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Hamburg 1953. Vor Elly, Tochter einer angesehenen Kaufmannsfamilie, liegt ein sicheres Leben in Wohlstand. Auch der richtige Ehemann ist schon gefunden. Doch Elly will mehr und hat andere Pläne für ihre Zukunft. Als sie Peter kennenlernt, der beim noch jungen NWDR arbeitet, ist sie sofort fasziniert von der neuen, bunten Fernsehwelt. Gegen den erbitterten Widerstand ihrer Familie arbeitet sie dort als Redaktionsassistentin und macht sich bald schon unentbehrlich. Ihr großer Traum, eine eigene Talkshow, scheint zum Greifen nah. Doch die Männerbünde halten zusammen, und auch die Liebe ist in den 50ern mit einer Karriere schwer zu vereinen. Muss Elly sich entscheiden?
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Seitenzahl: 491
Hamburg 1953. Vor Elly, Tochter einer angesehenen Kaufmannsfamilie, liegt ein sicheres Leben in Wohlstand. Auch der richtige Ehemann ist schon gefunden. Doch Elly will mehr und hat andere Pläne für ihre Zukunft. Als sie Peter kennenlernt, der beim noch jungen NWDR arbeitet, ist sie sofort fasziniert von der neuen, bunten Fernsehwelt. Gegen den erbitterten Widerstand ihrer Familie arbeitet sie dort als Redaktionsassistentin und macht sich bald schon unentbehrlich. Ihr großer Traum, eine eigene Talkshow, scheint zum Greifen nah. Doch die Männerbünde halten zusammen, und auch die Liebe ist in den 50ern mit einer Karriere schwer zu vereinen. Muss Elly sich entscheiden?
Stephanie von Wolff weiß, wovon sie schreibt. Nach einer Ausbildung zur Hotelkauffrau begann sie 1991 beim Hessischen Rundfunk zunächst als Redaktionsassistentin, später als Reporterin, Moderatorin und Redakteurin bei hr3. Sie lebt in Hamburg und ist Autorin zahlreicher Romane in der humorvollen Frauenunterhaltung. Zuletzt hat sie für Aufbau die Saga »Die Frauen vom Nordstrand« als Marie Sanders geschrieben.
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Deutsche Erstausgabe
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Katharina Rottenbacher, Berlin
Titelillustration: © Hannes Runelöf/getty images
Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München
Umschlagmotive: © Shelley Richmond/Trevillion Images | © BrAt82/shutterstock
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-2122-6
luebbe.de
lesejury.de
Für meinen guten alten Hessischen Rundfunk.Es war mir eine Ehre, beinahe täglich durch deine Goldhalle zu gehen!Ich hab viel in dir gelernt!
»Für mich die Weinbergschnecken, dann den gebratenen Lachs mit dem warmen Gurkensalat und den Kartoffeln. Danke.«
Elly reichte dem Ober die Karte und trank einen Schluck des Sherrys, den Thies ihnen als Aperitif bestellt hatte. Sie saßen am Fenster eines Restaurants an der Hamburger Alster.
Nun lehnte sie sich zurück und schaute hinaus aufs Wasser, während sie sich durch die dunkelbraunen Locken fuhr. Welch ein Glück, dachte sie oft, dass sie in Hamburg wohnte. Elly liebte diese Stadt. Hamburg war unaufgeregt nobel, aber eben manchmal auch zickig.
Elly freute sich auf das Abendessen, sie hatte extra den ganzen Tag über wenig zu sich genommen, damit sie heute Abend ohne Reue essen und auch ein Dessert genießen könnte. Ihre Figur war ihr wichtig, sie war nicht dünn, aber schlank, doch eben kein abgemagerter Besenstiel, wie ihr Bruder York manche Frauen nannte. Und sie liebte es, sich schick anzuziehen. Heute trug sie ein fliederfarbenes Wollkleid mit weißen Applikationen und Schuhe mit halbhohem Absatz. Sie hatte sich an diesem kalten Abend für ein Persianer-Cape mit Fellkragen aus Silberfuchs entschieden, das sie ihrem Vater in einer passenden Minute mit großem Augenaufschlag abgeschwatzt hatte. Benedikt Bothsen fiel es grundsätzlich schwer, sich bei seinen hübschen Töchtern durchzusetzen und hart zu bleiben, wenn sie mit ihren Wünschen zu ihm kamen. Das wussten die beiden ganz genau.
Elly musste ihren Vater manchmal nur ansehen und bekam, was immer sie wollte. Katharina, das Nesthäkchen, beherrschte die Kunst des Papa-um-den-Finger-Wickelns noch ein wenig besser, und wenn die Schwestern, die eine dunkelhaarig, die andere hellblond – »wie Schneeweißchen und Rosenrot«, sagte die Mutter oft –, gemeinsam auftraten, war Benedikt Bothsen machtlos, und Mutter sowie der Bruder schüttelten oft nur die Köpfe.
»Für mich ein Labskaus«, sagte Thies nun, und Elly schüttelte es innerlich. Sie konnte diesem Gericht aus gepökeltem, matschigem Fleisch, Roter Bete, Rollmops und gestampften Kartoffeln, garniert mit einem Spiegelei und Gurke, nichts abgewinnen. Aber Thies liebte diese einfache Küche.
»Zu Hause gibt es nur perfekt pariertes Fleisch und auf den Punkt gegartes Gemüse oder fein angerichtete Salate, da will ich wenigstens aushäusig mal was Richtiges haben«, sagte er immer.
»Elisabeth … Elly«, kam es nun von Thies. »Ich muss dir etwas sagen.« Er räusperte sich. »Genau genommen will ich dich etwas fragen.«
Elly stellte ihr Sherryglas auf die blütenweiße Tischdecke und schaute ihn an. »Was ist?«
»Die Sache ist die«, sagte Thies. »Wir sind nun schon so lang … gut miteinander, und ich war gestern, als du mit deiner Schwester bummeln warst, bei deinem … deinem alten Herrn und deiner Frau Mama, um ein gutes Wort für uns einzulegen.«
Elly schaute ihn an. Sie ahnte etwas, schwieg aber überrumpelt.
»Also die Sache ist die … herrje …« Wieder räusperte er sich.
»Ich habe deine Eltern gefragt, ob sie etwas dagegen haben, wenn wir heiraten. Genau genommen habe ich gefragt, ob ich um deine Hand anhalten darf«, sprudelte Thies hervor, als habe er Angst vor seiner eigenen Courage. »Sie haben sofort, also direkt, zugestimmt und sich sehr, sehr gefreut. Dein Vater hat sogar aus dem Keller eine von den ganz Verstaubten hochgeholt, und wir haben angestoßen. Und deswegen frage ich dich nun hier und heute, ob du meine Frau werden willst.« Erleichtert lehnte er sich zurück und nippte an seinem Glas.
Elly war wie vor den Kopf gestoßen. »Ihr habt darauf angestoßen, ohne mich zu fragen? Was soll das denn? Hätte man mich vorher nicht mal fragen sollen?« Sie wurde sekündlich wütender.
»Nun, ich dachte … also, ich war mir sicher, dass du Ja sagen wirst«, sagte Thies etwas zerknirscht, aber doch hoffnungsvoll.
Elly antwortete nicht. Sie versuchte, ihre Wut zu unterdrücken, und dachte nach.
Wollte sie Thies heiraten? Ja. Nein. Doch. Auf gar keinen Fall.
Sie nahm ihr Glas und trank noch einen Schluck.
Thies sah sie erwartungsvoll an. »Sagst du Ja? Willst du meine Frau werden? Was sagst du? Elly?«
Elly horchte in sich hinein. Wenn eine junge Dame einen Heiratsantrag bekam, musste sie sich doch freuen – wenn sie den Mann heiraten wollte. Da musste man doch Herzklopfen haben und vor Freude aufspringen.
Aber sie spürte nichts. Ihr Herz schlug nicht schneller. Wie sollte sie Thies das sagen, ohne dass er sich schlecht fühlte? Sie wollte ihn nicht unnötig verletzen. Das hatte er weiß Gott nicht verdient.
Er hatte in den letzten Wochen wirklich alles getan, um es ihr schön und recht zu machen, und kam mit immer neuen Ideen für romantische Unternehmungen. Sie musste kurz lächeln, als sie an den nächtlichen Bootsauflug vor einigen Wochen denken musste.
Sie hatten sich heimlich gegen dreiundzwanzig Uhr getroffen, und Thies, der direkt am Isebekkanal wohnte, hatte schon auf sie gewartet. Gemeinsam hatten sie sich durch Gestrüpp und Hecken zum Kanal gekämpft. Durch den Garten von Thies’ Elternhaus konnten sie nicht gehen, der war stets bei Dunkelheit illuminiert, und man sah dort jede Maus, sehr zum Schrecken von Thies’ Mutter.
Und dann waren sie in das kleine Holzboot gestiegen, und Thies hatte sie den Kanal entlanggerudert, was sehr romantisch war, weil der Mond so schön und mit voller Kraft schien. Es war zwar eiskalt, aber sie hatten dicke Jacken an und Elly gefütterte Gummistiefel.
Thies hatte einen Proviantkorb dabei. Heißen Orangensaft, eine Flasche Rotwein, Baguette und Krabbensalat, in Sahne und Zwiebeln eingelegten Matjes und Huhn. Sie tranken und aßen, während das kleine Boot vor sich hintrieb. Der heiße Saft tat gut, der Rotwein war perfekt temperiert, wie auch immer Thies das hinbekommen hatte.
Dann hatte Thies seine Hand vorsichtig auf ihre gelegt. Mehr hatte er nicht getan, er war viel zu gut erzogen und viel zu höflich, um sie weiter zu bedrängen, auch wenn er sie in der Vergangenheit einige Male hatte küssen dürfen. Aber Elly hatte das eher als unangenehm empfunden und verstand nicht, welch ein Gewese manchmal darum gemacht wurde. In manchen Gedichten war der Kuss das absolute Symbol der Liebe und Zuneigung und wurde von den Geküssten als zartes Band mächtiger Gefühle und als wonnesüß empfunden. Vielleicht machten Thies und sie es ja falsch, wer wusste das schon.
Elly war selbst Thies’ Hand auf ihrer ein wenig zu viel gewesen, obwohl sie ihn wirklich von Herzen gern mochte. Er war nett und höflich, er war gut erzogen und gebildet. Elly dachte manchmal, dass er ein wenig öfter lachen könnte. Lachte sie mal laut auf, blickte er sie eher tadelnd an.
»Ich möchte jetzt lieber nach Hause, Thies«, hatte sie an dem Abend geflüstert.
»Aber warum denn? Lass uns doch noch ein wenig bleiben, Elly«, sagte Thies enttäuscht. »Es ist doch so schön. Und wir haben noch so leckere Sachen dabei.«
»Ich bin so müde …«
»Na gut.« Er seufzte und nahm die Paddel. Eines löste sich aus der Halterung und fiel ins Wasser.
»Verflixt«, sagte Thies und beugte sich aus dem Boot, um nach dem Paddel zu greifen. Und es passierte natürlich, was passieren musste.
Elly hatte später auf dem Heimweg vor Kälte geschlottert. Das hatte noch gefehlt, dass sie mit dem kleinen Boot gekentert waren. Einen Stiefel hatte sie im Kanal im Modder auch verloren.
Thies hatte das Boot schwimmend an Land manövriert und Elly dann aus dem Wasser geholfen. Nachdem sie erst noch kichernd durch Schlamm gewatet waren, nahm die Kälte überhand, und sie wollte so schnell wie möglich heim.
»Es tut mir so leid, Elly, wirklich.« Thies, der natürlich auch entsetzlich fror, war ganz zerknirscht gewesen. »Dabei hätte es so schön werden sollen.«
»Das weiß ich doch, Thies!«
»Bist du mir nicht böse?«
»Nein, alles gut.« Elly wollte jetzt nur fort. Endlich ins Warme.
Sie umarmten sich kurz, dann war sie schnell Richtung Harvestehuder Weg gegangen, in der Hoffnung, dass niemand sie sah, eine nasse, verfrorene Katze, die sie war. Und mit nur einem Stiefel, das Wasser darin hatte bei jedem Schritt gequietscht.
Aber so war Thies nun mal. Er hatte es ihr einfach schön machen wollen.
»Ich denke darüber nach, Thies«, sagte sie nun. »Gib mir einige Tage Zeit.« Sie hob ihr Glas, und er tat es ihr nach.
»Auf uns, Elly! Auf die Zukunft!« Ernst blickte er sie an.
Sie stießen an.
Elly ging das alles viel zu schnell. Mit der Zukunft war noch gar nichts geklärt.
Einige Tage später traf Elly ihre beste und liebste ehemalige Schulfreundin Ingrid in einer Milchbar auf der Uhlenhorst. Ingrid war gerade von einer Hauswirtschaftsschule in der Schweiz zurück nach Hamburg gekommen und hatte sich umgehend bei Elly gemeldet. Ingrid hatte sehr aufgeregt geklungen, und Elly war gespannt, was sie zu erzählen hätte. Sie waren zusammen in einer Klasse gewesen und gemeinsam durch dick und dünn gegangen. Elly hatte Ingrid bei Aufsätzen und bei Diktaten geholfen, und Ingrid hatte versucht, Elly Häkeln und Stricken beizubringen. Die Versuche der beiden Mädchen waren von mäßigem Erfolg gekrönt gewesen, aber die schlechten Noten hatten sie nur noch mehr zusammengeschweißt. Seit der ersten Klasse hatten sie wie die Kletten zusammengehangen. Ihre beiden Mütter bezeichneten sie gern mal als siamesische Zwillinge. An den Wochenenden durften die Mädchen oft beieinander übernachten und verbrachten die Abende und die Nächte damit, die Jungen ihrer Klasse zu benoten und zu überlegen, welche Kleider sie auf ihrer Hochzeit tragen würden und wie die Torten aussehen könnten. Am liebsten hätten die beiden eine Doppelhochzeit gefeiert und malten sich die dazugehörigen Männer in schillernden Farben. Groß und blond musste der Zukünftige von Ingrid sein, dunkelhaarig und breitschultrig war Ellys Favorit.
Elly hatte die Freundin vermisst, und sie hatten sich regelmäßig geschrieben. Nun, gleich nachdem sie zurückgekommen war, hatte Ingrid bei Elly angeläutet.
Elly konnte es kaum erwarten und freute sich darauf, die Freundin zu treffen, aber sie bekam einen Schreck, als sie Ingrid in der Milchbar sitzen sah. Sie war käseweiß, dünn und ausgemergelt, sie zitterte und wirkte fahrig, einfach todunglücklich.
»Du liebe Zeit, Ingrid, was ist dir denn geschehen?«, fragte Elly entsetzt und nahm Ingrid gegenüber Platz. Sie legte eine Hand auf die der Freundin und merkte, dass sie eiskalt war.
»Ach, Elly«, zwei Tränen liefen über Ingrids Wangen. »Es ist alles ganz furchtbar.«
»Was ist los? Sag schon. Du weißt doch, wir erzählen uns alles«, bat Elly sie und zwang sich, ruhig zu bleiben.
»Wäre ich doch bloß nie in die Schweiz gereist«, sagte Ingrid bitter. »Dann hätte ich Alexander niemals getroffen und nichts wäre passiert. Ach, Elly, du kennst mich doch. Ich bin doch keine, die sich einem Mann einfach so an den Hals wirft. Du weißt, wie zurückhaltend ich immer war. Ach, Elly, ich … ich bekomme ein Kind, ich weiß nicht mehr weiter …«
Ingrid weinte nun noch mehr. »Ich weiß nicht, was ich tun soll, Elly. Ich weiß es einfach nicht …«
Elly beugte sich vor zu Ingrid und legte ihre Hand auf die ihrer Freundin. »Jetzt bleibst du mal ganz ruhig, und wir überlegen, was wir tun können, Ingrid. Ich bin für dich da. Ich lass dich nicht im Stich«, sagte sie ruhig und besonnen, denn wenn Ingrid jetzt etwas nicht brauchte, dann eine hysterische Freundin, die so Sachen sagte wie »Wie konntest du nur?« oder »Ach je, keine Ahnung, was man da machen kann!«.
Ingrid blickte auf. »Ich bin völlig verzweifelt.«
»Das glaube ich dir. Nun eins nach dem anderen. Weiß dieser Alexander davon?« Elly hatte kurz die Hoffnung, dass es jemand sein könnte, der Ingrid heiraten würde, und vor allem einer, der Ingrids Eltern gefiel. Aber Ingrid erzählte ihr, Alexander sei ein Student gewesen, der mit seinen Freunden in den Bergen gewandert war und in Zürich Station gemacht hatte.
»Ich habe ihm schon geschrieben, nach Frankfurt am Main, wo er angeblich wohnt«, erklärte ihr Ingrid matt. »Aber die Adresse existiert gar nicht. Es gibt keinen Alexander Hoffbach in der Textorstraße. Der Brief kam als unzustellbar zurück. Beim Amt wusste man auch nichts. Niemand konnte mir helfen. Das Schlimme ist, Elly, dass ich gedacht habe, mit Alexander, das wäre etwas Ernstes. Er hat mir gesagt, dass er sich in mich verliebt hat und dass er nach Hamburg kommen will und dass wir beide dann schauen, wie es mit uns weitergehen kann. Dann erfahre ich also, dass er gar nicht wohnt, wo er vorgab zu wohnen. Er hat mir bewusst eine falsche Adresse gegeben. Wahrscheinlich stimmt noch nicht mal der Name. Wie hab ich mich nur so täuschen können! Ach, Elly, wenn du ihn gesehen hättest! Er sieht so gut aus, und das, was er gesagt hat, klang auch ehrlich. Ich hab mich sofort in ihn verliebt, es ging gar nicht anders! Aber jetzt stehe ich alleine da. So alleine.« Die Tränen liefen aus ihren Augen. »Ich bin völlig verzweifelt«, sagte sie dann. »Mama und Papa haben gesagt, ich soll mir eine Lösung für die unangenehme Sache suchen.« Sie zitterte am ganzen Körper.
»Was denn für eine Lösung?«, fragte Elly, der die Gedanken im Kopf herumschwirrten.
Ingrid sah sie an. »Das haben sie so nicht gesagt, aber ich weiß, was sie meinen. Ich soll es wegmachen lassen.«
»Himmel, wie und wo denn? Das ist doch strafbar!« Elly konnte es kaum glauben.
»Ich weiß. Es ist noch dazu gefährlich. Nach dem, was ich gehört habe, sterben viele Frauen daran, weil unsauber gearbeitet wird. Ich weiß nicht, was ich tun soll, Elly. Ich weiß es einfach nicht. Vati hat gesagt, ich solle sagen, ich sei gegen meinen Willen … genommen worden, dann gibt es wohl die Möglichkeit, ein Kind legal abtreiben zu lassen, aber dann werde ich von der Polizei verhört, und du weißt doch, wie schlecht ich lügen kann. Ach, Elly, es ist so schrecklich, so furchtbar.«
Elly schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass deine Eltern das wollen, Ingrid. Dass sie in Kauf nehmen, dass du dabei sterben könntest. Und das ist so. Man hört nichts Gutes. Ich …«
»Hallo. Was darf ich euch denn bringen? Äh, Ingrid?«, fragte da eine verwunderte männliche Stimme. Die beiden zuckten zusammen und blickten hoch. Einer der Kellner war zu ihrem Tisch gekommen, ein smarter junger, dunkelhaariger Mann Mitte zwanzig.
»Peter!«, sagte Ingrid nun mit schwacher Stimme. »Du bist auch wieder da?«
Der junge Mann mit dem dichten braunen Haar lachte sie an. »Jawohl. Die Seefahrt war doch nichts auf Dauer für mich, dauernd dieses Geschaukel und die Seekrankheit, und immer nur Schlafen in der Hängematte, puh, und der getrocknete Fisch und der Schiffszwieback, dazu tagaus, tagein dieselben Gesichter und die gebrüllten Befehle, da hab ich es sein lassen und bin erst mal zurück nach Hamburg gekommen. Bis feststand, was ich machen will, habe ich mich um diese Stelle hier in der Milchbar beworben. Jetzt weiß ich, was werden soll, aber so lange bleibe ich noch hier. Das Leben bezahlt sich ja nicht von selbst.« Er reichte Elly die Hand. »Peter Woltherr, ich bin der Bruder von Lotti.«
»Lotti?« Elly verstand nicht, schüttelte aber seine Hand. Sein Händedruck war angenehm. Nicht zu kräftig. Seine Hand war warm und trocken.
»Peter ist der Bruder von einer unserer Hausangestellten, Lotti Harmsen«, erklärte Ingrid der Freundin kurz. »Peter hat sich, bevor er zur See gefahren ist, am Wochenende hin und wieder um Papas Autos gekümmert, wenn Not am Mann war, und sich ein paar Mark dazuverdient.«
»Aha«, sagte Elly und schaute Peter an. Der erwiderte ihren Blick länger als nötig. Er sah hervorragend aus, musste Elly zugeben, so groß, kräftig und breitschultrig, wie er war, und er hatte ein offenes und freundliches Gesicht mit markanten, männlichen Zügen.
»Ich bin Elisabeth«, sagte sie, und Peter nickte.
»Demnächst fang ich beim NWDR auf dem Heiligengeistfeld an«, erzählte er freudig. »Bis dahin muss noch ein wenig Geld in die Kasse kommen!«
»Was machen Sie denn da?«, fragte Elly interessiert. Auch wenn sie wusste, was der NWDR war, der Nordwestdeutsche Rundfunk, konnte sie sich gar nicht vorstellen, wie die Arbeit dort war. Sie liebte die Sonntagnachmittage, an denen sie die Radiosendung Sang und Klang hörte, und genoss die schönen Sängerstimmen. Anneliese Rothenberger fand sie ganz besonders wunderbar, solch eine Stimme gab es nicht nochmal. Früh um sieben Uhr morgens machte sie manchmal die Frühgymnastik im Radio mit. Hildegund Bobsien ermutigte mit ausgeschlafener und frischer Stimme die Frauen zu sportlicher Bewegung, und auch ihre Schwester Kari war oft mit dabei, manchmal sogar die Mutter.
Auch wegen des Moderators Hugo R. Bartels schaltete Elly regelmäßig ein, seine Sendung Mit auf den Weg … von halb sieben bis halb neun Uhr am Morgen gefiel ihr sehr.
»Ich werde die Fernsehabteilungen und alles andere wochenweise durchlaufen, und dann schauen wir gemeinsam, wo ich am besten eingesetzt werden kann«, erklärte Peter. »Not am Mann ist da momentan überall. Zu gern würde ich eine Ausbildung dort machen, mal schauen, was sich ergibt, ob etwas frei ist und ob sie mich überhaupt haben wollen.«
»Interessant«, sagte Elly ehrlich. »Da sind Sie dann bestimmt auch mal hinter den Kulissen und haben sicher mit interessanten Menschen zu tun. Wie aufregend!«
»Ich bin jedenfalls schon sehr gespannt«, sagte Peter. »Und hoffe, dass ich meine Vorgesetzten überzeugen werde. Ich glaube, beim Fernsehen wird’s nie langweilig. Und du, Ingrid, geht’s dir gut?« Freundlich sah er die blasse Ingrid an.
»Oh ja, danke, Peter.« Ingrid lächelte matt. Elly merkte, dass die Freundin keine Lust mehr hatte, sich mit Peter zu unterhalten. Ganz im Gegensatz zu ihr, was ihr fast ein schlechtes Gewissen bereitete. Immerhin gab es Wichtigeres, und sie musste sich um ihre beste Freundin kümmern.
Aber Elly hatte sich schon immer gefragt, wie es im Rundfunk und Fernsehen so aussah, wie man dort arbeitete. Gerade das neue Fernsehen! Ihr Vater hatte gesagt, solche Apparate kämen ihm gar nicht erst ins Haus. Das sei Volksverdummung, und die Menschen sollten sich gefälligst miteinander unterhalten. Er hatte nichts gegen ein gutes Rundfunkkonzert am Abend, aber so eine Flimmerkiste, die war ja wohl Gift. Elly hatte einen Fernseher bislang nur durch Schaufensterscheiben gesehen, viele Geschäfte stellten einen auf, und wichtige Sendungen wurden übertragen, unter anderem Fußball – und dann standen die Männer zu Dutzenden vor dem Glas. Elly fand das Fernsehen unglaublich faszinierend. Seit Kurzem gab es einen Apparat, der Zauberspiegel hieß, die Firma Grundig hatte ihm den Namen gegeben, weil man sich in der Scheibe spiegeln konnte, wenn er aus war. Bekannte ihrer Eltern hatten einen solchen. Einmal waren sie bei ihnen zu Besuch gewesen, und Elly hatte sich im Zauberspiegel angeschaut und mit sich selbst gesprochen, das war witzig gewesen, weil sie ihr Gesicht quasi im Fernsehen gesehen hatte.
Ach, war es nicht faszinierend, dass aus diesen Geräten einfach etwas kam, was man sich ansehen konnte?
Peter gefiel Elly. Er sah nicht nur gut aus, sondern er wirkte charmant und gut erzogen. Ihr Herz klopfte so merkwürdig seit ein paar Minuten.
»Also«, sagte Peter. »Was darf’s sein? Ich kann euch wärmstens den Zitronenmilkshake empfehlen, der schmeckt wirklich bestens.«
»Dann nehme ich das«, sagte Elly und lächelte Peter an. Der lächelte zurück.
»Was möchtest du, Ingrid?«
»Ich? Äh … ich nehm eine Coca-Cola«, sagte Ingrid matt, und Peter nickte.
»Geht klar«, sagte Peter freundlich, nickte ihnen zu und wandte sich ab. Elly bedauerte es, doch sie musste sich jetzt wirklich um Ingrid kümmern. Sie nahm wieder ihre Hand, die immer noch eiskalt war.
»Das können deine Eltern doch nicht verlangen«, nahm sie nun den Faden wieder auf. Gleichzeitig wusste sie, wie Ingrids Eltern waren. Hartmut und Bärbel Rasmussen waren alteingesessene Hamburger, die einen großen Fischgroßhandel besaßen und deren Fahrer nicht nur Norddeutschland, sondern bundesweit mit großen Kühllastern die feinsten Restaurants, Fisch- und Feinkostgeschäfte versorgten. Die Lieferwagen mit dem Werbespruch Rasmussen bringt den besten Fisch täglich frisch auf Ihren Tisch fuhren wirklich überall herum.
»Sie tun es aber«, sagte Ingrid matt.
Da kam Peter mit den Getränken. Er strahlte Elly wieder an, und ihr wurde wieder ganz schummerig.
Ingrid sah abwesend auf ihre Coca-Cola, dann auf gerade hereinkommende junge Leute, die lachend ihre Jacken auszogen und sich auf den Chromstühlen niederließen, um bei Peter laut Cola, Erdbeer- und Vanilleshakes zu ordern. Ein junger Mann sprang wieder auf und begab sich zur Jukebox, kurze Zeit später sangen alle zu Vico Torriani. Die Clique am Nebentisch wippte im Takt mit. Das war das Gute an den Milchbars: Hier konnte man sich mit gutem Gewissen auch die amerikanischen Schlager anhören, ohne dass ein Vater kam und befahl, das Gejaule mit dieser indiskutablen Musik auszumachen. Musik, die die Jugend verderben würde. Die Jukeboxen in den Milchbars zogen die jungen Leute wie Magnete an. Die Einrichtung wirkte fast steril, die Stühle waren aus Chrom, der Boden und die Wände oftmals gefliest, und amerikanische Emailschilder mit Coca-Cola- und Zigarettenwerbung schmückten die Wände neben Tütenlampen. Herzstücke jeder Milchbar waren die Jukebox und der Tresen. Hier wurden die Shakes in Metallbehältern geschüttelt, und der Kaffee kam aus einem großen, zischenden Automaten.
»Weißt du was, wir gehen zu deinem Vater und reden mit ihm«, schlug Elly nun vor. »Und zu deiner Mutter. Wenn ich dabei bin, lenken sie vielleicht ein.«
Ingrid sah sie ratlos an. »Ich bin so schrecklich müde, Elly. Am liebsten würde ich mich ins Bett legen und nur noch schlafen. Ich weiß gar nicht, wann ich zum letzten Mal eine Nacht durchgeschlafen habe, seitdem ich das mit der Schwangerschaft weiß. Papa redet nur von Schande, so hätte er mich nicht erzogen, ich sei ein Flittchen, und man hätte mich anstelle in die Schweiz in eine Korrektionsanstalt für gefallene Mädchen schicken sollen, da sei ich besser aufgehoben gewesen.«
»Ach, Ingrid, das ist so ungerecht. Dieser junge Mann, also der Vater, der weiß nichts von seinem Glück oder Unglück und wird es auch nie wissen. Der hat schon gewusst, warum er dir eine falsche Adresse gegeben hat. Wahrscheinlich hat der schon das eine oder andere Kind! Und wieder sind die Frauen die Leidtragenden. Wir sind es, die Schande machen. Wir müssen alles ausbaden, wenn wir in Schwierigkeiten kommen. Warum ist das so? Warum sind immer wir Frauen an allem schuld?« Elly redete sich in Rage. »Wenn ich das schon lese in diesen Büchern, die man sich vor der Eheschließung besorgen soll. Der Mann darf sich vorehelich austoben, die Frau muss warten. Das wird dann so hingestellt, dass der Mann ja Erfahrungen sammeln muss, um bei seiner Zukünftigen alles richtig zu machen. Ich frage mich nur: Wo sammeln denn die Männer die Erfahrungen? Auch bei ledigen Frauen, die dann vielleicht schwanger werden? Oder im Bordell? Das gilt natürlich auch nicht als verwerflich.« Sie war wütend.
»Sei nicht so laut«, bat Ingrid sie.
»Ich bin doch gar nicht laut«, sagte Elly. »Ich bin nur empört. Weil ich das alles so ungerecht finde.«
Ingrid starrte auf ihre Cola. »Frag mich mal. Aber ich bin nun mal in dieser Situation, daran kann ich nichts ändern.«
»Ich bleibe bei meiner Meinung«, sagte Elly. »Und ich lasse dich nicht im Stich. Ein Gespräch mit deinen Eltern bringt bestimmt einiges in Ordnung, und wenn ich dabei bin, lenken sie vielleicht eher ein. Was sagst du?«
Ingrid sah sie an. »Wenn du meinst.« Aber ihr Blick war hoffnungslos und leer. Sie sah aus dem Fenster. Es hatte angefangen zu schneien. »Danke, Elly«, sagte sie leise. »Danke, dass du das mit mir durchstehen willst. Du weißt, mein Vater ist nicht einfach.«
»Das hast du schön gesagt.« Elly musste lachen. »Dein Vater ist ein Choleriker, ein Despot und ein Brüllaffe, alles zusammen.«
Ingrid lächelte matt. »Jede Beschreibung stimmt.« Mehr gab es dazu nicht zu sagen.
Elly lud die Freundin auf die Cola ein und bezahlte bei Peter Woltherr am Tresen. Der lächelte sie freundlich an. »Hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen.«
Elly ärgerte sich, weil sie rot wurde. »Ja, mich hat es auch gefreut. Ich wünsche Ihnen viel Glück beim Fernsehen.«
»Das wünsche ich Ihnen auch«, sagte er.
Elly lachte. »Ich bin ja nicht die, die zum Fernsehen geht.« Sie nahm das Wechselgeld und steckte es in die kleine Trinkgelddose auf dem Tresen.
»Schade eigentlich.« Er grinste.
»Wir würden gern noch was bestellen!«, riefen da Gäste von einem weiteren Tisch.
»Komme!« Peter sah Elly noch mal an. »Also dann.«
»Also dann«, sagte die und nickte ihm zu. Dann verließ sie die Milchbar und zwang sich, nicht zu ihm zurückzublicken. Es fiel ihr wirklich schwer.
Ingrid wartete schon draußen im Schneetreiben.
Elly hakte sich bei Ingrid unter. »Der ist sehr nett, also dieser Peter Woltherr.«
»Findest du?« Ingrid knuffte sie in die Seite.
»Hm«, machte Elly.
»Das hab ich wohl gemerkt«, sagte Ingrid. »Elly, Elly, lass dich nicht verführen!«
»I wo! Das verspreche ich dir. Außerdem – wer weiß, ob ich ihn überhaupt wiedersehe. Lass man. Davon abgesehen hat Thies mir einen Heiratsantrag gemacht.« Sie sah Ingrid mit großen Augen an. »Und ich weiß nicht, was ich antworten soll.«
Ingrid starrte sie an. »Ein Heiratsantrag! Oh! Das ist ja famos. Und Thies ist wirklich ein guter Mann und netter Kerl.« Sie seufzte. »Ich hätte auch gern einen Heiratsantrag bekommen.«
»Ich weiß, Ingrid, ich weiß.«
Langsam gingen sie weiter.
»Jedenfalls ist das ja erst mal eine schöne Sache«, meinte Ingrid dann. »Also Thies ist wirklich nicht die schlechteste Wahl. Er ist intelligent, sieht gut aus, und du hättest ausgesorgt. Wenn man das alles jetzt mal praktisch sieht.«
»Ist das alles?«, fragte Elly.
»Nicht alles, aber viel«, erklärte ihr die Freundin. »Natürlich ist das für deine Eltern der für dich vorgezeichnete Weg. Die eigentliche Frage aber ist, ob du Thies liebst.«
Erwartungsvoll schaute sie Elly an.
Elly malte mit der Schuhspitze Kreise auf den Bürgersteig.
»Ganz ehrlich?«
»Natürlich!«
»Nein. Ich liebe ihn nicht. Ich mag ihn sehr, ich bin auch gern mit ihm zusammen, aber so, wie ich gern mit Kari oder dir oder einer anderen Freundin zusammen bin. Thies ist ein netter Kerl und ein guter Freund. Man kann sich auf ihn verlassen, und er ist hin und wieder auch witzig. Aber wenn ich mir vorstelle, dass ich mit ihm …« Sie zögerte. »Nein, das könnte ich nicht. Und ich hatte auch noch nie Herzklopfen oder so, wenn wir uns getroffen haben.«
»Ach, Elly. Dann kannst du ihn nicht heiraten. Du musst es ihm sagen«, meinte Ingrid.
»Davor habe ich Muffensausen, ich möchte ihn ungern verletzen. Er ist wie gesagt ein guter Mensch.« Sie seufzte. »Ich werde darüber nachdenken. Aber jetzt bist erst mal du dran. Auf in den Kampf, Ingridchen. Wir werden das Kind schon schaukeln.«
»Ein sehr passender Vergleich in meiner Situation«, gab Ingrid resigniert zurück, lächelte aber ein wenig.
»Die Welt wird nicht untergehen, nur weil du ein Kind bekommst«, erklärte ihr Elly. »So viel steht schon mal fest.«
Sie gingen Richtung Straßenbahn, um zu Rasmussens in die Große Elbstraße zu fahren. Dort war der Firmensitz von Rasmussens feinste Fischwaren, Schalen- und Krustentiere. Bärbel Rasmussen erledigte die gesamte Buchhaltung und Bankgeschäfte, sie war für alles Schriftliche zuständig, für Bestellungen und für die Löhne der Arbeiter. Hartmut Rasmussen war täglich außer sonntags ab vier Uhr hier und nahm die Lieferungen entgegen, um sie dann weiterzuleiten. Um kurz vor sieben fuhren die ersten VW-Kastenwagen los und lieferten aus.
Als sie noch in die Schule gegangen waren, war Elly oft mit Ingrid hierhergekommen. Sie liebte es, in der Großen Elbstraße zu sein, in den riesigen Hallen herumzustreunen, in denen geschäftig herumgewerkelt wurde und laute Rufe erschollen. Ehrfürchtig hatte sie mit Ingrid vor riesengroßen Fischen und Hummern gestanden, die in Wasserbassins lagen, und ängstlich hatten sie zugeschaut, wenn die Arbeiter den Tieren die Scheren zusammenbanden. Manchmal schaffte es ein Hummer zu entkommen und krabbelte panisch über den Boden, dann war das Geschrei bei den Mädchen groß, bis er wieder eingefangen war. Und manchmal lief einer der Arbeiter mit einem Hummer hinter ihnen her und wedelte mit den Scheren, dann kreischten sie noch lauter.
Wie immer ging Hartmut Rasmussen geschäftig herum, wie immer trug er eine Gummischürze und Gummistiefel, und wie immer guckte er ziemlich grimmig. Als er sah, dass seine Tochter Elly im Schlepptau hatte, blickte er noch eine Spur grimmiger drein.
»Guten Tag, Herr Rasmussen«, sagte Elly lächelnd. »Wir haben uns ja so lange nicht gesehen. Ich hoffe, es geht Ihnen gut?«
Hartmut Rasmussen machte »Mpf«, was Elly als ein »das geht dich gar nichts an« wertete.
»Schön.« Sie strahlte ihn nun an. »Könnten wir vielleicht irgendwo hingehen, wo wir ungestört sind und Ihre Frau dabei sein kann?«
»Was gibt’s denn so Wichtiges?«, fragte Herr Rasmussen unwirsch.
Elly blieb weiter freundlich und sah ihn mit klarem, festem Blick an. »Ich glaube, das wissen Sie.«
Hartmut Rasmussen lief rot an und sah wütend zu seiner Tochter hinüber. »Musstest du alles schon weitertratschen! Kannst du’s nicht erwarten, dass wir das Gespött aller Leute sind?«
»Paps, ich …«, fing Ingrid an, aber ihr Vater hob die Hand. »Kein Wort mehr jetzt.« Er sah sich um. Seine Arbeiter eilten geschäftig hin und her, keiner sah zu ihnen herüber.
»Wir gehen ins Kontor«, sagte er dann mürrisch und ging voraus.
»Es wird schon werden«, wisperte Elly ihrer Freundin zu. »Du wirst sehen. Vielleicht freut er sich sogar.«
»Nie im Leben«, gab Ingrid leise zurück und verdrehte die Augen. »Mein Vater ist …«
»Bärbel!«, brüllte Herr Rasmussen. »Komm mal rum!«
Sie folgten ihm in das kleine Kontor im ersten Stock, von wo aus man die Halle und die Arbeit gut überblicken konnte. Ingrids Mutter kam angeeilt.
»Was ist denn los, Hartmut?«
Bärbel Rasmussen war klein und schlank, ihre wachen Augen funkelten hinter einer schicken Cateye-Brille. Sie lächelte kurz, als sie ihre Tochter mit Elly erblickte.
»Deine Tochter hat sich Verstärkung mitgebracht.« Hartmut nickte zu Elly, setzte sich auf einen Drehstuhl hinter dem Schreibtisch und lehnte sich mit den Unterarmen auf die braune, abgeschabte Lederunterlage.
»Verstärkung würde ich das nicht nennen, Herr Rasmussen«, sagte Elly höflich. »Es ist nur so, dass Ingrid ziemlich verzweifelt ist und sich allein gelassen fühlt, und da dachten wir beide, dass …«
»Ha! Allein gelassen! Frag mich mal, wie ich mich fühle, Elisabeth. Kommt das Fräulein Tochter aus der Schweiz zurück und hat sich ein Bankert andrehen lassen. Das soll ich jetzt großziehen und füttern, während die Leute sich das Maul über uns zerreißen.« Er schlug auf den Tisch. »Nicht mit mir! Ich lass mir doch nicht nachsagen, ich hätte meine Tochter nicht im Griff!«
»Hartmut, nun hör den Mädchen doch wenigstens mal zu«, sagte Bärbel leise. »Vielleicht findet man ja gemeinsam eine Lösung.«
Hartmut sah seine Frau mit großen Augen an. »Stehst du etwa auf ihrer Seite?«
Bärbel erwiderte den Blick ernst und nickte langsam. »Natürlich tu ich das. Ingrid ist doch unsere Tochter. Wir sind eine Familie. Du, ich, Ingrid und die Jungs. Wir sollten versuchen, den Tatsachen ins Auge zu blicken, und gemeinsam überlegen, was wir tun können.«
»Ich weiß, was ich tu!«, brüllte Hartmut Rasmussen. »Fort mit dem Balg! Wegmachen lassen, sag ich. Ohne Frage. Keine Diskussion. Damit das mal klar ist!« Er ballte eine Hand zur Faust.
»Aber, Hartmut«, sagte Bärbel resigniert.
Ingrid wich ängstlich zurück und zitterte schon wieder.
»Das ist mein letztes Wort, und nein, Elly, du mischst dich da nicht ein, du bist selbst noch grün hinner den Ohren, und ich sach dir, nimm dir das hier zu einem guten Beispiel, wie man es nicht machen sollte! So wie meine Tochter, so soll man es keinesfalls machen! Lässt sich in Zürich mit einem dahergelaufenen Nichtsnutz ein, bei dem noch nicht mal die Adresse stimmt. Der lacht sich jetzt ins Fäustchen! Nix da. Kümmert euch von mir aus alle zusammen darum, dass die Sache aus der Welt geschafft wird, ich werde kein solches Balg dulden. Schluss, aus!«
Er stand auf und polterte aus dem Kontor. Kurze Zeit später hörte man ihn laut die Treppe zur Halle hinunterstapfen.
»Ach, Ingrid.« Bärbel ließ sich müde und erschöpft auf einen Holzhocker sinken. »Was wird jetzt nur?«
Ingrid sah ratlos aus, die Tränen standen ihr in den Augen. »Ich weiß nicht. Ich werde wohl versuchen, einen Arzt zu finden, der … mir hilft.«
»Kind«, sagte Bärbel. »Das spricht sich in der Stadt herum wie nichts. Ich hör die Leute schon reden, ach je, wie sich das dann aufs Geschäft auswirkt!«
Elly traute ihren Ohren kaum. »Wo soll Ingrid denn hin, Frau Rasmussen? Zu einem schmutzigen Engelmacher? Wollen Sie, dass sie vielleicht bei dem Eingriff stirbt oder nie wieder Kinder bekommen kann?«, fragte sie und wurde langsam böse. Wie konnte man denn das Geschäft und die Leute vor die Tochter stellen! Überhaupt – die Leute! Elly konnte es nicht mehr hören. Außerdem war Bärbel doch Ingrids Mutter. Die musste doch zu ihrer Tochter stehen und nicht das Geschäft vorziehen. Wie kaltherzig konnte man sein!
»Dein Vater hat das letzte Wort«, sagte Bärbel leise. »So ist es immer schon gewesen.«
»Mama, bitte hilf mir«, sagte Ingrid verzweifelt. »Wir könnten uns doch gemeinsam um das Kind kümmern, und wenn es erst mal da ist, sieht die Welt vielleicht anders aus, und …«
Aber ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Du weißt, was passiert, wenn ich Papa das vorschlage«, sagte sie leise und sah traurig aus.
»Was ist denn dann?« Elly verstand nicht so recht.
»Er kann manchmal sehr … rabiat werden«, sagte Ingrid. »Sehr sogar.« Sie sah ihre Mutter an. »Ach, Mama.«
Bärbel sah auf den Holzboden, der mit dunklen, geölten Schiffsplanken ausgelegt war.
Ingrid drehte sich um, nahm Elly am Arm, und sie verließen das Kontor, gingen die Treppen hinab und dann Richtung Ausgang.
»Dein Vater schlägt deine Mutter?«, fragte Elly ungläubig, als sie draußen standen.
Ingrid nickte. »Manchmal. Sie versucht immer, nicht zu schreien oder zu weinen, aber man hört es doch.«
»Meine Güte, deine arme Mama«, sagte Elly. »Das tut mir so leid.«
Eine Zeit lang sagte keine von ihnen etwas.
»Ich kann und will das nicht glauben«, sagte Elly dann zornig. »Die eigenen Eltern, die eigenen Eltern lassen dich im Stich!«
Müde sah Ingrid sie an. »Was würden deine Eltern tun?«
Elly blieb stehen. »Ich weiß es nicht«, sagte sie dann. »Ich weiß es wirklich nicht.«
»Siehst du.«
Sie gingen weiter, und Elly genoss die frische Luft. Es schneite immer noch.
Ingrid hakte sich bei Elly unter. »Lass uns ein bisschen spazieren gehen«, schlug sie vor. »Ich muss meinen Kopf freikriegen.«
»Ja.« Elly nickte und streichelte Ingrids Hand. »Und lass uns nachdenken.«
»Ich dank dir so, Elly.« Über Ingrids Wangen liefen schon wieder Tränen. »Ich danke dir so sehr, dass du da bist und mir hilfst. Ich glaube, alleine würde ich das nicht durchstehen.«
»Wir haben doch schon immer zusammengehalten wie Pech und Schwefel.« Elly musste lächeln, als sie an die Schulzeit dachte.
»Weißt du was, du übernachtest heute bei mir, und wir überlegen die nächsten Schritte.«
»Da muss ich wenigstens Muttchen Bescheid geben.«
»Ach wo, lass die doch mal schmoren. Außerdem können sie sich denken, dass du bei mir bist. Davon mal ganz abgesehen, dein Vater hat doch gesagt, du sollst die Sache regeln. Also muss man über die Sache nachdenken.«
»Na gut.« Ingrid nickte.
»Nun komm, lass uns ein wenig gehen. Und wir müssen rechtzeitig daheim sein. Um sieben wird gegessen, und ich muss in der Küche noch Bescheid geben, dass wir einen Gast haben.«
Bald darauf standen sie an den Landungsbrücken und blickten auf die Elbe. Barkassen mit Touristen drin fuhren vorbei, jemand rief: »Auf zur Hafenrundfahrt, die nächste Hafenrundfahrt mit Speicherstadt in fünfzehn Minuten! Kommense her, meine Damen und Herren, so was gibt’s nur hier, das gibt’s nur bei uns in Hamburch!«
Möwen zogen gleichmäßig ihre Kreise und schrien dabei, und vom gegenüberliegenden Ufer hörte man aus der Werft die Geräusche der Hafenarbeiter. Es klopfte und schepperte, es knallte und knirschte. Ein Schiff aus Übersee wurde gerade hereingelotst, so tief, wie es im Wasser lag, würde es wohl recht lange dauern, die Ladung zu löschen. Der Hafen hatte Elly schon immer fasziniert. Sie liebte diese Atmosphäre, das geschäftigte Treiben, die Akkordeonspieler, die Gaukler und die Fischbrötchen, sie sah gern den Leuten zu, wie sie flanierten, Kinder mit Brezeln, die Erwachsenen hier und da mit einem Rundstück, in dem sich Matjes oder Krabben befanden. Sie gingen langsam weiter. Plötzlich blieb Ingrid stehen.
»Elly«, sagte sie. »Vielleicht … also möglicherweise finde ich ja in der Nähe der Reeperbahn auf dem Kiez jemanden, der das macht.«
Elly zog die Freundin weiter. »Auf gar keinen Fall«, wehrte sie streng ab. »Das ist lebensgefährlich. Außerdem weißt du genau, dass wir nicht auf den Kiez sollen. Meine Eltern jedenfalls sagen immer, wer sich auf dem Kiez herumtreibt, hat Dreck am Stecken und führt nichts Gutes im Schilde. Außerdem seien dort die Straßen mit Blut und Leichen gepflastert.«
»Aber ich soll ja die Sache regeln.«
»Bestimmt nicht so. Und nun gehen wir nach Hause. Ich hab Hunger und du bestimmt auch. Komm!«
Zum Abendessen gab es mit Hackfleisch und Zwiebeln gefüllte Paprikaschoten mit Salat, hinterher Eis mit Dosenfrüchten. Ingrid langte auf Geheiß von Ellys Mutter gut zu. Sie war ein gern gesehener Gast im Hause Bothsen, alle mochten die gut erzogene Ingrid. Magdalena Bothsen hatte nicht nur einmal zu ihrem Mann gesagt, man könne gar nicht glauben, dass Hartmut Rasmussen Ingrids Vater sei, so laut und grölend und rau der immer war. Bärbel Rasmussen hatte bei der Tochter und bei den beiden Söhnen gute Erziehungsarbeit geleistet.
»Wie schön du es hast, Elly«, seufzte Ingrid, als die beiden nach dem Essen in Ellys Zimmer saßen.
»Was meinst du?«
»Na, deine Eltern sind lieb zu dir, und du hast ein schönes Zuhause, ein wunderhübsches Zimmer. Weißt du, wie oft ich Paps angebettelt habe, er möge mir rosa Tapeten und einen rosa Teppich spendieren? Aber er wollte das nicht. Einmal hab ich ein Gespräch meiner Eltern mit angehört. Was soll ich denn viel in Ingrid investieren, hat Paps gesagt, sie heiratet doch sowieso, das Geld kann man sparen.«
Elly schüttelte den Kopf. »Vielleicht meint er das gar nicht so. Dein Vater ist eben durch und durch ein Kaufmann, der denkt nicht rosa, der denkt praktisch.«
»Mag sein, aber das hilft mir jetzt auch nicht weiter«, sagte Ingrid und schloss die Augen. »Lass uns doch noch ein bisschen hin und her überlegen, vielleicht fällt uns noch was ein.«
Leise beredeten die beiden die Situation.
Kein Frauenarzt durfte offiziell einen Abbruch vornehmen, es sei denn, er konnte einen triftigen Grund nennen, etwa dass Gefahr bestünde, die Mutter würde die Geburt nicht überleben oder wäre vergewaltigt worden. Aber das konnte Ingrid ja nicht nachweisen. Außerdem war sie sicher, dass man merken würde, wenn sie log. Es war zum Verzweifeln.
»Auf gar keinen Fall gehst du zu so einem Verbrecher. Für heute haben wir genug überlegt, lass uns schlafen. Morgen ist ein neuer Tag«, schlug Elly irgendwann vor.
»Da hast du recht.« Ingrid gähnte. »Himmel, bin ich müde.«
»Ich wüsste gar nicht, an wen ich mich wegen einer illegalen Abtreibung wenden könnte«, sagte Ingrid am nächsten Morgen. Sie wirkte noch verzweifelter als gestern.
»Vielleicht weiß jemand am Hafen Bescheid«, überlegte Elly laut und setzte sich auf. »Dein Bekannter Peter ist doch zur See gefahren, der kennt doch bestimmt noch viele am Hafen. Sollen wir ihn um Hilfe bitten?«
»Oh Himmel«, wehrte Ingrid ab. »Einen Mann fragen. Ich weiß nicht. Was, wenn er das alles gleich brühwarm weitererzählt?«
»Wieso sollte er das tun? Er hätte doch nichts davon.«
»Und was, wenn er es Lotti erzählt? Für die ganzen Bediensteten ist doch so was ein gefundenes Fressen. Da kann ich mich gleich auf den Fischmarkt stellen und es rausschreien.«
Elly kämmte ihr Haar und nickte. »Da ist was dran.«
»Elly, ich habe solche Angst, dass bei dem Eingriff etwas schiefgehen kann. Was man von solchen Leuten hört, ist nie etwas Gutes. Weißt du, was Hilda passiert ist?«
»Der Hilda aus unserer Klasse? Was denn?«
»Die Familie hat wie meine versucht, es geheim zu halten, aber es sickerte doch durch. Sie war schwanger von einem verheirateten Mann und wäre bei einem Engelmacher fast an einer Blutvergiftung gestorben. Viel zu spät haben ihre Eltern sie in ein Krankenhaus gebracht. Jede Minute hat gezählt.«
»Wie schrecklich. Auf gar keinen Fall gehst du zu so einem Verbrecher.«
Nach dem Frühstück ging Ingrid nach Hause. »Ich bin so ratlos«, sagte sie beim Abschied traurig zu ihrer Freundin. »Ratlos, hilflos, alles zusammen.«
»Bitte versuch noch einmal, mit deiner Mutter zu sprechen«, sagte Elly. »Sie kann vielleicht die Sturheit deines Vaters lockern.«
»Ja, das mache ich.« Ingrid wirkte wie erschlagen.
Dann war sie fort, und langsam schloss Elly die Haustür. Jetzt musste sie sich wieder ihren eigenen Problemen zuwenden und musste mit ihrer Mutter sprechen.
»Was gibt es denn, Kind?«, fragte Magdalena, die im grünen Salon saß und gerade den von der Köchin vorgeschlagenen Speiseplan durchsah. »Warte, gib mir einen Moment.« Sie schrieb etwas neben den Samstag und schob dafür ihre Adelszeitschriften beiseite. Magdalena liebte die Klatschgeschichten über den Adel und konnte Stunden damit zubringen, alles über die königlichen Hoheiten zu lesen.
»Am Samstagabend kommen nämlich Thies und seine Eltern«, erklärte sie der Tochter. »Ich habe Charlotte von Rehren gestern angeläutet und sie und ihren Mann eingeladen.«
»Aha. Warum denn?«, fragte Elly, der schon etwas schwante. Obwohl Magdalena noch gar nichts weiter gesagt hatte, kroch die Wut schon wieder langsam in Elly hoch. Aber sie beherrschte sich vorläufig. Vielleicht irrte sie sich ja.
»Nun, Thies war ja kürzlich bei Papa und mir, wie du weißt«, sagte Magdalena bedeutungsvoll und legte den Stift beiseite. »Seine Mutter hat mir, als ich sie mit Frau Doktor Schildknecht auf der Modenschau im Atlantic traf, bei einem Glas Champagner erzählt, dass Thies auch schon mit dir gesprochen hat.« Sie lächelte die Tochter an. »Das freut Papa und mich. Das freut uns wirklich sehr. Nun setz dich doch mal.« Sie deutete auf einen der grünseidenbezogenen Biedermeierstühle, die neben ihrem Mahagoni-Sekretär standen. Elly setzte sich und merkte, dass die Wut weiter in ihr hochkroch. Wie konnte Thies nur!
»Ja, er hat mit mir gesprochen«, sagte sie ernst und kühl. »Allerdings habe ich ihm noch nicht geantwortet.«
»Aber Kind.« Magdalena schüttelte den Kopf und lachte leise auf. »Die Antwort dürfte dir wohl nicht schwerfallen. Natürlich sagst du Ja zu Thies von Rehren. Eine bessere Familie, ein besseres Leben kannst du dir gar nicht wünschen. Er erzählte schon von dem Haus, das er kaufen wird. Aus dem siebzehnten Jahrhundert, vierzehn Zimmer hat es und wird von Grund auf renoviert, und dann will Thies es nach deinen Wünschen einrichten. Es würde zwar knapp, aber eventuell könnten wir doch noch in diesem Jahr eine Hochzeit feiern. Anfang Juni wäre doch wunderbar, ach, da wird ja auch die neue englische Königin Elisabeth gekrönt! Deine Hochzeit und die Krönung am selben Tag, ach, wäre das schön! Noch dazu kommt, dass …«
»Mama, ich weiß wirklich noch nicht, ob ich jetzt schon heiraten möchte. Ich bin erst neunzehn«, sagte Elly giftig. »Und ob eine englische Prinzessin an diesem Tag gekrönt wird, ist mir egal.«
Ihre Mutter seufzte. »Worauf willst du denn warten? Die von Rehrens sind eine erstklassige Familie mit bestem Ruf, das Vermögen ist riesig, und der Junior macht sich gut im väterlichen Bankhaus. Er macht sich sogar so gut, dass sein Vater ihm nach der Hochzeit die Bank seines Vaters in Lübeck übereignen wird. Denk doch mal nach! Vor dir liegt ein sorgenfreies Leben in wunschlosem Luxus. In Lübeck! So eine wunderschöne Stadt mit einem durchaus ansprechenden gesellschaftlichen Leben. Was ist daran auszusetzen?«
Elly stand auf und begann, im Raum auf und ab zu gehen. »Mama, bist du denn glücklich mit deinem Leben?«
»Was ist denn das für eine Frage? Und lauf nicht kreuz und quer durch den Raum, das macht mich nervös.«
»Das ist eine ganz normale Frage. Bist du glücklich?«
»Natürlich bin ich das. Mir geht es gut. Ich habe drei wunderbare Kinder und einen fürsorglichen Mann, der mir jeden Wunsch erfüllt. Was will ich noch?«
»Wolltest du nie mal etwas selbst tun?«
»Was meinst du, meinst du etwa arbeiten?« Sie sah beinahe fassungslos aus.
Elly verdrehte die Augen. »Du tust ja gerade so, als sei das absolut verwerflich. Es ist doch bestimmt ein gutes Gefühl, sein eigenes Geld zu verdienen. Ohne jemanden immer fragen zu müssen.« Sie dachte an Peter und dessen Glück, beim NWDR anfangen zu können. Das war mit Sicherheit etwas anderes und viel Besseres, als tagein, tagaus beim Schneider zu sitzen oder im Atlantic Tee und Gin zu trinken und den neuesten Tratsch auszutauschen.
»Ich muss deinen Vater nicht fragen«, sagte Magdalena. »Mir wird Wirtschaftsgeld und Geld für persönliche Ausgaben zugeteilt, und wenn ich größere Einkäufe tätige, lasse ich die Rechnungen ins Kontor schicken.«
»Das ist natürlich sehr einfach«, sagte Elly ein wenig spöttisch. »Du musst dir um nichts Gedanken machen. Mama, sag mir, musstest du mal auf etwas sparen?«
»Nein«, sagte die Mutter kurz. »Und das habe ich auch nicht vor. Davon mal abgesehen wäre ich dir sehr dankbar, wenn du jetzt mit diesen inquisitorischen Fragen aufhören könntest. Lass uns lieber über die Speisefolge für Samstag sprechen. Ich dachte, Hedda könnte mit einer Vichyssoise beginnen, dann könnten wir gebratene Scholle mit Reis und einem kleinen Salat reichen, was meinst du? Und als Hauptgang Rinderfiletspitzen in einer Morchelrahmsoße, das fände ich köstlich. Mit Prinzessböhnchen, frische natürlich, diesen neuen Zauber mit diesem Nassgemüse aus der Dose machen wir nicht mit, und pürierten Trüffelkartoffeln. Was möchtest du zum Nachtisch, Elly? Du darfst dir etwas wünschen.«
Versöhnungsbereit schaute Magdalena Bothsen ihre Tochter an, aber Ellys Lippen waren nur zwei dünne Striche.
Sie hatte die Arme verschränkt und schaute die Mutter lauernd an.
»Hattest du nie eigene Träume, Mama?«
»Alles, was ich mir je gewünscht habe, ist in Erfüllung gegangen«, sagte die Mutter in abschließendem Tonfall.
»Liebst du Papa, oder habt ihr geheiratet, weil das gut gepasst hat? Ich meine, für Oma und Opa in Bremen muss es doch ganz hervorragend gewesen sein. Kaffee- und Gewürzhandel dort und hier, Geld zu Geld, heißt es doch so schön.«
»Meine Güte, Elly, nun ist aber Schluss. Du bist ja nicht gescheit. Hat es dir je an etwas gemangelt? Haben wir nicht alles für dich getan? Meinst du nicht, jetzt ist es an der Zeit, dass du mal was für die Familie tust?«
»Indem ich reich heirate?«
»Zum Beispiel«, sagte Magdalena entnervt und stand nun ebenfalls auf. »Ich sage dir etwas, du machst uns keinen Skandal, hörst du? Oder hast du etwa vor, die von Rehrens zu brüskieren, wenn sie am Samstag kommen? Wir wollen einen netten Abend haben und auf die Verlobung anstoßen.«
Elly antwortete nicht. Sie war wütend auf ihre Mutter und wütend auf Thies’ Übergriffigkeit.
Sie ließ ihre Mutter im Salon zurück und ging Richtung Garderobe, um einen Mantel zu holen, dann verließ sie die elterliche Villa. Sie hatte keine Lust, sich mit ihrer Mutter über irgendwelche Menüs zu unterhalten und darüber, wie schön sich das doch alles fügte. Das durfte ja wohl nicht wahr sein! Was bildeten sich alle ein, so über ihr Leben zu bestimmen! Nein, so einfach würde es nicht gehen.
Elly lief den Harvestehuder Weg entlang. Sie schäumte vor Wut. Glaubten denn alle, sie würde einfach so heiraten, ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen? Weil man das so vorgesehen hatte für sie? Ganz sicher nicht. Eine bodenlose Unverschämtheit war es, sie einfach vor vollendete Tatsachen zu stellen. Als ob ein Haus in Lübeck wichtig wäre, als ob das zu ihrem Glück beitragen könnte. Nein, wenn sie jemanden wirklich lieben würde, dachte Elly, dann könnte sie sonstwo mit ihm wohnen. In einer Villa, auf einem Hausboot oder in einer feuchten Kaschemme. Sie lief weiter über die Bellevue, schließlich überquerte sie die Langenzugbrücke und ging mit raschen Schritten auf der anderen Seite der Alster weiter. Bis sie sich eine knappe halbe Stunde später auf der Uhlenhorst befand.
Sie blieb stehen und schüttelte den Kopf. Wieso war sie denn ausgerechnet hierhin gelaufen? Das hatte sie ja noch nie getan. Unversehens war sie vor der Milchbar gelandet, in der Peter Woltherr arbeitete.
Sie schaute durch die Scheiben ins Innere. Da stand er an einem der Fenstertische und winkte ihr freundlich zu, als er sie erblickte.
Nun bin ich schon einmal hier, dann kann ich auch hineingehen, dachte Elly und merkte, dass sie sich freute. Peter hielt ihr die Tür auf.
»Wie schön«, sagte er zur Begrüßung. »Ich gebe zu, ich habe gehofft, Sie wiederzusehen, aber so schnell habe ich nicht damit gerechnet.«
Elly lächelte ihn an. »Scheint, als ob Sie sich freuen würden«, sagte sie, und er nickte.
»So kann man es ausdrücken. Und Sie? Freuen Sie sich auch?«
Elly lächelte nun noch mehr. »Ja«, sagte sie dann schlicht. »Sehr sogar.«
»Ich arbeite heute nur bis zwölf Uhr«, erklärte Peter. »Also noch ungefähr eine Stunde. Was meinen Sie, wollen Sie auf mich warten und wir gehen dann ein Stück spazieren oder einen Kaffee trinken?«
Elly nickte. »Gern.« Sie zog ihren Mantel aus und gab ihn Peter, der ihn sorgfältig aufhängte.
»Sie sehen hübsch aus«, sagte er. »Mir ist das gestern schon aufgefallen, Ihre sehr geschmackvolle Garderobe.«
Elly trug heute schwarze Steghosen und einen locker fallenden, flaschengrünen Strickpullover, dazu eine Mütze in derselben Farbe und goldene Kreolen, an denen Perlen baumelten.
»Vielen Dank, Herr Woltherr«, sagte sie und setzte sich.
»Soll es wieder ein Zitronenmilchshake sein?«, fragte er höflich.
»Sie haben es sich gemerkt«, stellte sie fest. »Ja, gern.«
Er begab sich hinter den Tresen, und Elly sah ihm nach. Er war wirklich schrecklich nett, und was war schon dabei, den Nachmittag mit ihm zu verbringen?
Später würde sie sich wieder um Ingrid kümmern und fragen, was es Neues gab. Ach, Ingrid. Die Freundin tat ihr so leid. Das war alles so ungerecht. Und ihr Vater so uneinsichtig wie ein Stein. Sein Herz war ebenso hart.
Da kam Peter mit dem Shake zurück und hatte auch eine Zeitung dabei.
»Damit Ihnen nicht langweilig wird.«
»Danke«, sagte Elly. Höflich und zuvorkommend war er auch. Peter gefiel ihr immer besser.
Um kurz nach zwölf Uhr wurde Peter von einer jungen Kollegin abgelöst, die Elly eingehend musterte. Fast kam es ihr so vor, als sei die kleine Blondine ein wenig eifersüchtig.
»Dann einen netten Nachmittag«, sagte sie schnippisch, als Peter sich verabschiedete.
»Bis morgen«, sagte er und schien den Unterton in ihrer Stimme gar nicht zu bemerken. Elly lächelte die Blonde freundlich an, doch die drehte sich brüsk zur Seite und begann, Gläser zu spülen.
Elly und Peter verließen die Milchbar und schlenderten die Straße entlang.
»Wie schön, dass Sie heute so früh Feierabend haben«, sagte Elly. »Das war ja ein netter Zufall.«
»Ich hab mir den Nachmittag freigenommen, weil ich später noch einen Termin beim NWDR habe, ganz kurzfristig, die haben sich gestern gemeldet. Offenbar gibt es einige Krankheitsfälle und man sucht Verstärkung in Technik und den Redaktionen.« Er schaute auf die Uhr. »Das heißt, ich habe jetzt noch zwei Stunden Zeit, bis ich dort sein muss. Was halten Sie davon, wenn ich Sie zum Essen einlade?«
Fast hätte Elly gesagt: »Nein, das ist doch viel zu teuer«, aber sie konnte sich noch rechtzeitig auf die Lippen beißen. Keinesfalls wollte sie Peter Woltherr brüskieren. Er sah sie fröhlich und verschmitzt an.
»Gern«, sagte Elly daher.
»Prima. Essen Sie gern Fisch?«
»Sehr gern.«
»Dann los.«
Einige Minuten später standen sie vor einem Wohnhaus, was Elly wunderte. Sollte hier ein Restaurant sein?
Doch Peter klingelte, und kurz darauf wurde die Tür von einer alten, weißhaarigen Dame geöffnet.
»Peter, min Jung«, sagte sie. »Schön, dass du mal wieder rumkommst.«
»Hilde, das ist Elly, und wir beide haben Kohldampf. Was hast du heute im Angebot?«
»Scholle mit Speck und Bratkartoffeln hab ich. Oder Fischeintopf. Beides lecker.«
»Das weiß ich doch, Hilde, bei dir ist’s immer lecker. Was nehmen Sie, Elly?«
Elly schmunzelte. Das war ja eine merkwürdige Restauration.
»Ich nehme den Fischeintopf.«
»Und ich die Scholle mit viel Bratkartoffeln und ordentlich Speck, Hilde.«
»Sollt ihr haben. Was zu trinken? Ich hab noch von meinem Sohn Apfelsaft. Aus dem Alten Land. Selbst gekeltert natürlich.«
»Den nehmen wir«, beschloss Peter, und sie folgten Hilde ins Innere der Wohnung und setzten sich an den Küchentisch.
Elly sah sich um. Hier hatte noch kein modernes Küchengerät Einzug gehalten. Es gab einen gusseisernen Ofen, ein riesiges, verschnörkeltes Buffet und eine steinerne Spüle. In der Mitte der Küche thronte ein alter Holztisch mit gedrechselten Beinen, um den unterschiedliche Stühle standen. In einem großen Topf blubberte die Fischsuppe vor sich hin und verbreitete köstlichen Duft. Hilde verteilte Butter in einer großen, gusseisernen Pfanne, dann brachte sie ihnen den Apfelsaft.
»Sie wundern sich bestimmt darüber, dass wir hier in keinem richtigen Restaurant sind«, sagte Peter.
»Das stimmt«, sagte Elly.
»Ich bin mit meinen Eltern in diesem Haus hier aufgewachsen«, erklärte Peter. »Hilde hat schon immer gern gekocht, und als sie dann Witwe wurde, hat sie einen Mittagstisch eingeführt. Jeden Tag kann man für kleines Geld bei ihr ein Mittagessen kriegen. So verdient sie sich was dazu, und man bekommt die leckerste Scholle oder ein gutes Schnitzel.«
Hilde nickte. »So hoch ist die Witwenrente nicht, und es hat sich auf der Uhlenhorst schnell rumgesprochen, dass ich koche. So hat sich das eben eingebürgert. Und für meinen Jungen hier hab ich immer einen Teller übrig.«
»Wohnen Ihre Eltern noch hier?«, fragte Elly, nachdem sie den köstlichen Apfelsaft probiert hatte.
Peter schüttelte den Kopf. »Sie sind leider beide schon verstorben«, erzählte er traurig, und Elly fragte nicht weiter nach.
Vom Herd her zischte es, als Hilde die Bratkartoffeln hochwarf und sie dann wieder in die Pfanne sausten.
»Ich selbst wohne hier auch nicht mehr, aber zu Hilde geh ich oft, es ist ein bisschen wie nach Hause kommen«, gab er zu. »Aber nun erzählen Sie doch mal von sich, Elly. Ich weiß über Sie nur, dass Sie Ingrids Freundin sind.«
»Was wollen Sie wissen?«, fragte Elly.
»Am besten alles«, erwiderte er, und Elly fing an zu erzählen. Sie erzählte von ihren Eltern und ihren Geschwistern, von der Schule und von ihren Freundinnen. Sie erzählte von dem Meerschweinchen, das sie als Kind hatte, und von den beiden Katzen, die Bothsens hatten und die sich um die Mäuse kümmerten.
»So, nun wissen Sie alles über mich«, sagte sie schließlich lächelnd.
»Ach, das glaub ich nicht. Sie haben mir zum Beispiel noch gar nicht erzählt, wie Sie sich Ihre Zukunft vorstellen«, sagte Peter, und er wirkte dabei gar nicht neugierig, sondern fürsorglich.
»Ach.« Elly winkte ab. »Da ist noch gar nichts geplant. Erst mal will ich ein bisschen … ach, ich weiß auch nicht.« Sie biss sich auf die Unterlippe. Auf einmal verspürte sie einen geradezu überbordenden Drang, Peter Woltherr das ganze Dilemma anzuvertrauen. Er wirkte auf sie, als könne ihn so schnell nichts schockieren. Andererseits kannte sie ihn kaum.
Peter sah sie an und wirkte erwartungsvoll.
Elly holte Luft, und dann erzählte sie ihm einfach alles und merkte von Satz zu Satz, dass es ihr guttat, das alles loszuwerden.
»… und wenn es nach meinen Eltern geht, wird am Samstagabend meine Verlobung mit Thies gefeiert«, schloss sie etwas später.
»Und – freuen Sie sich auf Samstag?« Neugierig sah Peter sie an.
»Auf die Verlobung? Nein«, gab sie spontan zu. »Ich kann doch keinen Mann heiraten, den ich nicht liebe.«
»Nun, das sehen Ihre Eltern wahrscheinlich anders«, bekam sie erklärt. »Heißt es nicht so schön, Geld heiratet Geld? Und Geld scheint ja bei Ihrer Familie kein Problem und sehr wichtig zu sein. Ich kenne Ihre Familie zwar nicht, aber ich vermute es.« Elly hatte ihm nicht erzählt, wie sie mit Nachnamen hieß und wo sie wohnte, sie wollte nicht, dass Peter dachte, sie sei eine Angeberin oder zu nichts nütze, außer Schals und Fäustlinge für Weihnachtsbasare zu stricken.
»Ist es auch nicht. Aber es bedeutet mir nichts«, sagte Elly. In dem Moment kam Hilde mit den beiden Tellern. Ein paar Minuten aßen sie schweigend. Hildes Fischeintopf schmeckte fantastisch. Elly hätte glatt noch eine Portion verdrücken können, sagte aber nichts, weil sie nicht so verfressen wirken wollte.
Auch Peter hatte aufgegessen. »Also, ich hab gerade mal drüber nachgedacht. Das sagen Sie jetzt, und weil Ihre Familie wohlhabend ist. Glauben Sie mir, wären Sie arm wie eine Kirchenmaus, hätte das Geld einen anderen Stellenwert für Sie.«
»Das ist nicht wahr. Ich meine es, wie ich es sage«, erklärte Elly.
Peter kratzte die restlichen Bratkartoffeln zusammen. »Wie viele Zimmer hat das Haus, in dem Sie wohnen?«
Elly überlegte schnell.
»Sehen Sie, Sie wissen es nicht mal auf Anhieb. Sind es mehr als zehn?«
Sie nickte. Weit mehr waren es, aber das sagte sie nicht.
»Dann ein großer Garten, Dienstboten, alles, was das Herz begehrt, und einen Vater, der einem die teuerste Garderobe spendieren kann.« Nun legte er die Gabel zur Seite. »Könnten Sie sich vorstellen, eine Dienstbotin zu sein? Zimmermädchen? Köchin? Hinter Ihren Arbeitgebern herzuräumen, zu putzen und alles mögliche andere machen? Für wenig Geld? Ich weiß, ich weiß, es hat sich in den Jahren einiges verbessert, aber schön ist es trotzdem nicht, auch wenn es mittlerweile Strom und Waschmaschinen gibt.«