Frankenstein oder Der moderne Prometheus - Mary Shelley - E-Book
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Frankenstein oder Der moderne Prometheus E-Book

Mary Shelley

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Beschreibung

Der berühmteste Schauerroman aller Zeiten

Nach Jahren des Experimentierens ist es dem ehrgeizigen Forscher Victor Frankenstein gelungen, einen künstlichen Menschen zu erschaffen. Doch das Ergebnis seiner alchemistischen Versuche erschüttert ihn bis ins Mark, und entsetzt überlässt er das Wesen seinem Schicksal. Während dieses verzweifelt nach Nähe und Akzeptanz sucht, hinterlässt es Chaos und Verwüstung …

Darf künstliche Schöpfung über die natürliche gestellt werden? Welcher moralischen Verantwortung unterliegen wir Menschen? Mit ihrem Erstlingswerk griff die 19-jährige Mary Shelley bereits 1818 grundlegende Fragen auf, die uns heute im Zeitalter von Künstlicher Intelligenz, Algorithmen und Genforschung so aktuell erscheinen wie nie.

PENGUIN EDITION. Zeitlos, kultig, bunt. – Ausgezeichnet mit dem German Brand Award 2022

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Seitenzahl: 412

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Große Emotionen, große Dramen, große Abenteuer – von Austen bis Fitzgerald, von Flaubert bis Zweig.Ein Bücherregal ohne Klassiker ist wie eine Welt ohne Farbe.

Mary Wollstonecraft Shelley, geboren 1797 in London, schrieb im Alter von zehn Jahren ihr erstes Buch. Noch keine 17 Jahre alt, brannte sie 1814 mit dem jungen Dichter Percy Shelley durch. Angeregt durch die Lektüre von Gruselgeschichten, entstand ihr erster Roman Frankenstein, der für einen Skandal sorgte und ein großer Erfolg wurde. Nach dem frühen Tod ihres Mannes schrieb Shelley fünf weitere Romane sowie Erzählungen. Sie starb 1851 in London.

«Die weltliterarische Bedeutung und zeitlose Größe des Frankenstein-Romans liegt in der Kombination aus erzählerischem Wagnis, wissenschaftlicher Fantasie und sprachlicher Schönheit.» Frank Dietschreit, rbb kulturradio

«Die Autorin erfand eine Ikone der Horrorgenres – und ein Symbol für den Menschen, der die Folgen seiner Forschung nicht unter Kontrolle hat.» Tobias Schwartz, Der Tagesspiegel

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Mary Shelley

FRANKENSTEIN ODER DER MODERNE PROMETHEUS

Roman

Aus dem Englischen übersetzt von Alexander Pechmann

Mit einem Nachwort von Georg Klein

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Frankenstein.

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Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Manesse Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Regg Media in Adaption der traditionellen Penguin Classics Triband-Optik aus England

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-28268-4V001

www.penguin-verlag.de

Hab ich’s von dir, mein Schöpfer, denn erbeten,

Dass du aus Lehm zum Menschen mich geformt?

Dass du mich aus der Dunkelheit hervorzuziehen kamst, hab ich dich drum ersucht?

Das verlorene Paradies1

Mit großem Respekt widmet die Autorin diese Seiten

WILLIAM GODWIN dem Autor von

Politische Gerechtigkeit, Caleb Williams etc.

Vorwort

Dr. Darwin und einige deutsche Physiologen hielten die Idee, die dieser Erzählung zugrunde liegt, keineswegs für unmöglich.2 Das bedeutet nicht, dass ich einer solchen Vorstellung auch nur im Entferntesten ernsthaft Glauben schenke, und doch habe ich, als ich eine fantastische Erzählung auf ihr aufbaute, mehr als lediglich die Absicht verfolgt, übernatürliche Schrecknisse aneinanderzureihen. Die Idee, auf der die Handlung fußt, ist frei von den Nachteilen der üblichen Geschichten über Gespenster oder Magie. Sie empfahl sich der ungewöhnlichen Situationen wegen, die sich daraus ergeben, und sowenig sie sich in Wirklichkeit auch in die Tat umsetzen ließe, gewährt sie der Vorstellungskraft doch eine umfassendere und eindrucksvollere Perspektive für die Skizzierung menschlicher Leidenschaften als irgendeine Schilderung realer Ereignisse.

Demgemäß habe ich versucht, mich an die elementaren Grundsätze der menschlichen Natur zu halten, während ich bei ihren Verknüpfungen bedenkenlos Neuerungen einführte. Die «Ilias», diese tragische Dichtung Griechenlands, Shakespeares «Sturm» und «Sommernachtstraum» und insbesondere Miltons «Das verlorene Paradies» fügen sich dieser Regel; und so darf sogar der bescheidenste Autor, der bestrebt ist, durch seine Arbeit andere oder sich selbst zu unterhalten, für seine Prosa ohne jede Anmaßung eine dichterische Freiheit oder vielmehr eine Regel geltend machen, deren Anwendung in den größten Werken der Dichtkunst so vielfältige und vorzügliche Verquickungen menschlicher Gefühle hervorgebracht hat.

Angeregt wurde der Fall, auf dem meine Geschichte aufbaut, durch zwanglose Gespräche. Einerseits diente das Gedankenspiel der Unterhaltung, andererseits trug es dazu bei, in unerforschte Regionen des Geistes vorzudringen. Weitere Motive mischten sich mit diesen, während die Erzählung Gestalt annahm. Wie bestimmte moralische Einstellungen, die in den Anschauungen oder Figuren dieses Werks zum Ausdruck kommen, auf den Leser wirken, ist mir gewiss nicht gleichgültig, doch mein wichtigstes Anliegen in dieser Hinsicht beschränkte sich darauf, die Schwächen gegenwärtiger Romanliteratur zu vermeiden und zugleich die Liebenswürdigkeit familiärer Zuneigung und den hohen Wert universeller Tugend darzustellen. Die sich naturgemäß ergebenden Ansichten über Charakter und Zustand des Helden sollte man keinesfalls mit meinen eigenen Überzeugungen gleichsetzen, noch sollen aus den folgenden Seiten negative Schlüsse hinsichtlich irgendeiner philosophischen Lehrmeinung gezogen werden.

Darüber hinaus ist der Autorin die Tatsache wichtig, dass sie die Geschichte in jener majestätischen Region begonnen hat, in der sich ein Großteil der Handlung abspielt, und in einer Gesellschaft, der sie unentwegt nachtrauert. Ich verbrachte den Sommer 1816 in der Umgebung von Genf.3 Es war ungewöhnlich kalt und regnerisch, und an den Abenden drängten wir uns um ein loderndes Kaminfeuer und vertrieben uns gelegentlich die Zeit mit ein paar deutschen Gespenstergeschichten, die wir zufällig entdeckt hatten.4 Diese Geschichten weckten in uns den spielerischen Wunsch, sie nachzuahmen. Wir verabredeten – ich selbst und zwei weitere Freunde (eine Erzählung aus der Feder eines der beiden würde die Öffentlichkeit bei Weitem mehr erfreuen als alles, was ich je zu schreiben hoffe) –, jeder eine Erzählung zu schreiben, die auf einem übernatürlichen Ereignis beruht.5

Das Wetter besserte sich jedoch plötzlich, meine beiden Freunde verließen mich, um eine Reise durch die Alpen zu unternehmen, und vergaßen über der beeindruckend großartigen Landschaft all ihre gespenstischen Visionen. Die folgende Geschichte ist die einzige, die vollendet wurde.

ERSTER TEIL

Erster Brief: an Mrs. Saville, England

St. Petersburg, 11. Dezember 17**

Du wirst Dich über die Nachricht freuen, dass einem Unternehmen, hinsichtlich dessen Du so böse Vorahnungen hattest, bislang kein Unglück widerfahren ist. Ich bin gestern hier eingetroffen, und meine erste Pflicht besteht darin, meiner lieben Schwester zu versichern, dass es mir gut geht und dass mein Vertrauen in den Erfolg meines Vorhabens wächst.

Ich bin bereits weit nördlich von London. Während ich durch die Straßen von St. Petersburg spaziere, fühle ich den kalten Nordwind meine Wangen streicheln, der meine Sinne belebt und mich mit Entzücken erfüllt. Kannst Du dieses Gefühl nachempfinden? Diese Brise, die aus Regionen kommt, in die ich selbst vorstoßen werde, gibt mir einen Vorgeschmack auf jene eisigen Gefilde. Von diesem vielversprechenden Wind inspiriert, werden meine Tagträume ungestümer und lebhafter. Vergeblich versuche ich mir einzureden, der Pol sei ein Ort des Eises und der Einsamkeit. Ich stelle ihn mir immer als schöne und freudvolle Region vor. Dort, Margaret, scheint die Sonne immerzu, ihre volle Scheibe steht knapp über dem Horizont und verbreitet einen fortwährenden Glanz. Dort herrschen weder Schnee noch Eis, meine Schwester, wenn Du mir erlaubst, den Berichten früherer Seefahrer ein wenig Vertrauen zu schenken. Und nach einer Fahrt über ein ruhiges Meer könnten wir ein Land erreichen, dessen Wunder und Schönheiten alle Gegenden übertreffen, die bislang auf dem bewohnbaren Erdkreis entdeckt wurden.6 Seine Früchte und Eigenheiten sind womöglich so unvergleichlich wie die wohlbekannten Himmelserscheinungen und ähnliche Phänomene in jener unerforschten Einöde. Was darf man nicht alles von einem Land erwarten, in dem das Licht nie erlischt? Vielleicht entdecke ich dort jene geheimnisvolle Macht, die die Kompassnadel anzieht, und kann tausenderlei Himmelsbeobachtungen überprüfen, die nur dieser einen Reise bedürfen, damit sich aus angeblichen Ausnahmeerscheinungen feste Regeln ableiten lassen. Ich werde meine brennende Neugier durch die Erkundung eines Erdteils stillen, der nie zuvor besucht wurde, und Land betreten, auf das nie zuvor Menschen ihren Fuß setzten. Das ist es, was mich reizt, und hierfür werde ich jeglicher Furcht vor Gefahr und Tod trotzen und die mühselige Reise mit derselben Vorfreude auf mich nehmen, die ein Kind empfindet, wenn es mit seinen Sommergefährten in einem kleinen Boot zu einer Entdeckungsfahrt auf dem heimischen Fluss aufbricht. Sollten sich all diese Vermutungen hingegen als falsch erweisen, kann dennoch niemand bestreiten, dass ich der gesamten Menschheit bis hin zur letzten Generation einen unschätzbaren Dienst erweise, indem ich in der Nähe des Pols eine Durchfahrt zu jenen Ländern entdecke, die zu erreichen man gegenwärtig so viele Monate benötigt, oder indem ich das Geheimnis des Magneten lüfte; was, wenn überhaupt, nur durch ein Unternehmen wie das meine gelingen kann.

Diese Überlegungen haben die Unruhe vertrieben, in der ich meinen Brief begann, und ich fühle in meinem Herzen eine brennende Leidenschaft, die mich nach den Sternen greifen lässt; denn nichts vermag das Gemüt so sehr zu beruhigen wie ein fester Entschluss, ein Fixpunkt, an den die Seele ihr geistiges Auge heften kann. Die Expedition war der innigste Traum meiner Jugendjahre. Mit Begeisterung habe ich die Berichte der verschiedenen Reisen gelesen, die unternommen wurden, um den Nordpazifik über jene Meere zu erreichen, die den Pol umgeben. Vielleicht erinnerst Du Dich, dass die Bibliothek unseres guten Onkels Thomas einzig und allein aus einer mehrbändigen Geschichte sämtlicher Entdeckungsreisen bestand.7 Man hat meine Bildung vernachlässigt, doch ein leidenschaftlicher Leser war ich trotzdem. Tag und Nacht studierte ich diese Bände, und meine Vertrautheit mit ihnen verstärkte das Bedauern, das ich als Kind empfand, als ich erfuhr, dass der Letzte Wille meines sterbenden Vaters meinen Onkel dazu verpflichtete, mir ein Leben auf See zu verbieten.

Diese Visionen verblassten, als ich zum ersten Mal auf jene Poeten stieß, deren Werke meine Seele verzückten und sie in den Himmel hoben. Ich wandte mich ebenfalls der Dichtkunst zu und lebte ein Jahr im Paradies meiner eigenen Schöpfung. Ich stellte mir vor, auch ich könnte eine Nische in jenem Tempel erobern, in dem die Namen Homers und Shakespeares verehrt werden. Mein Scheitern ist Dir wohlbekannt, und Du weißt, wie sehr ich unter der Enttäuschung gelitten habe. Doch dann erbte ich das Vermögen meines Vetters, und meine Gedanken wurden in ihre früheren Bahnen zurückgelenkt.

Sechs Jahre sind vergangen, seit ich mich zu meinem gegenwärtigen Unternehmen entschloss. Sogar jetzt kann ich mich noch an die Stunde erinnern, als ich mein Leben diesem großen Abenteuer weihte. Zunächst gewöhnte ich meinen Körper an die Strapazen. Ich begleitete die Walfänger auf verschiedenen Expeditionen ins Nordmeer. Freiwillig erduldete ich Kälte, Hunger, Durst und den Mangel an Schlaf. Tagsüber arbeitete ich oft härter als die gewöhnlichen Seeleute, und die Nächte widmete ich dem Studium der Mathematik, der Medizin und jenen Bereichen der Naturwissenschaften, aus denen ein Abenteurer auf See die größten praktischen Vorteile ziehen kann. Tatsächlich heuerte ich zweimal als Zweiter Offizier auf einem Grönland-Walfänger an und erledigte meine Pflichten zur allgemeinen Bewunderung. Ich muss gestehen, dass es mich ein wenig mit Stolz erfüllte, als der Kapitän mir den zweithöchsten Rang auf dem Schiff antrug und mich mit großem Nachdruck bat zu bleiben; so hoch schätzte er meine Leistungen.

Und habe ich es denn nicht verdient, ein großes Ziel zu erreichen, liebe Margaret? Ich hätte mein Leben auch in Sicherheit und Luxus verbringen können, doch ich bevorzugte den Ruhm vor allen Verlockungen, die mir der Reichtum zu Füßen legte. Ach, wenn mich nur eine ermutigende Stimme in meiner Absicht bestärken würde! Mein Mut und meine Entschlusskraft sind unerschütterlich, doch meine Hoffnungen schwanken, und ich fühle mich oft niedergeschlagen. Ich stehe kurz vor dem Aufbruch zu einer langen und mühseligen Reise, deren Strapazen mir all meine Kräfte abverlangen werden. Ich bin nicht nur verpflichtet, anderen Mut zu machen, sondern mir auch meinen zu bewahren, wenn meine Kameraden verzagen.

Dies ist die günstigste Jahreszeit für Reisen in Russland. In Schlitten saust man geschwind über den Schnee. Die Fahrt ist angenehm und meiner Meinung nach viel bequemer als in einer englischen Postkutsche. Die Kälte ist nicht unerträglich, wenn man sich in Pelze wickelt, eine Bekleidung, an die ich mich schnell gewöhnt habe, denn es ist ein beträchtlicher Unterschied, ob man über das Deck marschiert oder stundenlang still sitzt und keine Anstrengung das Blut davor bewahrt, in den Adern zu gefrieren. Ich finde es keineswegs erstrebenswert, mein Leben auf der Poststraße zwischen St. Petersburg und Archangelsk zu beenden.

In zwei oder drei Wochen werde ich mich auf den Weg zu letztgenannter Stadt machen, und dort möchte ich ein Schiff heuern, was sich leicht bewerkstelligen lässt, indem man dem Besitzer die Versicherungssumme bezahlt. Dann werde ich von jenen Matrosen, die als geübte Walfänger bekannt sind, so viele einstellen, wie ich es für nötig halte. Ich habe nicht die Absicht, vor Juni zu segeln; und wann ich heimkehren werde? Ach, liebe Schwester, wie kann ich diese Frage beantworten? Falls ich Erfolg habe, werden viele, viele Monate, vielleicht sogar Jahre vergehen, ehe wir uns wiedersehen. Wenn ich scheitere, wirst Du mich bald sehen – oder nie wieder.

Lebe wohl, meine liebe, allerliebste Margaret. Möge der Himmel Dich segnen und mich beschützen, auf dass ich Dir immer wieder meine Dankbarkeit für Deine Liebe und Zuneigung beweisen kann.

Dein Dich liebender Bruder

R. Walton

Zweiter Brief: an Mrs. Saville, England

Archangelsk, 28. März 17**

Wie langsam hier die Zeit vergeht, während ich von Eis und Schnee umgeben bin; doch ein zweiter Schritt ist gemacht, der mich meinem Ziel näher bringt. Ich habe ein Schiff gemietet und bin damit beschäftigt, meine Mannschaft zusammenzustellen. Auf die Männer, die ich bereits angeheuert habe, scheine ich mich verlassen zu können, und sie sind von unerschrockenem Mut beseelt.

Aber mir fehlt etwas, was ich bislang noch nicht finden konnte und dessen Abwesenheit mich überaus schmerzt. Ich habe keine Freunde, Margaret. Wenn ich vor Begeisterung über meinen Erfolg brenne, gibt es niemanden, mit dem ich mein Glück teilen könnte. Wenn mich Enttäuschungen übermannen, wird niemand sich die Mühe machen, mich vom Aufgeben abzuhalten. Natürlich werde ich meine Gedanken dem Papier anvertrauen, aber das ist keine besonders erfreuliche Art, sich über Gefühle zu äußern. Ich sehne mich nach der Gesellschaft eines gleich gesinnten Menschen, dessen Augen meinen Blick erwidern. Vielleicht hältst Du mich für einen Träumer, liebe Schwester, aber das Fehlen eines Freundes betrübt mich sehr. Es gibt niemanden in meiner Nähe, der sanft und doch mutig, der geistvoll und kultiviert ist, ohne engstirnig zu sein, der dieselben Neigungen hat wie ich, sodass er meine Pläne gutheißen oder verbessern könnte. Wie würde ein solcher Freund jeden Mangel Deines armen Bruders ausgleichen! Ich bin zu ungestüm bei der Umsetzung meiner Pläne und zu ungeduldig, wenn sich Schwierigkeiten ergeben. Doch es ist für mich ein noch größeres Übel, dass ich mir alles selbst beibringen musste. In den ersten vierzehn Jahren meines Lebens trieb ich mich in Wald und Flur herum und las nichts anderes als die Reisebücher meines Onkels. In diesem Alter lernte ich die gefeierten Dichter unseres Heimatlands kennen, aber erst als ich daran scheiterte, die wichtigsten Lehren aus ihren Anschauungen zu ziehen, erkannte ich die Notwendigkeit, mit mehr Sprachen vertraut zu werden als nur mit der meines Vaterlands. Nun bin ich achtundzwanzig und tatsächlich immer noch unwissender als die meisten Schuljungen mit fünfzehn. Natürlich habe ich mehr nachgedacht, und meine Tagträume wurden weitreichender und großartiger, aber es fehlt ihnen (wie es die Maler nennen) an Augenmaß. Ich brauche also dringend einen Freund, der Verständnis genug hat, mich nicht als Fantasten zu verachten, und der mir hinreichend zugetan ist, um den Versuch zu wagen, meine Gedanken zu ordnen.

Nun, das sind nutzlose Klagen. Auf dem weiten Ozean werde ich mit Sicherheit keinen Freund finden, nicht einmal hier in Archangelsk, unter Kaufleuten und Seemännern. Doch selbst diese rauen Seelen haben Gefühle, die von den Niederungen menschlicher Natur unberührt sind. Mein Leutnant zum Beispiel ist ein wundervoll tapferer und äußerst unternehmungslustiger Mann. Er lechzt förmlich nach Ruhm. Er ist Engländer, und trotz aller Vorurteile gegenüber seiner Herkunft und seinem Beruf, die weder durch Bildung noch durch Kultur gemäßigt werden, hat er sich einige der edelsten Tugenden der Menschheit bewahrt. Ich lernte ihn zuvor auf einem Walfänger kennen. Als ich entdeckte, dass er in dieser Stadt kein Auskommen hatte, konnte ich ihn mühelos für meine Pläne begeistern.

Der Kapitän ist ein Mann mit vorzüglichen Eigenschaften, und auf dem Schiff ist er für seine Güte und sanfte Strenge bekannt. Tatsächlich hat er ein so liebenswürdiges Naturell, dass er sich weigert, auf die Jagd zu gehen (der beliebteste und beinahe einzige Zeitvertreib in dieser Gegend), da er es nicht erträgt, Blut zu vergießen. Zudem ist seine Großzügigkeit geradezu heldenhaft. Vor einigen Jahren verliebte er sich in eine junge Russin mit nur geringem Vermögen, und weil er eine beträchtliche Menge Prisengeld8 auf die Seite gelegt hatte, willigte der Vater des Mädchens in die Verbindung ein. Er traf seine Verlobte kurz vor der verabredeten Hochzeit, sie aber war in Tränen aufgelöst, warf sich ihm zu Füßen, flehte ihn an, sie freizugeben, und gestand gleichzeitig, dass sie einen anderen liebe, der jedoch arm sei, und ihr Vater werde die Vermählung mit ihm nie erlauben. Mein großmütiger Freund beruhigte die Bittstellerin, und nachdem er den Namen ihres Geliebten erfahren hatte, trat er sogleich von seinen eigenen Ansprüchen zurück. Er hatte von seinem Geld bereits ein Landgut gekauft, auf dem er den Rest seines Lebens verbringen wollte, aber er schenkte alles seinem Rivalen, mitsamt seinen restlichen Prisengeldern, zum Kauf von Vieh und überredete dann persönlich den Vater der jungen Frau, der Heirat seiner Tochter mit ihrem Geliebten zuzustimmen. Der Alte lehnte entschieden ab, da er dachte, er sei aufgrund seiner Ehre meinem Freund verpflichtet. Dieser verließ das Land, als er merkte, wie unerbittlich der Vater war, und kehrte nicht zurück, bis er hörte, dass seine frühere Verlobte gemäß ihrem Wunsch geheiratet hatte.

«Was für ein nobler Bursche!», rufst Du gewiss. Das ist er, aber andererseits hat er sein ganzes Leben an Bord eines Schiffes verbracht, und seine Vorstellungen reichen kaum über Tau und Segel hinaus.

Aber nur weil ich ein wenig jammere oder weil ich mir für meine Mühsal ein wenig Zuspruch erhoffe, den ich vielleicht nie erfahren werde, darfst Du nicht annehmen, dass ich in meinen Entschlüssen wanke. Diese sind so unabänderlich wie das Schicksal, und meine Reise verzögert sich lediglich so lang, bis das Wetter mein Auslaufen gestattet. Der Winter war schrecklich hart, aber der Frühling ist vielversprechend, und man sagt, die Natur sei schon bemerkenswert weit, sodass ich vielleicht früher als geplant segeln kann. Ich werde nichts überstürzen. Du kennst mich gut genug, um meiner Vernunft und Umsicht zu vertrauen, wann immer die Sicherheit anderer in meinen Händen liegt.

Meine Gefühle über die Aussichten meines Unternehmens kann ich Dir nicht beschreiben. Es ist schier unmöglich, Dir ein Bild von der fiebrigen Erregung zu vermitteln, jener Mischung aus Vorfreude und Furcht, mit der ich mich auf die Abreise vorbereite. Mein Weg führt mich in unerforschte Gebiete, ins «Land der Nebel und des Schnees», aber ich werde keinen Albatros töten9 – sorge Dich also nicht um mein Wohlergehen.

Werde ich Dich wiedersehen, nachdem ich endlose Meere überquert habe und über das südlichste Kap Afrikas oder Amerikas zurückgekehrt bin? Ich wage es nicht, an solch einen Erfolg zu glauben, aber ich kann es auch nicht ertragen, mir das Gegenteil vorzustellen. Schreib mir weiterhin bei jeder Gelegenheit. Ich werde Deine Briefe vielleicht gerade dann bekommen (obwohl die Chancen dafür sehr schlecht stehen), wenn ich sie am meisten benötige, um meine Sorgen zu vertreiben. Ich liebe Dich von ganzem Herzen. Behalte mich in wohlmeinender Erinnerung, falls Du nie wieder von mir hörst.

Dein Dich liebender Bruder

Robert Walton

Dritter Brief: an Mrs. Saville, England

7. Juli 17**

Meine liebe Schwester,

ich schreibe Dir schnell ein paar Zeilen, um Dir zu sagen, dass es mir gut geht und dass meine Reise große Fortschritte macht. Dieser Brief wird von einem Kaufmann nach England gebracht, der sich auf der Heimreise von Archangelsk befindet. Er hat mehr Glück als ich, der ich meine Heimat vielleicht für viele Jahre nicht wiedersehen werde. Ich bin jedoch frohen Mutes: Meine Männer sind tapfer und offenbar fest entschlossen; auch die ständig an uns vorbeitreibenden Eisschollen, die von den Gefahren der Regionen künden, in die wir vordringen, scheinen sie nicht zu schrecken. Wir haben bereits einen weit nördlich gelegenen Breitengrad erreicht, es ist Hochsommer, und obwohl es nicht so warm ist wie in England, blasen die Südwinde, die uns rasch auf jene Küsten zutragen, die ich so sehnlich zu erreichen wünsche, mit solch belebender Wärme, wie ich es nicht erwartet hätte.

Bislang hat es keine Zwischenfälle gegeben, über die zu schreiben sich lohnte. Ein oder zwei schwere Stürme und das Brechen eines Mastes sind Ereignisse, die erfahrene Seemänner oft ins Logbuch einzutragen vergessen, und ich wäre wohl zufrieden, wenn uns nichts Schlimmeres auf unserer Reise widerfahren würde.

Adieu, meine liebe Margaret. Sei gewiss, dass ich mich nicht leichtfertig Gefahren aussetze – um meinetwillen ebenso wie um Deinetwillen. Ich werde gelassen, beharrlich und vernünftig sein.

Grüße all meine Freunde in England.

Mit größter Zuneigung

Dein R. W.

Vierter Brief: an Mrs. Saville, England

5. August 17**

Uns ist etwas so Merkwürdiges widerfahren, dass ich es unbedingt aufschreiben muss, obwohl wir uns sehr wahrscheinlich wiedersehen, bevor diese Papiere Dich erreichen.

Letzten Montag (31. Juli) waren wir fast vollständig von Eis umschlossen, das von allen Seiten gegen das Schiff drückte, sodass kaum ein Freiraum blieb, in dem es schwimmen konnte. Unsere Lage war nicht ungefährlich, insbesondere da uns sehr dichter Nebel umgab. Wir drehten also bei, in der Hoffnung, dass sich das Wetter ändern und die Luft aufklaren würde.

Gegen zwei Uhr hob sich der Nebel, und wir sahen weite und zerklüftete Eisfelder, die sich in alle Richtungen erstreckten und kein Ende zu haben schienen. Einige meiner Kameraden stöhnten, und ich selbst wurde unruhig und hegte furchtsame Gedanken, als plötzlich ein merkwürdiger Anblick unsere Aufmerksamkeit auf sich zog und von unseren Sorgen über unsere eigene Lage ablenkte. Eine halbe Meile entfernt bemerkten wir ein flaches Gestell, das auf einem von Hunden gezogenen Schlitten befestigt war, in nördliche Richtung fahren. Ein Wesen von menschlicher Gestalt, aber offensichtlich von riesenhafter Statur, saß in dem Schlitten und lenkte die Hunde. Wir verfolgten die rasende Fahrt des Reisenden mit unseren Ferngläsern, bis er zwischen den fernen Anhöhen des Eises verschwunden war.

Diese Erscheinung sorgte für grenzenlose Verwunderung. Wir glaubten, wir wären viele Hundert Meilen von jeglichem Land entfernt, aber diese Sichtung schien nahezulegen, dass es in Wirklichkeit gar nicht so fern war, wie wir angenommen hatten. Da wir jedoch vom Eis eingeschlossen waren, konnten wir der Spur des Fremden, den wir mit größter Aufmerksamkeit beobachtet hatten, unmöglich folgen.

Ungefähr zwei Stunden nach diesem Zwischenfall hörten wir tief unter uns das Meer, und vor Einbruch der Nacht brach das Eis und gab unser Schiff frei. Wir blieben jedoch bis zum Morgen beigedreht, da wir befürchteten, im Dunkeln mit jenen großen, frei schwimmenden Schollen zusammenzustoßen, die nach dem Aufbrechen des Eises herumtreiben. Ich nutzte die Zeit, um ein paar Stunden zu schlafen.

Am Morgen ging ich jedoch, sobald es hell war, an Deck und sah, dass sich alle Matrosen auf einer Seite des Schiffs drängten und anscheinend mit jemandem auf offener See sprachen. Wie sich herausstellte, stand dort ein Schlitten. Er glich dem, den wir zuvor erblickt hatten, und war auf einer großen Eisscholle über Nacht auf uns zugetrieben. Nur ein einziger Hund hatte überlebt, aber da war auch noch ein Mensch, dem die Seeleute zuredeten, an Bord zu klettern. Es handelte sich nicht um einen wilden Bewohner einer unentdeckten Insel, wie es der andere Reisende gewesen sein mochte, sondern um einen Europäer. Als ich an Deck erschien, sagte der Kapitän: «Hier ist unser Kommandant, und er wird nicht zulassen, dass Sie auf offener See Ihr Leben lassen.»

Als mich der Fremde erblickte, sprach er mich auf Englisch an, allerdings mit ausländischem Akzent. «Wären Sie so freundlich, mir mitzuteilen, wohin Ihre Reise geht», sagte er, «bevor ich an Bord Ihres Schiffes komme?»

Du kannst Dir meine Verblüffung vorstellen, als ich solch eine Frage aus dem Mund eines Mannes hörte, der sich in Todesgefahr befand und für den mein Schiff, meiner Vorstellung nach, eigentlich eine Zuflucht darstellen sollte, die nicht gegen die wertvollsten Schätze der Welt einzutauschen war. Ich antwortete, wir seien auf einer Entdeckungsfahrt mit Kurs auf den Nordpol.

Als er dies hörte, schien er zufrieden und willigte ein, an Bord zu kommen. Herrgott! Hättest Du diesen Mann gesehen, Margaret, der widerstrebend seiner eigenen Rettung zustimmte, Dein Staunen hätte kein Ende gefunden. Seine Glieder waren halb erfroren, und sein Körper war durch Erschöpfung und Strapazen furchtbar ausgezehrt. Ich habe noch nie einen Menschen in solch elendem Zustand gesehen. Wir versuchten ihn in die Kajüte zu führen, aber sobald er nicht mehr an der frischen Luft war, fiel er in Ohnmacht. Also brachten wir ihn zurück an Deck und weckten seine Lebensgeister, indem wir ihn mit Brandy einrieben und ihm einen kleinen Schluck davon aufzwangen. Sobald er wieder halbwegs bei sich war, wickelten wir ihn in Decken und setzten ihn an den Kamin des Kombüsenherds. Ganz allmählich erholte er sich und aß ein wenig Suppe, die ihn stärkte.

Zwei Tage vergingen auf diese Weise, bevor er in der Lage war zu sprechen, und ich befürchtete immer wieder, dass seine Leiden ihn um den Verstand gebracht hätten. Als er wieder einigermaßen bei Kräften war, brachte ich ihn in meine eigene Kajüte und pflegte ihn, soweit es meine Pflichten zuließen. Nie habe ich einen interessanteren Menschen gesehen: Für gewöhnlich funkelt Wildheit und sogar Wahnsinn in seinen Augen, doch gibt es Momente, wenn ihm jemand eine Freundlichkeit erweist oder in einer belanglosen Angelegenheit zu Diensten ist, da erstrahlt sein ganzes Gesicht in einem Licht der Güte und Liebenswürdigkeit, wie ich es noch nie erlebt habe. Sonst jedoch ist er betrübt und verzweifelt, und manchmal knirscht er mit den Zähnen, so als könnte er die Last des Kummers, die ihn bedrückt, nicht länger ertragen.

Als es meinem Gast ein wenig besser ging, hatte ich große Mühe, die Männer abzuwimmeln, die ihm tausenderlei Fragen stellen wollten; aber ich ließ es nicht zu, dass sie ihn in einer körperlichen und geistigen Verfassung, deren Gesundung offensichtlich von vollkommener Ruhe abhängig war, mit ihrer nutzlosen Neugier plagten. Allerdings fragte ihn einmal ein Leutnant, warum er in einem derart seltsamen Fahrzeug so weit auf das Eis hinausgefahren sei.

Sein Antlitz bekam sofort einen abgrundtief düsteren Ausdruck, und er antwortete: «Um jemanden zu finden, der mir entfloh.»

«Und reiste der Mann, den Sie verfolgten, auf dieselbe Weise?»

«Ja.»

«Dann haben wir ihn wohl gesehen. Denn an dem Tag, bevor wir Sie aufnahmen, sahen wir ein paar Hunde einen Schlitten mit einem Mann darauf übers Eis ziehen.»

Dies erregte die Aufmerksamkeit des Fremden, und er stellte tausenderlei Fragen über den Weg, den der Dämon, wie er ihn nannte, eingeschlagen hatte. Bald darauf, als er mit mir allein war, sagte er: «Zweifellos habe ich Ihre Neugier ebenso geweckt wie jene dieser guten Leute, aber Sie sind wohl zu rücksichtsvoll, um nachzufragen.»

«Ganz recht. Es wäre wirklich sehr unhöflich und unmenschlich von mir, Sie mit meiner Neugier zu quälen.»

«Und doch haben Sie mich aus einer ungewöhnlichen und gefährlichen Lage gerettet. Sie haben mich in Ihrer Güte ins Leben zurückgebracht.»

Kurz darauf fragte er mich, ob ich glaubte, dass das Aufbrechen des Eises den anderen Schlitten zerstört habe. Ich antwortete, ich könne dies keinesfalls garantieren, denn das Eis sei nicht vor Mitternacht aufgebrochen und der Reisende hätte zu jener Zeit möglicherweise bereits einen sicheren Ort erreicht. Dies könne ich aber nicht beurteilen.

Von diesem Moment an schien der Fremde überaus erpicht darauf, an Deck zu gehen, um nach dem früher gesichteten Schlitten Ausschau zu halten, aber ich überredete ihn, in der Kajüte zu bleiben, denn er war viel zu schwach, um sich der rauen Witterung auszusetzen. Doch versprach ich ihm, dass jemand für ihn Ausschau halten und ihn sofort benachrichtigen werde, falls irgendetwas Neues in Sicht käme.

So weit meine Aufzeichnungen über diesen merkwürdigen Zwischenfall bis zum heutigen Tag. Der Fremde hat sich allmählich gesundheitlich erholt, aber er ist sehr still und wirkt nervös, sobald jemand anders als ich seine Kajüte betritt. Dennoch sind seine Manieren so einnehmend und freundlich, dass alle Matrosen sich für ihn interessieren, obwohl sie bislang nur sehr wenig Umgang mit ihm hatten. Ich selbst beginne ihn wie einen Bruder zu lieben, und seine fortwährende, tiefe Trauer erfüllt mich mit Sympathie und Mitleid. In seinen besseren Tagen muss er ein edler Mensch gewesen sein, da er sogar in seinem Elend noch so anziehend und liebenswert wirkt.

In einem meiner Briefe schrieb ich, meine liebe Margaret, dass ich auf dem weiten Ozean keinen Freund finden würde. Doch ich habe einen Mann gefunden, den ich, bevor sein Geist durch Leid gebrochen wurde, nur allzu gern zum Bruder meines Herzens gemacht hätte.

Sobald es Neuigkeiten gibt, werde ich meine Aufzeichnungen über den Fremden bei Gelegenheit fortsetzen.

13. August 17**

Meine Zuneigung zu meinem Gast wächst von Tag zu Tag. Er ruft meine Bewunderung in ebenso erstaunlichem Maße hervor wie mein Mitleid. Wie kann ich ein so edles, durch Trauer vernichtetes Wesen betrachten, ohne dabei den bittersten Schmerz zu verspüren? Er ist so sanft und doch so klug. Er ist äußerst gebildet, und wenn er spricht, dann fließen seine Worte schnell und mit unvergleichlicher Gewandtheit, obwohl sie überaus sorgsam gewählt sind.

Er hat sich inzwischen von seiner Krankheit erholt und ist ständig an Deck, offenbar um nach dem Schlitten Ausschau zu halten, den wir vor seinem erblickten. Obwohl er unglücklich ist, beschäftigt er sich nicht unablässig mit seinem eigenen Elend, sondern zeigt großes Interesse an den Tätigkeiten anderer. Er hat mir viele Fragen über mein Vorhaben gestellt, und ich habe ihm meine kleine Geschichte freimütig erzählt. Er schien über mein Vertrauen erfreut und schlug verschiedene Änderungen meines Plans vor, die ich überaus nützlich finde. Sein Auftreten ist keineswegs pedantisch; stattdessen scheint alles, was er macht, allein seinem instinktiven Interesse am Wohlergehen jener zu entspringen, die ihn umgeben. Oft wird er von Schwermut übermannt, und dann zieht er sich zurück mit der Absicht, jede trübselige oder ungesellige Stimmung zu überwinden. Diese Anfälle verschwinden wie Wolken vor der Sonne, doch seine Niedergeschlagenheit verlässt ihn nie. Ich habe mich bemüht, sein Vertrauen zu gewinnen, und ich glaube fest daran, dass es mir gelungen ist. Eines Tages erwähnte ich ihm gegenüber meine unablässige Sehnsucht, einen gleichgesinnten Freund zu finden, der mich als Ratgeber leiten könnte. Ich sagte, ich gehöre nicht zu jener Art Mensch, die sich durch einen guten Rat beleidigt fühlen. «Ich war mein eigener Lehrer, und vielleicht verlasse ich mich nicht ausreichend auf meine eigenen Fähigkeiten. Ich wünsche mir daher, dass mein Gefährte klüger und erfahrener sein sollte als ich, um mich zu ermutigen und zu unterstützen. Auch habe ich es nie für unmöglich gehalten, einen echten Freund zu finden.»

«Ich stimme Ihrer Ansicht zu», antwortete der Fremde, «dass Freundschaft nicht nur wünschenswert, sondern auch möglich ist. Einst hatte ich einen Freund, den edelsten unter allen menschlichen Wesen, und bin daher in der Lage, den Wert von Freundschaft zu beurteilen. Sie sind voller Hoffnung, die Welt liegt vor Ihnen, und Sie haben keinen Grund zu verzweifeln. Ich aber habe alles verloren und kann mein Leben nicht neu beginnen.»

Als er dies sagte, nahmen seine Züge den Ausdruck stiller und gesetzter Trauer an, der mich im tiefsten Herzen berührte. Er schwieg und zog sich sogleich in seine Kajüte zurück.

Obwohl derart von Gram gezeichnet, empfindet niemand die Schönheiten der Natur tiefer als er. Der Sternenhimmel, der Ozean und jede Aussicht, die sich in diesen wundersamen Regionen eröffnet, scheinen immer noch die Macht zu haben, seine Seele zu beflügeln. Ein Mann wie er führt ein Doppelleben: Wenn er auch Qualen erduldet und von Enttäuschungen übermannt wird, so ist er doch, sobald er sich in sich selbst zurückzieht, wie ein Himmelsgeschöpf von einem Strahlenkranz umgeben, den weder Schmerz noch Torheit durchdringen können.

Wirst Du über die Begeisterung lachen, die ich für diesen göttlichen Wanderer empfinde? Wenn ja, dann hast Du sicherlich jene Unbedarftheit verloren, die Deinem Wesen früher solchen Zauber verlieh. Aber lächle ruhig über meine schwärmerischen Worte, während ich täglich neue Anlässe finde, sie zu wiederholen.

19. August 17**

Gestern sagte der Fremde zu mir: «Sie können unschwer erkennen, Kapitän Walton, dass ich großes und unvergleichliches Unglück erlitten habe. Einst war ich fest entschlossen, die Erinnerung an diese Schrecken mit mir sterben zu lassen. Sie aber haben mich dazu gebracht, meinen Entschluss zu ändern. Sie suchen nach Wissen und Weisheit, so wie ich es tat, und ich hoffe von ganzem Herzen, dass sich die Erfüllung Ihrer Wünsche nicht wie bei mir als giftige Natter erweist. Ich weiß nicht, ob der Bericht meiner Missgeschicke Ihnen nützlich sein wird, aber wenn Sie mögen, lauschen Sie meiner Geschichte. Ich glaube, die merkwürdigen Ereignisse, die damit verbunden sind, werden Ihnen eine Sichtweise der Natur vermitteln, die Ihren Verstand und Ihr Wissen erweitern könnte. Sie werden von Mächten und Erscheinungen hören, die Sie zuvor für unmöglich gehalten haben, aber ich zweifle nicht daran, dass meine Geschichte in ihrem Verlauf in sich den Beweis für die Wahrhaftigkeit der darin geschilderten Ereignisse trägt.»

Du kannst Dir sicher vorstellen, wie dankbar ich über die angebotene Offenbarung war, doch konnte ich nicht dulden, dass er durch die Schilderung seiner Missgeschicke erneut Kummer litt. Ich war sehr darauf aus, den versprochenen Bericht zu hören, zum Teil aus Neugier, aber auch aufgrund eines aufrichtigen Bedürfnisses, sein Schicksal so gut ich nur konnte zu lindern. Ich antwortete, indem ich diesen Empfindungen Ausdruck verlieh.

«Ich danke Ihnen für Ihre Anteilnahme», sagte er, «aber es hat keinen Zweck. Meine Bestimmung hat sich beinahe erfüllt. Ich warte nur noch auf ein letztes Ereignis, dann werde ich in Frieden ruhen. Ich verstehe Ihre Gefühle», fuhr er fort, da er merkte, dass ich ihm ins Wort fallen wollte, «aber Sie haben unrecht, mein Freund – wenn Sie mir erlauben, Sie so zu nennen. Nichts kann mein Schicksal ändern. Hören Sie meine Geschichte, dann werden Sie begreifen, wie unwiderruflich alles vorbestimmt ist.»

Er fügte hinzu, er werde seine Erzählung am nächsten Tag fortsetzen, sobald ich Zeit dafür hätte. Überschwänglich dankte ich ihm für sein Versprechen.

Ich habe mich entschlossen, jede Nacht, sofern mich keine anderen Pflichten abhalten, das, was er mir tagsüber erzählt hat, so wortgetreu wie möglich aufzuschreiben. Wenn ich anderweitig beschäftigt bin, werde ich zumindest Notizen machen. Dieses Manuskript wird Dir zweifellos allergrößtes Vergnügen bereiten, aber ich, der ich ihn kenne und alles von seinen eigenen Lippen vernehme – mit welchem Interesse und Mitgefühl werde ich es eines fernen Tages lesen?

Kapitel 1

Ich wurde in Genf geboren, meine Familie war eine der vornehmsten dieser Republik.10 Meine Vorfahren sind viele Jahre lang Anwälte und Rechtsvertreter gewesen, und mein Vater hatte verschiedene öffentliche Ämter bekleidet, die ihm Ehre und hohes Ansehen einbrachten. Jeder, der ihn kannte, respektierte ihn aufgrund seiner Rechtschaffenheit und seines unermüdlichen Einsatzes zum Wohl der Öffentlichkeit. In seinen jüngeren Jahren war er unablässig mit Angelegenheiten seines Heimatlands beschäftigt gewesen; an Heirat, um dem Staat Söhne zu schenken, die seine Tugenden und seinen Namen an die Nachwelt weitergeben würden, dachte er erst, als seine zweite Lebenshälfte längst begonnen hatte.

Da die Umstände seiner Vermählung für seinen Charakter bezeichnend sind, kann ich sie nicht übergehen. Einer seiner engsten Freunde war ein Kaufmann, der durch zahlreiche Unglücksfälle sein blühendes Unternehmen verlor und verarmte. Dieser Mann namens Beaufort hatte ein stolzes und unbeugsames Wesen und konnte es nicht ertragen, im selben Land, in dem er einst für seinen Rang und seinen Reichtum berühmt gewesen war, in Armut und Vergessenheit zu leben. Nachdem er also seine Schulden auf ehrenhafteste Weise beglichen hatte, zog er sich mit seiner Tochter nach Luzern zurück, wo er ärmlich im Verborgenen hauste. Mein Vater war Beaufort in innigster Freundschaft verbunden und über dessen Rückzug unter solch unglücklichen Umständen zutiefst betrübt. Ihn grämte auch der Verlust seiner Gesellschaft, und er beschloss, ihn ausfindig zu machen, um ihn zu überreden, mit seiner Unterstützung und mit einem Kredit von seiner Seite noch einmal neu anzufangen.

Beaufort hatte wirksame Maßnahmen getroffen, um seinen Aufenthaltsort zu verheimlichen, und es vergingen zehn Monate, bis mein Vater seine Zuflucht entdeckte. Überglücklich ob seiner Entdeckung eilte er zu dem Haus, das an der Hauptstraße lag, in der Nähe der Reuss; doch als er eintrat, empfingen ihn nichts als Elend und Verzweiflung. Beaufort hatte beim Zusammenbruch seines Unternehmens nur sehr wenig Geld retten können. Es reichte, um ihn ein paar Monate über Wasser zu halten, und in der Zwischenzeit hoffte er sich eine achtbare Stelle in einem Handelsunternehmen zu verschaffen. Darüber hinaus hatte er dementsprechend wenig zu tun, und sein quälender Kummer verstärkte sich umso mehr, als er Gelegenheit zum Nachdenken hatte. Schließlich wurde sein Gemüt derart davon ergriffen, dass er drei Monate später im Krankenbett lag und zu keinerlei Anstrengung mehr fähig war.

Seine Tochter pflegte ihn überaus zärtlich, doch sah sie verzweifelt, wie ihre kleine Geldreserve rasch dahinschwand und dass es keine andere Aussicht auf Hilfe gab. Caroline Beaufort war jedoch aus besonderem Holz geschnitzt; die widrige Lage spornte sie an, und sie wuchs über sich selbst hinaus. Sie legte sich eine einfache Arbeit zu. Sie flocht Stroh, und es gelang ihr auf die eine oder andere Weise, einen Hungerlohn zu verdienen, der kaum ausreichte, um ihr auch nur das Überleben zu sichern.

So verstrichen einige Monate. Ihrem Vater ging es stetig schlechter; sie musste einen immer größeren Teil ihrer Zeit für seine Pflege aufwenden. Derweil schwanden die Mittel für ihren Lebensunterhalt, und im zehnten Monat starb ihr Vater in ihren Armen, sie selbst als Waise und Bettlerin zurücklassend. Dieser letzte Schlag war zu viel für sie. Sie kniete vor Beauforts Sarg und weinte bitterlich, als mein Vater die Kammer betrat. Wie ein Schutzgeist kam er zu dem armen Mädchen, das sich seiner Obhut anvertraute, und nach der Beisetzung seines Freundes brachte er sie nach Genf, wo er sie einer Verwandten überantwortete. Zwei Jahre später wurde Caroline seine Frau.

Als mein Vater heiratete und eine Familie gründete, gab er etliche seiner öffentlichen Ämter auf, da er merkte, wie viel Aufmerksamkeit die Pflichten seines neuen Lebens verlangten, und er widmete sich persönlich der Erziehung seiner Kinder. Ich war das älteste und dazu bestimmt, der Erbe all seines Waltens und Strebens zu sein. Kein Mensch hätte liebevollere Eltern haben können als ich. Sie sorgten sich unablässig um meine Bildung und mein Wohlergehen; umso mehr, als ich lange Jahre ihr einziges Kind blieb. Doch bevor ich meine Erzählung fortsetze, muss ich von einem Zwischenfall berichten, der sich ereignete, als ich vier Jahre alt war.

Mein Vater hatte eine Schwester, die er zärtlich liebte und die in ihrer Jugend einen Italiener geheiratet hatte. Bald nach ihrer Vermählung hatte sie ihren Gatten in seine Heimat begleitet, und einige Jahre lang hörte mein Vater kaum noch etwas von ihr. Sie starb ungefähr zu jener Zeit, von der ich eben sprach, und einige Monate später erhielt mein Vater einen Brief von ihrem Ehemann, der seine Absicht kundtat, eine italienische Dame zu heiraten, und meinen Vater bat, die kleine Elisabeth, das einzige Kind seiner verstorbenen Schwester, in seine Obhut zu nehmen. «Es ist mein Wunsch», schrieb er, «dass Sie sie als Ihre eigene Tochter betrachten und sie entsprechend erziehen. Das Vermögen ihrer Mutter wird für sie aufbewahrt, und die zugehörigen Dokumente gebe ich in Ihre Hände. Überdenken Sie diesen Vorschlag und entscheiden Sie, ob Sie Ihre Nichte lieber selbst erziehen oder ob Sie dies einer Stiefmutter überlassen möchten.»11

Mein Vater zögerte nicht und machte sich sogleich auf den Weg nach Italien, um die kleine Elisabeth in ihr künftiges Heim zu geleiten. Ich habe meine Mutter oft sagen hören, sie sei zu jener Zeit das schönste Kind gewesen, das sie jemals gesehen habe, und habe damals schon Anzeichen eines sanften und liebenswerten Charakters gezeigt. Diese Andeutungen und der Wunsch, das Band aus Zugehörigkeit und Liebe so fest wie möglich zu knüpfen, veranlassten meine Mutter, Elisabeth als meine zukünftige Ehefrau zu betrachten; ein Plan, den sie niemals bereuen sollte.

Von da an war Elisabeth Lavenza meine Spielgefährtin und, als wir älter wurden, meine Freundin. Sie war brav und gutmütig und doch fröhlich und verspielt wie ein Grashüpfer. Obwohl lebhaft und voller Tatendrang, war sie starker und tiefer Gefühle fähig und besaß eine außergewöhnlich herzliche Wesensart. Niemand hatte mehr Freude an der Freiheit als sie, und zugleich vermochte niemand sich mit größerer Anmut in eine Einschränkung zu schicken oder einer Laune zu ergeben. Sie verfügte über eine blühende Fantasie und dabei über eine enorme Fähigkeit, Ideen in die Tat umzusetzen. Ihre äußere Erscheinung war ein Spiegelbild ihrer Seele: Ihre haselnussbraunen Augen, wiewohl so lebhaft wie die eines Vogels, strahlten eine anziehende Sanftmut aus. Ihre Gestalt war schlank und graziös, und obschon sie große Strapazen erdulden konnte, schien sie das zerbrechlichste Wesen auf Erden zu sein. Ihren Verstand und ihre Vorstellungskraft bewunderte ich, sie zu umhegen wie ein verhätscheltes Haustier war mir indes eine Freude. Niemals habe ich jemanden getroffen, dessen innere und äußere Anmut mit einer solchen Anspruchslosigkeit einherging.

Elisabeth wurde von allen vergöttert. Hatten die Diener ein Anliegen, stand sie immer auf ihrer Seite. Jegliche Art von Zwietracht und Streit war uns fremd, denn trotz unserer sehr unterschiedlichen Temperamente harmonisierten wir sogar in unseren Gegensätzen. Ich war ruhiger und gleichmütiger als meine Gefährtin, aber auch weniger nachgiebig als sie. Mein Arbeitseifer hielt länger an, ging aber weniger in die Tiefe. Mich begeisterte die Erforschung von Tatsachen in Bezug auf die Wirklichkeit; sie beschäftigte sich damit, den ätherischen Schöpfungen der Dichter zu folgen. Für mich war die Welt ein Rätsel, das ich zu lösen hoffte; für sie war sie eine Leere, die sie mit ihrer eigenen Fantasie zu bevölkern suchte.

Meine Brüder waren wesentlich jünger als ich, aber ich hatte einen Freund unter meinen Schulkameraden, der mich für diesen Mangel entschädigte. Henry Clerval war der Sohn eines Genfer Kaufmanns, eines engen Freundes meines Vaters. Er war ein fantasievoller Junge von einzigartiger Begabung. Ich erinnere mich, dass er im Alter von neun ein Märchen verfasste, das all seine Gefährten erfreute und zum Staunen brachte. Seine Lieblingslektüre bestand aus Ritter- und Abenteuerromanen, und ich weiß noch, dass wir in ganz jungen Jahren Szenen nachspielten, die er nach dem Vorbild seiner Lieblingsbücher mit Helden wie Orlando, Robin Hood, Amadís und Sankt Georg entworfen hatte.12

Keine Kindheit hätte glücklicher sein können als die meine. Meine Eltern waren nachsichtig, meine Freunde liebenswert. Unsere Studien wurden nie erzwungen, und irgendwie hatten wir stets ein Ziel vor Augen, das zu erreichen uns mit Begeisterung erfüllte. Auf diese Weise, nicht durch Wetteifern, wurden wir dazu gebracht, fleißig zu lernen. Elisabeth wollte sich die Zeichenkunst nicht deshalb aneignen, um sich vor ihren Gefährten hervorzutun, sondern nur um ihrer Tante eine Freude zu machen, indem sie ihr eine selbst gezeichnete Skizze ihrer Lieblingslandschaft schenkte. Wir lernten Englisch und Latein, damit wir die Werke in der jeweiligen Sprache lesen konnten, und da uns das Lernen nie durch Bestrafung vergällt wurde, liebten wir es, eifrig zu arbeiten, und unser Zeitvertreib wäre für andere Kinder Mühsal gewesen. Vielleicht lasen wir nicht so viele Bücher und lernten Sprachen nicht so schnell wie jene, die entsprechend der gängigen Methoden erzogen werden. Aber das, was wir lernten, prägte sich uns umso tiefer ins Gedächtnis.13

Ich schließe Henry Clerval in diese Schilderung unseres Familienkreises mit ein, denn er hielt sich ständig bei uns auf. Er ging mit mir in die Schule und verbrachte für gewöhnlich den Nachmittag bei uns zu Hause. Da er ein Einzelkind war und es in seiner Familie an Spielkameraden mangelte, zeigte sein Vater sich hocherfreut, dass er in unserem Hause Freunde fand, und wir waren unsererseits nie rundum glücklich, wenn wir Clerval nicht um uns hatten.

Es ist angenehm, in Erinnerungen an die Kindheit zu schwelgen, bevor das Unglück meine Seele befleckte und die strahlenden Visionen eines dem Allgemeinwohl gewidmeten Lebens gegen düstere und beschränkte Selbstbetrachtungen tauschte. Doch wenn ich das Bild meiner jungen Jahre zeichne, dann darf ich nicht vergessen, von jenen Ereignissen zu berichten, die mich arglosen Schritts in die Geschichte meines Elends führten. Denn wenn ich mir die Geburt meiner Leidenschaften vor Augen halte, die mein späteres Geschick bestimmten, dann erkenne ich, dass sie wie ein Bergbach aus unbedeutenden und fast vergessenen Quellen entsprangen. Doch aus dem anschwellenden Bach wurde allmählich ein reißender Strom, der in seinem Verlauf all meine Hoffnung und Freude mit sich riss.

Die Naturkunde war der Geist, der mein Schicksal bestimmte. Darum möchte ich in meinem Bericht die Gründe nennen, die zu meiner Vorliebe für diese Wissenschaft führten. Als ich dreizehn Jahre alt war, unternahmen wir zum Spaß einen Ausflug zu den Bädern bei Thonon. Das unfreundliche Wetter zwang uns, einen Tag lang im Gasthof zu bleiben. In diesem Haus stieß ich zufällig auf einen Band aus den Werken von Cornelius Agrippa.14 Gelangweilt öffnete ich das Buch; die Theorie, die er zu beweisen suchte, und die Wunderdinge, von denen er erzählte, ließen dieses Gefühl bald in Begeisterung umschlagen. Ein neues Licht schien sich in meinem Verstand auszubreiten, und überglücklich berichtete ich meinem Vater von meiner Entdeckung. Ich muss an dieser Stelle auf die zahlreichen Möglichkeiten eines Lehrers verweisen, die Aufmerksamkeit seiner Schüler auf das nützliche Wissen zu lenken, das sie völlig vernachlässigen. Mein Vater streifte die Titelseite meines Buches mit einem achtlosen Blick und sagte: «Ach! Cornelius Agrippa! Mein lieber Victor, verschwende deine Zeit nicht mit solchen Dingen – das ist jämmerlicher Schund.»

Wenn mein Vater sich anstelle dieser Bemerkung die Mühe gemacht hätte, mir zu erklären, dass die Prinzipien des Agrippa vollkommen überholt und durch ein modernes wissenschaftliches System ersetzt worden waren, das viel größere Macht besaß als das alte, dessen Mächte nur auf Schimären beruhten, während das neue von der Wirklichkeit und Praxis ausging, dann hätte ich Agrippa sicher beiseitegelegt. Und da meine Vorstellungskraft bereits derart angeregt war, hätte ich mich wahrscheinlich der rationalen Wissenschaft der Chemie zugewandt, der moderne Entdeckungen zugrunde liegen. Es ist sogar möglich, dass der Lauf meiner Gedanken niemals jenen fatalen Impuls bekommen hätte, der mich ins Verderben führte. Doch der flüchtige Blick, den mein Vater auf mein Buch geworfen hatte, überzeugte mich nicht im Geringsten, dass er mit dem Inhalt wirklich vertraut war, also las ich äußerst begierig weiter.

Als ich heimkehrte, beschaffte ich mir sogleich die gesammelten Werke dieses Autors, und danach jene von Paracelsus und Albertus Magnus.15 Ich las und studierte die wildesten Fantastereien dieser Schriftsteller mit Hochgenuss. Mir erschienen sie als Schätze, die nur wenige außer mir kannten, und wenn ich mir auch oft wünschte, meinem Vater von diesen geheimen Quellen des Wissens zu erzählen, so hielt mich seine diffuse Kritik an meinem Liebling Agrippa doch stets davon ab. Darum offenbarte ich Elisabeth meine Entdeckungen unter dem Siegel absoluter Verschwiegenheit. Sie aber interessierte sich nicht für das Thema und ließ mich allein meinen Studien nachgehen.

Es mag wunderlich erscheinen, dass Albertus Magnus noch im achtzehnten Jahrhundert ein Anhänger erwuchs, aber in unserer Familie gab es keine Naturwissenschaftler, und ich hatte in den Schulen von Genf keinen entsprechenden Unterricht erhalten. Meine Träume waren also nicht durch die Realität getrübt, und ich machte mich mit Feuereifer auf die Suche nach dem Stein der Weisen und dem Lebenselixier.16 Letzteres hatte meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Reichtum hingegen schien mir weniger bedeutsam, aber welchen Ruhm würde ich erlangen, wenn ich entdeckte, wie man den menschlichen Körper von allen Krankheiten heilte und den Menschen gegen alles unverwundbar machte, außer gegen gewaltsamen Tod!

Dies waren keineswegs meine einzigen Träume. Das Heraufbeschwören von Geistern und Dämonen galt meinen Lieblingsautoren durchweg als vielversprechend, sodass ich selbst eifrig Versuche auf diesem Gebiet anstellte. Und den steten Misserfolg meiner Beschwörungen schrieb ich eher meiner eigenen Unerfahrenheit und meinen Fehlern zu als der mangelnden Fachkenntnis oder Genauigkeit meiner Lehrmeister.

Auch Naturphänomene, die sich täglich direkt vor unseren Augen abspielen, waren Gegenstand meiner Forschungen. Destillation und die wundervollen Kräfte des Dampfes – Verfahren, die meinen Lieblingsautoren gänzlich unbekannt waren – setzten mich in Erstaunen, aber am meisten verblüfften mich einige Experimente mit einer Luftpumpe, deren Anwendung ich bei einem Herrn beobachten konnte, den wir des Öfteren besuchten.

Die Unwissenheit der alten Philosophen in diesen und verschiedenen anderen Punkten minderte mein Vertrauen in sie, aber vollständig verwerfen konnte ich sie nicht, bevor nicht andere Lehren ihren Platz in meinem Denken ersetzt hatten.

Als ich etwa fünfzehn Jahre alt war und wir uns in unser Haus in der Nähe von Belrive zurückgezogen hatten, wurde ich Zeuge eines überaus heftigen und furchtbaren Gewittersturms. Er zog über den Bergen des Jura herauf, und der Donnerschlag kam mit erschreckender Lautstärke aus verschiedenen Himmelsrichtungen zugleich. Solange der Sturm andauerte, verharrte ich am Tor, um neugierig und entzückt seinen Fortgang zu beobachten. Während ich dort stand, sah ich plötzlich einen Feuerstrahl aus einer alten und prachtvollen Eiche hervorschießen, die ungefähr zwanzig Meter vor unserem Haus wuchs. Sobald das blendende Licht erlosch, war die Eiche bis auf einen zerborstenen Stumpf verschwunden. Als wir ihn am nächsten Morgen in Augenschein nahmen, entdeckten wir, dass der Baum auf einzigartige Weise zerstört worden war. Er war durch den Blitzschlag nicht nur geborsten, sondern ganz und gar in dünne Holzsplitter zerfetzt worden. Nie zuvor hatte ich etwas gesehen, was so vollkommen vernichtet worden war.

Die Zerstörung dieses Baums beeindruckte mich gewaltig, und ich fragte meinen Vater aufgeregt nach Wesen und Ursprung von Donner und Blitz. «Elektrizität», antwortete er und beschrieb sogleich die verschiedenen Wirkungen jener Kraft. Er konstruierte eine kleine elektrische Maschine und führte einige Experimente vor. Dann bastelte er auch noch einen Drachen aus Draht und Schnur, der den Wolken Flüssigkeit entzog.17

Dieser letzte Schlag stieß Cornelius Agrippa, Albertus Magnus und Paracelsus, die so lange meine Vorstellungswelt beherrscht hatten, endgültig vom Thron. Doch unglücklicherweise verspürte ich keinerlei Bedürfnis, mit dem Studium einer modernen Wissenschaft zu beginnen, und diese Abneigung verdankte sich folgendem Zwischenfall.

Mein Vater äußerte den Wunsch, ich solle Vorlesungen in Naturwissenschaft besuchen, und ich stimmte freudig zu. Aus irgendeinem Grund konnte ich jedoch diesen Vorlesungen zunächst nicht beiwohnen, bis der Kurs beinahe zu Ende war. Da es sich um einen der letzten Vorträge handelte, verstand ich überhaupt nichts. Der Professor dozierte überaus gewandt über Kalium, Bor, Sulfate und Oxide, Begriffe, unter denen ich mir nichts vorstellen konnte. Ich begann also die Lehren der Naturwissenschaft zu verabscheuen, obwohl ich Plinius und Buffon, Autoren, die ich als ebenso interessant wie nützlich schätzte, immer noch mit Hochgenuss las.18