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Niemand kümmert sich um das Waisenkind Mary auf dem Schloss voller verborgener Zimmer und verbotener Gänge. Als sie eines Tages im Garten umherläuft, entdeckt sie ein efeuberanktes Tor. Hinter einer Mauer liegt ein geheimer Garten, der seit Jahren verschlossen ist. Gemeinsam mit Colin, ihrem zehnjährigen Cousin, beginnt Mary, vor der Welt der Erwachsenen ein paar Dinge geheim zu halten. Dieses einfühlsame Buch der Schöpferin des 'Kleinen Lord' ist ein Kinder- und Jugendbuch-Klassiker voller Magie.
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Seitenzahl: 409
Frances Hodgson Burnett
Aus dem Englischen neu übersetztvon Felix Mayer
Die englische Originalausgabe erschien 1911 unter dem Titel The Secret Garden bei Heinemann in London. Textgrundlage dieser Übersetzung ist die Ausgabe New York: Harper Trophy 1998.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2013 Anaconda Verlag GmbH, Köln
Alle Rechte vorbehalten.
eISBN 978-3-7306-9058-1
Print ISBN 978-3-7306-0035-1
www.anacondaverlag.de
1.Es ist niemand mehr da
2.Fräulein Mary, kleiner Trotzkopf
3.Über das Moor
4.Martha
5.Das Weinen auf dem Flur
6.»Da hat jemand geweint – ganz bestimmt!«
7.Der Schlüssel zum Garten
8.Das Rotkehlchen weist den Weg
9.Das seltsamste Haus auf der ganzen Welt
10.Dickon
11.Das Nest der Misteldrossel
12.»Könnte ich vielleicht ein bisschen Erde haben?«
13.»Ich bin Colin«
14.Ein junger Maharadscha
15.Nestbau
16.»Ich muss gar nicht!«, sagte Mary
17.Ein Wutanfall
18.»Du darfst keine Zeit verlieren!«
19.»Er ist da!«
20.»Ich werde leben, bis in alle Ewigkeit!«
21.Ben Weatherstaff
22.Sonnenuntergang
23.Der Zauber
24.»Dann sollen sie ruhig lachen«
25.Der Vorhang
26.»Es ist meine Mutter!«
27.Im Garten
Als Mary Lennox nach Misselthwaite Manor geschickt wurde, um dort bei ihrem Onkel zu leben, sagten die Leute, sie hätten noch nie ein Kind gesehen, das so unsympathisch aussah. Und das stimmte auch. Mary war klein und schmächtig, ihr Gesicht war klein und schmal, sie hatte helles, dünnes Haar und sie blickte griesgrämig drein. Ihre Haare und ihr Gesicht waren ganz fahl, denn sie war in Indien zur Welt gekommen und immer kränklich gewesen. Ihr Vater hatte für die englische Regierung gearbeitet und war nicht nur sehr beschäftigt, sondern ebenfalls dauernd krank gewesen, und ihre Mutter war eine wunderschöne Frau gewesen, die nichts anderes im Sinn hatte, als auf Bälle zu gehen und sich im Kreise ausgelassener Leute zu amüsieren. Sie hatte nie ein kleines Mädchen gewollt, und als Mary auf der Welt war, gab sie sie in die Obhut einer Ayah, eines Kindermädchens, der sie einschärfte, wenn sie es der gnädigen Frau recht machen wolle, müsse sie ihr das Kind so gut es ging vom Leib halten. Also wurde Mary von ihr ferngehalten, solange sie ein kränkelndes, quengeliges und unansehnliches Baby war, und als sie ein kränkelndes, quengeliges und tapsiges Kleinkind war, wurde sie weiterhin von ihr ferngehalten. Einzig vertraut waren ihr die dunklen Gesichter ihrer Ayah und der anderen indischen Dienstboten, und weil diese ihr immer gehorchten und ihr bei allem ihren Willen ließen, da die Herrin verärgert gewesen wäre, wenn das Geschrei des Kindes sie gestört hätte, war sie mit sechs Jahren das tyrannischste und selbstsüchtigste kleine Gör, das die Welt je gesehen hatte. Die junge englische Gouvernante, die ihr Lesen und Schreiben beibringen sollte, konnte sie so wenig leiden, dass sie nach drei Monaten wieder kündigte, und alle anderen Gouvernanten, die es danach mit der Stelle versuchten, gaben noch früher auf als die erste. Mary hätte also niemals das Abc gelernt, wenn sie nicht unbedingt hätte wissen wollen, wie man Bücher liest.
Als sie etwa neun Jahre alt war, wachte sie eines entsetzlich heißen Morgens auf und war furchtbar missmutig, und als sie feststellte, dass die Dienerin, die neben ihrem Bett stand, nicht ihre Ayah war, wurde sie noch missmutiger.
»Was willst du hier?«, sagte sie zu der Unbekannten. »Geh wieder weg. Sag meiner Ayah, sie soll kommen.«
Die Frau wirkte verängstigt und brachte nur stammelnd hervor, dass die Ayah nicht kommen könne, und als Mary einen Wutanfall bekam und sie schlug und mit den Füßen trat, wirkte sie noch verängstigter und sagte nur immer wieder, dass die Ayah nicht zum gnädigen Fräulein kommen könne.
An diesem Morgen lag etwas Rätselhaftes in der Luft. Nichts ging seinen gewohnten Gang und es schien, als seien weniger eingeborene Dienstboten da als sonst, und diejenigen, die Mary sah, schlichen oder hetzten mit aschfahlen und schreckverzerrten Gesichtern umher. Aber niemand erklärte ihr, was los war, und auch ihre Ayah kam nicht. Der Vormittag verging und niemand kümmerte sich um sie, und schließlich ging sie hinaus in den Garten und spielte allein unter einem Baum neben der Veranda. Sie spielte, dass sie ein Blumenbeet anlegte, indem sie große scharlachrote Hibiskusblüten in kleine Erdhaufen steckte, und dabei wurde sie immer zorniger und murmelte die Vorwürfe und Schimpfworte vor sich hin, die sie Saidie an den Kopf werfen würde, wenn sie wiederkam.
»Du Schwein! Du Schwein! Du Schweinemädchen!«, sagte sie, denn einen Eingeborenen ein Schwein zu nennen, ist die schlimmste Beleidigung überhaupt.
Während sie diese Worte in einem fort zwischen den Zähnen hervorstieß, hörte sie, wie ihre Mutter mit jemand anderem auf die Veranda heraustrat. Sie war in Begleitung eines blonden jungen Mannes und die beiden unterhielten sich mit gedämpften, seltsam klingenden Stimmen. Mary kannte den Mann, der aussah wie ein kleiner Junge. Sie hatte gehört, dass er ein sehr junger Regierungsbeamter war, der eben erst aus England gekommen war. Sie betrachtete ihn eingehend, aber noch eingehender betrachtete sie ihre Mutter. Das tat sie jedes Mal, wenn sie einen Blick auf sie erhaschen konnte, denn die gnädige Frau – so nannte Mary sie meistens – war eine äußerst hübsche, hochgewachsene und schlanke Dame und trug wunderschöne Kleider. Ihr lockiges Haar glänzte wie Seide, sie hatte eine zierliche kleine Nase, die die Welt zu verachten schien, und große, lachende Augen. Sie trug dünne, wallende Gewänder, von denen Mary sagte, sie seien »voll mit Spitzen«. An diesem Morgen schienen sie so voll mit Spitzen wie noch nie, aber die Augen der gnädigen Frau lachten kein bisschen. Sie waren weit aufgerissen, und sie blickte verängstigt und flehend zu dem jungen blonden Beamten auf.
»Ist es denn so schlimm? Wirklich so schlimm?«, hörte Mary sie sagen.
»Es ist grauenhaft«, antwortete der junge Mann mit zitternder Stimme. »Grauenhaft, Mrs. Lennox. Sie hätten sich schon vor zwei Wochen in die Berge zurückziehen sollen.«
Die gnädige Frau rang die Hände.
»Ja, ich weiß!«, rief sie aus. »Ich bin nur hiergeblieben, weil ich zu dieser dummen Abendgesellschaft gehen wollte. Wie töricht von mir!«
In diesem Augenblick brach in den Hütten der Dienstboten ein Geheul aus, das so laut war, dass sie den jungen Mann am Arm packte, und auch Mary erschauerte von Kopf bis Fuß. Das Geheul wurde immer schriller.
»Was ist das? Was ist das?«, stieß Mrs. Lennox atemlos hervor.
»Jemand ist gestorben«, erklärte der junge Beamte. »Sie hatten gar nicht erwähnt, dass es auch unter Ihrer Dienerschaft ausgebrochen ist.«
»Das wusste ich nicht!«, rief die gnädige Frau. »Kommen Sie! Kommen Sie!« Und sie drehte sich um und lief ins Haus.
Danach geschahen fürchterliche Dinge und Mary erfuhr, was es mit den rätselhaften Ereignissen des Vormittags auf sich hatte. Die Cholera war ausgebrochen, in ihrer schwersten Form, und die Menschen starben wie die Fliegen. Die Ayah war in der Nacht erkrankt, und weil sie gerade gestorben war, waren die Diener in ihren Hütten in Wehklagen verfallen. Noch am selben Tag starben drei weitere Dienstboten, und andere liefen vor Entsetzen davon. Panik herrschte in jedem Winkel, und in allen Häusern starben die Menschen.
Inmitten der Verwirrung und der Fassungslosigkeit, die sich am nächsten Tag breitmachten, verkroch Mary sich in ihr Kinderzimmer und wurde dort von allen vergessen. Niemand dachte an sie, niemand rief nach ihr, und sie ahnte nichts von den eigenartigen Dingen, die um sie herum geschahen. Sie brachte die Stunden zu, indem sie abwechselnd weinte und schlief. Sie begriff nur, dass die Leute krank waren, und das Einzige, was sie mitbekam, waren rätselhafte und beängstigende Geräusche. Einmal schlich sie sich ins Esszimmer und fand es leer vor, allerdings standen noch Reste eines Abendessens auf dem Tisch und die Stühle und Teller sahen so aus, als hätten die Gäste sie hastig zurückgeschoben, als sie aus irgendeinem Grund plötzlich aufgestanden waren. Mary aß etwas Obst und Kekse, und weil sie Durst hatte, nahm sie ein Weinglas, das noch fast voll war, und trank es aus. Der Wein schmeckte süß und sie ahnte nicht, wie stark er war. Er machte sie im Handumdrehen furchtbar schläfrig, und sie ging zurück in ihr Kinderzimmer und versteckte sich dort wieder, verängstigt von den Schreien, die aus den Hütten zu ihr drangen, und vom Geräusch vorbeihastender Füße. Der Wein machte sie so müde, dass sie die Augen kaum noch offenhalten konnte, und sie legte sich ins Bett und bekam für eine lange Zeit nichts mehr mit.
Während der Stunden, in denen sie so fest schlief, geschah vieles, aber weder das Geheul der Dienstboten konnte sie wecken noch der Lärm, der entstand, als alles Mögliche zwischen Haus und Hof hin und her getragen wurde.
Als sie aufwachte, blieb sie liegen, den Blick auf die Wand gerichtet. Im ganzen Haus war es vollkommen ruhig. Noch nie hatte sie es so still erlebt. Weder Stimmen noch Schritte waren zu hören und sie fragte sich, ob alle wieder von der Cholera genesen waren und der Schrecken vorüber war. Sie fragte sich auch, wer sich jetzt, da ihre Ayah tot war, um sie kümmern würde. Wahrscheinlich würde eine neue Ayah kommen, und die würde vielleicht ein paar neue Geschichten kennen. Die alten hatte Mary allmählich langweilig gefunden. Sie weinte nicht, weil ihr Kindermädchen gestorben war. Sie war kein mitfühlendes Kind und andere Menschen waren ihr immer egal gewesen. Der Lärm und das Herumrennen und das Wehklagen über die Cholera hatten ihr Angst eingejagt, und sie war wütend geworden, weil anscheinend niemand daran dachte, dass sie noch am Leben war. Alle waren so von Panik ergriffen, dass keiner an ein kleines Mädchen dachte, das ohnehin niemand mochte. Es schien, als dächten die Leute nur noch an sich selbst, wenn sie die Cholera hatten. Aber wenn alle wieder gesund waren, würde sich sicher jemand an sie erinnern und nach ihr sehen.
Doch niemand kam, und während sie weiter dalag und wartete, schien das Haus stiller und stiller zu werden. Da hörte sie ein Rascheln auf dem Bettvorleger, und als sie hinuntersah, entdeckte sie eine kleine Schlange, die herumkroch und sie mit juwelengleichen Augen anblickte. Mary hatte keine Angst, denn die Schlange war ein harmloses kleines Ding, das ihr nichts antun würde und es offensichtlich eilig hatte, aus dem Zimmer zu kommen. Sie sah zu, wie sie unter der Tür verschwand.
»Wie seltsam ruhig es ist«, sagte sie. »Es hört sich an, als sei niemand im Haus außer mir und der Schlange.«
Keine Minute später hörte sie Schritte, erst auf dem Hof und dann auf der Veranda. Es waren die Schritte von Männern; sie betraten das Haus und unterhielten sich leise. Niemand kam, um sie zu empfangen oder mit ihnen zu sprechen, und es hörte sich an, als machten sie die Türen zu den Zimmern auf, um sich umzusehen.
»Was für ein Jammer!«, hörte Mary eine der Stimmen sagen. »Diese wunderschöne Frau! Und das Kind vermutlich auch. Angeblich hatte sie eine Tochter, allerdings hat niemand sie je gesehen.«
Als sie ein paar Minuten später die Tür des Kinderzimmers öffneten, stand Mary in der Mitte des Raumes. Sie sah wild und wütend aus und blickte finster drein, denn sie wurde allmählich hungrig und fühlte sich schändlich vernachlässigt. Der erste Mann, der hereinkam, war ein groß gewachsener Beamter, den sie einmal gesehen hatte, als er sich mit ihrem Vater unterhielt. Er wirkte erschöpft und verstört, doch als er Mary sah, erschrak er so heftig, dass er fast einen Schritt zurück machte.
»Barney!«, rief er. »Hier ist ein Kind! Ganz alleine! An so einem Ort! Herr im Himmel, wer mag sie wohl sein?«
»Ich bin Mary Lennox«, sagte das kleine Mädchen und richtete sich kerzengerade auf. Sie fand es ziemlich unverschämt, dass der Mann das Haus ihres Vaters »so einen Ort« nannte. »Ich bin eingeschlafen, als alle die Cholera hatten, und bin gerade erst wieder aufgewacht. Warum kommt denn niemand?«
»Das ist das Kind, das nie jemand zu Gesicht bekommen hat!«, rief der Mann aus und drehte sich zu seinen Begleitern um. »Man hat sie einfach vergessen!«
»Warum hat man mich vergessen?«, fragte Mary und stampfte mit dem Fuß auf. »Und warum kommt denn niemand?«
Der junge Mann namens Barney sah sie tieftraurig an. Mary glaubte sogar, ihn blinzeln zu sehen, als wolle er sich Tränen aus den Augen blinzeln.
»Du armes Kind!«, sagte er. »Es ist niemand mehr da, der kommen könnte.«
Auf diese seltsame Weise erfuhr Mary schlagartig, dass sie keinen Vater und keine Mutter mehr hatte; dass beide in der Nacht gestorben und weggebracht worden waren und dass auch die wenigen indischen Diener, die nicht umgekommen waren, das Haus so schnell wie möglich verlassen hatten, wobei nicht einer von ihnen an das gnädige Fräulein gedacht hatte. Deshalb war es überall so still. Es war tatsächlich niemand mehr im Haus außer Mary und der kleinen raschelnden Schlange.
Mary hatte ihre Mutter immer gern aus der Ferne betrachtet und sie sehr hübsch gefunden, aber weil sie sie kaum kannte, war nicht damit zu rechnen, dass sie sie liebte oder sie sehr vermissen würde, wenn sie nicht mehr da war. Sie vermisste sie in der Tat überhaupt nicht, und weil sie ein selbstsüchtiges Kind war, dachte sie einzig und allein an sich, so wie sie es immer getan hatte. Wenn sie älter gewesen wäre, hätte es ihr sicher Angst gemacht, allein auf der Welt zu sein, aber sie war noch sehr jung, und weil sich immer jemand um sie gekümmert hatte, glaubte sie, das würde auch weiter so sein. Sie fragte sich, ob sie wohl zu netten Leuten kommen würde, die sie freundlich behandeln und ihr ihren Willen lassen würden, so wie ihre Ayah und die anderen indischen Diener es getan hatten.
Sie wusste, dass sie nicht lange in dem englischen Pfarrhaus bleiben würde, in das man sie zunächst gebracht hatte. Sie wollte dort auch nicht bleiben. Der englische Pfarrer war arm und hatte fünf Kinder, die fast alle in Marys Alter waren, zerlumpte Kleidung trugen und sich dauernd zankten und sich gegenseitig das Spielzeug wegnahmen. Mary fand ihr schmutziges Haus abscheulich und war so garstig zu ihnen, dass schon nach ein oder zwei Tagen keines der Kinder mehr mit ihr spielte. Schon am zweiten Tag hatten sie einen Spottnamen für sie gefunden, der sie richtig wütend machte.
Basil hatte ihn sich ausgedacht. Basil war ein kleiner Junge mit frechen blauen Augen und einer Stupsnase, und Mary konnte ihn nicht ausstehen. Einmal spielte sie allein unter einem Baum, so wie an dem Tag, als die Cholera ausgebrochen war. Sie legte Erdhügel und Wege für einen Garten an, als Basil kam, sich neben sie stellte und ihr mit wachsendem Interesse zusah. Schließlich machte er einen Vorschlag.
»Wenn du hier ein paar Steine aufschichtest, dann hättest du einen Steingarten«, sagte er. »Hier in der Mitte«, fügte er hinzu, beugte sich über Mary und zeigte auf die Stelle.
»Geh weg!«, rief Mary. »Ich mag keine Jungen. Geh weg!«
Basil wirkte einen Moment verärgert, aber dann begann er Mary zu necken. Seine Schwestern neckte er andauernd. Er hüpfte um Mary herum, schnitt Grimassen, lachte und sang:
»Fräulein Mary, kleiner Trotzkopf,Will dein Garten denn gedeih’n?Silberglöckchen, Kornrosen,Ringelblumen in der Reih’.«
Er sang das Lied so lange, bis auch die anderen Kinder es mitbekamen und zu lachen anfingen; und je wütender Mary wurde, desto öfter wiederholten sie »Fräulein Mary, kleiner Trotzkopf«; und fortan, solange sie bei ihnen wohnte, nannten sie sie »Fräulein Mary, kleiner Trotzkopf«, wenn sie über sie sprachen, und oft sagten sie es ihr auch ins Gesicht.
»Ende der Woche wirst du nach Hause geschickt«, sagte Basil zu ihr. »Und wir sind froh darüber.«
»Ich auch«, entgegnete Mary. »Wo ist denn zu Hause?«
»Sie weiß nicht, wo zu Hause ist!«, sagte Basil mit der ganzen Verachtung eines Siebenjährigen. »In England, wo denn sonst. Unsere Großmama lebt dort, und unsere Schwester Mabel wurde letztes Jahr zu ihr geschickt. Aber du fährst nicht zu deiner Großmama. Du hast nämlich keine. Du fährst zu deinem Onkel. Er heißt Mister Archibald Craven.«
»Von dem habe ich noch nie etwas gehört«, blaffte Mary.
»Das ist mir schon klar«, versetzte Basil. »Du hast ja von nichts eine Ahnung. So wie alle Mädchen. Ich habe gehört, wie Vater und Mutter über ihn gesprochen haben. Er wohnt in einem riesigen, trostlosen alten Haus auf dem Land, und nie besucht ihn jemand. Er ist so verbittert, dass er keinen Besuch will, und wenn er es doch erlauben würde, würden die Leute nicht kommen. Er ist ein buckliger Kerl und eine grässliche Erscheinung.«
»Das glaube ich dir nicht«, sagte Mary, drehte sich um und steckte die Finger in die Ohren, weil sie nichts mehr hören wollte.
Aber sie dachte anschließend viel darüber nach, und als Mrs. Crawford ihr an jenem Abend ankündigte, dass sie in ein paar Tagen mit dem Schiff nach England fahren und dann nach Misselthwaite Manor zu ihrem Onkel Mr. Archibald Craven gebracht würde, zeigte sie sich so abweisend und hartnäckig uninteressiert, dass alle sich über sie wunderten. Sie versuchten sie aufzumuntern, aber als Mrs. Crawford ihr einen Kuss geben wollte, wandte sie ihr Gesicht ab, und als Mr. Crawford ihr auf die Schulter klopfte, stand sie stocksteif da.
»Sie hat so gar nichts Reizendes an sich«, sagte Mrs. Crawford später voller Mitleid. »Dabei war ihre Mutter ein so bezauberndes Geschöpf. Sie hatte auch eine so bezaubernde Art, aber Mary zeigt das abstoßendste Verhalten, das ich je bei einem Kind gesehen habe. Die Kinder nennen sie ›Fräulein Mary, kleiner Trotzkopf‹, und das ist zwar ungezogen, aber man kann es doch verstehen.«
»Vielleicht wäre Mary liebenswerter geworden, wenn ihre Mutter sich mit ihrem bezaubernden Gesicht und ihren bezaubernden Manieren öfter im Kinderzimmer gezeigt hätte. Jetzt ist dieses bedauernswerte schöne Geschöpf nicht mehr unter uns, und die Vorstellung, dass viele Leute überhaupt nichts von ihrem Kind wussten, ist furchtbar traurig.«
»Ich glaube, sie hat die Kleine kaum je eines Blickes gewürdigt«, seufzte Mrs. Crawford. »Als ihre Ayah tot war, hat niemand mehr an sie gedacht. Und dann läuft auch noch die Dienerschaft davon und lässt sie ganz allein in diesem verlassenen Gebäude zurück. Colonel McGrew hat erzählt, dass er sich zu Tode erschreckt hat, als er die Tür öffnete und sie ganz allein mitten im Zimmer stand.«
Auf der langen Reise nach England war Mary in der Obhut der Frau eines Beamten, die ihre eigenen Kinder in ein Internat brachte. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt ihrem Jungen und ihrem Mädchen und sie war sehr erleichtert, als sie Mary in London der Frau übergeben konnte, die Mr. Archibald Craven geschickt hatte. Die Frau hieß Mrs. Medlock und war die Haushälterin von Misselthwaite Manor. Sie war kräftig gebaut und hatte leuchtend rote Wangen und scharf blickende dunkle Augen. Sie trug ein dunkellila Kleid, einen schwarzen Seidenmantel mit Fransen aus Jettperlen und eine schwarze Haube mit lila Seidenblumen, die hochgesteckt waren und wackelten, wenn sie den Kopf bewegte. Mary mochte sie überhaupt nicht, aber das war nichts Besonderes, denn es kam sehr selten vor, dass sie jemanden mochte; außerdem war nicht zu übersehen, dass Mrs. Medlock nicht viel von ihr hielt.
»Sieh mal einer an! So ein kleines unscheinbares Ding!«, sagte sie. »Und dabei soll ihre Mutter eine Schönheit gewesen sein. Davon hat sie ihr wohl nicht viel vererbt, nicht wahr, Ma’am?«
»Vielleicht verändert sie sich noch zum Guten, wenn sie älter wird«, sagte die Frau des Beamten wohlwollend. »Wenn sie nicht so bleich wäre und ein bisschen fröhlicher schauen würde … Ihre Züge sind ja recht hübsch. Und Kinder verändern sich ja so sehr.«
»Da müsste sie sich schon mächtig verändern«, versetzte Mrs. Medlock. »Und wenn Sie mich fragen – in Misselthwaite gibt es nichts, was Kinder zum Guten verändern könnte!«
Sie glaubten, Mary höre ihnen nicht zu, weil sie ein wenig abseits von ihnen an einem Fenster des Gasthofs stand, in dem sie abgestiegen waren. Sie sah zu, wie Busse und Droschken und Fußgänger vorüberzogen, aber sie hatte die Ohren gespitzt und wurde ganz neugierig auf ihren Onkel und das Haus, in dem er wohnte. Was für ein Haus war es wohl, und wie war er selbst? Was war ein Buckliger? Sie hatte noch nie einen gesehen. Vielleicht gab es in Indien keine.
Seit sie bei anderen Leuten wohnte und keine Ayah mehr hatte, fühlte sie sich einsam und fing an, über Dinge nachzudenken, über die sie noch nie nachgedacht hatte. Sie fragte sich, warum es ihr, selbst als ihr Vater und ihre Mutter noch lebten, immer so vorgekommen war, dass sie zu niemandem gehörte. Andere Kinder gehörten offenkundig zu ihren Eltern, sie dagegen war nie wirklich jemandes Tochter gewesen. Sie hatte Diener gehabt, hatte zu essen und Kleidung bekommen, aber niemand hatte sie je beachtet. Sie wusste nicht, dass das daran lag, dass sie ein unausstehliches Kind war; denn damals wusste sie natürlich noch nicht, dass sie unausstehlich war. Oft glaubte sie, die anderen wären abstoßend, aber sie wusste nicht, dass sie selbst so war.
Mrs. Medlock war in ihren Augen der abstoßendste Mensch, den sie je gesehen hatte, mit ihrem ordinären, leuchtenden Gesicht und ihrer ordinären Sonntagshaube. Als sie sich am nächsten Tag auf den Weg nach Yorkshire machten, ging Mary mit hoch erhobenem Kopf durch die Bahnhofshalle zum Zug und hielt so viel Abstand zu ihr wie möglich, damit es nicht so aussah, als gehöre sie zu ihr. Die Vorstellung, dass die Leute glauben könnten, sie sei Mrs. Medlocks Tochter, machte sie ganz wütend.
Aber Mrs. Medlock ließ sich nicht im Geringsten von Mary und ihren Gedanken stören. Sie war eine Frau, die »die Sperenzchen von Kindern nicht duldete«. Jedenfalls hätte sie das gesagt, wenn man sie gefragt hätte. Sie hatte nicht nach London fahren wollen, so kurz vor der Hochzeit der Tochter ihrer Schwester Maria, aber die Stelle als Haushälterin in Misselthwaite Manor war bequem und einträglich, und wenn sie sie behalten wollte, musste sie stets tun, womit Mr. Archibald Craven sie beauftragte. Sie wagte nie, auch nur eine Frage zu stellen.
»Captain Lennox und seine Frau sind an der Cholera gestorben«, hatte Mr. Craven in seiner knappen, kühlen Art gesagt. »Captain Lennox war der Bruder meiner Frau und ich bin der Vormund seiner Tochter. Das Kind wird hierherkommen. Sie fahren nach London und holen es dort ab.«
Also hatte sie ihren kleinen Koffer gepackt und sich auf die Reise gemacht.
Mary saß unscheinbar auf ihrem Platz in einer Ecke des Abteils und machte ein verdrießliches Gesicht. Sie hatte kein Buch zum Lesen oder Anschauen, und ihre kleinen Hände, die in schwarzen Handschuhen steckten, hatte sie gefaltet in den Schoß gelegt. Ihr schwarzes Kleid ließ sie noch bleicher aussehen als sonst und ihr dünnes, helles Haar schaute wirr unter ihrem schwarzen Krepphut hervor.
»Noch nie im Leben habe ich ein so verzogenes kleines Ding gesehen«, dachte Mrs. Medlock. Sie hatte noch nie erlebt, dass ein Kind so ruhig und untätig dasaß, und schließlich war sie es leid, Mary zu betrachten, und sprach sie in barschem, strengem Ton an.
»Ich sollte dir etwas über das Ziel deiner Reise erzählen«, sagte sie. »Weißt du irgendetwas über deinen Onkel?«
»Nein«, sagte Mary.
»Hast du deine Eltern nie über ihn reden hören?«
»Nein«, sagte Mary und schaute mürrisch drein. Denn sie konnte sich noch gut erinnern, dass ihre Eltern mit ihr nie über etwas Bestimmtes gesprochen hatten. Und irgendetwas erzählt hatten sie ihr auch nie.
»Hm«, brummelte Mrs. Medlock und betrachtete Marys eigenartiges, regloses kleines Gesicht. Sie schwieg eine Weile und sprach dann weiter.
»Ich finde aber, du solltest etwas erfahren – um vorbereitet zu sein. Du kommst nämlich an einen seltsamen Ort.«
Mary sagte kein Wort und Mrs. Medlock schien diese offenkundige Gleichgültigkeit zu verwirren, aber nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, fuhr sie fort.
»Es ist ein großes, weitläufiges Anwesen und hat etwas Trostloses an sich, und Mr. Craven ist auf seine Weise stolz darauf – und das ist nicht weniger trostlos. Das Haus ist sechshundert Jahre alt und liegt am Rand des Moors, und es hat fast hundert Zimmer, wobei die meisten verschlossen und verriegelt sind. Es gibt Gemälde und kostbare alte Möbel und Zeug, das schon seit Ewigkeiten herumsteht, und um das Haus ist ein großer Park, und Gärten gibt es auch, und die Bäume haben Äste, die bis zum Boden hängen – manche jedenfalls.«
Sie hielt inne, atmete noch einmal tief durch und schloss dann plötzlich mit den Worten: »Aber sonst gibt es nichts.«
Mary hatte ihr unwillkürlich zugehört. Das klang so gar nicht nach Indien, und alles Unbekannte machte sie neugierig. Aber sie wollte nicht so wirken, als sei sie interessiert. Das war ihre lustlose und garstige Art. Also rührte sie sich nicht.
»Nun«, sagte Mrs. Medlock, »was hältst du davon?«
»Nichts«, antwortete Mary. »Ich war noch nie an einem solchen Ort.«
Mrs. Medlock musste kurz lachen.
»Na so was«, sagte sie, »du redest ja wie eine alte Frau! Interessiert es dich denn gar nicht?«
»Es ist doch egal«, sagte Mary, »ob es mich interessiert oder nicht.«
»Da hast du allerdings recht«, sagte Mrs. Medlock. »Es ist wirklich egal. Ich weiß auch nicht, warum du in Misselthwaite Manor bleiben sollst, außer weil es am einfachsten ist. Er wird sich jedenfalls nicht um dich kümmern, das steht völlig außer Frage. Er kümmert sich nie um andere Leute.«
Sie hielt inne, als wäre ihr gerade etwas eingefallen.
»Er hat einen krummen Rücken«, sagte sie. »Das hat ihn verbittert gemacht. Als junger Mann war er griesgrämig, und bis zu seiner Heirat hat er all sein Geld und sein großes Anwesen nicht genießen können.«
Obwohl Mary desinteressiert wirken wollte, sah sie Mrs. Medlock jetzt an. Sie war doch ein wenig überrascht, denn sie hätte nie gedacht, dass der Bucklige verheiratet sein könnte. Mrs. Medlock bemerkte das, und weil sie eine redselige Frau war, fuhr sie eifrig fort. Außerdem verging so wenigstens ein bisschen Zeit.
»Sie war ein liebenswertes, hübsches Mädchen, und er wäre um die ganze Welt gereist, um einen Grashalm zu holen, wenn sie es gewollt hätte. Niemand glaubte, dass sie ihn heiraten würde, aber dann hat sie es doch getan, und die Leute behaupteten, sie hätte ihn wegen seines Geldes geheiratet. Aber das war es nicht – das war es nicht«, bekräftigte Mrs. Medlock. »Als sie dann starb –«
Unwillkürlich fuhr Mary hoch.
»Oh! Sie ist gestorben?«, rief sie unbeabsichtigt aus. Ihr war gerade ein französisches Märchen in den Sinn gekommen, das sie einmal gelesen hatte und das »Riquet à la Houppe« hieß. Es handelte von einem armen Krüppel und einer schönen Prinzessin, und plötzlich hatte sie Mitleid mit Mr. Archibald Craven.
»Ja, sie ist gestorben«, antwortete Mrs. Medlock. »Und danach wurde er noch seltsamer. Die anderen Menschen sind ihm egal. Er will auch niemanden sehen. Die meiste Zeit ist er auf Reisen, und wenn er sich in Misselthwaite aufhält, zieht er sich in den Westflügel zurück und lässt niemanden zu sich außer Pitcher. Pitcher ist ein alter Mann, aber er hat schon für Mr. Craven gesorgt, als der noch ein Kind war, und deshalb kennt er seine Eigenheiten.«
Das klang wie eine Geschichte aus einem Buch und stimmte Mary nicht besonders fröhlich. Ein Haus mit hundert Zimmern, fast alle verschlossen und verriegelt, ein Haus am Rand eines Moores – was auch immer ein Moor war –, das hörte sich alles ziemlich trostlos an. Und dann auch noch ein Mann mit krummem Rücken, der hinter verschlossenen Türen lebte! Sie starrte mit zusammengekniffenen Lippen aus dem Fenster und es schien ihr passend, dass jetzt der Regen in grauen Schwaden schräg herabfiel, gegen die Fensterscheiben schlug und an ihnen herablief. Wenn die schöne Frau noch am Leben gewesen wäre, hätte sie vielleicht Fröhlichkeit verbreiten können, so ähnlich wie ihre Mutter, sie wäre im Haus ein- und ausgegangen und hätte Bälle besucht, so wie ihre Mutter in ihren Kleidern »voll mit Spitzen«. Aber sie war nicht mehr da.
»Erwarte nicht, dass du ihn zu Gesicht bekommst, denn ich wette, das wird nicht passieren. Und du darfst auch nicht erwarten, dass irgendjemand mit dir spricht. Du wirst alleine spielen und alleine zurechtkommen müssen. Man wird dir sagen, in welche Zimmer du gehen darfst und in welche nicht. Gärten gibt es genug. Aber im Haus darfst du nicht herumstreunen und herumschnüffeln. Das wird Mr. Craven nicht zulassen.«
»Ich will gar nicht herumschnüffeln«, sagte Mary unwirsch; und so plötzlich, wie das Mitleid für Mr. Archibald Craven sie erfasst hatte, verließ es sie nun wieder und sie fand, er war so unsympathisch, dass er all das, was ihm widerfahren war, verdient hatte.
Dann wandte sie sich zu den regenüberströmten Fensterscheiben des Waggons und blickte hinaus in das graue Unwetter, das aussah, als würde es niemals aufhören. Sie betrachtete es so eindringlich und so lange, bis das Grau vor ihren Augen immer schwerer wurde und sie einschlief.
Mary schlief lange. Als sie aufwachte, hatte Mrs. Medlock an einem Bahnhof Proviant gekauft, und so aßen sie jetzt Hühnchen, kaltes Rindfleisch und Brot mit Butter und tranken Tee dazu. Der Regen fiel in immer dichteren Strömen und alle Leute auf dem Bahnhof trugen nasse, glänzende Regenmäntel. Der Schaffner schaltete das Licht im Waggon an, und durch den Tee, das Hühnchen und das Rindfleisch besserte sich Mrs. Medlocks Laune erheblich. Sie langte tüchtig zu und schlief dann ein, und Mary betrachtete sie und sah zu, wie ihre adrette Haube auf einer Seite hinabrutschte, bis sie selbst in ihrer Ecke des Abteils ebenfalls wieder einschlief, eingelullt vom Regen, der gegen die Scheiben prasselte. Als sie wieder erwachte, war es schon dunkel und der Zug stand in einem Bahnhof. Mrs. Medlock hatte sie wachgerüttelt.
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