schlafzimmer, die sich sämtlich durch eine geschmackvolle, seine Mittel ziemlich erheblich übersteigende Einrichtung auszeichneten. In dem Esszimmer befanden sich zwei Hertel’sche Stillleben und dazwischen eine Bärenhatz, wertvolle Kopie nach Rubens, während in dem Arbeitszimmer ein Andreas Achenbach’scher Seesturm, umgeben von einigen kleineren Bildern desselben Meisters, paradierte. Der Seesturm war ihm bei Gelegenheit einer Verlosung zugefallen, und an diesem schönen und wertvollen Besitze hatte er sich zum Kunstkenner und speziell zum Achenbach-Enthusiasten herangebildet. Er scherzte gern darüber und pflegte zu versichern, »dass ihm sein Lotterieglück, weil es ihn zu beständig neuen Ankäufen verführt habe, teuer zu stehen gekommen sei«, hinzusetzend, »dass es vielleicht mit jedem Glück dasselbe sei.«

Vor dem Sofa, dessen Plüsch mit einem persischen Teppich überdeckt war, stand auf einem Malachittischchen das Kaffeegeschirr, während auf dem Sofa selbst allerlei politische Zeitungen umherlagen, unter ihnen auch solche, deren Vorkommen an dieser Stelle ziemlich verwunderlich war und nur aus dem Baron Botho’schen Lieblingssatze, »Schnack gehe vor Politik« erklärt werden konnte. Geschichten, die den Stempel der Erfindung an der Stirn trugen, sogenannte »Perlen«, amüsierten ihn am meisten. Ein Kanarienvogel, dessen Bauer während der Frühstückszeit allemal offen stand, flog auch heute wieder auf Hand und Schulter seines ihn nur zu sehr verwöhnenden Herrn, der, anstatt ungeduldig zu werden, das Blatt jedes Mal beiseite tat, um den kleinen Liebling zu streicheln. Unterließ er es aber, so drängte sich das Tierchen an Hals und Bart des Lesenden und piepte so lange und eigensinnig, bis ihm der Wille getan war. »Alle Lieblinge sind gleich«, sagte Baron Rienäcker, »und fordern Gehorsam und Unterwerfung.«

In diesem Augenblicke ging die Korridorklingel, und der Diener trat ein, um die draußen abgegebenen Briefe zu bringen. Der eine, graues Kuvert in Quadrat, war offen und mit einer Dreipfennigmarke frankiert. »Hamburger Lotterielos oder neue Zigarren«, sagte Rienäcker und warf Kuvert und Inhalt, ohne weiter nachzusehen, beiseite. »Aber das hier … Ah, von Lene. Nun, den verspare ich mir bis zuletzt, wenn ihm dieser dritte, gesiegelte, nicht den Rang streitig macht. Osten’sches Wappen. Also von Onkel Kurt Anton; Poststempel ›Berlin‹, will sagen: schon da. Was wird er nur wollen? Zehn gegen eins, ich soll mit ihm frühstücken oder einen Sattel kaufen oder ihn zu Renz begleiten, vielleicht auch zu Kroll; am wahrscheinlichsten das eine tun und das andere nicht lassen.«

Und er schnitt das Kuvert, auf dem er auch Onkel Ostens Handschrift erkannt hatte, mit einem auf dem Fensterbrett liegenden Messerchen auf und nahm den Brief heraus. Der aber lautete:

»Hotel Brandenburg, Nummer 15. Mein lieber Botho. Vor einer Stunde bin ich hier, unter eurer alten Berliner Devise ›vor Taschendieben wird gewarnt‹, auf dem Ostbahnhofe glücklich eingetroffen und habe mich im Hotel Brandenburg einquartiert, will sagen an alter Stelle; was ein richtiger Konservativer ist, ist es auch in kleinen Dingen. Ich bleibe nur zwei Tage, denn eure Luft drückt mich. Es ist ein stickiges Nest. Alles andre mündlich. Ich erwarte Dich ein Uhr bei Hiller. Dann wollen wir einen Sattel kaufen. Und dann abends zu Renz. Sei pünktlich. Dein alter Onkel Kurt Anton.«