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Fortschritt E-Book

Moshe Zuckermann

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Beschreibung

"Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit, ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben", sagte Hegel. Dieses Diktum darf für den Fortschrittsoptimismus der Aufklärung als paradigmatisch gelten. Aber unabweisbare Errungenschaften des Fortschritts in allen Lebensbereichen gingen von Anbeginn mit Schattenseiten desselben Fortschritts einher. Moshe Zuckermann geht in seinem Essay dieser Dialektik nach. Im ersten Teil zeichnet er panoramisch die theoretischen Dimensionen, Bestrebungen und Widersprüche von Moderne, Aufklärung und Fortschritt nach. Im zweiten Teil befasst er sich mit empirischen Auswirkungen dieses Gesamtkomplexes auf die Bereiche der Politik, der Gesellschaft, der Technik, der Kunst und des Alltags.

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Seitenzahl: 166

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Ebook Edition

Moshe Zuckermann

FORTSCHRITT

Leben und Sterben einer Chimäre

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN: 978-3-98791-045-6

© Westend Verlag GmbH, Waldstraße 12A, 63263 Neu-Isenburg 2024

Umschlaggestaltung: Buchgut Berlin

Satz: Publikations Atelier, Weiterstadt

Inhalt

Cover

Theorie und Geschichte

Progress

Aufklärung

Der Kulturbegriff bei Karl Marx

Zwei kritische Theorien

Adorno – Kulturkritik nach Auschwitz

Dialektik moderner Realität

Politik

Gesellschaft

Technik

Kunst

Epilog

Orientierungspunkte

Cover

Inhaltsverzeichnis

TEIL 1

Theorie und Geschichte

Der vorliegende Essay befasst sich mit der Kategorie des Fortschritts, wechselweise auch Progress genannt. Es handelt sich um einen Begriff, der alltagssprachlich verwendet wird und bei dem man gemeinhin zu wissen meint, was er bedeutet. In der materiellen (Lebens-)Welt sind Erscheinungen des Fortschritts offenbar: Es ist uns selbstverständlich geworden, Texte nicht mehr mit einer Feder zu schreiben. Aber auch der Füller und selbst schon der Kugelschreiber sind vielen in der heutigen Generation bereits fremd geworden, ja, auch die klassische Schreibmaschine, die durch den PC ersetzt worden ist, und selbst dieser (zumindest in seinem Schreibtischformat), gilt vielen heute als obsolet, seitdem erst das Smartphone und dann das iPad seinen Siegeszug als Kommunikationsmittel angetreten hat. Es ist in der Tat erstaunlich, welchen revolutionären Wandel das Schreibgerät innerhalb eines halben Jahrhunderts erfahren hat. Es gibt nur wenige, die diesen phänomenalen Wandel nicht als Fortschritt werten würden.

Wesentlich schwieriger wird es bei der Beurteilung der Fortschrittlichkeit, was Kategorien der ideellen Welt betrifft. Das hängt damit zusammen, dass sie einer wertorientierten Meinungsvielfalt ausgesetzt sind, die eine konsensuelle Einigung darüber, was etwa politisch oder kulturell als progressiv anzusehen sei, zu behindern vermag. Und selbst dies – die Auswirkung der Meinungsvielfalt – kann entweder als fortschrittlich (demokratisch, im Sinn der Meinungsfreiheit) eingeordnet werden oder aber als Sackgasse der intellektuellen Rezeption, die eher geistige Ohnmacht als Progress suggeriert.

Der Essay ist in zwei große Teile gegliedert, von denen jeder weitere auffächernde Abschnitte enthält. Der erste Teil widmet sich den historischen und ideengeschichtlichen Dimensionen des Fortschrittsbegriffs. Er umfasst einen diskursiven Einstieg in den Progress-Begriff, in dem die Stichpunkte seiner Durchforstung eingebettet sind. Diese erfahren dann eine eingehendere Ausarbeitung. Der zweite Teil befasst sich mit empirischen Beobachtungen zum Fortschrittsphänomen in der Moderne, wobei das Gewicht auf das 20. Jahrhundert und die Gegenwart gelegt wird. Um dieser Melange aus Theorie, Analyse und Impression gerecht zu werden, soll hier die Essayform durchgehend gewahrt, mithin auf einen akademischen Anmerkungsapparat verzichtet werden, in der Hoffnung, dass dies auch die Lektüre erleichtert. Erwähnt sei überdies, dass einige Teile des Essays auf bereits publizierten Texten von mir beruhen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema treibt mich schon seit Jahrzehnten um.

Progress

Beginnen wir mit der einleitenden Passage eines Wikipedia-Eintrags zum Begriff »Fortschritt«. Warum nicht mit der in einer konventionellen Enzyklopädie gegebenen Definition? – mag der Leser sich fragen. Nun, zum einen, weil es Wikipedia-Texte gibt, die von kompetenten Autoren verfasst worden sind und kein Grund besteht, sie zu unterschätzen. Zum anderen aber auch, weil die Bequemlichkeit des Zugriffs, also die Vorhandenheit des Handys beziehungsweise des PCs, bereits etwas von dem anzeigt, worum es im vorliegenden Essay gehen soll. Warum also Wikipedia? Weil es sie gibt und weil man sie inzwischen viel öfter und leichter benutzt als gedruckte Lexika und Enzyklopädien. Man fühlt sich so auch ein wenig »auf der Höhe der Zeit«. Im Übrigen sind auch Lexika und Enzyklopädien schon längst im Internet, was allerdings bereits das Medium als solches betrifft, über welches es noch später einiges zu sagen geben wird. Lassen wir also die Antwort auf die Frage in der Schwebe (es ist nicht ausgemacht, dass es eine überzeugende gibt). Hier also die Wikipedia-Definition von »Fortschritt«:

»Fortschritt bezeichnet in der Philosophie, Politik, Technologie und der Wirtschaft grundlegende Verbesserungen durch bedeutende Veränderungen bestehender Zustände oder Abläufe in menschlichen Gesellschaften. Es gibt keine allgemein anerkannte Definition des sehr unterschiedlich konnotierten Begriffs; eine spezifischere, aktuell anmutende Definition lieferte etwa der Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler Ferdinand Tönnies 1926, der Fortschritt als zunehmende Überwindung von Mangelzuständen ansah. Gegenbegriffe sind Rückschritt oder Stillstand. Jeder Fortschritt setzt willentliche und gezielte Veränderungen voraus, die als Innovationen bezeichnet werden. Ihre Bewertung ist anthropozentrisch und nicht ganzheitlich: Bei angestrebten Neuerungen dient sie den betreibenden Interessengruppen zur Rechtfertigung und Durchsetzung ihrer Ideen – unabhängig von ihrem tatsächlichen Nutzen. Werden Wirkungen solcher Veränderungen erkennbar, die von einem Großteil der Gesellschaft positiv bewertet werden, zumeist weil sie spürbar die Lebensqualität verbessern, erfährt die Zuschreibung als Fortschritt breite Zustimmung. Nach diesem Muster – das den ›Fortschrittsglauben‹ stärkt und sich in der politischen Philosophie des Progressivismus ausdrückt – haben sich vor allem die modernen Industriegesellschaften entwickelt.«

Schon diese kurze Passage indiziert, dass es zwar »keine allgemein anerkannte Definition des sehr unterschiedlich konnotierten Begriffs« gebe, zugleich aber ein Konsens bestehe, dass der Fortschritt etwas mit einer spürbaren Verbesserung der Lebensqualität zu tun habe. Einleuchtend ist da in der Tat die von Tönnies angebotene Definition, welche den »Fortschritt als zunehmende Überwindung von Mangelzuständen« begreift. Aber schon der Satz, wonach jeder Fortschritt »willentliche und gezielte Veränderungen« voraussetze, »die als Innovationen bezeichnet werden«, beinhaltet insofern eine Schwierigkeit, als besagte Veränderungen und ihr innovativer Charakter zwar jedem Fortschritt zu eigen sind, aber der Fortschritt selbst kann sich auch auf das innovative Zerstörungspotential moderner Waffen beziehen. So besehen kann Fortschritt auch ein Kennzeichen gesellschaftlicher Gebilde und politischer Formationen sein, die alles andere als progressiv sind, obgleich sie objektiv ihre progressive Entstehungsdynamik in einigen zentralen Bereichen ihrer Gesamtstruktur verdanken. Beispielsweise baute der dem regressiven Begriff einer »Volksgemeinschaft« frönende Nazistaat Hitlers seine Kriegsmaschinerie mit den Mitteln und Kapazitäten modernster Technologie auf. Fortschritt stand da im Dienst einer dezidierten politischen Reaktion. Bezeichnend ist dabei, dass sowohl Fortschritt als auch der Rückfall in vergangene, überwunden geglaubte sozial-politische Zustände Bestandteile ein und derselben Geschichtsepoche sein können und in kausalem Nexus zueinander stehen.

Der am Anfang des modernen Zeitalters als Fanal der europäischen Aufklärungsbewegung formulierte Progress-Begriff sah sich schon zu Beginn seines Wegs im westlichen Diskurs einem ambivalenten Verhältnis ausgesetzt. Der Grund dafür lässt sich auf verschiedenen Ebenen ausmachen. Zum einen formierten sich von Anbeginn die politischen und sozialen Gegner des Fortschritts gegenüber dessen Anhängern und energischen Förderern. Sie erblickten im Fortschritt ein Unglück – sei es aus Standes- oder Klasseninteressen, sei es aus genuiner Überzeugung, dass der Progress (insbesondere seine revolutionäre Dimension) eine deutliche Gefahr für die »natürliche« und organische Entwicklung der Gesellschaft darstelle.

Diese konservativen, zuweilen auch dezidiert reaktionären Kräfte bildeten einen dominanten Faktor in der realen politisch-sozialen Sphäre, und als Feinde des Fortschritts, den sie bekämpften, spielten sie objektiv eine nicht minder bedeutende Rolle in der Dynamik des Fortschritts als dessen prononcierte Anhänger. Die Dynamik verkomplizierte sich jedes Mal, wenn die Befürworter des Fortschritts an die Regierung gelangten, ihn zu stabilisieren suchten und sich einem Kampf mit Anhängern eines noch radikaleren Fortschritts als der, den sie zuvor gefördert hatten, ausgesetzt sahen. Als Ergebnis ebendieser Dynamik, die stets in der zunehmenden Radikalisierung verschiedener ideologischer Gebilde wurzelte, wurden zum Beispiel die Girondisten im Verlauf der Französischen Revolution von ihrer eigenen Herrschaft in der Nationalversammlung gestürzt und von ihren jakobinischen Widersachern gewalttätig verfolgt.

Zum anderen erwies sich der Fortschritt selbst als wesentlich dialektisch in seiner historischen Entfaltung. Allein schon die Tatsache, dass sich die Erringung der Freiheit mit massiver Gewaltausübung verband, aber auch, dass Kämpfe um (formale) Gleichheit mit systematischer Repression einhergingen, zeigte sowohl den Anhängern des Fortschritts als auch seinen Gegnern, dass dem Progress ein immanenter Preis innewohnt. Die Emanzipation des Menschen durch Fortschritt ist das Ergebnis gesellschaftlicher und politischer Konflikte, die zuweilen auch in das Extrem eines Bürgerkriegs deteriorieren. So besehen, war der französische Herrscher Napoleon Bonaparte weniger wegen seines spezifischen Charakters kontrovers als vielmehr, weil er besagte Dialektik des Fortschritts verkörperte: Er erfüllte zweifellos eine emanzipative Funktion, als er Deutschland eroberte und die anachronistischen Überreste des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation in eine Föderation von Staaten umorganisierte, die objektiv die strukturelle Basis für die künftige Einheit Deutschlands bilden sollte. Nicht von ungefähr hat man behauptet, dass er es gewesen sei, der Deutschland in die Moderne gedrängt habe.

Aber dieser emanzipatorische Akt war mit Eroberung und wirtschaftlicher Ausbeutung der befreiten deutschen Bevölkerung verbunden; wie immer man es betrachtet – für die Deutschen war die Völkerschlacht bei Leipzig im Jahre 1813 ein Befreiungskrieg. Mehr noch: Napoleon soll nach der verlorenen Schlacht bei Preußisch Eylau im Anblick des von einer Unzahl seiner gefallenen Soldaten übersäten Schlachtfeldes gesagt haben: »In einer Nacht in Paris reproduzieren wir das.« Dieses Diktum darf als paradigmatisch für die dem Fortschritt in der Moderne zugrunde liegende Logik gewertet werden: Neben dem Kampf um Ideale der Befreiung des Menschen – die objektive Etablierung von Mechanismen, die den Menschen gerade im modernen Zeitalter austauschbar werden lassen, obwohl dieses doch historisch ausgezogen war, um Freiheiten und Rechte des Menschen zu garantieren.

Die Aufklärung hatte große Hoffnungen: die Auffassung des Menschen als Mittelpunkt seines Daseins, seine Verwandlung in ein sein persönliches Schicksal vernunftbegabt bestimmendes Subjekt sowie in ein seine Geschichte gestaltendes Kollektivsubjekt, die Gründung einer von Freiheit und Gleichheit geprägten Gesellschaft, die sich durch die Fülle eines wirtschaftlichen Reichtums und den großen Glauben an die mögliche Verwirklichung von allgemeinen historischen Zielen auszeichnet. Und sie alle schienen in der Realgeschichte eingebettet und durch diese gestützt zu sein: Schlüsselereignisse wie die Industrielle Revolution, welche die Gesellschaft von Grund auf veränderte und eine neue Produktionsweise mit ungeahnten Potentialen etablierte, sowie die große Französische Revolution, die das Paradigma des modernen Nationalstaates und das neue politische Subjekt des Staatsbürgers gebar, nahmen sich wie greifbare Manifestationen der großen Glaubenssätze der Aufklärung aus. Sie bildeten zugleich die Grundlage für eine neue Historiosophie, die sich nicht mehr mit der Auffassung der Vergangenheit als Schubkraft zur Gegenwart begnügte, sondern zugleich auch die Zukunft als eine in der Gegenwart wirkende, fruchtbare Anziehungskraft begriff. Der Progress galt nun sowohl als Telos, als Endzweck der Geschichte als auch als Handlungssphäre des »neuen Menschen«. Der ist nicht mehr einzig von göttlicher Vorsehung geleitet, sondern agiert als souverän-autonomes Individuum. Immanuel Kant formulierte diese zukunftsfrohe Emphase mit den Worten: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.« »Sapere aude!« – »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«, fügte er hinzu und legte damit den Leitspruch der Aufklärung fest.

In diesem Sinn bildete der Fortschrittsglaube die Bestätigung der Dynamik des realen Daseins des Menschen wie auch die Rechtfertigung für sein aktives Handeln bei der Gestaltung ebendieses Daseins. Die Doktrin des Fortschritts markierte also nicht nur die Legitimationsbasis für den Sturz der traditionellen Autoritäten des Ancien Régimes, sondern vor allem auch für die Hoffnung auf die »innere Verbesserung des Menschen«, für das Postulat, dass jedes neue Zeitalter fortschrittlicher sei als vorangegangene Epochen, und für den teleologischen Glauben an die Befreiung des Menschen als historischen Zweck und Ziel der Humanität.

Das Fortschrittspathos fand seinen wohl systematischsten Ausdruck im Denken Georg Wilhelm Friedrich Hegels. Er begriff die Bewegung des Geistes als Dynamik von Gegensätzen, deren Einheit die Grundlage für eine nachfolgende Dynamik der Gegensätze und eine erneute Einheit bildet. Aus der bilden sich wiederum vereinigende Gegensätze und so weiter und so fort, wobei jede Phase einer Einheit der Gegensätze eine progressive Phase im Verhältnis zu vorangegangenen Phasen repräsentiert. Das gilt auch für das Potential für noch progressivere Phasen in der Zukunft.

Hegels Auffassung bezog sich dabei nicht nur auf den Geist als Fundament der Erkenntnis und des Bewusstseins, sondern auch auf die sich verwirklichenden Manifestationen des Geistes in der Geschichte und der Kultur in Verbindung mit dem sich fortschreitend entwickelnden Bewusstsein. In diesem Sinn kennzeichnete sich für ihn jedes Zeitalter durch eine bestimmte Formation des Geistes und als ein fortschrittlicheres Zeitalter im Vergleich zum vorangehenden durch eine fortschrittlichere Phase des Geistes. Der Zeitgeist beseelt das Zeitalter, wie denn das Zeitalter sich in ihm objektiviert. So besehen, bedeutet die Aneignung der Errungenschaften des Geistes in all seinen Bereichen, dass sich das sie verinnerlichende progressive historische Subjekt »auf der Höhe der Zeit« bewegt.

Hegels Lehre enthält demnach eine Anthropologisierung der Erkenntnisfrage, zumal besagte Gegensätze sich, ihm zufolge, im Erkenntnisprozess selbst vollziehen: Das sich selbsterkennende Selbst verwandelt sich in ein Objekt der Erkenntnis – das sich selbsterkennende Subjekt kommt also nicht umhin, zugleich auch Erkenntnisobjekt zu sein. Auf der gesellschaftlichen Ebene verweist diese Einsicht darauf, dass das Sein des Einzelnen bedingt ist durch die Anerkennung durch den Mitmenschen, den »Anderen«. In Hegels posthum veröffentlichten »Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte« findet sich der Satz: »Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit, – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.« Dieses Diktum darf als das Paradigma einer pathoserfüllten Fortschrittsgläubigkeit der Aufklärung gelten.

Bei Karl Marx übersetzt sich dieses idealistische Paradigma Hegels in eine Auffassung historischen Fortschritts, die auf der Entwicklungsdynamik der materiellen und davon abgeleitet auch der geistigen Bedingungen menschlichen Seins basiert. Der Denker Marx glaubt an die menschliche Geschichte: Im Gegensatz zu jedem anderen Lebewesen sieht er den Menschen dazu befähigt, die materiellen Bedingungen für seine gesellschaftliche Reproduktion herzustellen. Diese Fähigkeit ist es, die ihm den Rang eines Subjekts der Geschichte einbringt – er, der Mensch, ist es, der die Geschichte macht, er bestimmt sein kollektives Schicksal, in seinen Händen liegt es, die menschliche Emanzipation zu erkämpfen. Gleichwohl ist die Verwirklichung dieses Ziels nicht von vornherein garantiert. Sie ist durch das Heranwachsen des Menschen zu jenem Kollektivsubjekt der Geschichte bedingt, namentlich zu einem vom Klassenbewusstsein getragenen Kollektiv, dessen revolutionäre Praxis – das heißt, der sich im fortwährenden Klassenkampf manifestierende soziale Konflikt – den Motor des geschichtlichen Fortschritts abgibt.

Es gibt zwar eine gewisse deterministische Dimension im Marxschen Denken, indem die technologische Entwicklung notwendig ein sich wandelndes gesellschaftliches Sein generiert, das durch ebendiesen Wandel progressiv fortschreitet. Nicht minder bedeutend ist aber die normative, ihrem Wesen nach antideterministische Dimension im Denken Marx’, die den gesellschaftlichen Wandel durch das bewusste revolutionäre Handeln des Kollektivsubjekts bedingt sieht. Dies findet sich in jenem bekannten Diktum aus den Thesen über Feuerbach formuliert: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt darauf an, sie zu verändern.«

Die Veränderung der Welt ist also für Marx emanzipativ in ihrer Ausrichtung. Indes wohnt der Fortschrittsdialektik auch eine dunkle Seite der Emanzipation inne: Die Produktionsmittel (Technologie) vermögen zwar, gesellschaftlichen Wohlstand zu produzieren, mithin immer mehr menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, zugleich können sie sich aber auch als »progressiv« in ihrem Zerstörungsvermögen und Vernichtungspotential erweisen. Ihre Verwendung in verschiedenen Kontexten mag sich als eine sich immerzu steigernde Schadenspraxis, als Ursache von Elend und Not herausstellen. So vermag Gas die Hitze für die Zubereitung von Nahrung und zur Erwärmung von Wohnungen produzieren, es kann allerdings auch als Mittel zur industriellen Vernichtung von Menschen dienen. Von selbst versteht sich, dass es sich dabei nicht um die Technik an sich handelt – als solche ist sie neutral. Aber ihre Anwendung mag sie als ein gerade im Zusammenhang von produktiver Entfaltung und Fortschritt erzeugtes Mittel zur effektiven Praktizierung präzedenzlosen menschlichen Grauens ausweisen.

Generell geht es um die Frage, ob der Mensch zum Anhängsel der Maschine verkommen oder imstande sein wird, sie zu beherrschen, mithin sie zu gebrauchen, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Die Menschen verschlingende Apparatur in Fritz Langs Klassiker Metropolis wie auch die (humorvollen) Darstellungen der Gängelung des Menschen durch »fortgeschrittene« Maschinen in Charlie Chaplins Moderne Zeiten zeugen von einem bereits in der Frühphase der Moderne im 20. Jahrhundert entwickelten Bewusstsein von der Dialektik des Fortschritts.

Mit nämlicher Dialektik des Fortschritts dürfte sich der Gesichtsausdruck des »Angelus Novus«, Walter Benjamins Engel der Geschichte, deuten lassen: Sein nach hinten gewendeter Blick starrt auf »eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert«. Bei Benjamin weht indes ein Sturm des Fortschritts »vom Paradiese her«, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und ihn »unaufhaltsam in die Zukunft« treibt, »während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst«. So tragisch sich diese Figur des Engels der Geschichte ausnimmt, die nur zurückblicken kann auf das bereits katastrophische Geschehene, ohne die Katastrophe aufheben zu können, sie lediglich durch die Erinnerung menschlichen Leids in der Geschichte als Mahnung an künftige Generationen bewahren kann, so ist der Engel doch, zwar zurückblickend, nach vorne getrieben. Er verbindet, wenngleich abgeändert, mutatis mutandis Vergangenheit und Zukunft als Handlungsanleitung der Gegenwart.

Die Gestalt des Geschichtsengels bei dem Dramatiker Heiner Müller ist in dieser Hinsicht ungleich besorgniserregender. »Hinter ihm«, schreibt er in Die Gedichte, »schwemmt Vergangenheit an, schüttet Geröll auf Flügel und Schultern, mit Lärm wie von begrabnen Trommeln, während vor ihm sich die Zukunft staut, seine Augen eindrückt, die Augäpfel sprengt wie ein Stern, das Wort umdreht zum tönenden Knebel, ihn würgt mit seinem Atem. Eine Zeit lang sieht man noch ein Flügelschlagen, hört in das Rauschen die Steinschläge vor über hinter ihm niedergehn, lauter je heftiger die vergebliche Bewegung, vereinzelt, wenn sie langsamer wird. Dann schließt sich über ihm der Augenblick: Auf dem schnell verschütteten Stehplatz kommt der glücklose Engel zur Ruhe, wartend auf Geschichte in der Versteinerung von Flug Blick Atem. Bis das erneute Rauschen mächtiger Flügelschläge sich in Wellen durch den Stein fortpflanzt und seinen Flug anzeigt.«

Das zentrale Problem besteht darin, dass von einem Flug zum nächsten sich der Blick zunehmend verhärtet, das Grauen ab­strakter wird und die Erinnerung sich vermehrt entstellt. Der Engel der Geschichte, der seine notwendige Entfernung von den Opfern der Zivilisation kompensieren möchte, indem er diese erinnert, sieht sich der gesteigerten Schwierigkeit ausgesetzt, was unter den gehäuften Steinschichten, unter den historischen Trümmern, liegt, zu erinnern. Dieser geschichtliche Prozess ist in der Tat paradox: Je mehr sich Daten und Details ansammeln, je zahlreicher sich Tatsachen und Einsichten über »die Vergangenheit« anhäufen, umso mehr erinnert man sie als eine Matrix – Krücken, die eine gewisse, wie immer geringe, Ausrichtung auf die Vergangenheit ermöglichen. Wir erinnern die »sechs Millionen« oder das Schicksal dieses oder jenes Menschen, wir erinnern nie das Ganze in all seinen Bestandteilen, zuweilen das Wesen des Erinnerten. Aber erinnern wir dieses Wesen als Progress?

Und wie steht es da mit der Kunst, die ab einem Zeitpunkt der Moderne begann, sich als Avantgarde zu begreifen, mithin als eine Art Motor des Progresses? Der Philosoph und Soziologe Theodor Adorno hat es sich wohl etwas leicht gemacht, als er Igor Strawinskys Neoklassizismus gegenüber der Atonalität Arnold Schönbergs als »reaktionär« brandmarkte.

Gut, dass sich die Option der musikalischen Tonalität das gesamte 20. Jahrhundert hindurch erhielt, wie denn zu begrüßen ist, dass Pablo Picassos Kunst, welche die menschlichen Körper demontierte, das Figurative nie verließ. Picasso wurde deshalb im Vergleich zu Wassily Kandinskys radikaler Abstraktion nicht »reaktionär«. Das progressive Niveau sozialer Gebilde lässt sich bestimmen – man kann dafür Kriterien wie Säuglingssterblichkeit und Lebenserwartung aufstellen –, aber es lässt sich kaum eine Fortschrittshierarchie künstlerischer Formen erstellen, die der Ranghierarchie gesellschaftlicher Progressivität kompatibel wäre.

Es ist ganz und gar nicht gewiss, dass man sie überhaupt erstellen sollte. Und dennoch muss man sich der Frage stellen, wieso wir fähig sind, die geistige Beglückung und das Gefühl ästhetischer Erhabenheit durch William Shakespeares Dramen, Ludwig van Beethovens Symphonien und Rembrandt von Rijns Gemälden zu erleben. Zugleich aber wären wir nicht bereit, ein Drama à la Shakespeare, eine Symphonie à la Beethoven und ein Bild à la Rembrandt von einem heutigen Künstler anzunehmen. Ein solches Werk würden wir schlicht als epigonal einstufen beziehungsweise als zutiefst anachronistisch. Das Wesen dieses Anachronismus birgt die gesamte immanente Problematik der Bestimmung von Progress in der Kunst in sich.

»Ich bin der Geist, der stets verneint«, sagt Mephisto in Johann Wolfgang von Goethes Faust