Freischießen - Andrea Gerecke - E-Book

Freischießen E-Book

Andrea Gerecke

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  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

EIN MÖRDER KOMMT SELTEN ALLEIN Als Bertram Nagel vom Pferd stürzt, zieht er sich schwerste Verletzungen zu. Wie kann das einem dermaßen trainierten Reiter passieren? Seine Frau Ronja glaubt an ein Attentat und zeigt bei Hauptkommissar Alexander Rosenbaum einen Mordversuch an. Die Ermittlungen laufen nur sehr schleppend an, weil zunächst niemand bei der Kripo an Handlungsbedarf glaubt! Doch dann muss Professor Eberhard Engelbrecht an dem toten Bertram in Aktion treten. Bei seiner Obduktion stellt der Gerichtsmediziner fest, dass die zahlreichen Verletzungen für einen einzelnen Menschen zu viel waren … Die Trauer über diesen Todesfall hält sich aber in überschaubaren Grenzen. In Bertram Nagels Umfeld hatten viele ein Hühnchen mit ihm zu rupfen, beruflich und privat. Machtbesessen, cholerisch und unberechenbar, wie der Unternehmer war, ging er über Leichen. Und selbst in seiner Kompanie vom Mindener Bürgerbataillon, wo man ihn einst freundlich integrierte, sorgte er für mehr als Unmut unter den Freischießen-Kameraden.

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Seitenzahl: 340

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Andrea GereckeFreischießen

Die Romanreihe spielt direkt am Treffpunkt von Weser- und Wiehengebirge im Nordrhein-Westfälischen. Malerisch liegt das mittelgroße Städtchen an der Weser, die beide Erhebungen teilt oder vereint. Je nachdem, aus welcher Perspektive man das betrachtet. Alle Handlungen und Charaktere sind natürlich frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten ergeben sich also rein zufällig. Regionale Wiedererkennungseffekte sind indes erwünscht …

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.de© 2018 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8348-4

Gebürtige Berlinerin mit stetem Koffer in der Stadt. Studierte Diplom-Journalistin und Fachreferentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Kurz vor dem Jahrtausendwechsel Entdeckung der Liebe zum Landleben mit den dortigen kreativen Möglichkeiten. Umzug ins vorletzte Haus an einer Dorfstraße in NRW (Ostwestfalen). Arbeit als freie Autorin und überregionale Journalistin. Literarische Spezialität sind mörderische Geschichten, in denen ganz alltägliche Situationen kippen. Nach den Gutenachtgeschichten für Erwachsene „Gelegentlich tödlich“ folgten „Warum nicht Mord?!“ und „Ruhe unsanft“.

Ab 2011 die Minden-Krimis innerhalb der Weserbergland- bzw. Niemeyer-Krimi-Reihe mit Kommissar Alexander Rosenbaum: 2011 „Mörderischer Feldzug“, 2012 „Der Tote im Mittellandkanal“, 2013 „Die Mühlen des Todes“, 2014 „Tödliche Begegnung im Moor“, 2015 „Finales Foul“, 2016 „Kein letzter Akt“, 2017 „Die Weserleiche“, 2018 „Freischießen“. Dazu gesellen sich humoristische und satirische Texte, Prosa und Lyrik sowie im Jahr 2015 „Weihnachtsgeschichten aus dem Weserbergland“ und 2017 „Weserbergland. Um fünf am Weserstein!“. Veröffentlichungen in zahlreichen Anthologien, Zeitungen und Zeitschriften. Mitglied der Mörderischen Schwestern … Literaturnetzwerkerin und -organisatorin.

Hier gelangen Sie zu der Internetseite von Andrea Gerecke: www.autorin-andrea-gerecke.de

„Oh, hüte dich vor allem Bösen!Es macht Pläsier, wenn man es ist,es macht Verdruss, wenn man’s gewesen.“(Wilhelm Busch, Die fromme Helene)

Spalier

„Da, da …“

Ninas ausgestreckter Zeigefinger wies in die Richtung, aus der der Geräuschpegel allmählich anschwoll. Von einem Wirbel direkt oberhalb der Stirn standen ihr ein paar Haare widerspenstig in die Höhe.

„Ja, mein Liebes. Von da kommt der Aufmarsch.“

Simone strich ihrer Tochter liebevoll über den Kopf, in dem vergeblichen Versuch, die freche Strähne zu bändigen, beugte sich über sie und zog ihr mit den Händen das pinkfarbene Shirt zurecht.

Die beiden hatten einen guten Platz mit bester Sicht ausgewählt, immerhin waren sie rechtzeitig eingetroffen, sodass sich jetzt niemand vor ihnen befand. Dicht gedrängt standen die Menschen am Straßenrand, erwartungsvoll immer wieder in die eine Richtung schauend und angeregt miteinander plaudernd.

„Als die Reiter jetzt in der Stadt Probe geritten sind, haben sie gleich ihre Spuren auf dem neuen Pflaster hinterlassen“, sagte ein korpulenter Mann mittleren Alters mit vorwurfsvollem Unterton und schüttelte dabei energisch den Kopf.

„Tja, da haben wir endlich mal einen frischen Belag, und schon wird alles wieder ramponiert“, entgegnete sein um einiges jüngerer, sehr schlanker Nachbar.

„Wobei ich gar nicht glaube, dass die Pferde schuld sind. Wenn man mal sieht, wie hier be- und entladen wird, dann stehen einem die Haare zu Berge“, warf ein dritter, grau melierter Mann ein.

Der zweite, hagere Herr meldete sich noch einmal zu Wort: „Egal, wer der Verursacher ist, es kommt sicher der Steuerzahler für auf. Also wir!“

„Wobei ich diese helle Farbe sowieso für völlig daneben halte. Ist doch viel zu empfindlich. So ein schönes dunkles Grau in Grau wäre ideal gewesen. Dabei war ja wohl mal die Bevölkerung bei der Auswahl befragt worden. Mich hat jedenfalls keiner um eine Antwort dazu gebeten, noch nie in solchen Sachen! Bin sowieso sehr skeptisch, ob es bei Umfragen mit rechten Dingen zugeht. Was die da immer im Fernsehen und in der Zeitung behaupten …“, brauste der Korpulente auf.

„Das wäre ja schon wieder ein anderes Thema“, entgegnete der Jüngere grinsend, zündete sich eine Zigarette an und warf das Streichholz auf die Straße.

„Genau“, meinte der Erste.

„Da könnte ich mich glatt in Rage reden und höllisch drüber aufregen. Das Pflaster jedenfalls sieht an manchen Stellen schon so aus, als würden die Steine ewig liegen und bräuchten mal dringend einen frischen Schliff!“

„Kommt von den Kaugummis“, fiel dem Schlanken spontan ein, während er an der Zigarette sog und die Spitze dabei aufglomm.

„Na, die müsste man besser auch verbieten. Beziehungsweise das Spucken auf die Straße. Soll es ja in anderen Ländern geben, solche Verbote!“, schlug der ältere Herr vor.

Jetzt lachten die drei.

Simone hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Die Straßenverhältnisse in Minden und irgendwelche Beläge waren ihr ziemlich gleichgültig. Ihr gefiel das Pflaster, vor allem weil es sich leichter passieren ließ als die Kopfsteinausführung an manch anderen Ecken. Sie hatte ihre eigenen Probleme.

Jetzt bog die Bürgerkompanie um die Ecke, und ein Jubel stieg beim Publikum auf. Pferdehufe schlugen aufs Pflaster, die Reifen der Wagen knirschten, ab und an ein Wiehern. Dazu Marschschritte und die passende kraftvolle Musik. Ein farbenfrohes Spektakel, bei dem sich ein ziemlich einhelliges Strahlen auf die Gesichter der Leute im Spalier legte. Abtauchen in eine andere Welt. Weg von den Sorgen des Alltags.

Handküsschen wurden geworfen, Blümchen gereicht, auch mal ein kleines Fläschchen zur Stärkung angeboten … Zylinder pur oder mit Eicheln und Laub, schwarze Fliegen, Epauletten in verschiedensten Ausführungen, diverse Orden auf den vor Stolz geschwellten Uniformbrüsten, lange, bis fast über die Augen reichende schwarze, rote oder auch weiße Schweife auf den Helmen, Blüten am Revers, rot-weiß gestreifte Schärpen …

Nina wurde jetzt lauter und stieß undefinierbare Laute aus. Dabei warf sie sich aufgeregt hin und her. Beruhigend strich Simone ihrer Tochter über den Kopf. Wieder und wieder.

„Es ist alles gut, Ninchen. Schau nur die fröhlichen Farben überall und die hübschen Pferde. Klatsch doch bei der Musik einfach mit“, schlug sie vor, hockte sich hin und machte es mit beiden Händen deutlich. Nina grummelte daraufhin friedlicher in sich hinein.

Eine Dame in den Vierzigern, frisch vom Friseur und in edlem Outfit, eine recht großformatige Gucci-Tasche im angewinkelten Ellbogen hängend und leicht an den Körper gepresst, stand in unmittelbarer Nähe der beiden und hatte sie schon länger beobachtet. Erst mit einem mitleidigen Lächeln, dann mit abfällig heruntergezogenen Mundwinkeln.

Simone hatte diesen Blick und den Wechsel im Gesichtsausdruck durchaus bemerkt. Seit ihr Kind die Behinderung sichtbar werden ließ, musste sie damit umgehen, wie die Umgebung reagierte. Und das war nicht unbedingt einfühlsam.

Ein einziges Mal nur hatte sie im Gespräch mit einer Freundin zugegeben, dass ihr schon in der Schwangerschaft ein Arzt gesagt hatte, es könnten später Behinderungen auftreten. Darüber müsse sie sich im Klaren sein. Das war natürlich ein großer Schock. Aber eine Abtreibung wäre für sie nie infrage gekommen. Das war eine Sache des Glaubens und ihrer generellen Lebens­einstellung. Außerdem war das Mädchen ein Wunschkind, auf das sie und Peer lange hingearbeitet hatten. Da würden sie doch alle Probleme der Welt gemeinsam bewältigen können. Voller Glück waren ihre ersten Monate zu dritt gewesen, als dieser kleine Wonneproppen an ihrer Brust lag und sich zunächst sehr gut entwickelte.

Dann der schwere Autounfall von Peer auf der A2. Er hatte mit seinem Transporter in der Höhe von Bad Eilsen am Ende eines Staus gestanden, und hinter ihm war ein übermüdeter Lkw-Fahrer aus Polen ungebremst in ihn hineingerauscht. Die Einsatzkräfte konnten beide nur mühselig aus den zusammengequetschten Teilen herausschneiden und befreien, während auf der gegenüberliegenden Fahrbahn der Verkehr aus der anderen Richtung fast zum Erliegen kam, weil die Masse schauen wollte, was da geschah. Da und dort mit gezückten Handys der Insassen für spektakuläre Aufnahmen. Als er auf dem Asphalt lag, hatte Peer sein Leben schon ausgehaucht.

Aber alles, was geschieht, hat auch seine guten Seiten. Den Spruch kannte Simone von ihrer Mutter, und er half ihr sogar in diesem Fall. Immerhin musste der Vater die Hilflosigkeit seines Kindes nicht miterleben, vielsagende Blicke und dumme Sprüche nicht ertragen. Außerdem gab es im späteren Bekanntenkreis mehrere Beispiele, wo die Ehen eine solche Herausforderung nicht überstanden. Und Simone – sie steckte all ihre Liebe in dieses gemeinsame Geschöpf von Peer und ihr. Die schönen Augen und die dunkelbraune Haarfarbe hatte die Kleine von ihm, selbst den drolligen Wirbel oberhalb der Stirn, und wenn sie ihr Kind ansah, so vermeinte sie ihren geliebten Mann zu erblicken.

Daheim hingen und standen überall Fotos von dem frühen Familienglück. Ihr damals noch dunkelblondes Haar war nach und nach einem vorherrschenden Grau gewichen. Färben wurde ihr auf die Dauer zu teuer, und so beschloss Simone eines Tages einfach zu dieser Farbe zu stehen, schnitt sich auch selbst die Spitzen auf Schulterlänge, um das Geld für Friseurbesuche zu sparen. Inzwischen hatte sie dabei eine ziemliche Geschicklichkeit erreicht.

Die Freundin aber, der sie dieses Geheimnis um ihr Töchterchen anvertraute, hatte nur, während sie ein nächstes Stück Cremetorte geschickt auf ihrer Gabel zum Mund transportierte, gemeint: „Also, wenn du mich fragst, ich hätte so was wegmachen lassen …“

Dann ließ sie den Bissen genüsslich in ihrem Mund zergehen und gab entsprechende Töne von sich.

„Hm, ist das wieder lecker. Diese Konditoren hier im Café sind echte Künstler! Ach, übrigens: Bei einem der nächsten Kuchenwettbewerbe in der Stadt will ich auch dabei sein! Ich habe ja so tolle Rezepte von meinen Vorfahren geerbt. Du glaubst gar nicht, wie die Ergebnisse aus meinem Backofen bei all unseren Aktivitäten im Verein immer ankommen. Meine Torten sind stets zuerst für die guten Zwecke ausverkauft, während so manch andere die Reste mit nach Hause nehmen muss …“

Damit ging sie mit einem leichten Rümpfen der Nase zur Tagesordnung über, nachdem sie alles hinuntergeschluckt und mit etwas Kaffee nachgespült hatte. Das war das letzte Treffen der beiden gewesen.

Simone hätte sich ein dickes Fell zulegen sollen. Aber das entsprach nicht ihrem Naturell. Ignoriere diese Dummköpfe doch einfach, sagte sie sich. Aber ihre Augen bekamen jetzt einen leichten Schleier, und ein paar Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Das ließ sich einfach nicht verhindern. Sie nestelte ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und tupfte leicht darüber hinweg. So als wären es nur ein paar Schweißperlen, wie sie die Gesichter der Aufmarschierenden zierten. Ihre Fußspitzen bildeten mit der Bordsteinkante eine Linie, auch der Wagen des Kindes stand exakt daneben.

In dem Moment tauchte unter den Reitern ihr Chef auf. Hoch zu Ross, in feinster Uniform, gut gebaut und insgesamt eine blendende Erscheinung auf dem edlen und schick zurechtgemachten Tier.

Simone legte eine Hand ganz sanft auf die Schulter von Nina. „Schau mal, da reitet der Boss von der Mama.“

Dabei wies sie mit einer Hand auf Bertram Nagel, der gerade seine Blicke hoheitsvoll schweifen ließ. Aber es schien so, als ob er ihr daraufhin folgendes, heftiges Winken nicht wahrnahm, denn er drehte den Kopf schlagartig in Richtung der anderen Straßenseite, zum dort lautstark jubelnden Publikum, und ritt so kommentar­los an den beiden vorüber. Eine Mutter mit Kind im Rollstuhl.

Ein paar Häuser weiter stand Alexander mit seinen Töchtern Tina und Lena. Auch sie hatten einen Platz direkt am Straßenrand in der ersten Reihe ergattert.

„Ein Geniestreich, dass das Mindener Freischießen endlich, nach diesmal ausnahmsweise drei Jahren Pause, die mir allerdings unendlich erschienen sind, in eine andere zeitliche Schiene gerutscht ist. Finden Sie nicht auch?“

Ein grauhaariger Herr mit akkuratem Schnitt und kantiger Brille schaute Alex, um eine Bestätigung bittend, an. Aber der blickte nur grübelnd zurück, ohne eine Frage zu stellen.

„Na, ich meine, dass wir hiermit von den geraden in die ungeraden Jahre gerückt sind und so nicht mehr mit Fußball-Welt- oder -Europameisterschaften kollidieren. Das waren doch echte Probleme, was das Timing anging! Ansonsten mussten wir ja manchmal sogar in die großen Ferien ausweichen, in denen eben schon generell die verschiedensten Festivitäten anstehen. Es soll sich schließlich nicht alles überlappen und gegenseitig das Publikum wegnehmen. Wäre doch jammerschade …“

Alexander nickte kraftvoll und hoffte, die Aussage mit dem Wechsel der Jahre verstanden zu haben.

„Am Mittwoch war ich beim Grünholen dabei, so wie die Soldaten aus den hiesigen Patenkompanien. Ich war im Heisterholz mit unterwegs, andere im Mindener Wald und in Nammen, um mit dem Grünzeug die Stadt festlich zu schmücken. Wobei so ein Aufruf an alle Einwohner ergeht und viele, viele dem nachgekommen sind, wie Sie sehen … Die ordentliche Vorbereitung ist ja das A und O: Gewehrreinigen, Bekleidungsappelle, Sattelputzen … Natürlich habe ich beim Gottesdienst am Fort C teilgenommen. Phänomenal, kann ich Ihnen sagen. Außerdem wurde vom Juwelier Laufer eine neue Silberkrone angefertigt und geweiht. Das 1733 in Dienst gestellte gute Stück vom ersten Freischützenkönig war eben in die Jahre gekommen und anfällig geworden, aber natürlich aus stadtgeschichtlicher Sicht von immensem ideellem Wert. Ein Jahr lang hat die akribische Handarbeit gedauert, und die Neue ist etwas größer, weil die Kopfumfänge der Männer zugenommen haben. Passt also dem jeweiligen Träger von heute besser! Und zeugt davon, dass wir noch intelligenter geworden sind“, redete der Herr weiter und schien sich keine Gedanken darüber zu machen, ob ihm jemand bei seinem langen Vortrag zuhörte. Alexander saugte die Informationen in sich auf und nickte seinem Nachbarn freundlich zu.

„Sehr interessant. Das wusste ich alles noch gar nicht“, sagte er.

Endlich bog der Zug um die Ecke und damit in ihr Blickfeld. Der auskunftsfreudige Nebenmann reihte sich nun in den Jubel der Leute ein.

Tina schob sich eine widerspenstige Locke hinters Ohr und musterte die Herannahenden.

„Das sieht echt schön aus“, lobte sie und kniff die Augen ein wenig zusammen, weil die Sonne blendete.

Lena zog kaum erkennbar die Stirn kraus und kommentierte: „Stimmt. Aber diese Musik ist, ehrlich gesagt, nicht so mein Fall …“

Alexander lächelte. Da war seine Große aber für ihre Verhältnisse äußerst diplomatisch in ihrer Wortwahl. Sonst hätte sie in so einem Fall doch eher „Scheißmusik, wer hört denn so was“ von sich gegeben. Aber vielleicht beeindruckte auch sie das gesamte Erlebnis dieses festlichen Aufzugs. Oder es war einfach die gute Stimmung ringsum, die jedermann augenblicklich ansteckte.

„Da hätten wir wirklich schon mal eher zum Freischießen gehen sollen“, meinte Alex.

„Tja, hätten wir, Dad …“, konterte Lena, „haben wir aber nicht!“

„Manno“, fiel ihr die kleine Schwester ins Wort, „maul doch nicht immer rum. Ist eine so tolle Idee, dass wir das heute erleben dürfen. Und schließlich ist Papa von allein drauf gekommen.“

„Bisschen spät …“, nuschelte Lena in sich hinein und steckte ihre Hände tief in die Hosentaschen.

„Lieber spät als gar nicht“, setzte Tina fort.

„Stimmt ja, meine Große. Ist meine Schuld, dass wir nicht eine frühere Veranstaltung besucht haben. Zumal die ja nicht so oft stattfinden. Ich glaube, nur alle zwei Jahre oder so ähnlich, wenn ich den netten Herrn hier neben uns richtig verstanden habe.“

Alexander schaute sich um, aber der Nachbar musste seinen Standort gewechselt haben.

„Hing sicher auch mit der Arbeit zusammen, dass das irgendwie nicht geklappt hat. Wenn ich mich recht entsinne, dann wollte ich das in grauer Vorzeit mit euch schon mal angehen. Hätte ich vielleicht konsequent auf unsere gemeinsame Familien-to-do-Liste setzen sollen …“, seufzte Alex ein wenig theatralisch auf.

„Jetzt rede dir mal kein schlechtes Gewissen ein, Papa“, sagte Tina tröstlich und klang sehr erwachsen. „Wir wissen doch, dass du viel arbeiten musst, um unsere Familie zu ernähren, und deshalb kann das eine oder andere eben nicht stattfinden. Nehmen wir dir gar nicht übel. Ist halt so im Leben. Man kann nicht alles haben.“

Alexander schaute lächelnd auf seine beiden Töchter und legte seine Arme um sie. Ein Mädchen rechts, ein Mädchen links. Meine geliebte Familie, dachte er. So ein Segen, dass ich die beiden habe. Und obendrein blitzgescheit. Manchmal etwas zu frech oder vorlaut, aber war er als Kind nicht auch sehr forsch gewesen.

„Aufgeweckt“, hatte seine Mutter ihn immer in Schutz genommen, wenn einer aus der Verwandtschaft oder dem Bekanntenkreis ihn aufgrund irgendwelcher Verhaltensweisen wortreich rügte. „Der Junge ist einfach nur aufgeweckt. Eine Schlafmütze hätte ich doch überhaupt nicht haben wollen …“ Und daraufhin hatte sie stets einen Arm um ihn gelegt und ihn an sich gedrückt.

Sein Lächeln trübte sich ein wenig, aber er schob die folgenden Gedanken von sich und presste seine Kinder fester an sich.

„Aua, Papa“, wehrte sich Tina entrüstet und entwand sich seiner Umklammerung. „Jetzt meinst du es aber zu gut mit uns.“

Schäfchen

Simone Schaaf fühlte sich ziemlich verschwitzt, neigte ihren Kopf und schnupperte unter dem rechten Arm. Dann verzog sie das Gesicht und schüttelte sich. Da hatte wohl das Deo versagt. Ein Montagmorgen wie jeder. Stress pur.

Sie griff nach ihrer schwarzen Lederhandtasche, die über der Stuhllehne baumelte, zog den Reißverschluss auf und nahm sich aus der seitlichen Innentasche eine halbvolle Parfümflasche. Chanel, der elegante Klassiker mit der Nummer fünf darauf. Sonst gönnte sie sich kaum etwas, aber dieser Duft musste es sein. Wenn sie die Augen schloss, dann versetzte er sie in eine andere Welt, in die der Schönen und Reichen, in die sie auch gelegentlich bei Filmen von Rosamunde Pilcher abtauchte, vor allem der beeindruckenden Landschaften wegen, wie sie in Gesprächen stets beteuerte. Und selbst Nina schienen die Naturaufnahmen dieser Streifen zu gefallen. Das Kind blieb dabei friedvoll-ruhig und wirkte fast heiter. Außerdem hatte ihr Peer ab und an ein solches Fläschchen mitgebracht, zum Valentinstag oder zu ihrem Hochzeitstag.

Simone zog den eckigen Deckel von dem Flakon und überdeckte den Schweißgeruch mit einem duftenden Sprühnebel.

Nina hatte sich am Morgen wieder heftig gewehrt, sowohl beim Waschen als auch beim Anziehen. Einerseits diese Laute, die sie ausstieß und die eher an ein verängstigtes Tier erinnerten. Andererseits ihre kraftvollen Proteste. Wenn das so weiterging, würde die Mutter eines Tages der Lage nicht mehr Herr werden. So manchen blauen Fleck hatte sie bereits einstecken müssen, sich einmal sogar die linke Hand verstaucht. Auf der Arbeit aber irgendetwas von Ungeschicklichkeit im Haushalt erzählt und sich auch nicht krankschreiben lassen.

„Na, Sie sind ja Rechtshänderin. Da dürfte das kein Problem sein“, hatte der Chef nur gefühllos kommentiert. Eine seiner Formulierungen, die sich bei ihr anstauten.

Siebzehn Jahre alt war das Kind jetzt, und normalerweise hätte es ihr Sorgen bereiten müssen, was die Schule anging, wie es sich viel zu freizügig anzog und schminkte oder über die ersten richtigen Freunde, mit dem dazugehörigen Liebeskummer. Nina wirkte deutlich jünger und war noch recht schmal gebaut. Für den Pagenschnitt mit dem Scheitel, der lediglich auf der Seite mit dem kleinen Wirbel funktionierte, sorgte Simone, allerdings nur, wenn ihre Tochter gut drauf war. Sonst ging das gar nicht und war mit einer Schere in der Hand viel zu gefährlich, für beide Beteiligten. Sie hatte das schon einige Male schmerzlich erfahren müssen. Aber Pflaster schien Bertram Nagel überhaupt nicht zu bemerken.

Simone hatte das Kind wie gewohnt in die Behinderteneinrichtung hinter dem Berg gebracht und sich liebevoll verabschiedet. Dafür musste aber auch immer der Rollstuhl transportiert werden: Nina hineinsetzen, vor die Tür des Autos fahren, auf einem Sitz platzieren und festschnallen, dann das stabile Gefährt zusammenklappen und in den Kofferraum packen. Da geriet man zwangsläufig ins Schwitzen, und die morgendliche Dusche war fast vergebliche Liebesmüh. Die sommerliche Wärme tat an diesem Tag ein Übriges.

Zum Glück begann Simones offizielle Arbeitszeit erst um neun Uhr. Das war im Normalfall zu schaffen, zumal Bertram Nagel in der Regel nicht vor zehn Uhr ausgeruht und voller Elan eintraf, dafür dann aber abends kein Ende fand. Bis zu seinem Eintreffen konnte sie schon so allerlei ungestört erledigen, die dringendsten E-Mails beantworten, die Wiedervorlagemappe auf den neuesten Stand bringen und auf dem Chefschreibtisch positionieren, ein Schreiben an einen ausländischen Partner übersetzen …

Die Bürotür sprang auf, und ein „Moin, Schäfchen“ erklang. Bertram stand im Rahmen, musterte kurz den Raum, ohne den Blick auf Simone länger verweilen zu lassen, und eilte zu seinem Büro. Er trug eine gut sitzende, schwarze Jeans und dazu ein anthrazitfarbenes Hemd. Ein Schlips fehlte, aber dafür hatte er immer eine Auswahl im Büro parat, falls der bei geschäftlichen Begegnungen erforderlich sein sollte.

„Guten Morgen, Herr Nagel“, sagte Simone und lächelte freundlich. Dann erhob sie sich und lief dienstbereit hinter ihm her.

„Kaffee, mit Milch und Zucker?“, fragte sie.

„Was sonst?“, antwortete Bertram inzwischen schon von seinem Schreibtischsessel aus. Er vertiefte sich umgehend in die Tageszeitung, die ihm seine Sekretärin zuvor auf den Tisch gelegt hatte.

Wenige Augenblicke später stand Simone vor ihm und schob das Gewünschte an seine Seite. Ein feines, duftendes Dampfwölkchen stieg von der Kaffeetasse auf.

„Ist noch was?“, schaute Bertram nach einer kleinen Weile fragend vom Sportteil hoch, weil sich seine Mitarbeiterin nicht rührte.

„Das war so ein tolles Spektakel in der Stadt, und Sie sahen dermaßen schick aus, Herr Nagel. Einfach beeindruckend!“, lobte nun Simone mit glänzenden Augen. „Wie in einem richtigen Film. So hoch zu Ross und dann in der tollen Uniform. Ich habe Ihnen zugewunken, vom Straßenrand. Eigentlich müssten Sie uns gesehen haben, meine Nina und mich …“

Unwillig blickte Bertram die Frau an und schien zu grübeln. Dann antwortete er:

„Nein, tut mir leid. Mir ist nichts aufgefallen.“

Einer kleinen Atempause folgte noch ein Nachsatz.

„Aber aus der Position heraus ist es auch gar nicht so einfach, in der Masse jemanden zu erkennen. Gelegentlich hat die Sonne ziemlich heftig geblendet.“

Das sollte eine Entschuldigung sein. Der Wandel in ihrem Gesicht von Freude zu Traurigkeit hin, nach den ersten beiden Sätzen, war doch zu deutlich gewesen und selbst ihm nicht entgangen. Simone nahm sie sofort an.

„Ach, kein Problem“, klang es erleichtert. „Ich wollte Ihnen ja nur sagen, was das für ein Erlebnis für uns war und für die anderen Menschen am Straßenrand sicher auch.“

„… und für uns ebenso“, ergänzte Bertram und nestelte an seinem obersten Hemdknopf, um ihn zu öffnen. „Nichts für ungut, Schäfchen. Aber ich bin nicht hier, um den Tag mit Ihnen über private Dinge zu verplaudern. Haben Sie die Quartalszahlen aufbereitet?“

Simone nickte.

„Selbstverständlich.“

Sie verließ kurz den Raum, kehrte zurück und legte ihrem Chef umgehend ein paar zusammengeheftete Seiten auf den Tisch.

„Ich habe Ihnen das auch als Mail geschickt. Vorhin. Aber ausgedruckt mögen Sie die Zahlen ja lieber, um noch Notizen daran zu machen.“

„Hm.“

Mehr war nicht zu hören, und Simone verließ den Raum, schloss die Tür zum Büro ihres Vorgesetzten wieder hinter sich und setzte sich an ihren Schreibtisch. Ach was, dachte sie, es hat ihn ganz bestimmt gefreut, dass ich den Auftritt so gelobt habe. Er kann es eben nur nicht richtig zeigen. Ist nicht seine Art. Und gewissermaßen entschuldigt hat er sich für seine kurz angebundenen Worte auch …

Simone drehte den Schreibtischstuhl zu einer seitlichen Ablage und ordnete die dortigen Unterlagen. Posteingang, Postausgang, Wiedervorlage für die nächsten Wochen. Nicht alles ließ sich in diesen Zeiten bereits papierlos bewältigen. Obwohl, jetzt musste Simone lächeln, das war doch schon viele, viele Jahre her, da gab es die Kleine noch gar nicht: Bei einer Schulung im Unternehmen war einer dieser Manager vor ihrem Schreibtisch stehen geblieben und hatte von oben herab nur gemeint:

„Das, was Sie hier tun, hat sich bald erledigt. Solche Arbeitsplätze werden in Zukunft überhaupt nicht mehr benötigt. Schauen Sie sich mal rechtzeitig nach was anderem um, wenn Ihre Qualifikation das hergibt. Ansonsten müssten Sie eine Umschulung absolvieren, kann ich Ihnen nur raten. Wobei die wieder eine Frage des Alters wäre …“

Damals hatte sie noch daran gedacht, dass auch Managerposten durchaus vom Computereinsatz betroffen sein könnten, aber sie war viel zu höflich und gut erzogen, um so etwas direkt zu äußern. Deshalb hatte sie trotz der beleidigenden, ungehobelten Worte nur geschwiegen und sich ihren Teil eben einfach gedacht.

Als Simone Stunden später ihren Feierabend antreten wollte, schaute sie noch einmal von der Tür aus in das Büro von Bertram.

„Haben Sie noch einen Wunsch, Herr Nagel?“

Es dauerte einen Moment, ehe sich der Chef ihr zuwandte. Langsam hob er den Kopf und blickte in ihre Richtung.

„Gut, dass Sie fragen, Schäfchen. Kommen Sie mal her. Ich hoffe doch, dass Sie von meinen Lieblingspizzen noch was für die nächsten Tage vorrätig haben? Die sind einfach ideal zum Mittag. Echt lecker und liegen einem nicht zu schwer im Magen!“

Simone nickte nur. Auf Zuruf hatte sie ihrem Vorgesetzten gegen 13 Uhr neun dieser kleinen Teilchen in die Mikrowelle geschoben, erhitzt und anschließend serviert, mit ein paar zurechtgeschnittenen sauren Gurken. Wie jeden Tag. Derzeit wollte er nichts anderes haben.

Hätte sie doch nur nicht gefragt, rügte sie sich innerlich. Diese dämliche Angewohnheit. Jetzt wurde es bestimmt wieder knapp mit der Zeit. Sie musste Nina abholen und wollte eigentlich vorher noch etwas einkaufen, denn mit dem Kind an der Seite, das ständige Aufmerksamkeit und extremen Körpereinsatz forderte, ließ sich das nur schwer bewerkstelligen.

Ohne eine Regung zu zeigen, lief sie in das Zimmer und blieb vor dem Schreibtisch stehen.

„Ja, womit kann ich Ihnen noch helfen?“, fragte Simone mit einem verkniffenen Lächeln und dachte zornig, wie kann man nur solche blöden Fragen stellen? Du bist eine richtig dämliche Kuh. War doch klar, was darauf für eine Antwort kam. Aber das war wie ein Automatismus, den sie gar nicht mehr beeinflussen konnte. Eine Standardformulierung an jedem Feierabend und meist mit identischen verheerenden Folgen …

„Sehen Sie mal hier“, wies Bertram mit seinem rechten Zeigefinger auf rote Markierungen in den Quartalszahlen. Seine Hände strahlten in perfekter Sauberkeit und waren sorgfältig manikürt. Das fiel Simone wieder einmal ins Auge, und sie versteckte die eigenen strapazierten Hände hinter dem Rücken.

„Das geht gar nicht“, fuhr Bertram Nagel fort. „Ich bin eben erst dazu gekommen, das alles zu kontrollieren. So was hätte Ihnen doch auffallen müssen. Schäfchen, Schäfchen … Sie müssen das unbedingt richtigstellen. In der Form können die Ergebnisse unmöglich an unseren Hauptgesellschafter gehen. Das haut er uns doch um die Ohren. Und mit Recht, wie ich finde.“

Simone hatte hektische rote Flecken im Gesicht bekommen, als Bertram noch anfügte:

„Da können Sie sich gleich Ihre eigene Kündigung schreiben, wenn Sie so was weiterleiten, ha, ha. Also: berichtigen und erneut auf meinen Tisch. Hat aber Zeit bis morgen. Schönen Feierabend.“

Dann senkte er den Kopf und wandte sich erneut seiner Arbeit zu. Das Gespräch war für ihn beendet.

„Bis morgen“, klopfte es in Simones Kopf, „bis morgen“. Das war ja lächerlich. Wie sollte sie das schaffen? Es blieb ihr nur wieder eine Nachtschicht daheim am Schreibtisch, sobald sie Nina ins Bett gebracht haben würde. Überstunden, für die sie nie entlohnt wurde. Nicht einmal mit einem Dankeschön. Kein Wort würde Bertram am nächsten Tag über die geschönten und somit für die Führungsetage akzeptablen Zahlen verlieren. Sie sah ihn schon vor sich, während sie noch die nötigen Unterlagen in ihrer großen Handtasche verstaute. Dann steckte sie einen Stick in den Computer und speicherte sich die wichtigsten Daten ab. Ein Glück, dass sie die Technik noch nicht runtergefahren hatte. Sonst hätte das noch mehr Zeitverzug bedeutet.

„Das geht so nicht weiter, Frau Schaaf“, begrüßte eine leitende Mitarbeiterin Simone, als sie in der Behinderteneinrichtung eingetroffen war. „Schon zum wiederholten Male in diesem Monat, und in der zurückliegenden Zeit ja ebenfalls, kommen Sie viel zu spät. Schließlich haben wir unsere festgelegten Öffnungszeiten, die Ihnen durchaus bekannt sein dürften. Nur wegen Ihnen muss jemand hier warten und auf Nina aufpassen. Das ist so nicht vertraglich vereinbart. Ich kann ja verstehen, dass Sie beruflich gefordert sind, aber dann müssen wir hier nach einer Lösung suchen, und Sie müssen mehr für die Betreuung bezahlen, wenn Sie zusätzliche Stunden in Anspruch nehmen.“

Simone verschlug es die Sprache. Nicht auch das noch. Sie kam jetzt schon gerade mal so hin mit ihrem Geld. Vor nicht allzu langer Zeit hatten sie umziehen müssen, weil sich die Nachbarn immer über den Lärm von Nina aufregten. Dabei war doch eigentlich Kinderlärm kein Beschwerdegrund, dazu gab es sogar Gerichtsurteile, wenn sie sich recht entsann. Aber es war auch kein normaler Kinderlärm, den Nina verursachte. Dann hatte sie gesucht und eine Wohnung in der Stadt gefunden, die von Büros umgeben war. Allerdings war die nun zwar etwas größer und komfortabler, aber zugleich deutlich teurer. Hin und her hatte sie gerechnet, ob das alles auf Dauer machbar wäre, schließlich mit Bauchschmerzen den Mietvertrag unterschrieben. Und nun das.

„Es tut mir leid“, rang sich Simone durch.

„Also davon können wir uns auch nichts kaufen“, sagte die Angestellte schroff. „Lösen Sie Ihre Probleme, und zwar innerhalb der nächsten vier Wochen. Ansonsten müssen wir uns auf ein verändertes finanzielles Modell einigen oder Ihnen diesen Platz hier fristgemäß kündigen. Wir haben auch noch andere Anwärter, die einen dringenden Anspruch auf so eine gute Versorgung hätten …“

Simone zitterte am ganzen Körper, als sie mit Nina im Auto saß. Was sollte sie nur tun? Mit Bertram Nagel über eine Gehaltserhöhung sprechen? Aber da hatte er vor fünf Jahren, als sie das schon einmal versucht hatte, so gequält dreingeschaut, als würde sie an sein Geld und an das seiner Familie wollen. Außerdem hatte er davon gesprochen, dass es doch gar nicht so gut um die Firma bestellt sei und alle froh sein müssten, ihren Arbeitsplatz überhaupt behalten zu dürfen. Zeitgleich aber hatten die leitenden Angestellten neue Dienstfahrzeuge bekommen. Sie selbst musste sich zuvor bei verschiedenen Autoanbietern umhören und die entsprechenden Konditionen einholen …

Und dabei wurde laufend in den Medien berichtet, wie die Löhne und Gehälter im Land stiegen. Da fünf Prozent, dort sechs Prozent mehr und hin und wieder eine Einmalzahlung von vielleicht zweihundert Euro dazu … Ihr Einkommen jedenfalls war nicht dabei. Im Gegenteil, selbst das Urlaubs- und Weihnachtsgeld war eines Tages sang- und klanglos gestrichen worden. Solche Zusatzleistungen seien ja nur ein ungeheures Entgegenkommen der Geschäftsleitung und überhaupt keine Verpflichtung auf Dauer, erinnerte sich Simone noch in etwa an die Formulierung von Bertram, der dabei seinen traurigen Blick aufgelegt hatte. Außerdem hätten alle eine Zeit lang etwas von diesen Extras gehabt, dafür sollten sie dankbar sein. Schließlich hätte jeder etwas auf die hohe Kante legen können. Simone schüttelte den Kopf bei dieser Erinnerung, nein, hohe Kante hatte er bestimmt nicht gesagt. Eher was von Anlage in einem Fonds, an der Börse oder so ähnlich.

Verstärkung

„Es wird demnächst eine personelle Veränderung in Ihrem Team geben“, erklärte Martina Mahler, die Personalchefin, und schloss einen Knopf an der Jacke ihres Hosenanzugs.

Alex hatte ihr eigentlich nur einen guten Morgen wünschen wollen und blieb jetzt doch stehen. Das gebot wohl die Höflichkeit.

„Ja, Dennis will sich weiterqualifizieren“, sagte er. „Das weiß ich. Wir beide haben lange drüber gesprochen, und ich habe ihn ermuntert. Ist schließlich auch im besten Alter, der junge Kollege, und eine unheimliche Unterstützung. Der hat sich wirklich gut gemacht bei uns. Ich werde ihn vermissen, wenn er zwischen­durch wegen der Ausbildung hier nicht im Einsatz sein kann.“

Hoffentlich fühlt er sich danach nicht zu Höherem berufen, folgte noch ein Gedanke, den Alexander aber lieber nicht aussprach.

„Ach, da machen Sie sich mal keine Sorgen“, antwortete Martina Mahler und ließ eine Hand in der Hosentasche verschwinden. „Mit den personellen Veränderungen meinte ich jetzt gar nicht die nötige Fortbildung Ihres Kollegen, sondern eine Erweiterung des Teams.“

Alexander fehlten die Worte.

„Ja, Sie bekommen Verstärkung. Nach der jüngsten Landtagswahl wurde auch das Thema Sicherheit intensiver in den Fokus genommen, wie Sie sicher wissen. Das verschafft uns nun zusätzliche Stellen, um die Kriminalität besser bekämpfen zu können.“

Martina strahlte zufrieden.

„Von einer Modernisierung unserer Fahrzeugflotte und einer generell besseren Ausstattung habe ich auch läuten hören“, fiel Alexander dazu nur ein.

„Genau, aber darum geht es ja in diesem Fall nicht“, meinte die Personalchefin, zog jetzt die Hand wieder aus der Hosentasche und hatte ein Dragee zwischen den Fingern, das sie sich in den Mund schob. „Sorry. Ich habe so ein Kratzen im Hals. Hoffentlich kündigt sich da nicht eine Erkältung an. Kann ich mir derzeit überhaupt nicht leisten, bei meinem übervollen Schreibtisch … Freuen Sie sich darauf, dass Sie mehr Manpower bekommen beziehungsweise in dem Fall mehr Womanpower. Man sollte ja immer auf seine politisch korrekte Wortwahl achten! Und ich in meinem Job besonders.“

Ein kleines Lachen schloss sich an.

Alexander zog die Augenbrauen ein wenig hoch.

„Eigentlich wollte ich Ihnen das hier gar nicht zwischen Tür und Angel berichten“, warf Martina Mahler jetzt ein und schluckte deutlich sicht- und hörbar, während sie sich im Flur umschaute.

Wäre eine gute Idee gewesen, darüber mal in Ruhe zu sprechen und nicht auf den Gängen des Kommissariats, möglicherweise hätte ich dazu auch etwas beitragen können, dachte Alex und behielt es für sich.

„Jedenfalls fängt zum Ersten des nächsten Monats KHK Susanne Meißner bei Ihnen an. Sie hat bislang in Bielefeld gearbeitet und bat um Versetzung nach Minden. Aus persönlichen Gründen. Und wir wollen da ja dem Glück unserer Mitarbeiter nicht im Wege stehen. Da tut man schon, was man kann …“

Also auch vom Dienstgrad her Kriminalhauptkommissar, dachte Alexander und zwang sich mit Mühe zu einem Lächeln.

„Dann bin ich überglücklich, was diese Personal­entscheidung angeht“, sagte er, und es klang halbwegs überzeugt. Ihm fiel ein, dass in seinem Fall einst auch so ein menschliches Entgegenkommen für die Versetzung von Berlin nach Minden gesorgt hatte. Also wollte er die neue Kollegin schon lieber mit offenen Armen empfangen. Das nahm er sich jedenfalls ganz fest vor.

„Ich muss dann aber wieder“, fügte er mit einem Blick auf seine Armbanduhr an. „Die Pflicht ruft!“

„Sie sagen es. Ich wollte mich auch gar nicht mit Ihnen verplaudern.“

Martina Mahler hüstelte leicht und klopfte Alexander noch jovial auf die Schulter.

„Wir sind übrigens sehr froh, dass wir Sie hier bei uns im Team haben. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das schon mal so direkt gesagt habe?“

Jetzt war das Lächeln in Alexanders Gesicht äußerst breit und absolut echt.

„Danke“, meinte er halblaut, aber da hatte sich die Personalchefin schon umgedreht und war den Flur entlanggeeilt.

Führungsriege

Die Dämmerung hatte sich bereits breit gemacht, und künstliches Licht war vonnöten. Am Nachmittag hatte Simone alles für das Treffen der Führungsriege vorbereitet. Bertram Nagel war zu einem Termin beim Notar außer Haus gewesen, und sie konnte die Zeit nutzen, um alles nett zu arrangieren.

„Laden Sie nur den harten Kern ein“, hatte Bertram Nagel angewiesen.

Damit war klar, wen das für diese Zusammenkunft betraf: den technischen Direktor Kevin Kowalski, den Prokuristen Marvin Damerow und den Marketingchef Vincent Tauber.

„Zu keinem sonst ein Wort. Das ist eine absolut interne Angelegenheit“, war noch die Ergänzung des Chefs gewesen.

Inzwischen standen ein paar herzhafte Snacks, Gebäck, Kaffee und Tee sowie kalte Getränke bereit. Im Tiefkühlfach des Kühlschranks lag eine Flasche Parliament. Ein feiner russischer Wodka in einer dekorativen eckigen Flasche. Sollte dafür später Bedarf sein, konnte man ihn eisgekühlt servieren. Bertram liebte es, wenn die Gläser nach dem Einschenken außen beschlugen. Und er bevorzugte Klaren mit seinem Standardspruch:

„Den sieht die Leber nicht!“

Als Simone sich später noch, nachdem Bertram wieder zurückgekehrt war, eine Unterschrift von ihrem Chef holte, warf sie einen letzten prüfenden Blick auf die Sitz­ecke in dem großzügigen Büro. Nein, es schien nichts zu fehlen. Sie hatte wie üblich alles bedacht.

„Sobald die Herren eingetroffen sind, können Sie sich auch in Ihren Feierabend zurückziehen. Ich benötige Sie dann nicht mehr, Schäfchen. Den Rest schaffen wir starken Männer allein, ha, ha!“

Simone lächelte.

„Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg.“

„Na, den brauchen wir unbedingt. Danke.“

Nach einer weiteren halben Stunde gaben sich die drei Herren die Türklinke in die Hand. Zuerst tauchte der Prokurist Marvin Damerow auf. Etwas verschwitzt, mit Flecken unter den Armen, die sich deutlich auf dem nicht mehr ganz weißen Oberhemd markierten. Simone zog ein wenig die Nasenflügel hoch, als er den Raum betrat und sie überaus freundlich begrüßte.

„Na, Frau Schaaf, noch nicht im wohlverdienten Feierabend? Es ist ja schon so spät. Sie kommen wohl nie zur Ruhe? Ach, wenn wir Sie nicht hätten!!!“

Er strich sich über sein dünnes Haar, das deutliche Lücken zuließ, und schob dabei eine schmale Strähne unordentlich in die Höhe.

„Ich wollte nur noch auf Sie warten, und dann bin ich auch verschwunden“, antwortete sie. Eine Bemerkung zur Frisur ihres Gegenübers lag ihr noch auf der Zunge, aber dann traute sie sich nicht, das konkret anzusprechen.

Im selben Augenblick trat Marketingchef Vincent Tauber ein. In dunkelblauen Jeans und mit einem zartblauen Oberhemd bekleidet. Sein pechschwarzes Haar lag in vollen Locken über dem gesamten Kopf. Eine dekorative Brille mit schwarzem Rand saß auf seiner Nase. Fast ließ sie ihn ein wenig zu ernst wirken, wenn da nicht die zahlreichen Lachfältchen rund um die Augen gewesen wären.

„Hallöchen. Da bin ich, wie befohlen … Was duftet denn hier so, liebe Frau Schaaf? Waren Sie wieder aktiv? Dumme Frage. Natürlich, wer denn sonst! Freue mich schon auf Ihre kleinen Leckereien am Rande. Das erdet immer so schön zwischen all dem Fachchinesisch und den Zahlen aus den Bilanzen. Außerdem kann man mit knurrendem Magen gar keinen klaren Gedanken fassen. Danke übrigens dafür!“

Und schon hatte er schwungvoll das Chefzimmer betreten. Schließlich traf Kevin Kowalski ein.

„Hallo, Simone.“

Er schaute sich im Raum um, von nebenan ertönte lautstarkes Gelächter. Offensichtlich hatte Bertram einen seiner üblichen Witze gerissen.

„Also, ehrlich gesagt passt mir das heute überhaupt nicht! Immer diese kurzfristigen Aktionen. Als ob man kein Privatleben hätte …“

Simone nickte verständnisvoll.

„Kann man nichts machen“, sagte sie und zuckte mit den Schultern. „Da muss man wohl durch! Ich habe auch alles vorbereitet, damit Ihr zügig vorankommt. Die üblichen Zahlen und das nötige Drumherum!“

Jetzt lächelte Kevin.

„Ein Glück, dass wir dich haben, Simone! Das klappt immer alles wie am Schnürchen.“

Für einen Moment schien er zu überlegen.

„Wie lange bist du eigentlich schon bei uns?“

Kevin hatte bereits die Türklinke zum Chefzimmer in der Hand.

„Zwanzig Jahre werden das im Sommer“, antwortete Simone mit einem leichten Seufzen in der Stimme.

„Das feiern wir aber ganz groß“, bestimmte Kevin, zwinkerte der Sekretärin noch zu und verschwand.

Gedämpft drangen Geräusche aus dem Nebenraum, während Simone ihre Sachen zusammenpackte. Kevin Kowalski hatte die Tür lediglich angelehnt. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie jetzt alles verfolgen können, was nebenan gesprochen wurde. Aber wozu?

Dann will ich heute wirklich nicht länger als unbedingt nötig machen, dachte sie mit einem Blick auf ihre Armbanduhr. So schaffte sie es unbedingt in der vereinbarten Zeit, um daheim zu sein. Wobei sie für diesen Abend ausnahmsweise ihre Eltern gebeten hatte, Nina aus der Behinderteneinrichtung abzuholen. Sicher war sicher. Man konnte bei Bertram Nagel nie wissen, wie sich ein Arbeitstag entwickelte. Auf jeden Fall konnte sie so noch in aller Gemütsruhe einkaufen gehen, zu Hause dann mit der gesamten Familie essen. Ihre Mutter würde bestimmt etwas gezaubert haben …

Sie hatte schon ihren Computer heruntergefahren, ihre Sachen gepackt und das Licht im Zimmer gelöscht. Ihr Arbeitszimmer lag in einer dunklen Ecke des Objektes, und selbst tagsüber fand die Sonne keinen Weg dorthin. Zusätzliches Licht war fast immer vonnöten, aber sobald sie verschwand, löschte sie sämtliche Quellen. Ein Akt allgemeiner Sparsamkeit. Auch privat ließ sie keinen Raum beleuchtet, wenn sie ihn nicht nutzte. Alles fängt im Kleinen an, hatte Peer früher mal gesagt, als es darum ging, etwas Geld für eine Anschaffung zusammenzubringen. Das hatte sie verinnerlicht. Und inzwischen tendierte sie eher in Richtung Geiz, um finanziell klarzukommen.

Simone stand schon im Freien, als sie sich die linke Hand vor die Stirn schlug. Was man nicht im Kopf hat, hat man in den Beinen, wirbelte ihr ein Spruch ihrer Mutter durch den Sinn. Sie hatte zwar ihren Schlüsselbund aus der Handtasche genommen, um ihn gleich parat zu haben, ihn dann aber auf den Schreibtisch gepackt, weil noch etwas anderes zu erledigen war. Und nun lag er dort. Also: Noch einmal die Stufen nach oben und zurück ins Arbeitszimmer.

Sie betrat den Raum, ohne Licht anzumachen. Aufsehen wollte sie vermeiden. Nicht, dass Bertram Nagel etwa noch auf die Idee kam, ihr irgendeinen weiteren Auftrag zu verpassen, den sie mal eben so bis zum nächsten Tag erledigen könnte … Die Schlüssel würde sie blind finden, dazu hätte es sogar stockfinster in diesem Zimmer sein können.

Licht drang indes durch den Spalt der nur angelehnten Tür zum Chefzimmer. Die Stimmen klangen erregt. Vorsichtig setzte Simone einen Schritt vor den anderen und wollte eigentlich gleich wieder verschwunden sein. Aber dann drangen die Sätze doch bis in ihr Bewusstsein vor.

„… du bist so ein Idiot, Kevin! War mein Auftrag nicht eindeutig? Wir müssen unbedingt die Kosten senken. Weniger Materialeinsatz bei gleicher Qualität!“

„Ja, aber das lässt sich in der Produktion nun auch nicht so ohne Weiteres umsetzen“, antwortete Kevin mit gepress­ter Stimme. „Wir haben getan, was wir konnten.“

„Dafür hagelt es jetzt Beschwerden von allen Seiten. Wenn, dann müssen die Teile doch wenigstens so lange durchhalten, dass genau genommen erst der Kunde schuld daran sein kann, wenn etwas defekt ist. Es reicht doch völlig aus, wenn die Garantiezeit eingehalten wird. Einen Tag später darf meinetwegen alles den Bach runtergehen. Dann hat ja keiner mehr Ansprüche …“

Der Ton von Bertram war bissig.

Simone stand erstarrt an ihrem Schreibtisch. Kevin tat ihr leid. So ein netter Kollege. Immer hilfsbereit und zuvorkommend. Bertram trat auf ihm herum, wo er nur konnte. Wenn sie da nur an die Telefonate mit den Vereinskollegen von den Schützen dachte. Mehrfach hatte Bertram seinen Gesprächspartnern erklärt, wie unfähig Kevin sei und dass nur er allein dafür Sorge getragen hätte, dass die Probleme nicht noch größer geworden waren.