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Wie eine kleine Prinzessin lebt Sara im Londoner Mädcheninternat, denn ihr Vater im fernen Indien ist reich. Mit einem Mal ist alles verloren: Ihr Vater stirbt, sein Vermögen ist dahin – und für Sara beginnt ein hartes Leben als Waise mit nichts als ihrer reinen Seele und ihrer ausgelassenen Fantasie. Doch jemand hat den Auftrag, nach ihr zu suchen … Frances Hodgson Burnett, Schöpferin des 'Kleinen Lords', hat mit der 'Kleinen Prinzessin' eine Geschichte über Freundschaft, Schicksal und die Kraft des Guten geschrieben, der seit vielen Generationen junge Leserinnen bezaubert.
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Seitenzahl: 320
Frances Hodgson Burnett Sara, die kleine Prinzessin
Frances Hodgson Burnett
Aus dem Englischen neu übersetzt von Felix Mayer
Anaconda
Titel der amerikanischen Originalausgabe: A Little Princess (New York: Charles Scribner’s Sons 1905). Textgrundlage dieser Übersetzung ist die Ausgabe London: Wordsworth Classics 1994.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
©2015 Anaconda Verlag GmbH, Köln Alle Rechte vorbehalten. Umschlagmotiv: Albert Lynch (1851–1912), »The Letter«, Private Collection / © Christie’s Images / Bridgeman Images Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de eISBN 978-3-7306-9128-1 ISBN [email protected]
An einem dunklen Wintertag, als in den Straßen von London fahler Nebel hing, so dicht und schwer, dass die Laternen angezündet werden mussten und die Schaufenster wie am Abend hell erleuchtet waren, saß ein kleines Mädchen mit seinem Vater in einer Kutsche, die langsam die breiten Hauptstraßen entlangfuhr.
Sie hatte die Beine untergeschlagen, schmiegte sich in die Arme ihres Vaters und betrachtete mit ihren großen Augen gedankenverloren die Menschen auf dem Gehsteig.
Weil sie noch sehr jung war, nahm sich der Ausdruck in ihrem schmalen Gesicht ziemlich wunderlich aus. Selbst ein zwölfjähriges Kind hätte dadurch ältlich gewirkt, und Sara Crewe war erst sieben. Es war jedoch ihre Art, stets vor sich hin zu träumen und sich eigenartige Gedanken zu machen, und schon immer hatte sie auch über die Erwachsenen und ihre Welt nachgedacht. Dabei schien ihr, als habe sie selbst schon ein langes Leben hinter sich.
Jetzt dachte sie an die Reise, die sie mit ihrem Vater, Captain Crewe, von Bombay hierhergeführt hatte. Sie dachte an das große Schiff, an die indischen Matrosen, die lautlos hin und her gehuscht waren, an die Kinder, die auf dem heißen Deck miteinander gespielt hatten, und daran, wie die Frauen der jungen Offiziere ihr Fragen gestellt und dann über das, was sie sagte, gelacht hatten.
Am meisten beschäftigte sie jedoch, wie merkwürdig es war, dass sie sich eben noch unter der sengenden Sonne Indiens befunden hatte, dann mitten auf dem Ozean und jetzt in diesem seltsamen Gefährt durch seltsame Straßen fuhr, wo es tagsüber so finster war wie bei Nacht. Diese Vorstellung verwirrte sie, und sie schmiegte sich noch näher an ihren Vater.
»Papa«, sagte sie leise und mit schwacher Stimme, fast flüsternd, »Papa.«
»Was ist denn, mein Liebling?«, fragte Captain Crewe, zog sie an sich und sah zu ihr hinab. »Was geht meiner Sara durch den Kopf?«
»Sind wir jetzt da?«, flüsterte Sara und kuschelte sich noch näher an ihn.
»Ja, meine kleine Sara, wir sind da. Jetzt sind wir endlich am Ziel.« Und selbst mit ihren sieben Jahren wusste sie, dass er in diesem Moment sehr traurig war.
Sara kam es vor, als habe ihr Vater sie schon seit Jahren darauf vorbereitet, dass sie einmal »dorthin« gehen würde, wie sie für sich sagte. Ihre Mutter war bei ihrer Geburt gestorben, sie hatte sie also nie gekannt oder vermisst. Ihr Vater, jung, gut aussehend, reich und fürsorglich, war der einzige Mensch, den sie im Leben hatte. Sie hatten immer miteinander gespielt und mochten einander sehr gern. Dass er reich war, wusste sie nur, weil die Leute manchmal davon sprachen, wenn sie glaubten, Sara würde nicht zuhören, und sie hatte auch davon reden hören, dass sie selbst einmal reich sein werde. Sie hatte keinerlei Vorstellung davon, was es hieß, reich zu sein. Sie hatte immer in einem herrschaftlichen Haus gelebt und war es gewohnt, von einer Vielzahl von Dienern umgeben zu sein, die sie höflich grüßten, sie »Kleine Miss Sahib« nannten und all ihre Wünsche erfüllten. Sie hatte Spielzeug und Haustiere besessen, war von einem Kindermädchen, das ihr zu Füßen lag, umsorgt worden und hatte mit der Zeit begriffen, dass das bei reichen Leuten einfach so war. Das war jedoch schon alles, was sie darüber wusste.
In ihren wenigen Lebensjahren hatte sie nur eine Sorge gehabt, nämlich dass sie früher oder später »dorthin« gebracht würde. Weil das Klima in Indien sehr schädlich für sie war, wurden die Kinder so früh wie möglich weggeschickt, üblicherweise nach England und auf eine Schule. Sara hatte miterlebt, wie andere Kinder fortgegangen waren, und hatte deren Eltern über die Briefe sprechen hören, die sie von ihnen erhielten. Sie hatte immer gewusst, dass auch sie eines Tages würde weggehen müssen, und obwohl sie ihrem Vater bisweilen interessiert zugehört hatte, wenn er von der neuen Heimat und der Reise dorthin erzählte, hatte der Gedanke, von ihm getrennt zu sein, ihr Kummer bereitet.
»Kannst du denn nicht mit mir dorthin gehen, Papa?«, hatte sie ihn gefragt, als sie fünf war. »Kannst du denn nicht auch dort in die Schule gehen? Ich würde dir auch bei den Hausaufgaben helfen.«
»Aber du wirst doch gar nicht lange weg sein, meine kleine Sara«, hatte er stets geantwortet. »Du wirst in einem schönen Haus leben, mit vielen anderen Mädchen, mit denen du spielen kannst, ich werde dir viele Bücher schicken, und die Zeit wird so schnell vergehen, dass es dir höchstens wie ein Jahr vorkommt, bis du groß und gescheit genug bist, dass du wieder zurückkommen und dich um deinen Papa kümmern kannst.«
Diese Vorstellung hatte ihr gefallen. Ihrem Vater den Haushalt zu führen, mit ihm auszureiten, bei seinen Abendgesellschaften der Tafel vorzusitzen, mit ihm Gespräche zu führen und seine Bücher zu lesen – sie hätte sich nichts Schöneres denken können, und wenn sie dafür »dorthin« gehen musste, nach England, blieb ihr keine andere Wahl. Für andere Mädchen interessierte sie sich kaum, doch mit genügend Büchern würde sie gut zurechtkommen. Bücher waren ihr das Liebste auf der Welt, und sie erfand selbst laufend wunderschöne Geschichten, die sie sich selbst erzählte. Manchmal erzählte sie sie ihrem Vater, dem sie genauso gut gefielen wie ihr.
»Nun, Papa«, sagte sie mit sanfter Stimme, »da wir jetzt am Ziel sind, müssen wir uns wohl in unser Schicksal fügen.«
Captain Crewe lachte über diesen altmodischen Ausdruck und gab Sara einen Kuss. Er selbst empfand den Abschied gar nicht als schicksalhaft, doch er wusste, dass er das nicht zeigen durfte. Seine reizende kleine Sara war ihm eine treue Begleiterin gewesen und er ahnte, wie einsam er sich bei der Rückkehr nach Indien fühlen würde, wenn er sein Haus beträte und nicht damit rechnen durfte, dass ihm eine kleine Gestalt im weißen Kleid entgegeneilte, um ihn zu begrüßen. Daher hielt er Sara noch einmal fest in seinen Armen, während die Kutsche auf den großen, tristen Platz mit dem Haus fuhr, in dem ihre Reise endete.
Es war ein großes, tristes Backsteinhaus, das genauso aussah wie alle anderen Häuser in der Straße, bis auf eine glänzende Messingplatte an der Eingangstür, in die in schwarzen Lettern eingraviert war:
MISS MINCHIN Private Lehranstalt für junge Damen
»Wir sind da, Sara«, sagte Captain Crewe und versuchte, so fröhlich wie möglich zu klingen. Dann hob er Sara aus der Kutsche und gemeinsam stiegen sie die Treppe hinauf und läuteten. Später dachte Sara immer wieder, dass das Gebäude ganz seiner Besitzerin Miss Minchin entsprach. Es wirkte ehrenwert und war ordentlich eingerichtet, doch im Inneren war alles hässlich; sogar die Lehnsessel schienen ein Skelett aus harten Knochen zu haben. Die polierten Möbel in der Eingangshalle machten einen abweisenden Eindruck, und selbst der Mond mit rotglänzenden Wangen auf der Standuhr in der Ecke blickte streng herab. In dem Salon, in den Sara und ihr Vater geführt wurden, lag ein Teppich mit altmodischem Muster, die Stühle waren altmodisch und auf dem schweren marmornen Kaminsims stand eine schwere marmorne Uhr.
Sara setzte sich auf einen der harten Mahagonistühle und sah sich rasch um.
»Mir gefällt es hier nicht, Papa«, sagte sie. »Aber ich meine, es dürfte auch einem Soldaten – und sei er noch so tapfer – nicht eigentlich gefallen, in die Schlacht zu ziehen.«
Bei diesen Worten musste Captain Crewe herzlich lachen. Er war jung und hatte ein heiteres Gemüt, und Saras sonderbare Art zu reden gefiel ihm jedes Mal wieder.
»Ach, Sara«, sagte er, »was werde ich nur tun, wenn ich niemanden mehr habe, der sich so gewählt ausdrückt? Niemand redet so vornehm wie du.«
»Aber weshalb musst du dabei so lachen?«, wollte Sara wissen.
»Es ist einfach lustig, wenn du so sprichst«, antwortete er und lachte noch lauter. Doch dann wurde er plötzlich still, drückte Sara an sich, überhäufte sie mit Küssen, und es wirkte fast, als kämen ihm die Tränen.
In diesem Moment betrat Miss Minchin den Salon. Sara sah auf den ersten Blick, dass sie genau wie ihr Haus war: groß und glanzlos, ehrenwert und abstoßend. Sie hatte weite, glasige Augen und auf ihrem Gesicht lag ein breites, frostiges Lächeln. Als sie Sara und Captain Crewe sah, wurde ihr Lächeln noch breiter. Die Dame, die Saras Vater ihre Lehranstalt empfohlen hatte, hatte ihr nur Vorteilhaftes über diesen jungen Offizier berichtet. Unter anderem hatte Miss Minchin erfahren, dass er ein reicher Mann war und bereit, für das Wohl seiner Tochter viel Geld auszugeben.
»Captain Crewe, es wird mir eine große Ehre sein, ein so hübsches und begabtes Kind in meiner Obhut zu haben«, sagte sie, während sie Saras Hand tätschelte. »Lady Meredith hat mir erzählt, dass Sara außergewöhnlich klug ist. Für ein Institut wie meines gibt es nichts Wertvolleres als kluge Kinder.«
Sara stand reglos da und sah Miss Minchin an. Wie so oft gingen ihr ungewöhnliche Dinge durch den Kopf.
»Weshalb sagt sie, ich sei hübsch?«, fragte sie sich. »Das stimmt doch gar nicht. Isobel, die Tochter von Colonel Grange, die ist hübsch. Sie hat rosige Wangen und langes, goldblondes Haar, und wenn sie lächelt, bekommt sie Grübchen. Meine Haare sind kurz und schwarz und meine Augen grün, außerdem bin ich dürr und überhaupt nicht schön. Ich bin eines der unansehnlichsten Kinder, die ich kenne. Was Miss Minchin da sagt, ist einfach falsch.«
So unansehnlich, wie sie glaubte, war Sara aber gar nicht. Zwar konnte sie sich nicht im Geringsten mit Isobel Grange messen, dem schönsten Mädchen in der englischen Garnison, doch besaß sie ihren ganz eigenen Reiz. Sie war zierlich und gelenkig, für ihr Alter ziemlich groß und hatte ein hübsches, aufgewecktes Gesicht. Ihr dichtes Haar war pechschwarz und an den Spitzen leicht gekräuselt, ihre Augen in der Tat grünlich-grau, aber groß und wunderschön, mit langen schwarzen Wimpern, und wenngleich Sara selbst die Farbe nicht mochte, so gefiel sie doch vielen anderen. Dennoch war sie der festen Ansicht, ein unansehnliches Mädchen zu sein, und Miss Minchins Schmeicheleien stießen bei ihr auf taube Ohren.
»Würde ich Miss Minchin als schön bezeichnen«, dachte sie, »dann wäre das genauso falsch. Und ich wäre mir dessen bewusst. Ich bin genauso unansehnlich wie sie – auf meine Weise. Warum hat sie das nur gesagt?«
Als sie Miss Minchin besser kannte, wurde ihr klar, warum sie es gesagt hatte. Sie sagte es immer, wenn Eltern ihr Kind in ihr Internat brachten.
Sara stand dicht neben ihrem Vater und hörte zu, wie er mit Miss Minchin sprach. Sie sollte das Internat besuchen, weil auch die beiden Töchter von Lady Meredith hier zur Schule gegangen waren und Saras Vater der Empfehlung von Lady Meredith vertraute. Sara sollte als »Interne« aufgenommen werden, es dabei aber besser haben als andere Interne. Sie sollte ein eigenes schönes Schlafzimmer und ein Wohnzimmer bekommen, ein Pony samt Kutsche sowie eine Dienerin, die sich so um sie kümmern sollte, wie ihr Kindermädchen in Indien es getan hatte.
»Was den Schulunterricht angeht, mache ich mir überhaupt keine Sorgen«, sagte Captain Crewe fröhlich lachend und tätschelte Saras Hand. »Sie werden eher darauf achten müssen, Miss Minchin, dass sie nicht zu viel und zu schnell lernt. Andauernd steckt sie ihre kleine Nase in Bücher. Sie liest Bücher nicht, sie verschlingt sie, als wäre sie kein kleines Mädchen, sondern ein kleiner Wolf. Sie ist immer wie ausgehungert nach neuen Büchern, die sie verschlingen kann, und sie liest auch Bücher für Erwachsene, richtig dicke Wälzer, französische und deutsche genauso wie englische, ob historische Werke, Biografien oder Literatur – sie liest einfach alles. Wenn sie zu viel liest, dann holen Sie sie von ihren Büchern weg. Sehen Sie zu, dass sie auch einmal auf ihrem Pony ausreitet oder sich eine neue Puppe kauft. Sie sollte überhaupt mehr mit Puppen spielen.«
»Aber Papa«, sagte Sara, »wenn ich mir alle paar Tage eine neue Puppe kaufen würde, dann hätte ich schon bald so viele, dass ich nicht alle richtig lieb haben könnte. Eine Puppe sollte eine enge Vertraute sein. Und meine enge Vertraute wird Emily sein.«
Captain Crewe und Miss Minchin sahen einander an.
»Wer ist denn Emily?«, fragte Miss Minchin.
»Erklär es ihr, Sara«, sagte Captain Crewe lächelnd.
Sara blickte Miss Minchin aus ihren graugrünen Augen sanft und ernst an.
»Sie ist eine Puppe, die ich noch nicht habe«, sagte sie. »Papa wird sie mir kaufen. Wir suchen sie gemeinsam aus. Sie soll Emily heißen. Wenn Papa nicht mehr da ist, wird sie meine Freundin sein. Dann kann ich ihr von ihm erzählen.«
Das breite, frostige Lächeln auf Miss Minchins Gesicht nahm einen gönnerhaften Zug an.
»Was für ein außergewöhnliches Kind!«, sagte sie. »Was für ein süßes kleines Geschöpf!«
»Das stimmt«, sagte Captain Crewe und zog Sara näher zu sich, »sie ist wirklich ein süßes kleines Geschöpf. Ich bitte Sie, Miss Minchin, passen Sie gut auf sie auf.«
Bis ihr Vater einige Tage später die Rückreise nach Indien antrat, wohnte Sara bei ihm im Hotel. Sie gingen gemeinsam in viele große Geschäfte und kauften jede Menge Sachen. Sie kauften sehr viel mehr, als Sara benötigte, und weil Captain Crewe ein impulsiver, argloser junger Mann war, dessen Tochter nicht nur alles bekommen sollte, was ihr gefiel, sondern auch alles, was ihm selbst gefiel, hatten sie bald einen Schrank voller Kleidung angesammelt, die für ein siebenjähriges Mädchen viel zu prächtig war. Sie hatten Samtkleider gekauft, verbrämt mit kostbaren Pelzen, Kleider aus Spitze und welche mit Stickereien, Hüte mit ausladenden, weichen Straußenfedern, Mäntel und Muffe aus Hermelin, Schachteln voll mit Handschühchen und Taschentüchern und Seidenstrümpfen, und all das in solchen Mengen, dass die zuvorkommenden jungen Verkäuferinnen hinter der Theke einander zuflüsterten, dieses eigenartige, vornehm dreinblickende Mädchen müsse wohl eine Prinzessin aus fernen Landen sein, vielleicht sogar die Tochter eines indischen Maharadschas.
Und nachdem sie in etlichen Spielwarenläden zahllose Puppen angesehen hatten, entdeckten sie schließlich Emily.
»Sie soll aussehen, als wäre sie gar keine Puppe«, erklärte Sara. »Sie soll aussehen, als würde sie mir wirklich zuhören, wenn ich ihr etwas erzähle. Weißt du, Papa, das Ärgerliche an Puppen«, fuhr sie fort und neigte den Kopf nachdenklich zur Seite, »das Ärgerliche an Puppen ist, dass sie einem nie wirklich zuzuhören scheinen.« Sie sahen sich große und kleine Puppen an, Puppen mit dunklen Augen und mit blauen Augen, Puppen mit braunen Locken und mit goldenen Zöpfen, Puppen mit Kleidern und ohne Kleider.
»Wenn ich Emily finde und sie wie diese hier nichts anzuziehen hat«, sagte Sara, als sie eine unbekleidete Puppe in Augenschein nahmen, »bringen wir sie zu einer Schneiderin und lassen ihr Kleider anfertigen. Maßgeschneiderte Kleider passen am besten.«
Nach einer Reihe von Enttäuschungen gingen sie zu Fuß weiter und betrachteten die Auslagen, während die Kutsche ihnen folgte. Sie waren an zwei, drei Läden vorübergegangen, ohne sie zu betreten, als Sara vor dem Schaufenster eines winzigen Geschäfts plötzlich stehen blieb und ihren Vater am Arm griff.
»Papa!«, rief sie. »Da ist Emily!«
Ihr Gesicht leuchtete vor Freude und ihre graugrünen Augen glänzten, als habe sie jemanden erkannt, der ihr vertraut war und den sie sehr mochte.
»Sie wartet auf uns«, sagte sie. »Schnell, lass uns hineingehen.«
»Tatsächlich!«, sagte Captain Crewe. »Jetzt brauchen wir eigentlich jemanden, der uns vorstellt.«
»Du stellst mich vor und ich stelle dich vor«, sagte Sara. »Aber vielleicht hat sie mich ja schon erkannt – ich jedenfalls habe sie auf den ersten Blick erkannt.«
Vielleicht hatte sie Sara tatsächlich erkannt; zumindest sah sie Sara verständig an, als diese sie in den Arm nahm. Sie war eine große Puppe, doch handlich genug, dass Sara sie leicht im Arm tragen konnte. Ihre dunkelblonden Locken lagen ihr wie ein Umhang über den Schultern und die dichten, weichen Wimpern um ihre hellen blaugrauen Augen waren nicht bloß aufgemalt, sondern echt.
»Kein Zweifel«, sagte Sara und sah der Puppe, die sie jetzt auf ihrem Schoß hielt, ins Gesicht, »kein Zweifel, Papa, das ist Emily.«
Sie kauften Emily und brachten sie in ein Fachgeschäft für Kindermoden, wo für sie Kleidung angefertigt wurde, so prächtig wie Saras eigene. Auch Emily bekam Kleider aus Spitze und Samt und Musselin, dazu Hüte und Mäntel und hübsche spitzenbesetzte Leibwäsche sowie Handschuhe, Taschentücher und Pelze.
»Ich möchte, dass sie stets aussieht wie das Kind einer fürsorglichen Mutter«, sagte Sara. »Ich bin jetzt ihre Mutter, auch wenn sie meine Gefährtin werden soll.«
Captain Crewe hätte an den Einkäufen seine helle Freude gehabt, hätte nicht eine traurige Gewissheit sein Herz beschwert. Er wusste, dass diese Besorgungen die Vorboten der Trennung von seiner geliebten reizenden Gefährtin waren.
In der folgenden Nacht stand er auf, ging zu Saras Bett und betrachtete sie, wie sie mit Emily im Arm schlafend dalag. Saras schwarzes Haar und Emilys dunkelblonde Locken flossen auf dem Kopfkissen ineinander, beide trugen mit Rüschen besetzte Nachthemden und ihre langen, geschwungenen Wimpern umspielten ihre Augen. Emily wirkte fast wie ein Mensch, und Captain Crewe war erleichtert, dass Sara sie hatte. Er seufzte tief und zupfte jungenhaft an seinem Schnurrbart.
»Ach, meine kleine Sara«, dachte er, »du weißt nicht, wie sehr du deinem Papa fehlen wirst.«
Am nächsten Tag brachte er Sara in Miss Minchins Internat, das von nun an ihr Zuhause sein sollte. Er selbst wollte tags darauf abreisen. Er informierte Miss Minchin, dass die Anwaltskanzlei Barrow & Skipworth, die ihn in allen Angelegenheiten in England vertrat, bei Fragen jederzeit zur Verfügung stand und auch die Rechnungen für Sara begleichen werde, die Miss Minchin bitte an die Kanzlei schicken wolle. Zweimal die Woche würde er Sara schreiben, und jeglicher Wunsch solle ihr erfüllt werden.
»Sie ist ein vernünftiges Mädchen«, fügte er hinzu, »und bittet niemals um etwas, das man ihr nicht unbesorgt geben könnte.«
Dann gingen sie gemeinsam in Saras kleines Wohnzimmer und sagten einander Lebewohl. Sara setzte sich zu ihrem Vater auf den Schoß, ergriff die Aufschläge seines Mantels und sah ihn lange und ernsthaft an.
»Prägst du dir mein Gesicht ein, damit du es nicht vergisst, meine kleine Sara?«, fragte er und strich ihr über den Kopf.
»Nein«, antwortete sie, »ich werde es nie vergessen. Du bist ganz fest in meinem Herzen.« Dann umarmten und küssten sie sich, als wollten sie sich niemals trennen.
Von ihrem Wohnzimmer aus blickte Sara, den Kopf in die Hände gestützt, der davonfahrenden Droschke nach, bis diese am Ende des Platzes um die Ecke bog. Emily saß neben ihr und schaute gleichfalls der Droschke hinterher. Kurze Zeit später trug Miss Minchin ihrer Schwester Miss Amelia auf, bei Sara nach dem Rechten zu sehen. Doch als Miss Amelia Saras Zimmer betreten wollte, konnte sie die Tür nicht öffnen.
»Ich habe abgeschlossen«, ertönte eine seltsam höfliche Kinderstimme hinter der Tür, »und ich bitte darum, nicht gestört zu werden.«
Miss Amelia war klein und dicklich und hatte gewaltigen Respekt vor ihrer Schwester. Sie war die weitaus gutmütigere von beiden, gehorchte Miss Minchin jedoch stets aufs Wort. Sie ging wieder hinunter, einigermaßen besorgt.
»So ein drolliges, altmodisches Kind habe ich ja noch nie erlebt«, sagte sie zu ihrer Schwester. »Hat sich in ihrem Zimmer eingesperrt und macht nicht den leisesten Mucks.«
»Das ist immer noch besser, als wenn sie zetert und um sich schlägt, so wie manch andere«, entgegnete Miss Minchin. »Ich hatte erwartet, dass sie das ganze Haus verrückt macht, so verzogen wie sie ist. Wenn je ein Kind immer seinen Willen bekommen hat, dann Sara Crewe.«
»Ich habe vorhin ihre Koffer ausgepackt und ihre Sachen eingeräumt«, sagte Miss Amelia. »So was habe ich noch nie gesehen: Mäntel mit Zobel- und Hermelinbesatz und Unterwäsche mit echter Brüsseler Spitze. Du hast doch auch einige von ihren Sachen gesehen. Was sagst du denn dazu?«
»Ich finde sie ausgesprochen lächerlich«, erwiderte Miss Minchin schmallippig, »aber wenn wir die Kinder sonntags zum Gottesdienst bringen, wird sie in der ersten Reihe einen guten Eindruck machen. Sie ist ausgestattet, als wäre sie eine kleine Prinzessin.«
Oben in dem verschlossenen Zimmer saßen Sara und Emily noch immer am Fenster und sahen zu der Ecke des Platzes, an der die Droschke verschwunden war, während Captain Crewe noch lange zurückblickte, winkte und Kusshände warf, als könne er einfach nicht aufhören.
Als Sara am nächsten Morgen das Klassenzimmer betrat, musterten die anderen Schülerinnen sie mit neugierigen Blicken. Alle hatten schon so manches über Sara gehört, von Lavinia Herbert, die fast dreizehn war und sich ziemlich erwachsen vorkam, bis zu Lottie Legh, die erst vier und damit das Nesthäkchen der Schule war. Sie wussten, dass Sara Miss Minchins neue Vorzeigeschülerin war und als Zierde des Hauses galt. Einige hatten sogar einen Blick auf Mariette erhascht, Saras französisches Kinderfräulein, das am Vorabend angekommen war. Lavinia hatte sich an Saras Zimmer vorbeigeschlichen und durch die offene Tür beobachtet, wie Mariette eine Schachtel öffnete, die ein Händler noch spätabends geliefert hatte.
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