Irrungen, Wirrungen - Theodor Fontane - E-Book + Hörbuch

Irrungen, Wirrungen E-Book

Theodor Fontane

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Beschreibung

"Wie leicht ist doch predigen, und wie schwer ist danach handeln und tun." "Irrungen, Wirrungen" ist ein Roman von Theodor Fontane, der im Jahr 1888 erschien. Er behandelt die unstandesgemäße Liebe zwischen dem Offizier Botho von Rienäcker und der kleinbürgerlichen Schneiderin Magdalene. Beide können und wollen ihre Standesgrenzen nicht überwinden und heiraten schließlich einen anderen Partner, mit dem sie ein mäßig glückliches Leben bestreiten. Das Motiv der Standesschranken überwindenden Liebe war zu Zeiten Fontanes ein beliebtes Thema. Es spiegelt sich die Liebe im Zwiespalt zwischen der Freiheit des Individuums und den Zwängen einer Standesgesellschaft. Die Realität ließ diesen Beziehungen keine Chancen. Null Papier Verlag

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Theodor Fontane

Irrungen, Wirrungen

Roman

Theodor Fontane

Irrungen, Wirrungen

Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 2. Auflage, ISBN 978-3-954180-61-5

null-papier.de/148

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

In­halt

Theo­dor Fon­ta­ne – Le­ben und Werk

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Drei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Vier­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Fün­f­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Sechs­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

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Inhalt

„Wie leicht ist doch pre­di­gen, und wie schwer ist da­nach han­deln und tun.“

„Ir­run­gen, Wir­run­gen“ ist ein Ro­man von Theo­dor Fon­ta­ne, der im Jahr 1888 er­schi­en. Er be­han­delt die un­stan­des­ge­mä­ße Lie­be zwi­schen dem Of­fi­zier Bo­tho von Rie­nä­cker und der klein­bür­ger­li­chen Schnei­de­rin Mag­da­le­ne. Bei­de kön­nen und wol­len ihre Stan­des­gren­zen nicht über­win­den und hei­ra­ten schließ­lich einen an­de­ren Part­ner, mit dem sie ein mä­ßig glück­li­ches Le­ben be­strei­ten.

Das Mo­tiv der Stan­des­schran­ken über­win­den­den Lie­be war zu Zei­ten Fon­ta­nes ein be­lieb­tes The­ma. Es spie­gelt sich die Lie­be im Zwie­spalt zwi­schen der Frei­heit des In­di­vi­du­ums und den Zwän­gen ei­ner Stan­des­ge­sell­schaft. Die Rea­li­tät ließ die­sen Be­zie­hun­gen kei­ne Chan­cen.

Theodor Fontane – Leben und Werk

Als dem Ehe­paar Louis Hen­ry und Emi­lie Fon­ta­ne am 30. De­zem­ber 1819 der Sohn Theo­dor ge­bo­ren wird, ruft das preu­ßi­sche Zeit­ge­sche­hen nur ganz lei­se nach na­tio­nal-de­mo­kra­ti­schen Au­to­ren.

Noch über je­den Zwei­fel er­ha­ben ist die Mon­ar­chie, der Adel be­spie­gelt sich selbst, das Bür­ger­tum strebt nach hö­he­rem ge­sell­schaft­li­chem An­se­hen. Ha­ben nicht Li­te­ra­ten das Odeur des Frei­geis­ti­gen, und sind sie nicht zu un­be­stän­dig, um als re­spek­ta­bel zu gel­ten?

Aus gu­tem Hau­se

Die Mut­ter, stan­des­be­wuss­te Toch­ter ei­nes Sei­den­händ­lers, des­sen Mä­ßig­keit sie rühmt, ist oft in Sor­ge. Va­ter Fon­ta­ne ver­sprach, eine gute Par­tie zu wer­den, im­mer­hin hat Preu­ßen-Kö­ni­gin Lui­se den Groß­va­ter Fon­ta­ne zum Ka­bi­netts­se­kre­tär be­stellt und ihn an­schlie­ßend zum Kas­tel­lan von Schloss Schön­hau­sen er­nannt. Über die zwei­fel­haf­te Eig­nung des Ma­lers zum Ka­bi­netts­se­kre­tär – Scha­dow be­schei­nigt ihm, über gute Kennt­nis der fran­zö­si­schen Spra­che zu ver­fü­gen – spricht man nicht, son­dern freut sich sei­nes ge­sell­schaft­li­chen An­se­hens. Dann gibt es da noch einen ver­wand­ten Rit­ter­gut­be­sit­zer, des­sen lack­schwar­ze Chai­se, aus­ge­stat­tet mit brei­ten ro­ten Samt­pols­tern, aus­ge­spro­chen re­prä­sen­ta­tiv wirkt, wenn Fa­mi­lie Fon­ta­ne zur Land­par­tie ab­ge­holt wird.

Glän­zend könn­te Emi­lie das al­les fin­den, wäre ihr Ge­mahl nicht arg dem Spiel zu­ge­tan. Die gute Par­tie of­fen­bart mensch­li­che Schwä­che, als Louis Hen­ry, um Spiel­schul­den zu be­glei­chen, sei­ne Apo­the­ke in Neu­rup­pin auf­gibt und sich in Swi­ne­mün­de mit ei­nem klei­ne­ren Ge­schäft eta­blie­ren muss.

Sohn Theo­dor ist zu die­sem Zeit­punkt sie­ben Jah­re alt. Als kran­ker, alt ge­wor­de­ner Mann wird er sich, in „Mei­ne Kin­der­jah­re“, rück­bli­ckend mit sei­nen ge­gen­sätz­li­chen El­tern be­fas­sen. Zu­nächst aber ver­lässt er Neu­rup­pin, kehrt je­doch als Gym­na­si­ast für ein Jahr in die Stadt zu­rück, um an­schlie­ßend eine Ge­wer­be­schu­le in Ber­lin zu be­su­chen. Als ihm auch das nicht zu­sagt, tritt er 1836 in vä­ter­li­che Fuß­stap­fen, in­dem er eine Aus­bil­dung zum Apo­the­ker ab­sol­viert. Nun dau­ert es nur noch drei Jah­re, bis er sein ers­tes li­te­ra­ri­sches Werk vollen­det, die No­vel­le „Ge­schwis­ter­lie­be“. Nach­dem er sei­ne Leh­re ab­ge­schlos­sen hat, ver­schlägt es ihn 1840 in die Nähe Mag­de­burgs, wo er sei­ne ers­te An­stel­lung als Apo­the­ker­ge­hil­fe an­tritt.

Bei­de Wege, so­wohl den des Apo­the­kers als auch den des Li­te­ra­ten, setzt Fon­ta­ne vor­erst kon­se­quent fort. In den nächs­ten Jah­ren ar­bei­tet er in Leip­zig und Dres­den, tritt li­te­ra­ri­schen Ve­rei­ni­gun­gen bei, be­vor er in der Apo­the­ke des Va­ters tä­tig wird.

Der li­te­ra­ri­sche Bür­ger

Sei­ne Lehr- und Wan­der­jah­re be­en­det Fon­ta­ne 1845 in Ber­lin, wo er sich po­li­ti­siert, streit­ba­re Schrif­ten ver­fasst und 1848 auf den Bar­ri­ka­den der März-Re­vo­lu­tio­näre zu fin­den ist. Nach­dem er 1850 ge­hei­ra­tet hat, gibt er den Apo­the­ker­be­ruf voll­stän­dig auf, um als Schrift­stel­ler zu le­ben.

Ab dem Jahr 1852 ar­bei­tet er für die Neue Preu­ßi­sche Kreuz-Zei­tung. Dort er­schei­nen Fon­ta­nes kul­tu­rel­le Be­rich­te aus Eng­land, wo er bis 1859 lebt. Nach dem Re­gie­rungs­wech­sel in Preu­ßen kehrt der Au­tor nach Ber­lin zu­rück, auf eine all­ge­mei­ne Li­be­ra­li­sie­rung ver­trau­end. Da er hier zu­nächst kei­ne re­dak­tio­nel­le An­stel­lung fin­det, kommt es ihm ge­le­gen, dass Rei­se­li­te­ra­tur sich au­ßer­or­dent­lich gut ver­kauft. Er ver­fasst zwei Schrif­ten über Eng­land und greift eine Idee auf, die ihm be­reits in Schott­land ge­kom­men war, dass näm­lich das Bran­den­bur­gi­sche ge­nug Schön­heit zu bie­ten hät­te, auf die nur auf­merk­sam ge­macht wer­den müs­se.

Der Som­mer 1859 ist die Ge­burts­stun­de der „Wan­de­run­gen“. Fon­ta­ne streift durch die Mark, be­gin­nend mit Neu­rup­pin und dem Rup­pi­ner Land. Er sich­tet Archi­ve, spricht mit Ein­woh­nern und lässt sich durch land­schaft­li­che Rei­ze an­rüh­ren. Zu­nächst wer­den ein­zel­ne Ar­ti­kel ver­öf­fent­licht, bis 1861 das Büch­lein „Die Graf­schaft Rup­pin“ den Auf­takt der Te­tra­lo­gie „Wan­de­run­gen durch die Mark Bran­den­burg“ bil­det.

Als er 1889 „Die fünf Sch­lös­ser“ fer­tig­stellt, sieht er den Band ei­gent­lich nicht für die „Wan­de­run­gen“ vor, weil das Buch vor al­lem his­to­ri­schen Re­cher­chen ent­springt. Post­hum wird es vom Ver­lag je­doch in der­sel­ben Rei­he her­aus­ge­ge­ben.

Sys­tem­kri­ti­sches pu­bli­ziert Fon­ta­ne seit sei­nem En­ga­ge­ment bei der na­tio­na­lis­tisch-re­ak­tio­nären Neu­en Preu­ßi­schen Kreuz-Zei­tung nicht mehr. Bis 1870 ar­bei­tet er für die­ses Blatt, wo­mit er zwar den Le­bens­un­ter­halt sei­ner Fa­mi­lie si­chert, sich aber auch in den öf­fent­li­chen und in den pri­va­ten Men­schen spal­tet. Bei­spiels­wei­se bil­det der Ber­li­ner An­ti­se­mi­tis­muss­treit eine his­to­ri­sche Zä­sur im Kai­ser­reich, zu der Fon­ta­ne erst Stel­lung be­zieht, als sich der ge­sell­schafts­fä­hig ge­wor­de­ne An­ti­se­mi­tis­mus in neu­en Ge­set­zen ma­ni­fes­tiert. Per­sön­lich und ge­schäft­lich ist er ei­ni­gen Ju­den eng ver­bun­den; die oh­ne­hin spät ver­fass­ten Auf­sät­ze aber blei­ben un­voll­en­det in der Schub­la­de.

Ver­mut­lich sieht sich Fon­ta­ne Sach­zwän­gen aus­ge­lie­fert, denn be­reits 1851 wird sein ers­tes Kind ge­bo­ren, dem drei wei­te­re fol­gen wer­den. Bis auf den ers­ten Sohn ster­ben die Kin­der kurz nach der Ge­burt. In den Jah­ren 1856, 1860 und 1864 wer­den wei­te­re Kin­der ge­bo­ren, wes­halb der Au­tor eine sechs­köp­fi­ge Fa­mi­lie zu er­näh­ren hat.

Im Auf­trag der Neu­en Preu­ßi­schen Kreuz-Zei­tung be­gibt sich Fon­ta­ne 1864 nach Ko­pen­ha­gen, um als Kor­re­spon­dent über den Deutsch-Dä­ni­schen Krieg zu be­rich­ten.

Ein Aben­teu­er steht ihm 1870 be­vor: Ei­gent­lich schreibt er mitt­ler­wei­le als Thea­ter­kri­ti­ker für die Vos­si­sche Zei­tung, fährt je­doch we­gen des Deutsch-Fran­zö­si­schen Krie­ges nach Frank­reich. Dort wird er als Spi­on ver­haf­tet und kommt nur durch In­ter­ven­ti­on Bis­marcks frei.

Nach aus­ge­dehn­ten Rei­sen in­ner­halb Eu­ro­pas, un­ter­nom­men in den Jah­ren 1874 bis 1876, be­schließt er, sei­ne jour­na­lis­ti­sche Tä­tig­keit voll­stän­dig ein­zu­stel­len und nur noch als frei­er Schrift­stel­ler zu ar­bei­ten.

Dies ist der Auf­takt zu Fon­ta­nes epi­schem Spät­werk. Nach dem ers­ten Ro­man, dem 1878 ver­öf­fent­lich­ten „Der Sturm“, ver­fasst der Au­tor zahl­rei­che No­vel­len und Ro­ma­ne, die in der heu­ti­gen Re­zep­ti­on sei­ne ei­gent­li­che Be­deu­tung aus­ma­chen.

Theo­dor Fon­ta­ne stirbt am 20. Sep­tem­ber 1898 in Ber­lin. Die Grab­stät­te der Ehe­leu­te Fon­ta­ne be­fin­det sich auf dem Fried­hof II der Fran­zö­si­schen Ge­mein­de, in Ber­lin-Mit­te.

Der mil­de Beo­b­ach­ter

Als all­wis­sen­der Er­zäh­ler führt der ge­reif­te Ro­man­cier den Le­ser durch Un­ter­hal­tun­gen bei Tisch oder er­läu­tert Mo­ti­va­tio­nen für Ehe­brü­che und kri­mi­nel­le Hand­lun­gen. Da­bei be­ob­ach­tet er sehr ge­nau und er­laubt dem Pub­li­kum, die Pro­tago­nis­ten zu durch­schau­en. Fon­ta­ne übt, vor dem Hin­ter­grund sei­ner ei­ge­nen Le­bens­an­schau­ung, ur­tei­len­de Nach­sicht.

Die­se Heran­ge­hens­wei­se ist be­reits in den „Wan­de­run­gen durch die Mark Bran­den­burg“ wahr­zu­neh­men. Berüh­rungs­ängs­te ge­gen­über an­de­ren Stän­den hat Fon­ta­ne nicht, aber er löst sich auch nie­mals vom bür­ger­li­chen Wer­te­sys­tem, an­ders als sein Brief­part­ner Theo­dor Storm. Ob­wohl sich Fon­ta­ne ge­sell­schaft­li­cher Fra­gen durch­aus an­nimmt, sie iro­nisch be­leuch­tet und bis ins De­tail psy­cho­lo­gisch tref­fend schil­dert, wo­mit er Kau­sa­li­tä­ten nach­voll­zieh­bar er­klärt, bleibt der Ein­druck ei­ner un­über­wind­li­chen Di­stanz.

Der bür­ger­li­che be­zie­hungs­wei­se ro­man­ti­sche Rea­lis­mus neigt dazu, Kala­mi­tä­ten zu ver­klä­ren oder zu igno­rie­ren. Storm blen­det sie oft aus, be­nennt je­doch hin und wie­der er­kenn­ba­res Elend.

Bei Fon­ta­ne gibt es das nicht: In al­lem ist ent­we­der „klei­nes Glück“ oder großes – rein psy­cho­lo­gisch be­ding­tes – Dra­ma. Er ana­ly­siert per­sön­li­ches Schei­tern vor dem Hin­ter­grund ge­sell­schaft­li­cher Maß­stä­be, wie in „Ef­fi Briest“, ohne Ge­sell­schaft und In­di­vi­du­um tat­säch­lich zu ver­knüp­fen. Wohl mag er wahr­neh­men, dass Kon­ven­ti­on in ur­säch­li­chem Zu­sam­men­hang mit in­di­vi­du­el­lem Ver­sa­gen steht. Doch letzt­end­lich liegt das Ver­schul­den stets bei der Ein­zel­per­son, die in ih­rem So-Sein dem Le­ben nicht ge­wach­sen ist: Der Mensch geht an sich selbst zu­grun­de; der gül­ti­ge Ver­hal­tens­ko­dex bie­tet le­dig­lich den Rah­men ei­nes sol­chen Ge­sche­hens.

Erstes Kapitel

An dem Schnitt­punk­te von Kur­fürs­ten­damm und Kur­fürs­ten­stra­ße, schräg ge­gen­über dem »Zoo­lo­gi­schen«, be­fand sich in der Mit­te der sieb­zi­ger Jah­re noch eine große, feld­ein­wärts sich er­stre­cken­de Gärt­ne­rei, de­ren klei­nes, drei­fenst­ri­ges, in ei­nem Vor­gärt­chen um etwa hun­dert Schrit­te zu­rück­ge­le­ge­nes Wohn­haus, trotz al­ler Klein­heit und Zu­rück­ge­zo­gen­heit, von der vor­über­ge­hen­den Stra­ße her sehr wohl er­kannt wer­den konn­te. Was aber sonst noch zu dem Ge­samt­ge­we­se der Gärt­ne­rei ge­hör­te, ja die recht ei­gent­li­che Haupt­sa­che der­sel­ben aus­mach­te, war durch eben dies klei­ne Wohn­haus wie durch eine Ku­lis­se ver­steckt, und nur ein rot und grün ge­stri­che­nes Holz­türm­chen mit ei­nem halb weg­ge­bro­che­nen Zif­fer­blatt un­ter der Turm­spit­ze (von Uhr selbst kei­ne Rede) ließ ver­mu­ten, dass hin­ter die­ser Ku­lis­se noch et­was an­de­res ver­bor­gen sein müs­se, wel­che Ver­mu­tung denn auch in ei­ner von Zeit zu Zeit auf­stei­gen­den, das Türm­chen um­schwär­me­n­den Tau­ben­schar und mehr noch in ei­nem ge­le­gent­li­chen Hun­de­ge­blaff ihre Be­stä­ti­gung fand. Wo die­ser Hund ei­gent­lich steck­te, das ent­zog sich frei­lich der Wahr­neh­mung, trotz­dem die hart an der lin­ken Ecke ge­le­ge­ne, von früh bis spät auf­ste­hen­de Haus­tür einen Blick auf ein Stück­chen Ho­fraum ge­stat­te­te. Über­haupt schi­en sich nichts mit Ab­sicht ver­ber­gen zu wol­len, und doch muss­te je­der, der zu Be­ginn un­se­rer Er­zäh­lung des We­ges kam, sich an dem An­blick des drei­fenst­ri­gen Häu­schens und ei­ni­ger im Vor­gar­ten ste­hen­den Obst­bäu­me ge­nü­gen las­sen.

*

Es war die Wo­che nach Pfings­ten, die Zeit der lan­gen Tage, de­ren blen­den­des Licht mit­un­ter kein Ende neh­men woll­te.

Heut aber stand die Son­ne schon hin­ter dem Wil­mers­dor­fer Kirch­turm, und statt der Strah­len, die sie den gan­zen Tag über her­ab­ge­schickt hat­te, la­gen be­reits abend­li­che Schat­ten in dem Vor­gar­ten, des­sen halb mär­chen­haf­te Stil­le nur noch von der Stil­le des von der al­ten Frau Nimptsch und ih­rer Pfle­ge­toch­ter Lene miet­wei­se be­wohn­ten Häu­schens über­trof­fen wur­de. Frau Nimptsch selbst aber saß wie ge­wöhn­lich an dem großen, kaum fuß­ho­hen Herd ih­res die gan­ze Haus­front ein­neh­men­den Vor­der­zim­mers und sah, hockend und vor­ge­beugt, auf einen ru­ßi­gen al­ten Tee­kes­sel, des­sen De­ckel, trotz­dem der Wra­sen1 auch vorn aus der Tül­le quoll, be­stän­dig hin und her klap­per­te. Da­bei hielt die Alte bei­de Hän­de ge­gen die Glut und war so ver­sun­ken in ihre Be­trach­tun­gen und Träu­me­rei­en, dass sie nicht hör­te, wie die nach dem Flur hin­aus­füh­ren­de Tür auf­ging und eine ro­bus­te Frau­ens­per­son ziem­lich ge­räusch­voll ein­trat. Erst als die­se letz­tre sich ge­räus­pert und ihre Freun­din und Nach­ba­rin, eben uns­re Frau Nimptsch, mit ei­ner ge­wis­sen Herz­lich­keit bei Na­men ge­nannt hat­te, wand­te sich die­se nach rück­wärts und sag­te nun auch ih­rer­seits freund­lich und mit ei­nem An­flu­ge von Schel­me­rei: »Na, das is recht, lie­be Frau Dörr, dass Sie mal wie­der rü­ber­kom­men. Und noch dazu von ’s ›Schloss‹. Denn ein Schloss is es und bleibt es. Hat ja ’nen Turm. Un nu set­zen Sie sich… Ihren lie­ben Mann hab ich eben weg­ge­hen se­hen. Und muss auch. Is ja heu­te sein Ke­ge­la­bend.«

Die so freund­lich als Frau Dörr Be­grüß­te war nicht bloß eine ro­bus­te, son­dern vor al­lem auch eine sehr statt­lich aus­se­hen­de Frau, die, ne­ben dem Ein­druck des Gü­ti­gen und Zu­ver­läs­si­gen, zu­gleich den ei­ner be­son­de­ren Be­schränkt­heit mach­te. Die Nimptsch in­des­sen nahm sicht­lich kei­nen An­stoß dar­an und wie­der­hol­te nur: »Ja, sein Ke­ge­la­bend. Aber, was ich sa­gen woll­te, lie­be Frau Dörr, mit Dör­ren sei­nen Hut, das geht nicht mehr. Der is ja schon fuchs­blank und ei­gent­lich schimp­fier­lich. Sie müs­sen ihn ihm weg­neh­men und einen an­de­ren hin­stel­len. Vi­el­leicht merkt er es nich… Und nu rücken Sie ran hier, lie­be Frau Dörr, oder lie­ber da drü­ben auf die Hut­sche… Lene, na Sie wis­sen ja, is aus­ge­flo­gen un hat mich mal wie­der in Stich ge­las­sen.«

»Er war woll hier?«

»Frei­lich war er. Und bei­de sind nu ein biss­chen auf Wil­mers­dorf zu; den Fuß­weg lang, da kommt kei­ner. Aber je­den Au­gen­blick kön­nen sie wie­der hier sein.«

»Na, da will ich doch lie­ber gehn.«

»O nich doch, lie­be Frau Dörr. Er bleibt ja nich. Und wenn er auch blie­be, Sie wis­sen ja, der is nicht so.«

»Weiß, weiß. Und wie steht es denn?«

»Ja, wie soll es stehn? Ich glau­be, sie denkt so was, wenn sie’s auch nich wahr­ha­ben will, und bil­det sich was ein.«

»O du mei­ne Güte«, sag­te Frau Dörr, wäh­rend sie, statt der ihr an­ge­bo­te­nen Fuß­bank, einen et­was hö­he­ren Sche­mel her­an­schob: »O du mei­ne Güte, denn is es schlimm. Im­mer wenn das Ein­bil­den an­fängt, fängt auch das Schlim­me an. Das is wie Amen in der Kir­che. Se­hen Sie, lie­be Frau Nimptsch, mit mir war es ja ei­gent­lich eben­so, man bloß nichts von Ein­bil­dung. Und bloß dar­um war es auch wie­der ganz an­ders.«

Frau Nimptsch ver­stand au­gen­schein­lich nicht recht, was die Dörr mein­te, wes­halb die­se fort­fuhr: »Und weil ich mir nie was in ’n Kopp setz­te, dar­um ging es im­mer ganz glatt und gut und ich habe nu Dör­ren. Na, viel is es nich, aber es is doch was An­stän­di­ges, und man kann sich über­all se­hen las­sen. Und drum bin ich auch in die Kir­che mit ihm ge­fah­ren und nich bloß Stan­des­amt. Bei Stan­des­amt re­den sie im­mer noch.« Die Nimptsch nick­te.

Frau Dörr aber wie­der­hol­te: »Ja, in die Kir­che, in die Mat­thäi­kir­che un bei Büch­seln. Aber was ich ei­gent­lich sa­gen woll­te, se­hen Sie, lie­be Frau Nimptsch, ich war ja woll ei­gent­lich grö­ßer und an­zieh­li­cher als die Lene, un wenn ich auch nicht hüb­scher war (denn so was kann man nie recht wis­sen, un die Ge­schmä­cker sind so ver­schie­den), so war ich doch so mehr im Vol­len, un das mö­gen man­che. Ja, so­viel is rich­tig. Aber wenn ich auch so­zu­sa­gen fes­ter war un mehr im Ge­wicht fiel un so was hat­te, nu ja, ich hat­te so was, so war ich doch im­mer man ganz ein­fach un bei­nah sim­pel, un was nu er war, mein Graf, mit sei­ne fuff­zig auf ’m Pu­ckel, na, der war auch man ganz sim­pel und bloß im­mer kreuz­fi­del un un­an­stän­dig. Und da rei­chen ja kei­ne hun­dert Mal, dass ich ihm ge­sagt habe: ›Ne, ne, Graf, das geht nicht, so was ver­bitt ich mir…‹ Und im­mer die Al­ten sind so. Und ich sage bloß, lie­be Frau Nimptsch, Sie kön­nen sich so was gar nich den­ken. Gräss­lich war es. Und wenn ich mir nu der Lene ih­ren Baron an­se­he, denn schämt es mir im­mer noch, wenn ich den­ke, wie mei­ner war. Und nu gar erst die Lene sel­ber. Jott, ein En­gel is sie woll gra­de auch nich, aber prop­per und flei­ßig un kann al­les und is für Ord­nung un fürs Re­el­le. Und se­hen Sie, lie­be Frau Nimptsch, das is gra­de das Trau­ri­ge. Was da so rum­fliegt, heu­te hier un mor­gen da, na, das kommt nicht um, das fällt wie die Katz im­mer wie­der auf die vier Bei­ne, aber so’n gu­tes Kind, das al­les ernst­haft nimmt und al­les aus Lie­be tut, ja, das ist schlim­m… Oder viel­leicht is es auch nich so schlimm; Sie ha­ben sie ja bloß an­ge­nom­men un is nich Ihr ei­gen Fleisch und Blut, un viel­leicht is es eine Prin­zes­sin oder so was.«

Frau Nimptsch schüt­tel­te bei die­ser Ver­mu­tung den Kopf und schi­en ant­wor­ten zu wol­len. Aber die Dörr war schon auf­ge­stan­den und sag­te, wäh­rend sie den Gar­ten­steig hin­un­ter­sah: »Gott, da kom­men sie. Und bloß in Zi­vil, un Rock un Hose ganz egal. Aber man sieht es doch! Und nu sagt er ihr was ins Ohr, und sie lacht so vor sich hin. Aber ganz rot is sie ge­wor­den… Und nu geht er. Und nu… wahr­haf­tig, ich glau­be, er dreht noch mal um. Nei, nei, er grüßt bloß noch mal, und sie wirft ihm Kuss­fin­ger zu… Ja, das glaub ich; so was lass ich mir ge­fal­len… Nei, so war mei­ner nich.«

Frau Dörr sprach noch wei­ter, bis Lene kam und die bei­den Frau­en be­grüß­te.

Dampf, dich­ter Dunst  <<<

Zweites Kapitel

An­de­ren Vor­mit­tags schi­en die schon ziem­lich hoch ste­hen­de Son­ne auf den Hof der Dörr­schen Gärt­ne­rei und be­leuch­te­te hier eine Welt von Bau­lich­kei­ten, un­ter de­nen auch das »Schloss« war, von dem Frau Nimptsch am Abend vor­her mit ei­nem An­flu­ge von Spott und Schel­me­rei ge­spro­chen hat­te. Ja, dies »Schloss«! In der Däm­me­rung hätt es bei sei­nen großen Um­ris­sen wirk­lich für et­was Der­ar­ti­ges gel­ten kön­nen, heut aber, in un­er­bitt­lich hel­ler Be­leuch­tung da­lie­gend, sah man nur zu deut­lich, dass der gan­ze, bis hoch hin­auf mit go­ti­schen Fens­tern be­mal­te Bau nichts als ein jäm­mer­li­cher Holz­kas­ten war, in des­sen bei­de Gie­bel­wän­de man ein Stück Fach­werk mit Stroh- und Lehm­fül­lung ein­ge­setzt hat­te, wel­chem ver­gleichs­wei­se so­li­den Ein­sat­ze zwei Gie­bel­stu­ben ent­spra­chen. Al­les an­de­re war blo­ße Stein­die­le, von der aus ein Ge­wirr von Lei­tern zu­nächst auf einen Bo­den und von die­sem hö­her hin­auf in das als Tau­ben­haus die­nen­de Türm­chen führ­te. Frü­her, in vor­dörr­scher Zeit, hat­te der gan­ze rie­si­ge Holz­kas­ten als blo­ße Re­mi­se zur Auf­be­wah­rung von Boh­nen­stan­gen und Gieß­kan­nen, viel­leicht auch als Kar­tof­fel­kel­ler ge­dient, seit aber, vor so­und­so viel Jah­ren, die Gärt­ne­rei von ih­rem ge­gen­wär­ti­gen Be­sit­zer ge­kauft wor den war, war das ei­gent­li­che Wohn­haus an Frau Nimptsch ver­mie­tet und der go­tisch be­mal­te Kas­ten, un­ter Ein­fü­gung der schon er­wähn­ten zwei Gie­bel­stu­ben, zum Auf­ent­halt für den da­mals ver­wit­we­ten Dörr her­ge­rich­tet wor­den, eine höchst pri­mi­ti­ve Her­rich­tung, an der sei­ne bald da­nach er­fol­gen­de Wie­der­ver­hei­ra­tung nichts ge­än­dert hat­te. Som­mers war die­se bei­nah fens­ter­lo­se Re­mi­se mit ih­ren Stein­flie­sen und ih­rer Küh­le kein üb­ler Auf­ent­halt, um die Win­ter­zeit aber hät­te Dörr und Frau, samt ei­nem aus ers­ter Ehe stam­men­den zwan­zig­jäh­ri­gen, et­was geis­tes­schwa­chen Sohn, ein­fach er­frie­ren müs­sen, wenn nicht die bei­den großen, an der an­de­ren Sei­te des Ho­fes ge­le­ge­nen Treib­häu­ser ge­we­sen wä­ren. In die­sen ver­brach­ten alle drei Dörrs die Zeit von No­vem­ber bis März aus­schließ­lich, aber auch in der bes­se­ren und so­gar in der hei­ßen Jah­res­zeit spiel­te sich das Le­ben der Fa­mi­lie, wenn man nicht ge­ra­de vor der Son­ne Zuf­lucht such­te, zu großem Tei­le vor und in die­sen Treib­häu­sern ab, weil hier al­les am be­quems­ten lag: hier stan­den die Trepp­chen und Estra­den, auf de­nen die je­den Mor­gen aus den Treib­häu­sern her­vor­ge­hol­ten Blu­men ihre fri­sche Luft schöp­fen durf­ten, hier war der Stall mit Kuh und Zie­ge, hier die Hüt­te mit dem Zieh­hund, und von hier aus er­streck­te sich auch das wohl fünf­zig Schrit­te lan­ge Dop­pel­mist­beet, mit ei­nem schma­len Gan­ge da­zwi­schen, bis an den großen, wei­ter zu­rück­ge­le­ge­nen Ge­mü­se­gar­ten. In die­sem sah es nicht son­der­lich or­dent­lich aus, ein­mal weil Dörr kei­nen Sinn für Ord­nung, au­ßer­dem aber eine so große Hüh­ner­pas­si­on hat­te, dass er die­sen sei­nen Lieb­lin­gen, ohne Rück­sicht auf den Scha­den, den sie stif­te­ten, über­all um­her­zu­pi­cken ge­stat­te­te. Groß frei­lich war die­ser Scha­den nie, da sei­ner Gärt­ne­rei, die Spar­gel­an­la­gen ab­ge­rech­net, al­les Fei­ne­re fehl­te. Dörr hielt das Ge­wöhn­lichs­te zu­gleich für das Vor­teil­haf­tes­te, zog des­halb Ma­jo­ran und an­de­re Wurst­kräu­ter, be­son­ders aber Borré, hin­sicht­lich des­sen er der An­sicht leb­te, dass der rich­ti­ge Ber­li­ner über­haupt nur drei Din­ge brau­che: eine Wei­ße, einen Gil­ka und Borré. »Bei Borré«, schloss er dann re­gel­mä­ßig, »ist noch kei­ner zu kurz ge­kom­men.« Er war über­haupt ein Ori­gi­nal, von ganz selbst­stän­di­gen An­schau­un­gen und ei­ner ent­schie­de­nen Gleich­gül­tig­keit ge­gen das, was über ihn ge­sagt wur­de. Dem ent­sprach denn auch sei­ne zwei­te Hei­rat, eine Nei­gungs­hei­rat, bei der die Vor­stel­lung von ei­ner be­sond­ren Schön­heit sei­ner Frau mit­ge­wirkt und ihr frü­he­res Ver­hält­nis zu dem Gra­fen, statt ihr schäd­lich zu sein, ge­rad um­ge­kehrt den Aus­schlag zum Gu­ten hin ge­ge­ben und ein­fach den Voll­be­weis ih­rer Un­wi­der­steh­lich­keit er­bracht hat­te. Wenn sich da­bei mit gu­tem Grun­de von Über­schät­zung spre­chen ließ, so doch frei­lich nicht von sei­ten Dörrs in Per­son, für den die Na­tur, so­weit Äu­ßer­lich­kei­ten in Be­tracht ka­men, ganz un­ge­wöhn­lich we­nig ge­tan hat­te. Ma­ger, mit­tel­groß und mit fünf grau­en Haar­sträh­nen über Kopf und Stirn, wär er eine voll­kom­me­ne Tri­via­ler­schei­nung ge­we­sen, wenn ihm nicht eine zwi­schen Au­gen­win­kel und lin­ker Schlä­fe sit­zen­de brau­ne Po­cke was Apar­tes ge­ge­ben hät­te. Wes­halb denn auch sei­ne Frau nicht mit Un­recht und in der ihr ei­ge­nen un­ge­nier­ten Wei­se zu sa­gen pfleg­te: »Schrump­lig is er man, aber von links her hat er so was Bors­dorf­ri­ges.«

Da­mit war er gut ge­trof­fen und hät­te nach die­sem Si­gna­le­ment1 über­all er­kannt wer­den müs­sen, wenn er nicht tag­aus, tagein eine mit ei­nem großen Schirm aus­ge­stat­te­te Lein­wand­müt­ze ge­tra­gen hät­te, die, tief ins Ge­sicht ge­zo­gen, so­wohl das All­täg­li­che wie das Be­son­de­re sei­ner Phy­sio­gno­mie2 ver­barg.

Und so, die Müt­ze samt Schirm ins Ge­sicht ge­zo­gen, stand er auch heu­te wie­der, am Tage nach dem zwi­schen Frau Dörr und Frau Nimptsch ge­führ­ten Zwie­ge­sprä­che, vor ei­ner an das vor­de­re Treib­haus sich an­leh­nen­den Blu­men-Estra­de, ver­schie­de­ne Gold­lack- und Gera­ni­um­töp­fe bei­sei­te schie­bend, die mor­gen mit auf den Wo­chen­markt soll­ten. Es wa­ren sämt­lich sol­che, die nicht im Topf ge­zo­gen, son­dern nur ein­ge­setzt wa­ren, und mit ei­ner be­son­de­ren Ge­nug­tu­ung und Freu­de ließ er sie vor sich auf­mar­schie­ren, schon im vor­aus über die »Ma­dams« la­chend, die mor­gen kom­men, ihre her­kömm­li­chen fünf Pfen­nig ab­han­deln und schließ­lich doch die Be­tro­ge­nen sein wür­den. Es zähl­te das zu sei­nen größ­ten Ver­gnü­gun­gen und war ei­gent­lich das Haupt­geis­tes­le­ben, das er führ­te. »Das biss­chen Ge­schimp­fe… Wenn ich’s nur mal mit an­hö­ren könn­te.«

So sprach er noch vor sich hin, als er, vom Gar­ten her, das Ge­bell ei­nes klei­nen Kö­ters und da­zwi­schen das ver­zwei­fel­te Krä­hen ei­nes Hahns hör­te, ja, wenn nicht al­les täusch­te, sei­nes Hahns, sei­nes Lieb­lings mit dem Sil­ber­ge­fie­der. Und sein Auge nach dem Gar­ten hin rich­tend, sah er in der Tat, dass ein Hau­fen Hüh­ner aus­ein­an­der­ges­to­ben, der Hahn aber auf einen Birn­baum ge­flo­gen war, von dem aus er ge­gen den un­ten kläf­fen­den Hund un­aus­ge­setzt um Hil­fe rief.

»Him­mel­don­ner­wet­ter«, schrie Dörr in Wut, »das is wie­der Boll­mann sei­ner… Wie­der durch den Zaun… I, da soll doch…« Und den Gera­ni­um­topf, den er eben mus­ter­te, rasch aus der Hand set­zend, lief er auf die Hun­de­hüt­te zu, griff nach dem Ket­ten­zwi­ckel und mach­te den großen Zieh­hund los, der nun so­fort auch wie ein Ra­sen­der auf den Gar­ten zu­schoss. Eh die­ser je­doch den Birn­baum er­rei­chen konn­te, gab »Boll­mann sei­ner« be­reits Fer­sen­geld und ver­schwand un­ter dem Zaun weg ins Freie – der fuchs­gel­be Zieh­hund zu­nächst noch in großen Sät­zen nach. Aber das Zaun­loch, das für den Af­fen­pin­scher grad aus­ge­reicht hat­te, ver­wei­ger­te ihm den Durch­gang und zwang ihn, von sei­ner Ver­fol­gung Ab­stand zu neh­men.

Nicht bes­ser er­ging es Dörr sel­ber, der in­zwi­schen mit ei­ner Har­ke her­an­ge­kom­men war und mit sei­nem Hun­de Bli­cke wech­sel­te. »Ja, Sul­tan, dies­mal war es nichts.« Und da­bei trot­te­te Sul­tan wie­der auf sei­ne Hüt­te zu, lang­sam und ver­le­gen, wie wenn er einen klei­nen Vor­wurf her­aus­ge­hört hät­te. Dörr selbst aber sah dem drau­ßen in ei­ner Acker­fur­che hin­ja­gen­den Af­fen­pin­scher nach und sag­te nach ei­ner Wei­le: »Hol mich der Deu­bel, wenn ich mir nich ’ne Wind­büch­se3 an­schaf­fe, bei Meh­les oder sonst wo. Un denn pust ich das Biest so stil­le weg, und kräht nich Huhn, nich Hahn da­nach. Nich mal mei­ner.«

Von die­ser ihm von sei­ten Dörrs zu­ge­mu­te­ten Ruhe schi­en der letz­te­re je­doch vor­läu­fig nichts wis­sen zu wol­len, mach­te viel­mehr von sei­ner Stim­me nach wie vor den aus­gie­bigs­ten Ge­brauch. Und da­bei warf er den Sil­ber­hals so stolz, als ob er den Hüh­nern zei­gen wol­le, dass sei­ne Flucht in den Birn­baum hin­ein ein wohl­über­leg­ter Coup oder eine blo­ße Lau­ne ge­we­sen sei.

Dörr aber sag­te: »Jott, so ’n Hahn. Denkt nu auch wun­der was er is. Un sei­ne Cou­ra­ge is doch auch man soso.«

Und da­mit ging er wie­der auf sei­ne Blu­men-Estra­de zu.

Steck­brief  <<<

Die äu­ße­re Er­schei­nung von Le­be­we­sen, ins­be­son­de­re des Men­schen und hier spe­zi­ell die für einen Men­schen cha­rak­te­ris­ti­schen Ge­sichts­zü­ge.  <<<

Druck­luft­waf­fe  <<<

Drittes Kapitel

Der gan­ze Her­gang war auch von Frau Dörr, die ge­ra­de beim Spar­gel­ste­chen war, be­ob­ach­tet, aber nur we­nig be­ach­tet wor­den, weil sich ähn­li­ches je­den drit­ten Tag wie­der­hol­te. Sie fuhr denn auch in ih­rer Ar­beit fort und gab das Su­chen erst auf, als auch die schärfs­te Mus­te­rung der Bee­te kei­ne »wei­ßen Köp­pe« mehr er­ge­ben woll­te. Nun erst hing sie den Korb an ih­ren Arm, leg­te das Stech­mes­ser hin­ein und ging lang­sam und ein paar ver­irr­te Kü­ken vor sich her­trei­bend erst auf den Mit­tel­weg des Gar­tens und dann auf den Hof und die Blu­men-Estra­de zu, wo Dörr sei­ne Markt­ar­beit wie­der auf­ge­nom­men hat­te.

»Na, Su­sel­chen«, emp­fing er sei­ne beß­re Hälf­te, »da bist du ja. Hast du woll ge­sehn? Boll­mann sei­ner war wie­der da. Höre, der muss dran glau­ben, un denn brat ich ihn aus; ein biss­chen Fett wird er ja woll ha­ben, un Sul­tan kann denn die Grie­ben krie­gen… Und Hun­de­fett, höre, Su­sel…«, und er woll­te sich au­gen­schein­lich in eine seit ei­ni­ger Zeit von ihm be­vor­zug­te Gicht­be­hand­lungs­me­tho­de ver­tie­fen. In die­sem Au­gen­blick aber des Spar­gel­korbes am Arme sei­ner Frau ge­wahr wer­dend, un­ter­brach er sich und sag­te: »Na, nu zei­ge mal her. Hat’s denn ge­fleckt?«

»I nu«, sag­te Frau Dörr und hielt ihm den kaum halb ge­füll­ten Korb hin, des­sen In­halt er kopf­schüt­telnd durch die Fin­ger glei­ten ließ. Denn es wa­ren meist dün­ne Stan­gen und viel Bruch da­zwi­schen.

»Höre, Su­sel, es bleibt da­bei, du hast kei­ne Spar­gelau­gen.«

»Oh, ich habe schon. Man bloß he­xen kann ich nich.«

»Na, wir wol­len nich strei­ten, Su­sel; mehr wird es doch nich. Aber zum Ver­hun­gern is es.«

»I, es denkt nich dran. Lass doch das ewi­ge Ge­re­de, Dörr; sie ste­cken ja drin, un ob sie nu heu­te raus­kom­men oder mor­gen, is ja ganz egal. Eine düch­ti­ge Hu­sche, so wie die vor Pfings­ten, und du sollst mal sehn. Und Re­gen gibt es. Die Was­ser­ton­ne riecht schon wie­der, un die große Kreuz­spinn is in die Ecke ge­kro­chen. Aber du willst je­den Dag al­les ha­ben; das kannst du nich ver­lan­gen.«

Dörr lach­te. »Na, bin­de man al­les gut zu­sam­men. Und den klei­nen Murks auch. Und du kannst ja denn auch was ab­las­sen.«

»Ach, rede doch nicht so«, un­ter­brach ihn die sich über sei­nen Geiz be­stän­dig är­gern­de Frau, zog ihn aber, was er im­mer als Zärt­lich­keit nahm, auch heu­te wie­der am Ohr­zip­fel und ging auf das »Schloss« zu, wo sie sich’s auf dem Stein­flie­sen­flur be­quem ma­chen und die Spar­gel­bün­del bin­den woll­te. Kaum aber, dass sie den hier im­mer be­reit­ste­hen­den Sche­mel bis an die Schwel­le vor­ge­rückt hat­te, so hör­te sie, wie schräg ge­gen­über in dem von der Frau Nimptsch be­wohn­ten drei­fenst­ri­gen Häu­schen ein Hin­ter­fens­ter mit ei­nem kräf­ti­gen Ruck auf­ge­sto­ßen und gleich dar­auf ein­ge­hakt wur­de. Zu­gleich sah sie Lene, die, mit ei­ner wei­ten, li­la­ge­mus­ter­ten Ja­cke über den Fries­rock und ei­nem Häub­chen auf dem asch­blon­den Haar, freund­lich zu ihr hin­über­grüß­te.

Frau Dörr er­wi­der­te den Gruß mit glei­cher Freund­lich­keit und sag­te dann: »Im­mer Fens­ter auf; das ist recht, Lene­chen. Und fängt auch schon an, heiß zu wer­den. Es gibt heu­te noch was.«

»Ja. Und Mut­ter hat von der Hit­ze schon ihr Kopf­weh, und da will ich doch lie­ber in der Hin­ter­stu­be plät­ten. Is auch hüb­scher hier; vor­ne sieht man ja kei­nen Men­schen.«

»Hast recht«, ant­wor­te­te die Dörr. »Na, da werd ich man ein biss­chen ans Fens­ter rücken. Wenn man so spricht, geht einen al­les bes­ser von der Hand.«

»Ach, das is lieb und gut von Ih­nen, Frau Dörr. Aber hier am Fens­ter is ja gra­de die pral­le Son­ne.«

»Schadt nichts, Lene. Da bring ich mei­nen Marcht­schirm mit, al­tes Ding und lau­ter Fli­cken. Aber tut im­mer noch sei­ne Schul­dig­keit.«

Und ehe fünf Mi­nu­ten um wa­ren, hat­te die gute Frau Dörr ih­ren Sche­mel bis an das Fens­ter ge­schleppt und saß nun un­ter ih­rer Schirm­stel­la­ge so be­hag­lich und selbst­be­wusst, als ob es auf dem Gens­darmen­markt ge­we­sen wäre. Drin­nen aber hat­te Lene das Plätt­brett auf zwei dicht ans Fens­ter ge­rück­te Stüh­le ge­legt und stand nun so nah, dass man sich mit Leich­tig­keit die Hand rei­chen konn­te. Da­bei ging das Plätt­ei­sen em­sig hin und her. Und auch Frau Dörr war flei­ßig beim Aus­su­chen und Zu­sam­men­bin­den, und wenn sie dann und wann von ih­rer Ar­beit auf- und ins Fens­ter hin­einsah, sah sie, wie nach hin­ten zu der klei­ne Plätt­ofen glüh­te, der für neue hei­ße Bol­zen zu sor­gen hat­te.

»Du könn­test mir mal ’nen Tel­ler ge­ben, Lene, Tel­ler oder Schüs­sel.« Und als Lene gleich da­nach brach­te, was Frau Dörr ge­wünscht hat­te, tat die­se den Bruch­spar­gel hin­ein, den sie wäh­rend des Sor­tie­rens in ih­rer Schür­ze be­hal­ten hat­te. »Da, Lene, das gibt ’ne Spar­gel­sup­pe. Un is so gut wie das and­re. Denn dass es im­mer die Köp­pe sein müs­sen, is ja dum­mes Zeug. Eben­so wie mit ’n Blu­men­kohl; im­mer Blu­me, Blu­me, die rei­ne Ein­bil­dung. Der Strunk is ei­gent­lich das Bes­te, da sitzt die Kraft drin. Und die Kraft is im­mer die Haupt­sa­che.«

»Gott, Sie sind im­mer so gut, Frau Dörr. Aber was wird nur Ihr Al­ter sa­gen?«

»Der? Ach, Le­ne­ken, was der sagt, is ganz egal. Der re­d’t doch. Er will im­mer, dass ich den Murks mit ein­bin­de, wie wenn’s rich­ti­ge Stan­gen wä­ren, aber sol­che Be­drü­ge­rei mag ich nich, auch wenn Bruch- und Stücken­zeug gra­de­so­gut schmeckt wie ’s Gan­ze. Was ei­ner be­zahlt, das muss er ha­ben, un ich är­g­re mir bloß, dass so ’n Mensch, dem es so zu­wächst, so ’n al­ter Geiz­kra­gen is. Aber so sind die Gärt­ners alle, rap­schen und rap­schen un kön­nen nie ge­nug krie­gen.«

»Ja«, lach­te Lene, »gei­zig is er und ein biss­chen wun­der­lich. – Aber ei­gent­lich doch ein gu­ter Mann.«

»Ja, Le­ne­ken, er wäre so­weit ganz gut, un auch die Gei­ze­rei wäre nich so schlimm un is im­mer noch bes­ser als die Ver­brin­ge­rei, wenn er man nich so zärt­lich wäre. Du glaubst es nich, im­mer is er da. Un nu sieh ihn dir an. Es is doch ei­gent­lich man ein Jam­mer mit ihm un da­bei rich­ti­ge sechs­und­fünf­zig, un viel­leicht is es noch ein Jahr mehr. Denn lü­gen tut er auch, wenn’s ihm ge­ra­de passt. Un da hilft auch nichts, gar nichts. Ich er­zähl ihm im­mer von Schlag und Schlag und zeig ihm wel­che, die so hum­peln und einen schie­fen Mund ha­ben, aber er lacht bloß im­mer und glaubt es nich. Es kommt aber doch so. Ja, Le­ne­ken, ich glaub es ganz ge­wiss, dass es so kommt. Und viel­leicht bal­de. Na, ver­schrie­ben hat er mir al­les, un so sag ich wei­ter nichts. Wie ei­ner sich legt, so liegt er. Aber was re­den wir von Schlag und Dörr, un dass er bloß O-Bei­ne hat. Jott, mein Lene­chen, da gibt es ganz an­de­re Leu­te, die sind so gra­de ge­wach­sen wie ’ne Tan­ne. Nich wahr, Lene?«

Lene wur­de hier­bei noch rö­ter, als sie schon war, und sag­te: »Der Bol­zen ist kalt ge­wor­den.« Und vom Plätt­brett zu­rück­tre­tend, ging sie bis an den ei­ser­nen Ofen und schüt­te­te den Bol­zen in die Koh­len zu­rück, um einen neu­en her­aus­zu­neh­men. Al­les war das Werk ei­nes Au­gen­blicks. Und nun ließ sie mit ei­nem ge­schick­ten Ruck den neu­en glü­hen­den Bol­zen vom Feu­er­ha­ken in das Plätt­ei­sen nie­der­glei­ten, klapp­te das Tür­chen wie­der ein und sah nun erst, dass Frau Dörr noch im­mer auf Ant­wort war­te­te. Si­cher­heits­hal­ber aber stell­te die gute Frau die Fra­ge noch mal und setz­te gleich hin­zu: »Kommt er denn heu­te?«

»Ja. We­nigs­tens hat er es ver­spro­chen.«

»Nu sage mal, Lene«, fuhr Frau Dörr fort, »wie kam es denn ei­gent­lich? Mut­ter Nimptsch sagt nie was, un wenn sie was sagt, denn is es auch man im­mer soso, nich hu un nich hott. Und im­mer bloß halb un so kon­fu­se. Nu, sage du mal. Is es denn wahr, dass es in Stralau war?«

»Ja, Frau Dörr, in Stralau war es, den zwei­ten Os­ter­tag, aber schon so warm, als ob Pfings­ten wär, und weil Lina Gan­s­au­ge gern Kahn fah­ren woll­te, nah­men wir einen Kahn, und Ru­dolf, den Sie ja­wohl auch ken­nen und der ein Bru­der von Lina ist, setz­te sich ans Steu­er.«

»Jott, Ru­dolf. Ru­dolf is ja noch ein Jun­ge.«