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Mit Frankenstein hat Mary Shelley 1818 eine mythische Gestalt erschaffen, die im Lauf des 20. Jahrhunderts durch teilweise sehr freie Verfilmungen eine ungeheure Popularität erlangt hat. Während der Name nun für alle möglichen Arten von Monstern steht, erzählt Shelley die phantastische Geschichte des Victor Frankenstein, der – an der Universität Ingolstadt – ein künstliches Wesen erschafft, das er nicht beherrschen kann. Das Monster sehnt sich nach Liebe und Gemeinschaft, bringt aber allen, die ihm zu nahe kommen, den Tod.
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Seitenzahl: 436
Mary Shelley
Frankenstein
oder Der moderne Prometheus
Aus dem Englischen übersetzt von Ursula und Christian GraweAnmerkungen und Nachwort von Christian Grawe
Reclam
1986, 2018 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung
Coverabbildung: pio3/Shutterstock.com; Patrick Guenette / 123rf.com; Dina Konovalova / 123rf.com; CSA Images / B&W Engrave Ink Collection / istock.com
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2018
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961362-8
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020516-7
www.reclam.de
Als der Verleger der Standard Novels Frankenstein für eine seiner Reihen auswählte, trat er mit der Bitte an mich heran, eine kurze Darstellung des Ursprungs der Geschichte beizusteuern. Ich bin dazu umso eher bereit, als ich damit ein für allemal Antwort auf die Frage geben kann, die mir so oft gestellt wird – wie ich als noch junges Mädchen auf einen so entsetzlichen Gedanken verfallen und mich darüber so ausführlich auslassen konnte. Zwar scheue ich mich außerordentlich, in meinen Büchern über mich selbst zu sprechen, aber da meine Darstellung nur als Anhang zu einem früheren Werk erscheinen und sich ausschließlich auf Themen beschränken wird, die mit meiner literarischen Tätigkeit in Zusammenhang stehen, brauche ich mir persönliche Aufdringlichkeit wohl nicht vorzuwerfen.
Es ist durchaus nichts Ungewöhnliches, dass ich als Tochter zweier literarischer Berühmtheiten schon sehr früh auf den Gedanken kam zu schreiben. Schon als Kind habe ich Schreibversuche gemacht, und es war meine Lieblingsbeschäftigung, in den Stunden, die ich mir selbst überlassen war, »Geschichten zu erzählen«. Doch gab es ein noch größeres Vergnügen für mich – nämlich Luftschlösser zu bauen, Tagträumen nachzuhängen, Einfälle auszusinnen, die schließlich eine Reihe von imaginären Ereignissen bildeten. Meine Träume waren zugleich phantastischer und angenehmer als meine Texte. Beim Schreiben ahmte ich nur sklavisch nach, wiederholte eher, was andere mir vorgemacht hatten, als eigene originelle Einfälle zu Papier zu bringen. Was ich schrieb, war zumindest für ein weiteres Augenpaar bestimmt – meine Kindheitsgefährtin und Freundin; aber meine Träume gehörten mir allein, sie brauchte ich gegenüber niemandem zu rechtfertigen; sie waren meine Zuflucht, wenn ich verärgert, mein höchstes Vergnügen, wenn ich unbeschäftigt war.
Als kleines Mädchen lebte ich hauptsächlich auf dem Land und hielt mich oft in Schottland auf. Gelegentlich unternahm ich Reisen zu den eher malerischen Gegenden, aber mein eigentlicher Wohnsitz lag an den öden und eintönigen Nordufern des Tay, in der Nähe von Dundee. Öde und eintönig nenne ich sie im Rückblick, aber das waren sie damals für mich ganz und gar nicht. Sie waren der Horst der Freiheit, die erfreuliche Landschaft, wo ich ungehindert mit den Gestalten meiner Phantasie umgehen konnte. Ich schrieb schon damals, aber in einem sehr banalen Stil. Erst unter den Bäumen des Parks, der zu unserem Haus gehörte, oder auf den kahlen Hängen der unbewaldeten Berge in der Umgebung wurden meine eigentlichen Kompositionen, die kühnen Höhenflüge meiner Phantasie geboren und gehegt. Ich machte mich nicht zur Heldin meiner Geschichten. Mein eigenes Leben erschien mir als eine viel zu banale Angelegenheit. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass romantische Leiden oder wunderbare Ereignisse je mein Schicksal sein würden; aber ich war nicht auf meine eigene Person angewiesen und konnte die Stunden mit Geschöpfen bevölkern, die mir in diesem Alter viel interessanter vorkamen als meine eigenen Empfindungen.
Später wurde mein Leben abwechslungsreicher, und die Wirklichkeit trat an die Stelle der Dichtung. Mein Mann war allerdings von Anfang an darauf bedacht, dass ich mich meiner Eltern würdig erweisen und selbst literarische Lorbeeren verdienen sollte. Er spornte mich immer wieder an, literarischen Ruhm zu erwerben, woran auch mir selbst damals durchaus gelegen war, obwohl es mir inzwischen unendlich gleichgültig geworden ist. Damals war es sein ausdrücklicher Wunsch, dass ich schreiben sollte, nicht so sehr weil er glaubte, dass ich etwas Bemerkenswertes hervorbringen würde, sondern damit er selbst beurteilen konnte, wieweit ich zu späteren, größeren Hoffnungen Anlass gab. Trotzdem tat ich nichts. Reisen und die Sorge um meine Familie nahmen meine Zeit in Anspruch, und meine literarische Tätigkeit beschränkte sich auf Studien, etwa auf Lektüre oder geistige Anregungen im Umgang mit meinem weitaus gebildeteren Mann.
Im Sommer 1816 besuchten wir die Schweiz und wurden Nachbarn von Lord Byron. Zuerst verbrachten wir unsere Mußestunden auf dem See oder auf Spaziergängen an seinem Ufer. Lord Byron, der gerade am dritten Gesang von Childe Harold1 arbeitete, war der einzige von uns, der seine Gedanken zu Papier brachte, und als er uns diese von poetischer Leuchtkraft und Harmonie durchdrungenen Verse nach und nach brachte, schienen sie den Schönheiten von Himmel und Erde, deren Eindruck wir gemeinsam erlebten, das Siegel des Göttlichen aufzuprägen.
Aber der Sommer stellte sich als nass und unfreundlich heraus, und unablässiger Regen fesselte uns oft tagelang ans Haus. Einige vom Deutschen ins Französische übersetzte Bände Gespenstergeschichten fielen uns in die Hände. Da gab es die »Geschichte vom treulosen Liebhaber«, der sich, als er die Braut, der er Treue geschworen hat, zu umarmen glaubt, in den blassen Geisterarmen der Frau findet, die er im Stich gelassen hat. Da gab es die Erzählung von dem sündigen Ahnvater eines Geschlechts, dessen furchtbares Schicksal es war, den jüngeren Söhnen seines unglückseligen Hauses den Todeskuss aufzudrücken, sobald sie das Alter schönster Hoffnungen erreicht hatten. Seine riesige gespenstische Gestalt sah man wie den Geist in Hamlet in voller Rüstung, aber mit offenem Visier im unsteten Licht des Mondes um Mitternacht langsam die düstere Allee entlangschreiten. Die Figur verlor sich im Schatten der Burgmauern; aber bald schwang ein Tor auf, Schritte ließen sich vernehmen, die Tür des Gemachs öffnete sich, und er näherte sich dem Bett der blühenden Jünglinge, die von gesundem Schlaf umfangen waren. Unendlicher Schmerz lag auf seinem Gesicht, als er sich niederbeugte und die Stirn der Knaben küsste, die von Stund an wie vorzeitig gebrochene Blumen dahinwelkten. Ich habe diese Geschichten seitdem nicht wiedergesehen, aber die Vorfälle sind in meinem Gedächtnis so frisch, als hätte ich sie gestern gelesen.
»Wir wollen alle eine Gespenstergeschichte schreiben«, sagte Lord Byron, und sein Vorschlag wurde angenommen. Wir waren zu viert. Der edle Dichter begann eine Erzählung, von der er ein Fragment am Ende seines Gedichts Mazeppa drucken ließ. Shelley – dem es leichter fiel, Gedanken und Gefühle mit der Suggestivität einer reichen Bildersprache und der Musik höchst wohlklingender Verse auszudrücken, die unsere Sprache zieren, als das Handlungsgerüst einer Geschichte zu erfinden, begann eine, die auf Erlebnissen seiner frühen Kindheit beruhte. Der unselige Polidori verfiel auf eine schreckliche Geschichte von einer kahlköpfigen Dame, die auf diese Weise gestraft worden war, weil sie durch ein Schlüsselloch geschaut hatte – was sie sehen wollte, ist mir entfallen; zweifellos etwas äußerst Schockierendes und Verwerfliches. Aber als er ihr noch böser mitgespielt hatte als dem berüchtigten Tom von Coventry2, wusste er nicht, was er weiter mit ihr anfangen sollte, und sah sich gezwungen, sie in das Grab der Capulets3 zu befördern, den einzigen für sie geeigneten Ort. Auch die berühmten Dichter, von platter Prosa gelangweilt, gaben die ihnen unbequeme Aufgabe schleunigst wieder auf.
Ich gab mir schreckliche Mühe, eine Geschichte zu erfinden – eine Geschichte, die es mit denen aufnehmen konnte, die uns zu dieser Aufgabe angeregt hatten –, eine, die die geheimsten Ängste der menschlichen Natur ansprechen und Schauer des Entsetzens hervorrufen würde – eine, bei der dem Leser davor grauen würde, sich umzublicken, bei der ihm das Blut in den Adern stocken und der Puls schneller schlagen würde. Wenn mir all das nicht gelang, würde meine Gespenstergeschichte ihren Namen nicht verdienen. Ich dachte nach, ich grübelte – vergeblich. Ich litt unter völligem Versagen der Einbildungskraft, dem größten Unglück des Schriftstellers, wenn unsere flehentlichen Beschwörungen mit einem dumpfen Nichts beantwortet werden. »Hast du dir eine Geschichte ausgedacht?«, wurde ich jeden Morgen gefragt, und jeden Morgen war ich gezwungen, diese Frage kleinlaut zu verneinen.
Alles muss einen Anfang haben, um mit Sancho Pansa4 zu sprechen, und dieser Anfang muss mit etwas in Zusammenhang stehen, das vorherging. Bei den Hindus wird die Welt von einem Elefanten getragen, aber sie lassen den Elefanten auf einer Schildkröte stehen. Erfinden, das muss man in aller Bescheidenheit zugeben, heißt nicht, aus dem Nichts schaffen, sondern aus dem Chaos; das Material muss zunächst einmal da sein. Erfinden kann dunklen, gestaltlosen Stoffen eine Form geben, aber es kann den Stoff selbst nicht erschaffen. Bei allem Entdecken und Erfinden, sogar bei dem von der Phantasie abhängenden, werden wir ständig an die Geschichte von Kolumbus und seinem Ei5 erinnert. Erfinden besteht in der Fähigkeit, das Potential eines Stoffes zu erfassen, und in dem Talent, Gedanken zu formen und zu gestalten, die ihm entsprechen.
Zahlreich und ausgedehnt waren die Gespräche zwischen Lord Byron und Shelley, bei denen ich eine andächtige, aber meist schweigsame Zuhörerin war. Bei einem davon wurden verschiedene philosophische Lehren diskutiert, unter anderem auch Wesen und Ursprung des Lebens und ob Aussicht bestehe, sie je zu entdecken und das Wissen zu nutzen. Sie unterhielten sich über Dr. Darwins Experimente6 (ich spreche nicht von dem, was der Doktor wirklich tat oder zu tun behauptete, sondern, was meinen Absichten näherkommt, von dem, was er angeblich getan hatte), der ein Stückchen Regenwurm in einem Reagenzglas so lange aufhob, bis es sich auf wundersame Weise selbständig zu bewegen begann. So allerdings würde Leben nicht entstehen. Vielleicht würde man eine Leiche wieder zum Leben erwecken. Der Galvanismus7 hatte Beispiele dieser Art geliefert: vielleicht ließen sich Einzelteile eines Menschen herstellen, zusammensetzen und mit Lebenskraft beseelen?
Die Nacht verging über diesem Gespräch, und selbst die Geisterstunde war vorüber, bevor wir uns zur Ruhe begaben. Als ich mich ins Bett legte, konnte ich nicht einschlafen, aber auch von Nachdenken konnte keine Rede sein. Ungebeten hatte meine Phantasie völlig Besitz von mir ergriffen und verlieh den wechselnden Bildern, die vor mir auftauchten, eine Lebendigkeit, die über die übliche Tagträumerei weit hinausging. Ich sah – zwar mit geschlossenen Augen, aber klar vor meinem geistigen Blick –, ich sah den blassen Adepten heilloser Künste neben dem Wesen knien, das er zusammengesetzt hatte. Ich sah das abscheuliche Phantom eines Mannes ausgestreckt daliegen und plötzlich mithilfe einer gewaltigen Maschine Lebenszeichen von sich geben und sich mit einer noch schwerfälligen und ungelenken Bewegung rühren. Erschreckend musste es sein; denn die Wirkung jedes menschlichen Versuchs, die unnachahmliche Maschinerie des Weltschöpfers kindisch nachzuahmen, musste außerordentlich erschreckend sein. Vor seinem Erfolg würde der Künstler erschaudern; von Grauen gepackt, würde er sich von dem abscheulichen Werk seiner Hände abwenden. Er würde hoffen, dass der kümmerliche Lebensfunke, den er entzündet hatte, verlöschte, wenn man ihn sich selbst überließe, und dass dieses Wesen, so unzulänglich zum Leben erweckt, zu toter Materie verfiele und er Schlaf fände in der Gewissheit, es werde sich ewige Grabesstille über die vergängliche Existenz des abscheulichen Leichnams senken, den er als die Wiege des Lebens betrachtet hatte. Er schläft ein; etwas weckt ihn auf; er öffnet die Augen, und siehe, das scheußliche Wesen steht an seinem Bett, öffnet die Vorhänge und sieht ihn mit gelben, wässrigen, aber forschenden Augen an.
Entsetzt öffnete ich die Augen. Die Vorstellung nahm mich so gefangen, dass mich ein Angstschauer überlief, und mir lag daran, das grässliche Trugbild meiner Phantasie mit der mich umgebenden Wirklichkeit zu vertauschen. Ich sehe noch alles vor mir: das Zimmer, das dunkle Parkett, die geschlossenen Fensterläden, durch die spärliches Mondlicht dringt, und das deutliche Gefühl, dass der spiegelglatte See und die hohen weißen Alpen dahinterlagen. Ich konnte das Bild meines abscheulichen Phantoms nicht so schnell loswerden; es verfolgte mich weiter. Ich musste versuchen, an etwas anderes zu denken. Ich kehrte zu meiner Gespenstergeschichte zurück – meiner lästigen, unglücklichen Gespenstergeschichte! Ach! Könnte ich doch nur auf eine Geschichte verfallen, die meine Leser ebenso erschrecken würde, wie ich mich in dieser Nacht erschrocken hatte!
Blitzschnell und erlösend kam mir die Erleuchtung. »Ich habe sie ja gefunden! Was mich entsetzt hat, wird auch andere entsetzen, und ich brauche nur die Erscheinung zu beschreiben, die meine nächtliche Ruhe gestört hatte.« Am nächsten Morgen verkündete ich, dass ich mir »eine Geschichte ausgedacht hätte«. Ich begann noch am selben Tag mit den Worten »In einer trüben Novembernacht …« und brauchte nur die düsteren Schrecken meines Wachtraums zu Papier zu bringen.
Zuerst dachte ich nur an ein paar Seiten, eine kurze Erzählung, aber Shelley drängte mich, den Gedanken ausführlicher zu entwickeln. Zwar verdanke ich meinem Mann nicht einen einzigen Einfall, kaum einzelne Empfindungen, und doch hätte die Geschichte ohne seine Anregungen niemals die Form angenommen, in der die Welt sie kennenlernte. Von dieser Erklärung muss ich das Vorwort ausnehmen. Soweit ich mich erinnere, ist es ganz und gar sein Werk.
Und nun bitte ich meinen abscheulichen geistigen Sprössling noch einmal, in die Welt zu gehen und zu gedeihen. Ich hänge an ihm, denn er war das Kind glücklicher Tage, als Tod und Schmerz bloße Worte waren, die noch kein Echo in meinem Herzen fanden. Seine zahlreichen Seiten erinnern an so manchen Spaziergang, manche Fahrt, manches Gespräch, als ich noch nicht allein war. Mein Gefährte war ein Mensch, wie ich ihn in dieser Welt nicht noch einmal finden werde. Aber das geht nur mich an; meine Leser brauchen sich über diese Erinnerungen keine Gedanken zu machen.
Ich möchte aber noch ein Wort hinzufügen über die Änderungen, die ich vorgenommen habe. Sie sind hauptsächlich stilistischer Natur. Ich habe weder an der Geschichte etwas geändert noch irgendwelche neuen Gedanken oder Umstände hinzugefügt. Ich habe die Sprache verbessert, wo sie so dürftig war, dass sie die Spannung der Geschichte beeinträchtigte. Und diese Änderungen finden sich fast ausschließlich am Anfang des ersten Teils. Im weiteren Verlauf beschränken sie sich auf untergeordnete Partien der Erzählung und lassen diese in ihrem Kern und ihrer Substanz unberührt.
M. W. S.
London, 15. Oktober 1831
Das Ereignis, auf dem diese Erzählung beruht, wird von Dr. Darwin und einigen deutschen Naturwissenschaftlern keineswegs für ausgeschlossen gehalten. Das soll aber nicht heißen, dass ich solche Phantasien auch nur im entferntesten für wahrscheinlich halte; und doch habe ich mich, indem ich sie einem Werk der Phantasie zugrunde lege, durchaus nicht damit begnügt, lediglich eine Reihe von Schauermärchen zusammenzuspinnen. Das Ereignis, dem die Geschichte ihre Spannung verdankt, ist frei von den Unzulänglichkeiten einer bloßen Gespenster- oder Zaubergeschichte. Sie bezieht ihren Reiz aus der Neuheit der Handlung, die sie entwickelt; und bei aller wissenschaftlichen Unhaltbarkeit eröffnet sie der Phantasie doch Perspektiven, die menschlichen Leidenschaften eingehender und überzeugender darzustellen, als es die üblichen Beziehungen zwischen tatsächlichen Ereignissen vermögen.
Ich habe mich deshalb bemüht, grundlegende physische und psychische Charakteristika des Menschen getreu beizubehalten, während ich mich gleichzeitig nicht gescheut habe, sie nach Belieben neu zu kombinieren. Die Ilias, die tragische Dichtung Griechenlands, Shakespeare im Sturm und im Sommernachtstraum und ganz besonders Milton im Verlorenen Paradies8 halten sich auch an diese Regel; und der bescheidenste Schriftsteller, der sich bemüht, durch seine Anstrengungen sich oder anderen Vergnügen zu bereiten, darf sich ohne Anmaßung in seinem Prosawerk Freiheiten erlauben oder vielmehr Regeln folgen, deren Anwendung in den größten Werken der Dichtkunst die schönsten Verbindungen menschlicher Empfindungen hervorgebracht hat.
Der Umstand, dem ich meine Geschichte verdanke, ergab sich aus einem zwanglosen Gespräch. Sie wurde teils aus dem Wunsch nach Abwechslung begonnen und teils als Mittel, brachliegende geistige Kräfte zu nutzen. Andere Motive kamen hinzu, als das Werk fortschritt. Es ist mir durchaus nicht gleichgültig, welche Wirkung die Moral, die sich in den Gefühlen oder Charakteren meiner Erzählung enthüllt, auch auf den Leser hat; doch hat sich meine Hauptsorge in dieser Hinsicht darauf beschränkt, die zerrüttende Wirkung der zeitgenössischen Romane zu vermeiden und die Vorzüge häuslicher Harmonie und den Wert universaler Tugend darzustellen. Die Ansichten, die dem Charakter und den Lebensumständen meines Helden ganz natürlich entspringen, dürfen keinesfalls durchweg als meine eigenen angesehen werden. Auch berechtigen die folgenden Seiten nicht zu der Schlussfolgerung, dass sie sich gegen irgendeine philosophische Lehre aussprechen.
Für die Autorin9 ist es darüber hinaus nicht unwesentlich, dass diese Geschichte in der majestätischen Landschaft begonnen wurde, wo sich das Geschehen hauptsächlich abspielt, und in einer Gesellschaft, der nachzutrauern sie nie aufhören wird. Ich habe den Sommer 1816 in der Umgebung von Genf verbracht. Die Jahreszeit war kalt und regnerisch, und an den Abenden saßen wir um ein loderndes Kaminfeuer und unterhielten uns manchmal mit deutschen Gespenstergeschichten, die uns zufällig in die Hände gefallen waren. Diese Erzählungen erregten in uns den spielerischen Wunsch, sie nachzuahmen. Zwei meiner Freunde (eine Geschichte aus der Feder des einen wäre dem Publikum sehr viel willkommener gewesen als alles, was ich je zu produzieren hoffen kann) und ich beschlossen, jeder eine Geschichte zu schreiben, die auf einem übernatürlichen Ereignis beruhte.
Das Wetter heiterte sich allerdings plötzlich auf; meine beiden Freunde ließen mich auf ihrer Reise durch die Alpen zurück, und in der großartigen Szenerie, die sie umgab, verloren sie jede Erinnerung an ihre Gespenstervisionen. Die folgende Erzählung ist die einzige, die vollendet wurde.
Marlow, September 1817
An Mrs. Saville, England
St. Petersburg, 11. Dez. 17–
Du wirst mit großer Erleichterung hören, dass kein Unglück den Beginn eines Wagnisses begleitet hat, das Du mit solch unheilvollen Vorahnungen betrachtet hast. Ich bin gestern hier angekommen, und meine erste Aufgabe ist es, meine liebe Schwester über mein Wohlergehen und meine steigende Zuversicht in das Gelingen meines Unternehmens zu beruhigen.
Ich bin bereits weit nördlich von London, und während ich durch die Straßen von Petersburg wandere, spüre ich eine kalte nördliche Brise auf meinen Wangen, die meine Nerven stählt und mich mit Vorfreude erfüllt. Kannst Du dieses Gefühl nachempfinden? Diese Brise, die aus den Regionen kommt, zu denen ich vordringen will, gibt mir einen Vorgeschmack von ihrem eisigen Klima. Von diesem verheißungsvollen Wind beflügelt, werden meine Tagträume leidenschaftlicher und lebhafter. Vergeblich versuche ich, mir einzureden, dass der Pol ein frostiger, gottverlassener Ort ist; in meiner Phantasie stellt er sich unweigerlich als eine wunderschöne und beglückende Gegend dar. Dort, Margaret, ist die Sonne ständig sichtbar, ihre runde Scheibe berührt nur den Horizont und spendet ewigen Glanz; von dort – denn mit Deiner Erlaubnis, liebe Schwester, setze ich einiges Vertrauen auf frühere Polfahrer –, von dort sind Schnee und Kälte verbannt; und unsere Fahrt über eine ruhige See treibt uns vielleicht zu einem Land, dessen Wunder und Schönheiten alle Gegenden übertreffen, die bisher auf dem bewohnbaren Erdball entdeckt worden sind. Vielleicht sind seine Ausmaße und Merkmale einzigartig, wie es in jenen unentdeckten Einsamkeiten auch die Phänomene der Himmelskörper zweifellos sind. Was darf man von einem Land mit ewigem Licht nicht alles erwarten! Vielleicht kann ich dort die wunderbare Kraft entdecken, die die Kompassnadel anzieht, und eine Unzahl von Himmelsbeobachtungen erklären, die nur dieser einen Reise bedürfen, damit ihre scheinbaren Ungereimtheiten ein für allemal logisch erscheinen. Ich werde meine unersättliche Neugier durch den Anblick eines Weltteils befriedigen, der nie zuvor besucht worden ist, und setze vielleicht meinen Fuß auf den Boden eines Landes, das noch kein einziger Mensch betreten hat. Darin besteht für mich die Verlockung, und sie ist so groß, dass sie mich alle Furcht vor Gefahr oder Tod überwinden lässt und mich dazu bewegt, diese mühsame Reise mit dem Glücksgefühl zu beginnen, das ein Kind empfindet, wenn es in den Ferien mit seinen Spielkameraden in einem kleinen Boot zu einer Entdeckungsreise auf dem heimatlichen Fluss aufbricht. Aber selbst wenn sich alle diese Vermutungen als falsch erweisen, kannst Du den unschätzbaren Dienst nicht bestreiten, den ich allen künftigen Generationen der Menschheit dadurch erweisen werde, dass ich in der Nähe des Pols eine Passage zu den Ländern entdecke, die zu erreichen im Augenblick so viele Monate in Anspruch nimmt; oder dass ich das Geheimnis der Magnetkraft löse, was, wenn überhaupt, nur durch ein Unternehmen wie das meine erreicht werden kann.
Diese Überlegungen haben die Unruhe zerstreut, mit der ich meinen Brief begann, und ich spüre, wie sich mein Herz mit einer Begeisterung füllt, die mich ins Unendliche erhebt, denn nichts trägt so sehr dazu bei, das Gemüt zu beruhigen, wie ein fester Vorsatz – ein Ziel, das unverrückbar vor dem inneren Auge steht. Diese Expedition war der Lieblingstraum meiner Kindheit. Mit Begeisterung habe ich die Berichte über die verschiedenen Reisen gelesen, die in der Hoffnung unternommen wurden, den Nord-Pazifik über die Meere zu erreichen, die den Pol umgeben. Du erinnerst Dich vielleicht, dass die ganze Bibliothek unseres guten Onkels Thomas aus der Geschichte all der Reisen bestand, die zu Entdeckungszwecken unternommen wurden. Meine Erziehung wurde vernachlässigt, aber ich war ein leidenschaftlicher Leser. Diese Bände bildeten Tag und Nacht meine Lektüre, und meine Vertrautheit mit ihnen bestärkte das Bedauern, das ich als Kind empfunden hatte, als ich erfuhr, dass mein Vater meinem Onkel auf dem Totenbett das strikte Verbot erteilt hatte, mich zur See fahren zu lassen.
Diese Phantasien verblassten, als ich zum erstenmal in den Werken der Dichter blätterte, deren lyrischer Überschwang meine Seele bezauberte und ins Unendliche erhob. Auch ich wurde Dichter und lebte ein Jahr lang in einem von mir selbst geschaffenen Paradies. Ich bildete mir ein, dass ich mir ebenfalls eine Nische in dem Tempel erwerben könnte, wo die Namen Homer und Shakespeare verehrt werden. Du weißt nur zu gut, wie ich gescheitert bin und wie schwer ich unter der Enttäuschung gelitten habe. Aber genau zu der Zeit erbte ich das Vermögen meines Vetters, und meine Gedanken wurden in ihre früheren Bahnen zurückgelenkt.
Sechs Jahre sind vergangen, seit ich mich zu meinem jetzigen Unternehmen entschlossen habe. Noch jetzt kann ich mich genau an die Stunde erinnern, in der ich mich diesem großen Wagnis weihte. Ich begann damit, dass ich meinem Körper Entbehrungen zumutete. Ich begleitete die Walfänger auf verschiedenen Fahrten in die Nordsee; ich nahm freiwillig Kälte, Hunger, Durst und Schlaflosigkeit auf mich; oft arbeitete ich tagsüber schwerer als die Seeleute und widmete mich nachts dem Studium der Mathematik, der Medizin und den Zweigen der Naturwissenschaften, aus denen ein seefahrender Entdecker den größten praktischen Nutzen ziehen kann. Zweimal ließ ich mich sogar als Bootsmann auf einem Grönland-Walfänger anheuern und stand dabei durchaus meinen Mann. Ich muss gestehen, ich war nicht wenig stolz, als der Kapitän mich zu seinem Stellvertreter ernannte und mich in aller Ernsthaftigkeit zum Bleiben aufforderte, so unschätzbar erschienen ihm meine Dienste.
Und habe ich es jetzt, meine liebe Schwester, nicht verdient, einen großen Vorsatz zu verwirklichen? Ich hätte mein Leben in Muße und Luxus verbringen können, aber ich habe Ruhm jeder Verlockung vorgezogen, die der Reichtum mir in den Weg gelegt hat. Ach, dass doch eine ermutigende Stimme mir eine positive Antwort auf meine Frage gäbe! Mein Mut und meine Entschlossenheit sind unerschütterlich; aber meine Hoffnungen schwanken, und meine Stimmung ist oft niedergeschlagen. Ich bin im Begriff, zu einer langen und mühseligen Reise aufzubrechen, bei der unerwartete Schwierigkeiten all meine Festigkeit erfordern werden. Es ist meine Aufgabe, nicht nur das Selbstvertrauen anderer zu stärken, sondern manchmal auch mein eigenes aufrechtzuerhalten, wenn ihres sie verlässt.
Dies ist bei weitem die günstigste Reisezeit in Russland. Die Leute fliegen blitzschnell in ihren Schlitten über den Schnee dahin. Diese Art der Bewegung ist wohltuend und meiner Meinung nach weit angenehmer als die einer englischen Postkutsche. Die Kälte ist nicht unerträglich, wenn man in Pelze gehüllt ist – eine Bekleidung, an die ich mich schon gewöhnt habe, denn es ist etwas ganz anderes, ob man an Deck auf und ab geht oder stundenlang regungslos dasitzt und keine Bewegung das Blut daran hindert, buchstäblich in den Adern zu gefrieren. Ich habe nicht den Ehrgeiz, mein Leben auf der Poststraße zwischen Petersburg und Archangelsk zu verlieren.
Zu dieser Stadt werde ich in vierzehn Tagen oder drei Wochen aufbrechen. Ich habe die Absicht, dort ein Schiff zu mieten, was gar nicht schwierig ist, wenn man dem Eigner die Versicherung zahlt, und unter den mit dem Walfang vertrauten Seeleuten so viele anzuheuern, wie ich für nötig halte. Ich beabsichtige nicht, vor Juni auszulaufen – und wann ich zurückkomme? Ach, liebe Schwester, wie kann ich diese Frage beantworten? Wenn ich Erfolg habe, vergehen viele, viele Monate, vielleicht Jahre, ehe wir beide uns wiedersehen. Wenn ich scheitere, siehst Du mich bald wieder oder nie.
Leb wohl, meine liebe, verehrte Margaret. Möge der Himmel Dir seinen Segen schenken und mich bewahren, damit ich Dir noch viele Male meine Dankbarkeit für all Deine Liebe und Güte beweisen kann.
Dein zärtlicher Bruder
R. Walton
An Mrs. Saville, England
Archangelsk, 28. März 17–
Wie langsam hier, wo ich von Frost und Schnee eingeschlossen bin, die Zeit vergeht! Doch bin ich bei meinem Unternehmen einen weiteren Schritt vorangekommen. Ich habe ein Schiff geheuert und bin dabei, mir die Mannschaft zusammenzusuchen. Alle, die ich bisher eingestellt habe, sind anscheinend Seeleute, auf die ich mich verlassen kann, und zweifellos von unerschütterlichem Mut erfüllt.
Aber ein Bedürfnis habe ich, das ich bisher niemals habe befriedigen können, und dieses Ungenügen empfinde ich nun als einen höchst gravierenden Nachteil. Ich habe keinen Freund, Margaret; wenn mich die Begeisterung über meinen Erfolg hinreißt, wird niemand da sein, der meine Freude mit mir teilt; wenn ich von Enttäuschung heimgesucht werde, wird niemand sich bemühen, mich in meiner Niedergeschlagenheit aufzurichten. Zwar werde ich meine Gedanken zu Papier bringen, aber das ist ein unzulängliches Medium für die Mitteilung von Gefühlen. Ich sehne mich nach der Gesellschaft eines Mannes, der Anteil an mir nimmt, der meinen Blick erwidern würde. Du hältst mich vielleicht für romantisch, meine liebe Schwester, aber das Fehlen eines Freundes geht mir außerordentlich nahe. Es gibt niemanden in meiner Umgebung, einfühlsam und doch mutig, mit einem gebildeten, aber auch aufgeschlossenen Verstand, dessen Neigungen den meinen entsprechen und der meinen Plänen zustimmt oder sie verbessert. Wie würde ein solcher Freund die Fehler Deines armen Bruders ausgleichen! Ich bin bei der Ausführung zu voreilig und bei Schwierigkeiten zu ungeduldig. Aber dass ich Autodidakt bin, erscheint mir ein noch größerer Nachteil: die ersten vierzehn Jahre meines Lebens trieb ich mich im Freien herum und las nichts als Onkel Thomas’ Reisebücher. In dem Alter lernte ich die berühmten Dichter unseres Landes kennen. Aber die Notwendigkeit, mehr Sprachen als die eigene zu beherrschen, erkannte ich erst, als es zu spät für mich war, aus dieser Einsicht den größtmöglichen Nutzen zu ziehen. Jetzt bin ich 28 und eigentlich ungebildeter als viele Schuljungen von 15. Zwar habe ich mehr nachgedacht, und meine Tagträume sind ausgedehnter und großartiger, aber es fehlt ihnen (wie die Maler es nennen) an »Perspektive«, und ich brauche dringend einen Freund, der Verständnis genug hat, mich nicht als Romantiker zu verachten, und Sympathie genug, zu versuchen, Ordnung in meine Gedanken zu bringen.
Aber das sind unnütze Klagen. Auf dem weiten Ozean und auch hier in Archangelsk unter Kaufleuten und Seeleuten werde ich kaum einen Freund finden. Und doch regen sich auch in diesen rauhen Herzen Gefühle, die dem Abschaum der Menschheit fremd sind. Mein Erster Offizier, zum Beispiel, ist ein Mann von erstaunlichem Mut und Unternehmungsgeist; er ist besessen von dem Wunsch nach Ruhm oder, um mich genauer auszudrücken, nach Beförderung in seinem Beruf. Er ist Engländer und besitzt, bei all seinen durch keinerlei Bildung gezügelten nationalen und beruflichen Vorurteilen, einige höchst edle menschliche Charakterzüge. Ich habe ihn zuerst an Bord eines Walfängers kennengelernt; als ich herausfand, dass er in dieser Stadt ohne Heuer war, konnte ich ihn leicht dazu überreden, an meinem Unternehmen teilzunehmen.
Der Kapitän ist ein Mensch von ausgezeichneten Anlagen und genießt wegen seiner Nachsicht und seiner nicht übermäßig strikten Disziplin hohes Ansehen auf dem Schiff. Dieser Umstand zusammen mit seiner unbestrittenen Integrität und seinem unerschütterlichen Mut veranlassten mich, ihn anzuheuern. Eine in Einsamkeit verbrachte Kindheit und meine unter Deiner sanften weiblichen Obhut verbrachten jungen Jahre haben meine Charakteranlagen so verfeinert, dass ich einen tiefen Abscheu vor der üblichen Brutalität an Bord eines Schiffes nicht überwinden kann. Ich habe sie nie für nötig gehalten, und als ich von einem Seemann hörte, der zugleich für seine Herzensgüte wie für den ihm von seiner Mannschaft erwiesenen Respekt und Ge-horsam bekannt war, empfand ich es als einen besonderen Glücksfall, mir seine Dienste sichern zu können. Ich habe zuerst eine eher romantische Geschichte von einer Dame, die ihm ihr Lebensglück zu verdanken hat, über ihn gehört. Dies ist in Kürze sein Schicksal. Vor einigen Jahren liebte er eine junge russische Dame mit bescheidenem Vermögen, und da er selbst eine erhebliche Summe in Prisen10 erworben hatte, stimmte der Vater des Mädchens der Verbindung zu. Er sah seine Verlobte einmal vor der vereinbarten Zeremonie; aber sie zerfloss in Tränen, warf sich ihm zu Füßen, flehte ihn an, sie zu verschonen, und gestand ihm gleichzeitig, dass sie einen anderen liebe, der aber arm sei, und dass ihr Vater niemals in die Heirat einwilligen werde. Mein großmütiger Freund beruhigte die Bittende und gab, als er den Namen des Liebhabers erfuhr, sein Vorhaben ihr gegenüber unverzüglich auf. Er hatte mit seinem Geld bereits ein Gut erworben, wo er den Rest seines Lebens zu verbringen gedacht hatte. Aber er vermachte das Ganze seinem Rivalen zusammen mit dem restlichen Prisengeld zum Kauf von Vieh und drang sogar selbst in den Vater der jungen Dame, in die Heirat mit ihrem Geliebten einzuwilligen. Aber der alte Mann weigerte sich beharrlich, weil er sich meinem Freund ehrenhalber verpflichtet glaubte, der, als er den Vater unerbittlich fand, das Land verließ und nicht eher zurück- kehrte, als bis er hörte, dass seine frühere Verlobte ihren Wünschen entsprechend verheiratet war. »Was für ein edler Mensch!«, wirst Du rufen. Und das ist er auch; aber andererseits ist er völlig ungebildet. Er ist stumm wie ein Fisch und trägt eine Art ahnungsloser Unbekümmertheit zur Schau, die sein Verhalten zwar umso erstaunlicher macht, aber das Interesse und die Anteilnahme schmälert, die er sonst erregen würde.
Doch glaub nicht, dass ich in meinen Entschlüssen schwanke, weil ich ein bisschen klage oder mir einen Trost für meine Mühen vorstellen kann, den ich vielleicht nie erfahre. Die Entschlüsse sind so unerschütterlich wie das Schicksal, und meine Reise verzögert sich nur so lange, bis das Wetter meine Einschiffung erlaubt. Der Winter war entsetzlich streng, aber der Frühling lässt sich gut an und ist angeblich dieses Jahr sehr früh gekommen, so dass ich vielleicht eher als erwartet segeln kann. Ich will nichts überstürzen; Du kennst mich gut genug, um Dich auf meine Umsicht und Vorsorge zu verlassen, wo mir die Sicherheit anderer anvertraut ist.
Ich kann Dir meine Empfindungen über das unmittelbar bevorstehende Unternehmen gar nicht beschreiben. Es ist mir unmöglich, Dir eine Vorstellung von der fieberhaften, teils freudigen, teils ängstlichen Erregung zu geben, mit der ich den Aufbruch vorbereite. Ich breche in unerforschte Regionen auf, in das »Land, wo Nebel und Schnee herrschen«; aber ich werde keinen Albatros töten, fürchte deshalb nicht für meine Sicherheit und mach Dir keine Sorgen, dass ich so erschöpft und elend wie der »Ancient Mariner«11 zurückkomme. Du wirst über meine Anspielung lachen, aber ich will Dir ein Geheimnis verraten. Ich habe meine Liebe, meine leidenschaftliche Begeisterung für die gefährlichen Geheimnisse des Meeres oft auf dieses Werk des phantasiebegabtesten unserer modernen Dichter zurückgeführt. Es geht etwas in meiner Seele vor, was ich nicht verstehe. Ich bin praktisch und tüchtig – gewissenhaft, ein Arbeiter, der mit Ausdauer und Einsatz zu Werke geht – aber außerdem erfüllt mich eine Liebe für das Wunderbare, ein Glaube an das Wunderbare durchzieht alle meine Pläne, der mich von den ausgetretenen Pfaden der Menschen auf das wilde Meer und die unbetretenen Regionen hinaustreibt, die ich im Begriff bin zu erforschen.
Aber lass uns zu erfreulicheren Überlegungen zurückkehren. Werde ich Dich wiedersehen, wenn ich unermessliche Meere durchquert habe und über das südliche Kap von Afrika oder Amerika zurückgekehrt bin? Ich wage kaum an solchen Erfolg zu glauben, aber ich bringe es auch nicht über mich, die Kehrseite der Medaille zu betrachten. Versuche bis auf weiteres, mir bei jeder möglichen Gelegenheit zu schreiben; vielleicht erreichen mich Deine Briefe in einem Augenblick, wo ich sie dringend zu meiner Aufrichtung brauche. Ich liebe Dich von Herzen. Behalte mich in zärtlicher Erinnerung, solltest Du nie wieder von mir hören.
Dein liebevoller Bruder
Robert Walton
An Mrs. Saville, England
7. Juli 17–
Meine liebe Schwester,
Ich schreibe in aller Eile nur ein paar Zeilen, um Dir zu sagen, dass ich wohlbehalten und ein gutes Stück auf meiner Reise vorangekommen bin. Dieser Brief wird England mit einem Handelsschiff erreichen, das sich jetzt auf der Heimreise von Archangelsk befindet – glücklicher als ich, der ich mein Heimatland vielleicht viele Jahre lang nicht wiedersehe. Meine Stimmung ist aber trotzdem gut: Meine Männer sind kühn und offenbar fest entschlossen, und auch die schwimmenden Eisschollen, die ständig an uns vorübertreiben und auf die Gefahren hinweisen, die auf uns zukommen, scheinen sie nicht zu beirren. Wir haben bereits einen sehr hohen Breitengrad erreicht; aber der Sommer ist auf dem Höhepunkt, und obwohl es nicht so warm ist wie in England, bringen die südlichen Winde, die uns rasch an die Ufer tragen, denen ich so ungeduldig entgegenfiebere, ein Maß an belebender Wärme mit sich, das ich nicht erwartet hätte.
Bisher haben sich keine Zwischenfälle ereignet, die in einem Brief erwähnenswert wären. Ein oder zwei steife Brisen und ein überraschendes Leck sind Missgeschicke, die aufzuzeichnen erfahrene Seeleute kaum der Mühe wert halten, und ich will durchaus zufrieden sein, wenn uns auf unserer Reise nichts Schlimmeres passiert.
Adieu, meine liebe Margaret. Sei versichert, dass ich mich um meinet- und Deinetwillen nicht voreilig in Gefahr begeben werde. Ich werde kühl, ausdauernd und umsichtig sein.
Aber meine Anstrengungen werden ganz bestimmt von Erfolg gekrönt. Und warum auch nicht? Bis hierher bin ich gekommen, habe eine sichere Passage über die unerforschten Meere gefunden, und die Sterne selbst können meinen Triumph bezeugen und bekunden. Warum nicht weiter in das ungezähmte, aber gehorsame Element vordringen? Was kann das entschlossene Herz und den standhaften Willen eines Menschen aufhalten?
So vertraut sich Dir mein übervolles Herz unbeabsichtigt an! Aber ich muss schließen. Der Himmel segne meine geliebte Schwester!
R. W.
An Mrs. Saville, England
5. August 17–
Ein so merkwürdiger Zwischenfall hat sich ereignet, dass ich nicht umhinkann, Dir davon zu berichten, obwohl es sehr wahrscheinlich ist, dass Du mich siehst, ehe diese Aufzeichnungen in Deinen Besitz kommen.
Am letzten Montag (31. Juli) waren wir fast ganz vom Eis eingeschlossen, das von allen Seiten auf das Schiff eindrängte und ihm kaum Wasser genug zum Schwimmen ließ. Unsere Lage war keineswegs ungefährlich, besonders da wir von sehr dichtem Nebel umgeben waren. Wir gingen also vor Anker in der Hoffnung, dass ein Atmosphären- und Wetterwechsel eintreten würde.
Gegen zwei Uhr hob sich der Nebel, und wir sahen, so weit das Auge blicken konnte, riesige, unregelmäßige Eisflächen, die kein Ende zu nehmen schienen. Einige meiner Kameraden stöhnten, und auch ich konnte mich besorgniserregender Gedanken nicht erwehren, als plötzlich ein merkwürdiger Anblick unsere Aufmerksamkeit erregte und uns von unserer eigenen beunruhigenden Lage ablenkte. Wir beobachteten, wie sich ein niedriges, auf einem Schlitten befestigtes und von Hunden gezogenes Gefährt in einer Entfernung von einer halben Meile in nördliche Richtung bewegte. Ein Wesen, das menschliche Gestalt hatte, aber offenbar von riesenhafter Statur war, saß in dem Schlitten und lenkte die Hunde. Wir verfolgten die rasche Fahrt des Reisenden durch unsere Fernrohre, bis er sich in der Ferne zwischen den Eisschollen verlor.
Dieser Anblick weckte maßloses Staunen. Unserer Meinung nach waren wir viele hundert Meilen vom Land entfernt. Aber diese Erscheinung schien darauf hinzuweisen, dass es in Wirklichkeit nicht so weit entfernt war, wie wir angenommen hatten. Eingeschlossen im Eis, waren wir allerdings außerstande, dem Schlitten, den wir mit größter Aufmerksamkeit verfolgt hatten, auf der Spur zu bleiben.
Ungefähr zwei Stunden nach diesem Vorfall hörten wir die Grundsee, und vor Anbruch der Nacht brach das Eis und befreite unser Schiff. Wir blieben allerdings bis zum Morgen vor Anker, weil wir im Dunkeln einen Zusammenstoß mit diesen riesigen freien Eisschollen befürchteten, die nach dem Aufbrechen des Eises herumschwammen. Ich nutzte diese Gelegenheit, um mich ein paar Stunden auszuruhen.
Am nächsten Morgen ging ich allerdings, sobald es hell wurde, an Deck und fand alle Matrosen auf einer Seite des Schiffes offenbar damit beschäftigt, sich mit jemandem im Wasser zu unterhalten. Es war sage und schreibe ein Schlitten, wie wir ihn vorher gesehen hatten, der während der Nacht auf einer großen Eisscholle auf uns zugetrieben war. Nur ein Hund war noch am Leben; aber es saß ein Mensch darin, den die Matrosen zu überreden versuchten, an Bord des Schiffes zu kommen. Im Unterschied zu dem gestrigen Reisenden kam er uns nicht wie ein eingeborener Wilder irgendeiner unentdeckten Insel vor, sondern wie ein Europäer. Als ich an Deck erschien, sagte der Kapitän: »Hier ist der Leiter unserer Expedition, er wird es nicht zulassen, dass Sie auf offener See umkommen.«
Als er mich sah, sprach mich der Fremde auf Englisch, allerdings mit einem ausländischen Akzent, an. »Würden Sie, bevor ich an Bord Ihres Schiffes komme, die Freundlichkeit haben, mir zu sagen, wohin Ihre Reise geht?«
Du kannst Dir mein Erstaunen vorstellen, eine solche Frage von einem Mann am Rande des Abgrunds gestellt zu bekommen, von dem ich erwartet hätte, dass mein Schiff ihm als Zuflucht erschien, die er auch gegen die kostbarsten Reichtümer der ganzen Welt nicht eingetauscht hätte. Ich antwortete jedoch, dass wir uns auf einer Entdeckungsreise zum Nordpol befänden.
Als er das hörte, schien er zufrieden und willigte ein, an Bord zu kommen. Großer Gott! Margaret, wenn Du den Mann gesehen hättest, der auf diese Weise um seiner Sicherheit willen aufgab, Dein Erstaunen wäre grenzenlos gewesen. Seine Glieder waren beinahe steifgefroren, und sein Körper von Übermüdung und Entbehrung entsetzlich ausgemergelt. Noch nie habe ich einen Menschen in einem so erbärmlichen Zustand gesehen. Wir versuchten, ihn in die Kabine zu tragen, aber sobald er die frische Luft verließ, wurde er bewusstlos. Wir trugen ihn also wieder an Deck und brachten ihn zu sich, indem wir ihn mit Branntwein einrieben und ihn zwangen, einen kleinen Schluck davon zu trinken. Sobald er Lebenszeichen von sich gab, wickelten wir ihn in Decken ein und betteten ihn neben den Schornstein der Kombüse. Nach und nach erholte er sich und löffelte ein wenig Suppe, die ihn außerordentlich belebte.
Auf diese Weise vergingen zwei Tage, bevor er imstande war zu sprechen, und ich fürchtete oft, dass die Entbehrungen ihn um den Verstand gebracht hatten. Als er sich leidlich erholt hatte, ließ ich ihn in meine eigene Kabine bringen und kümmerte mich um ihn, soweit es meine Pflichten erlaubten. Ein so interessanter Mensch ist mir noch nie begegnet: In seinen Augen liegt meist ein Ausdruck von Wildheit, ja sogar Wahnsinn, aber gelegentlich, wenn ihm jemand eine Freundlichkeit oder auch nur einen geringfügigen Gefallen erweist, leuchtet sein ganzes Gesicht auf, wie von einem unvergleichlichen Strahl von Güte und Sanftheit getroffen. Aber meist ist er niedergeschlagen und bedrückt, und manchmal knirscht er mit den Zähnen, als könne er die Last der ihn drückenden Leiden nicht mehr ertragen.
Als mein Gast sich ein wenig erholt hatte, hatte ich große Mühe, die Männer von ihm fernzuhalten, die ihm tausend Fragen stellen wollten. Aber ich ließ nicht zu, dass er in einem körperlichen und seelischen Zustand, zu dessen Besserung er offensichtlich völliger Ruhe bedurfte, von ihrer unsinnigen Neugier gequält wurde. Einmal fragte ihn der Erste Offizier allerdings, warum er in solch merkwürdigem Gefährt so weit auf dem Eis vorgedrungen sei.
Sein Gesicht nahm sofort einen Ausdruck tiefster Niedergeschlagenheit an, und er antwortete: »Um jemanden zu suchen, der vor mir geflohen ist.«
»Und bewegte sich der Mann, den Sie verfolgt haben, auf die gleiche Weise vorwärts?«
»Ja.«
»Dann, glaube ich, haben wir ihn gesehen, denn am Tag, bevor wir Sie an Bord holten, haben wir Hunde einen Schlitten mit einem Mann darin über das Eis ziehen sehen.«
Dies ließ den Fremden aufhorchen, und er stellte eine Unmenge Fragen über die Richtung, die der ›Dämon‹, wie er ihn nannte, eingeschlagen hatte. Als ich kurz darauf mit ihm allein war, sagte er: »Ich habe zweifellos Ihre und die Neugier dieser guten Leute erregt. Aber Sie sind zu rücksichtsvoll, um Fragen zu stellen.«
»Gewiss; es wäre wirklich sehr aufdringlich und unmenschlich von mir, wenn ich Sie mit meiner Wissbegier belästigen würde.«
»Und doch haben Sie mich aus einer merkwürdigen und gefährlichen Lage gerettet. Sie haben mir in Ihrer Güte das Leben wiedergeschenkt.«
Bald darauf fragte er, ob ich glaubte, dass das Aufbrechen des Eises den anderen Schlitten vernichtet habe. Ich entgegnete, dass ich diese Frage nicht mit Gewissheit beantworten könne, denn das Eis sei erst kurz vor Mitternacht aufgebrochen, und der Reisende könne sich vorher in Sicherheit gebracht haben; aber das könne ich nicht beurteilen.
Von da an erfüllte neuer Lebenswille den geschwächten Körper des Fremden. Er verriet größte Ungeduld, an Deck zu kommen und nach dem Schlitten Ausschau zu halten, der schon einmal erschienen war. Aber ich habe ihn überredet, in der Kabine zu bleiben, denn er ist noch viel zu schwach, um das unwirtliche Wetter zu ertragen. Ich habe ihm versprochen, eine Wache für ihn aufzustellen und ihm umgehend Bescheid zu geben, sobald irgendetwas in Sicht kommt.
So weit mein Bericht über das, was sich bis heute im Zusammenhang mit diesem merkwürdigen Zwischenfall ereignet hat. Die Gesundheit des Fremden bessert sich langsam, aber er ist sehr schweigsam und macht einen unruhigen Eindruck, wenn jemand außer mir seine Kabine betritt. Aber seine Umgangsformen sind so entgegenkommend und liebenswürdig, dass die Matrosen sich alle für ihn interessieren, obwohl sie wenig mit ihm zu tun gehabt haben. Ich persönlich beginne ihn wie einen Bruder liebzugewinnen, und sein ständiger und tiefer Schmerz erfüllt mich mit Sympathie und Mitgefühl. Er muss in besseren Zeiten ein edler Mensch gewesen sein, wenn er selbst jetzt als menschliches Wrack so anziehend und liebenswert wirkt.
Ich schrieb in einem meiner Briefe, meine liebe Margaret, dass ich auf diesem weiten Ozean keinen Freund finden würde; doch ich habe einen Menschen gefunden, den ich liebend gern als Vertrauten meines Herzens gewonnen hätte, ehe sein Lebensmut durch das Elend gebrochen wurde.
Ich werde meinen Bericht über den Fremden in Abständen fortsetzen, sollte ich irgendwelche neuen Ereignisse zu berichten haben.
13. August 17–
Meine Zuneigung zu meinem Gast wächst von Tag zu Tag. Er erregt zugleich meine Bewunderung und mein Mitleid in erstaunlichem Maße. Wie kann ich, ohne den heftigsten Schmerz zu empfinden, zusehen, wie ein so edler Mensch vom Unglück ruiniert wird? Er ist so sanftmütig und gleichzeitig so weise. Er ist so gebildet, und wenn er spricht, fließen ihm die Worte mit größter Gewandtheit und unvergleichlicher Beredsamkeit vom Mund, obwohl er sie mit größtem Bedacht wählt.
Er hat sich jetzt weitgehend von seiner Krankheit erholt und ist ständig an Deck, offensichtlich nach dem Schlitten Ausschau haltend, der seinem eigenen vorausfuhr. Doch obwohl er unglücklich ist, ist er keineswegs so völlig mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt, dass er nicht intensiv Anteil an den Plänen anderer nimmt. Er hat sich häufig mit mir über meine unterhalten, und ich habe sie ihm auch ohne Vorbehalte mitgeteilt. Er verriet größtes Interesse für alle Argumente, die für den endgültigen Erfolg meines Unternehmens sprechen, und für jedes Detail der Maßnahmen, die ich zur Sicherung dieses Erfolgs getroffen habe. Und durch die Anteilnahme, die er bewies, ließ ich mich leicht dazu bringen, die Sprache meines Herzens zu sprechen, der glühenden Leidenschaft meiner Seele Ausdruck zu geben und mit all dem in mir brennenden Feuer zu gestehen, wie bereitwillig ich mein Vermögen, meine Existenz, meine ganze Hoffnung dem Gelingen meines Unternehmens opfern würde. Leben oder Tod eines einzelnen Menschen seien ein geringer Preis für den Erwerb des Wissens, das ich suchte, für die Herrschaft, die ich über die natürlichen Feinde unserer Gattung erwerben und weitergeben wolle. Während ich sprach, breitete sich ein düsterer Schatten über die Züge meines Zuhörers. Ich merkte, wie er zu Anfang versuchte, seine innere Erregung zu verbergen. Er vergrub das Gesicht in den Händen, und meine Stimme schwankte und versagte, als ich sah, wie ihm die blanken Tränen durch die Finger rannen; ein Stöhnen drang aus seiner bebenden Brust. Ich hielt inne. Schließlich sprach er in abgerissenen Worten: »Unglücklicher Mensch! Hat Sie derselbe Wahnsinn ergriffen? Haben auch Sie von dem berauschenden Trank getrunken? Hören Sie mich an! Lassen Sie mich Ihnen meine Geschichte enthüllen, und Sie werden sich den Kelch von den Lippen reißen!«
Diese Worte erregten, wie Du Dir vorstellen kannst, meine äußerste Neugier. Aber der plötzliche Schmerzensausbruch, der den Fremden überkommen hatte, lähmte seine angegriffenen Kräfte, und viele Stunden Schlaf und ruhige Unterhaltung waren nötig, seine Fassung wiederherzustellen.
Als er Herr seiner heftigen Empfindungen geworden war, schien er sich dafür zu verachten, Sklave seiner Leidenschaft zu sein, und die düstere, unerbittliche Verzweiflung bezwingend, lenkte er das Gespräch auf meine eigenen Angelegenheiten zurück. Er erkundigte sich nach der Geschichte meiner Jugend. Sie war schnell erzählt, gab aber zu den verschiedensten Überlegungen Anlass. Ich erzählte ihm von meinem Bedürfnis, einen Freund zu finden, von meiner Sehnsucht nach einem engeren Verhältnis mit einem Gleichgesinnten, als mir je vergönnt gewesen war, und gab meiner Überzeugung Ausdruck, dass niemand sich wirklich glücklich schätzen könne, der diesen Segen nie genieße.
»Ich stimme Ihnen zu«, antwortete der Fremde, »wir sind unvollkommene Geschöpfe, nur halb fertig, wenn jemand, der weiser, besser und liebevoller ist als wir – und das sollte ein Freund sein –, uns nicht hilft, unsere schwache und unzulängliche Natur zu vervollkommnen. Ich hatte einmal einen solchen Freund, einen außerordentlich edelgesinnten Menschen, und habe deshalb das Recht, über Freundschaft zu urteilen. Sie haben noch Hoffnung, haben die Welt noch vor sich und keinen Grund zur Verzweiflung. Ich aber – ich habe alles verloren und kann das Leben nicht noch einmal beginnen.«
Während er dies sagte, breitete sich ein stiller, ernster Schmerz über sein Gesicht, der mir zu Herzen ging. Aber er schwieg und zog sich bald darauf in seine Kabine zurück.
So niedergeschlagen er auch sein mag, niemand ist für die Schönheiten der Natur so empfänglich wie er. Der Sternenhimmel, das Meer und all die Anblicke, die diese herrliche Gegend bietet, vermögen seine Seele offenbar immer noch über alles Irdische zu erheben. Ein solcher Mensch führt ein Doppelleben: Er mag noch so sehr von Unglück und Enttäuschungen heimgesucht werden, sobald er sich auf sich selbst besinnt, gleicht er einem von einem Heiligenschein umgebenen himmlischen Geist, in dessen Sphäre sich weder Schmerz noch Torheit vorwagen.
Vielleicht lächelst Du über die Begeisterung, mit der ich von diesem überirdischen Wanderer berichte. Das tätest Du aber nicht, wenn Du ihn sehen könntest. Bücher und Zurückgezogenheit haben Deinen Geschmack geschult und verfeinert, und Du bist deshalb ziemlich anspruchsvoll; aber deshalb bist Du umso besser imstande, die außerordentlichen Qualitäten dieses herrlichen Mannes zu würdigen. Ich habe öfter versucht, herauszubekommen, welche Eigenschaft ihn allen Menschen, die ich je gekannt habe, so unendlich überlegen macht. Ich glaube, es ist intuitiver Scharfblick, rasche, aber unbestechliche Urteilskraft, Einsicht in die Ursachen von Dingen, die an Klarheit und Genauigkeit ihresgleichen sucht; hinzu kommt eine Gewandtheit im Ausdruck und eine Stimme, deren Modulationsfähigkeit die Seele wie Musik betört.
19. August 17–
Gestern sagte der Fremde zu mir: »Sie können sich leicht vorstellen, Kapitän Walton, dass ich unvergleichlich großes Unglück erlitten habe. Ich war eigentlich entschlossen, die Erinnerung an all das Schreckliche mit mir ins Grab zu nehmen, aber Sie haben mich dazu bewegt, meinen Entschluss zu ändern. Sie streben wie einst ich nach Wissen und Weisheit, und ich hoffe von Herzen, dass die Erfüllung Ihrer Wünsche sich nicht wie bei mir als Schlange herausstellt, die Sie am Busen genährt haben. Ich weiß nicht, ob die Erzählung meiner Missgeschicke Ihnen von Nutzen sein wird; doch wenn ich bedenke, dass Sie denselben Weg verfolgen, sich den gleichen Gefahren aussetzen, die mich zu dem gemacht haben, was ich bin, dann kann ich mir vorstellen, dass Sie die richtigen Lehren aus meiner Geschichte ziehen, Lehren, die Ihnen den Weg zeigen, wenn Sie mit Ihrem Unternehmen Erfolg haben, und Sie trösten, wenn Sie scheitern. Seien Sie darauf gefasst, von Vorkommnissen zu hören, die ans Phantastische grenzen. Wären wir von einer weniger wüsten Landschaft umgeben, müsste ich vielleicht befürchten, bei Ihnen auf Unglauben, ja vielleicht sogar auf Spott zu stoßen; aber vieles erscheint in diesen wilden und geheimnisvollen Regionen möglich, was bei denen, die von den unerschöpflichen Kräften der Natur nichts wissen, Gelächter hervorrufen würde. Auch zweifle ich nicht, dass meine Geschichte in ihrem Verlauf den Wahrheitsbeweis für die Ereignisse enthält, aus denen sie besteht.«
Du kannst dir leicht vorstellen, wie geehrt ich mich durch diesen Vertrauensbeweis fühlte, doch konnte ich den Gedanken nicht ertragen, dass ihn etwa bei der Mitteilung seines Unglücks erneut der Schmerz überwältigte. Ich sah dem versprochenen Bericht mit höchster Ungeduld entgegen, teils aus Neugier, teils aus dem ehrlichen Wunsch, sein Los, soweit es in meiner Macht stand, zu erleichtern. Diese Empfindungen brachte ich in meiner Antwort auch zum Ausdruck.
»Ich danke Ihnen«, antwortete er, »für Ihr Mitgefühl, aber es ist umsonst; mein Schicksal ist fast vollendet. Ich warte nur noch auf ein Ereignis, dann werde ich mich in Frieden zur Ruhe legen. Ich verstehe Ihre Gefühle«, fuhr er fort, als er merkte, dass ich ihn unterbrechen wollte, »aber Sie irren sich, mein Freund – wenn Sie mir erlauben, Sie so zu nennen; nichts kann mein Geschick ändern. Hören Sie meine Geschichte an, und Sie werden begreifen, wie unwiderruflich es feststeht.«
Dann teilte er mir mit, dass er seine Erzählung am nächsten Tag, wenn ich Zeit dazu hätte, beginnen wolle. Für dieses Versprechen dankte ich ihm von Herzen. Ich habe beschlossen, jede Nacht, wenn meine Pflichten mich nicht unbedingt in Anspruch nehmen, so genau wie möglich in seinen eigenen Worten aufzuzeichnen, was er mir tagsüber berichtet hat. Sollte ich beschäftigt sein, will ich wenigstens Notizen machen. Dieses Manuskript wird Dir zweifellos das größte Vergnügen bereiten; aber ich, der ich ihn kenne und die Geschichte aus seinem eigenen Mund höre – mit welchem Interesse und Mitgefühl werde ich sie eines Tages lesen! Selbst jetzt, da ich meine Aufgabe beginne, habe ich den Klang seiner sonoren Stimme im Ohr, seine glänzenden Augen ruhen mit all ihrer schwermütigen Liebenswürdigkeit auf mir, ich sehe, wie er in lebhaftem Gespräch die abgemagerte Hand hebt, während seine Seele aus seinen Gesichtszügen leuchtet. Eigenartig und qualvoll muss seine Geschichte sein, furchtbar der Sturm, der das stolze Schiff auf seinem Kurs überfiel und es so völlig zerschmetterte.
Ich bin von Geburt Genfer, und meine Familie gehört zu den angesehensten in dieser Republik. Meine Vorfahren waren seit vielen Jahren Ratsherren und Richter, und mein Vater hat verschiedene öffentliche Ämter ehrenvoll und hochgeachtet bekleidet. Er genoss den Respekt aller, die seine Integrität und seine unermüdliche Sorge um das Gemeinwohl kannten. Er widmete seine Jugendjahre ausschließlich dem Dienst an seinem Vaterland. Eine Reihe von Umständen verhinderte, dass er früh heiratete, und so wurde er erst in der zweiten Lebenshälfte Ehemann und Vater einer Familie.
Da die Umstände seiner Heirat Licht auf seinen Charakter werfen, kann ich nicht umhin, sie zu erzählen. Einer seiner engsten Freunde war ein Kaufmann, der durch allerlei Missgeschick aus wohlhabenden Umständen in Armut geriet. Dieser Mann, der Beaufort hieß, hatte ein stolzes und unnachgiebiges Naturell und konnte es nicht ertragen, in Armut und Vergessenheit in dem Land zu leben, wo er sich früher durch Rang und Wohlstand ausgezeichnet hatte. Nachdem er deshalb höchst ehrenhaft seine Schulden bezahlt hatte, zog er sich mit seiner Tochter in die Stadt Luzern zurück, wo er unbekannt in Armut lebte. Mein Vater war Beaufort in ehrlichster Freundschaft zugetan und von diesem Rückzug unter so unglücklichen Umständen zutiefst betroffen. Er beklagte bitterlich den falschen Stolz, der seinen Freund zu einem Verhalten veranlasst hatte, das der zwischen ihnen herrschenden Zuneigung so gar nicht würdig war. Er machte umgehend Anstalten, seine Spur zu finden, in der Hoffnung, ihn überreden zu können, mit seiner finanziellen Unterstützung und Hilfe ein neues Leben zu beginnen.
Beaufort hatte wirksame Maßnahmen getroffen, sich zu verbergen, und es dauerte zehn Monate, bis mein Vater seinen Aufenthalt entdeckte. Überglücklich über diese Entdeckung eilte er zu dem Haus, das in einer ärmlichen Straße an der Reuß lag. Aber als er eintrat, begrüßte ihn nichts als Elend und Verzweiflung. Beaufort hatte aus den Trümmern seines Vermögens nur eine sehr kleine Geldsumme gerettet, aber sie reichte aus, um ihn einige Monate über Wasser zu halten. Und bis dahin hoffte er, eine achtbare Anstellung in einer Handelsfirma zu finden. Infolgedessen verbrachte er die Zwischenzeit in Untätigkeit. Sein Schmerz wurde, als er Zeit zum Nachdenken hatte, nur noch tiefer und bitterer, und schließlich gewann er solche Gewalt über ihn, dass er nach drei Monaten auf dem Krankenbett lag, unfähig zu irgendwelcher Anstrengung.