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Vertrau oder stirb Stell dir vor, du bist allein zu Haus. Plötzlich steht ein Mann vor dir. Er behauptet, dein Lebensgefährte zu sein. Aber du hast keine Ahnung, wer er ist. Und nichts in deinem Zuhause deutet darauf hin, dass jemand bei dir wohnt. Er redet auf dich ein, dass du doch bitte zur Vernunft kommen sollst. Du hast Angst. Und du verspürst diesen unwiderstehlichen Drang, dich zu wehren. Ein Messer zu nehmen. Bist du verrückt geworden? Stell dir vor, du kommst nach Hause, und deine Frau erkennt dich nicht. Sie hält dich für einen Einbrecher. Schlimmer noch, für einen Vergewaltiger. Dabei willst du sie doch nur beschützen. Aber sie wehrt sich, sie verbarrikadiert sich. Behauptet, dich niemals zuvor gesehen zu haben. Sie hält dich offensichtlich für verrückt. Bist du es womöglich? Eine Frau. Ein Mann. Je mehr sie die Situation zu verstehen versuchen, desto verwirrender wird sie. Bald müssen sie erkennen, dass sie in Gefahr sind. In tödlicher Gefahr. Und es gibt nur eine Rettung: Sie müssen einander vertrauen …
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Seitenzahl: 541
Ursula Poznanski • Arno Strobel
Fremd
Thriller
Ihr Verlagsname
Vertrau oder stirb
Stell dir vor, du bist allein zu Haus. Plötzlich steht ein Mann vor dir. Er behauptet, dein Lebensgefährte zu sein. Aber du hast keine Ahnung, wer er ist. Und nichts in deinem Zuhause deutet darauf hin, dass jemand bei dir wohnt. Er redet auf dich ein, dass du doch bitte zur Vernunft kommen sollst. Du hast Angst. Und du verspürst diesen unwiderstehlichen Drang, dich zu wehren. Ein Messer zu nehmen. Bist du verrückt geworden?
Stell dir vor, du kommst nach Hause, und deine Frau erkennt dich nicht. Sie hält dich für einen Einbrecher. Schlimmer noch, für einen Vergewaltiger. Dabei willst du sie doch nur beschützen. Aber sie wehrt sich, sie verbarrikadiert sich. Behauptet, dich niemals zuvor gesehen zu haben. Sie hält dich offensichtlich für verrückt. Bist du es womöglich?
Ursula Poznanski wurde 1968 in Wien geboren. Sie war als Journalistin für medizinische Zeitschriften tätig. Nach dem fulminanten Erfolg ihrer Jugendbücher «Erebos», «Saeculum» und der Eleria-Trilogie «Die Verratenen», «Die Verschworenen» und «Die Vernichteten» landete sie bereits mit ihrem ersten Thriller «Fünf» auf den Bestsellerlisten. Bei Wunderlich folgten «Blinde Vögel» und «Stimmen». Inzwischen widmet sich Ursula Poznanski ganz dem Schreiben. Sie lebt mit ihrer Familie im Süden von Wien.
Arno Strobel, 1962 in Saarlouis geboren, studierte Informationstechnologie und arbeitete lange bei einer großen deutschen Bank in Luxemburg. Im Alter von fast vierzig Jahren begann er mit dem Schreiben von Kurzgeschichten, die er in Internetforen veröffentlichte, bevor er sich an seinen ersten Roman heranwagte.
Ich sehe das Aufflackern der Eingangsbeleuchtung nur durch Zufall. Weil mein Blick beim Haareföhnen auf das Badezimmerfenster fällt. Draußen ist Licht, wo keines sein sollte.
Jemand muss den Bewegungsmelder aktiviert haben, aber ich erwarte niemanden und werde den Teufel tun, die Tür zu öffnen, wenn es klingelt. Nichts gegen Überraschungsbesuch, doch das Letzte, worauf ich heute noch Lust habe, ist Ela, die mit zwei Flaschen Rotwein hier aufkreuzt und mir in einem stundenlangen Monolog erklärt, dass sie sich diesmal von Richard trennen wird, diesmal ganz sicher.
Nein. Mit ihrer miesen Beziehung muss sie heute allein klarkommen. Aber vielleicht sind da draußen ja auch nur die Zeugen Jehovas.
Ich stelle den Föhn eine Stufe höher, dann muss ich nicht einmal lügen, wenn ich behaupte, die Türglocke nicht gehört zu haben. Das dumpfe Unbehagen, das sich allmählich in mir ausbreitet, ignoriere ich. Ja, manchmal läuten Einbrecher an der Tür, um sich zu vergewissern, dass niemand im Haus ist, bevor sie zuschlagen. Hat man mir gesagt, ich bin noch nicht lange genug in Deutschland, um zu wissen, wie üblich das ist. Ich beherrsche zwar die Sprache, aber im alltäglichen Leben ist mir vieles immer noch fremd.
Bei einem harmlosen Klingeln sofort an etwas Schlimmes zu denken ist jedenfalls albern.
Meine Güte, so bin ich doch sonst nicht.
Kurz darauf geht die Eingangsbeleuchtung wieder aus.
Ich schalte den Haartrockner ab, schiebe den Vorhang des Badezimmerfensters ein Stück zur Seite und spähe hinaus. Keiner da. Weder ein Besucher noch jemand, der sich an Tür oder Fenstern zu schaffen macht.
Dad würde mich eigenhändig erwürgen, wenn er wüsste, dass ich allein in einem ungesicherten Haus wohne – an unserem Familiensitz in Melbourne finden sich mehr Überwachungskameras als am Pentagon. Auch ein Grund, warum ich froh bin, von dort weg zu sein.
Die nächsten Minuten bleibt es ruhig, und der Druck in meinem Inneren lässt langsam nach. Wird von Vorfreude abgelöst. Einem friedlichen Abend auf der Couch steht nichts mehr im Wege, und das ist großartig. Eine Tasse Tee, eine warme Decke und ein gutes Buch sind alles, was ich mir vom Rest des Tages noch wünsche – außer vielleicht jemanden, der bereit wäre, mir den Rücken zu massieren, keine Ahnung, woher das Ziehen zwischen den Schulterblättern kommt.
Vanilletee. Schon der Gedanke wärmt mich von innen. Ich schlüpfe in meinen Bademantel und öffne die Tür zum Flur, steige die Treppe nach unten und halte auf halber Höhe inne.
Da war … ein Geräusch. Ein Klirren. Im Haus, nicht von außerhalb. Jemand, der eine Fensterscheibe einschlägt? Nein, dafür war es nicht laut genug.
Sofort ist die Beklommenheit von vorhin wieder da, diesmal doppelt so stark. Meine Hand umklammert das Geländer, ich atme durch, reiße mich zusammen, steige eine weitere Stufe nach unten. Das ist doch lächerlich, sage ich mir, Einbrecher würden viel mehr Lärm machen. Sie würden Zeug zusammenraffen und versuchen, so schnell wie möglich abzuhauen –
Ein neues Geräusch. Kein Klirren diesmal, sondern ein Schaben. Wie eine Schublade, die geöffnet und wieder geschlossen wird.
Umkehren, ist mein erster Impuls. Ins Schlafzimmer laufen, die Polizei rufen. Mich verstecken.
Stattdessen kämpfe ich alle meine Instinkte nieder und bleibe stehen, denn mir wird klar, dass diese eine, vernünftige Möglichkeit mir nicht zur Verfügung steht. Mein Handy liegt in der Küche, mit fast leerem Akku. Ich habe es auf die Espressomaschine gelegt, gut sichtbar, damit ich nicht vergesse, es zu laden.
Doch genau aus Richtung Küche und Wohnzimmer kommen die Geräusche.
Noch zwei Stufen nach unten steigen. Ja, es fällt Licht durch den Spalt der Wohnzimmertür.
Ich atme gegen meine Angst an, die viel zu massiv ist für den Anlass. Dass Licht brennt, ist verdammt noch mal nichts Besonderes, ich vergesse ständig, es auszuschalten. Kein Grund zur Panik also. Außerdem liegt vor mir die Eingangstür; wenn ich will, kann ich in fünf Sekunden draußen sein und Hilfe holen, Bademantel hin oder her.
Ich halte den Atem an. Lausche mit aller Konzentration. Es ist jetzt wieder völlig ruhig. Habe ich mich geirrt, mir die Geräusche nur eingebildet? Mein Kopf zieht diese Möglichkeit immerhin in Betracht, mein wild hämmerndes Herz ist anderer Meinung. Und wenn ich etwas nur schwer ertrage, dann ist es Ungewissheit.
Auf der Kommode in der Diele liegt der Briefbeschwerer, den Ela mir vor ein paar Wochen geschenkt hat. Ein Würfel aus blauem Glas, mindestens zwei Kilo schwer. Ich nehme ihn in die Hand, ignoriere die Werbezettel, die zu Boden segeln, und ziehe langsam, langsam die Wohnzimmertür auf.
Nichts. Niemand. Zumindest hier nicht. Das Wohnzimmer ist unberührt, die Terrassentür hat nicht den kleinsten Sprung, alles ist so, wie ich es zurückgelassen habe.
Nur was die Küche angeht, bin ich noch nicht sicher, sie ist von hier kaum einzusehen und unbeleuchtet.
Der Briefbeschwerer rutscht mir fast aus der schweißnassen Hand; ich packe ihn fester und gehe einen Schritt ins Wohnzimmer hinein. Lautlos. Noch einen. Bis ich in der Mitte des Raums stehe.
Genau in dem Moment, in dem ich beginne, mir lächerlich vorzukommen, tritt ein Schatten aus dem Dunkel der Küche.
Der Schrei, der aus mir herauswill, erstirbt auf halbem Weg, als wäre plötzlich keine Luft mehr in meinem Körper. Alles in mir erstarrt.
Weglaufen, das ist der einzige Gedanke, der es bis in mein Bewusstsein schafft, aber ich bin nicht fähig, ihn in die Tat umzusetzen. Meine Beine verweigern den Dienst.
Im Licht der Deckenlampe steht ein Mann, dunkelhaarig, breitschultrig. Er sagt etwas, sein Mund bewegt sich, aber ich kann kein Wort davon hören, alle Geräusche kommen wie aus weiter Ferne, nur das Hämmern meines Herzschlags ist beängstigend nah und laut. Schock? Ist das ein Schock?
Der Mann spricht mich ein weiteres Mal an, aber es ist, als hätte ich plötzlich mein ganzes Deutsch verlernt. Für einen Augenblick dreht sich das Zimmer um mich. Nur nicht umkippen jetzt.
Er legt den Kopf schief, zögert. Dann kommt er auf mich zu. So dumm, hämmert ein neuer Gedanke in meinem Kopf, du bist so dumm, warum bist du nicht oben geblieben?
Erst als er so nah ist, dass ich Andeutungen eines Aftershaves riechen kann, löst sich meine Schockstarre endlich. Ich weiche zurück, allerdings zur Wand statt zur Tür. Korrigiere mich zu spät, er ist schon fast bei mir.
«Hauen Sie ab», brülle ich, in der Hoffnung, ihn damit wenigstens kurz zu stoppen. Zu meiner Überraschung bleibt er tatsächlich stehen.
«Verschwinden Sie, oder ich hole die Polizei!» Wenn ich noch etwas lauter schreie, hören mich ja vielleicht auch die Nachbarn.
Ein Einbrecher würde jetzt weglaufen, doch der Fremde tut das nicht, und etwas in mir hat ohnehin längst begriffen, dass der Mann nicht hier eingedrungen ist, um mich zu bestehlen. Kein Dieb trägt Hemd und Sakko, wenn er in ein fremdes Haus einsteigt. Doch das bedeutet, es gibt einen anderen Grund, etwas anderes, auf das es der Fremde abgesehen hat … Dieser Gedanke weckt eine völlig neue Art von Angst in mir. Ich weiche noch ein Stück zurück, jetzt habe ich die Stehlampe im Rücken, fühle, wie sie kippt, verliere beinahe das Gleichgewicht.
«Bitte», flüstere ich. «Bitte tun Sie mir nichts.»
Er ist höchstens fünf Schritte entfernt. Lässt seinen Blick nicht von mir, keine Sekunde lang.
«Um Himmels willen», sagt er. «Was ist denn los?»
Noch ein Schritt auf mich zu. Ich ducke mich, als würde das helfen, als könnte ich mich in mir selbst verstecken.
«Ich habe nicht viel Geld im Haus, aber das gebe ich Ihnen, gut? Nehmen Sie mit, was Sie wollen. Aber bitte … tun Sie mir nichts.»
«Soll das ein Witz sein?» Er hebt die Hände, zeigt seine Handflächen. Leer.
«Ist dir übel? Soll ich einen Arzt holen?»
Er ist stehen geblieben. Das ist die Hauptsache. Ich richte mich langsam wieder auf. Der Briefbeschwerer. Vielleicht wäre jetzt eine gute Gelegenheit, ihn zu werfen.
«Gehen Sie, bitte. Ich verspreche Ihnen, ich werde nicht die Polizei rufen.»
Er blinzelt, atmet einige Male tief ein und aus. «Was soll das? Warum sprichst du so mit mir?»
Wenn das Anzeichen von Unsicherheit sind, habe ich eine Chance. Ich werde ihn in ein Gespräch verwickeln. Ja. Und die erste Gelegenheit beim Schopf packen, um abzuhauen.
«Weil … ich Angst habe, verstehen Sie?»
«Vor mir?»
«Ja. Sie haben mich sehr erschreckt.»
Er breitet die Arme aus, kommt wieder auf mich zu. «Joanna …»
Mein Name. Ich weiche weiter zurück. Er kennt meinen Namen, vielleicht ist er ein Stalker, vielleicht hat er aber auch nur die Adressetiketten auf den Briefumschlägen gelesen, die in der Diele liegen.
Ich mustere ihn genauer. Blaue Augen unter dichten Brauen. Markante Züge, die ich mir gemerkt hätte, wenn sie mir schon einmal begegnet wären. Er sieht nicht aggressiv aus, nicht gefährlich, aber trotzdem erfüllt mich sein Anblick mit einem Entsetzen, das ich mir selbst kaum erklären kann.
Jetzt habe ich die Wand im Rücken. Endstation, Falle. Mein Puls überschlägt sich, ich hebe den Briefbeschwerer. «Gehen Sie. Sofort.»
Sein Blick schnellt zwischen meinem Gesicht und dem Glaswürfel hin und her. Rutscht ein wenig tiefer, was mir zu Bewusstsein bringt, dass mein Bademantel weiter aufklafft, als mir lieb sein kann.
«Joanna, ich weiß nicht, was du da tust, aber hör bitte auf damit.»
«Hören Sie doch auf!» Es soll souverän klingen, hört sich aber kläglich an. «Hören Sie auf, so zu tun, als würden wir uns kennen, und gehen Sie bitte.»
Wahrscheinlich gefällt ihm meine Angst, denn er kommt schon wieder einen Schritt näher. Ich rutsche die Wand entlang nach links, auf die Tür zu.
«Lass das jetzt endlich, natürlich kennen wir uns.» Das in seiner Stimme ist Ungeduld. Noch nicht Wut, aber das könnte sich ändern. Zwei Meter noch bis zur Tür. Das schaffe ich, das muss ich einfach schaffen.
«Sie irren sich. Wirklich.» Mit jedem weiteren Satz gewinne ich Zeit. «Woher sollten wir uns denn kennen, Ihrer Meinung nach?»
Langsam schüttelt er den Kopf. «Entweder du spielst irgendein abartiges Spiel mit mir, oder ich sollte dich schleunigst ins Krankenhaus bringen.» Er fährt sich mit der Hand durchs Haar. «Wir sind verlobt, Jo. Wir leben zusammen.»
Ich starre ihn an, stumm. Was er gesagt hat, ist so weit von dem entfernt, was ich erwartet hatte, dass ich einige Sekunden brauche, um die Worte zu erfassen.
Wir sind verlobt.
Also nicht nur ein Stalker, nein, viel schlimmer, ein Verrückter. Einer, der sich im Kopf seine eigene Welt zusammenspinnt. Der unter Wahnvorstellungen leidet.
Aber wie, um alles in der Welt, ist er dabei ausgerechnet auf mich gekommen?
Unwichtig. Mit einem Geisteskranken kann man nicht reden, ihn schon gar nicht mit vernünftigen Argumenten überzeugen. Seine Stimmung könnte jeden Moment umschlagen – noch wirkt er friedlich, aber wer weiß, ob nicht ein einziges falsches Wort genügt, um ihn aggressiv werden zu lassen. Immerhin hat er sich ja auch gewaltsam Einlass in ein fremdes Haus verschafft.
Mir fällt nur ein Ausweg ein, und ich entscheide mich schnell.
Der Briefbeschwerer beschreibt eine glänzend blaue Flugparabel, als ich ihn auf den Mann schleudere. Ich habe gut gezielt, aber der Fremde dreht sich zur Seite, deshalb erwische ich nur die Schulter, nicht den Kopf, egal. Ich renne aus dem Wohnzimmer, durch die Diele, die Treppen hinauf ins Schlafzimmer. Knalle die Tür hinter mir zu, sperre zweimal ab.
Dann lasse ich mich zu Boden sinken, die Tür im Rücken, mit Blick auf mein Bett. Ein Kissen, eine Decke. Mehr nicht. Das Bett einer allein lebenden Frau. Aber wenn er wirklich krank ist, spuckt sein Hirn auch dafür einen Grund aus. Dass er neuerdings auf der Couch schläft, zum Beispiel.
Von draußen ist nichts zu hören. Ich schließe für einen Moment die Augen. In Sicherheit. Hoffentlich.
Natürlich kennen wir uns, hat der Fremde gesagt, mit einer fast unheimlichen Selbstverständlichkeit. Ich durchforste mein Gedächtnis, aber ohne Erfolg. War er einmal im Studio? Ist er ein Kunde?
Nein, unmöglich. Ich vergesse nie ein Gesicht, das ich fotografiert habe.
Ein Geräusch lässt mich zusammenschrecken. Ein dumpfer Laut, wie von einer zugeworfenen Tür.
Ich presse mein Ohr gegen das Holz der Schlafzimmertür. Alles ruhig jetzt. Vielleicht hat der Briefbeschwerer den Mann hart genug getroffen, um ihn in die Flucht zu schlagen.
Ich lausche mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem. Meine Hoffnung währt eine knappe Minute, dann höre ich Schritte auf der Treppe, langsam und schwer.
Er kommt mir nach. Jetzt wird er nicht mehr friedlich sein.
Und ich habe immer noch kein Telefon, um Hilfe zu rufen.
Der Kakadu ist verschwunden.
Es fällt mir sofort auf, als ich neben dem Haus aus dem Auto steige und die Außenlampen aufleuchten. Er war ein Geschenk zu Joannas Geburtstag, ein achtzig Zentimeter hohes, zusammengeschweißtes Teil. Ein symbolisches Stück Heimat. Sie hat mir mal erzählt, dass Melbourne voll ist von Kakadus.
Während ich an der jetzt leeren Stelle neben dem Rhododendron vorbeigehe, frage ich mich, wohin er verschwunden ist. Ich schließe die Tür auf und gehe ins Haus. Die Diele ist dunkel, aber von oben höre ich gedämpftes Rauschen. Der Föhn. Joanna. Ein warmes Gefühl verdrängt die Verwunderung über den verschwundenen Kakadu.
Ich durchquere die Diele. Das Licht der Straßenlaternen dringt als diffuser Schein durch das schmale Glaselement neben der Haustür. Eben ausreichend, um mich schemenhaft erkennen zu lassen, wohin ich gehe. Ich öffne die Tür zum Wohnzimmer. Es ist ebenso wie die Küche hell erleuchtet. Ich muss lächeln. Meine Joanna. Wenn sie alleine ist, herrscht im Haus meist Festbeleuchtung. Zur Freude der Stromwerke.
Ich lasse den Schlüsselbund auf die Verlängerung der Arbeitsplatte fallen, er verfehlt sie knapp und landet mit hellem Klirren auf dem Fliesenboden. Die Müdigkeit macht mich unkonzentriert. Und wahrscheinlich auch die Nachwirkungen dieses seltsamen Tages. Dieses beschissenen Tages. Als hätte sich jeder in der Firma mit mir anlegen wollen.
Ich seufze, hebe die Schlüssel auf und lege sie an ihren Platz.
Im Kühlschrank steht noch die angebrochene Flasche Weißburgunder von gestern Abend. Mir ist nicht nach Wein, noch nicht. Später vielleicht, gemeinsam mit Joanna, wenn wir es uns auf der Couch gemütlich machen.
Ich greife nach der Orangensafttüte daneben. Sie ist fast leer, den kläglichen Rest fülle ich in ein Wasserglas.
Das Schubfach, in dem der Sack für den Verpackungsmüll untergebracht ist, lässt sich schwer öffnen und erzeugt schleifende Geräusche beim Auf- und Zumachen. Wahrscheinlich hat sich eine der Schrauben gelockert, mit denen die Führungsschienen befestigt sind. Ich werde mir das am Wochenende mal ansehen.
Am Durchgang zum Wohnzimmer schalte ich das Licht aus, als mir einfällt, dass der Akku meines Smartphones fast leer ist. Also gehe ich zurück und hänge das Gerät an das Ladekabel, das auf dem hüfthohen Schrank gleich neben dem Durchgang liegt. Ich drehe mich um und fahre erschrocken zusammen. Joanna steht mitten im Wohnzimmer. Ich habe nicht gehört, dass sie hereingekommen ist. Aber bei ihrem Anblick spüre ich wieder dieses wohlig warme Gefühl, und von einer Sekunde zur nächsten sind Müdigkeit und Ärger vergessen.
Offenbar hat sie mich noch nicht gesehen. Ich nutze den kurzen Moment und betrachte sie aus der Dunkelheit der Küche heraus. Sie trägt nur ihren Bademantel. Er ist so locker gebunden, dass der Stoff ein Stück auseinanderklafft und den Blick auf die Ansätze ihrer kleinen, festen Brüste erlaubt. Eine weitere Empfindung gesellt sich zu dem wohligen Gefühl, und sofort komme ich mir vor wie ein ertappter Voyeur.
Ich trete aus dem Dunkel heraus und gehe auf sie zu. Sie hört meine Schritte, dreht sich zu mir um und … erstarrt. Die fröhliche Begrüßung bleibt mir im Hals stecken.
Ich suche nach möglichen Erklärungen für das Entsetzen, das ich von ihrem Gesicht ablesen kann. «Hallo, Schatz», sage ich vorsichtig. «Was ist mit dir? Geht es dir nicht gut? Ist etwas passiert?»
Joanna reagiert nicht, sie steht nur da und sieht mich an, als hätte ich in einer ihr fremden Sprache gesprochen. So habe ich sie noch nie gesehen. Mein Gott, es sieht aus, als hätte sie panische Angst. Diese Erkenntnis macht auch mir Angst. Es muss etwas Schlimmes geschehen sein.
«Schatz», versuche ich es noch einmal, so einfühlsam, wie ich kann. Ich trete einen vorsichtigen Schritt auf sie zu, jetzt trennt uns nur noch eine Armlänge. Mit einem Ruck löst sich ihre Starre, sie reißt die Augen auf und weicht vor mir zurück. Einen Schritt, einen weiteren.
«Schatz, bitte …» Ich flüstere unwillkürlich. Ganz vorsichtig versuche ich, die Distanz zwischen uns zu verringern. Plötzlich verändert sich der Ausdruck in ihrem Gesicht, ihre Züge verzerren sich.
«Hauen Sie ab», schreit sie mir mit solcher Heftigkeit entgegen, dass ich abrupt stehen bleibe. «Verschwinden Sie, oder ich hole die Polizei.»
Verschwinden Sie? Was verdammt noch mal ist mit ihr los? Sie scheint ja vollkommen von der Rolle zu sein. Mir schießen tausend Dinge gleichzeitig durch den Kopf, ich habe Mühe, sie halbwegs zu ordnen.
Drogen, Alkohol, Überfall, Schock … ein Todesfall? Joanna macht einen weiteren Schritt rückwärts und stößt mit dem Rücken gegen die Stehlampe. Sie kippt um. Klirrend zerspringt der Glasschirm auf dem Boden.
«Bitte», flüstert sie. «Bitte tun Sie mir nichts.»
Ich bemühe mich, meiner Stimme einen ruhigen Klang zu geben. «Um Himmels willen. Was ist denn los?»
Sie zieht den Kopf ein. «Ich … habe nicht viel Geld im Haus.» Ihre Stimme klingt klein, ängstlich. Kindlich. «Aber das gebe ich Ihnen. Gut? Nehmen Sie mit, was Sie wollen. Aber bitte … tun Sie mir nichts.»
Ich spüre, dass trotz meiner Fassungslosigkeit für einen kurzen Moment Ärger in mir aufflackert. «Soll das ein Witz sein?» Meine Stimme klingt schroffer, als ich es beabsichtigt hatte, ich hebe die Hände zum Zeichen, dass sie von mir nichts zu befürchten hat. «Ist dir übel? Soll ich einen Arzt holen?»
Sie schüttelt den Kopf. «Gehen Sie bitte. Ich verspreche Ihnen, ich werde nicht die Polizei rufen.»
Ich widerstehe dem wilden Impuls, sie an den Oberarmen zu packen, durchzuschütteln und anzuschreien, sie solle sofort mit diesem Blödsinn aufhören. Sie solle wieder sie selbst sein. Aber ich muss ruhig bleiben, es ist wichtig, dass zumindest ich einen klaren Kopf bewahre. Ich atme ein paarmal tief durch und schaue ihr dabei in die Augen. «Was soll das? Warum sprichst du so mit mir?»
«Weil ich Angst habe», sagt sie zögerlich. «Verstehen Sie?»
«Vor mir?»
«Ja. Sie haben mich sehr erschreckt.»
«Joanna …»
Ihr Blick verändert sich auf eine seltsame Weise, als ich ihren Namen ausspreche. Es ist, als versuche sie in meinem Gesicht zu lesen, was ich denke.
«Gehen Sie. Sofort.» Ich spüre, dass sie sich bemüht, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. Es gelingt ihr nicht. Ihre Hand hebt sich ein wenig, jetzt erst sehe ich, dass sie etwas umklammert. Ich versuche zu erkennen, was es ist. Der Briefbeschwerer aus der Diele. Das wird ja immer verrückter. «Joanna …» Ich schaue ihr tief in die Augen, versuche ihr mit meinem Blick zu vermitteln, dass ihre Angst vor mir unbegründet ist. «Ich weiß nicht, was du da tust, aber hör bitte auf damit.»
«Hören Sie doch auf», antwortet sie wie ein kleines, ungezogenes Kind. «Hören Sie auf, so zu tun, als würden wir uns kennen, und gehen Sie bitte.»
Das darf einfach alles nicht wahr sein. Langsam steigt die Befürchtung in mir hoch, dass Joanna vollkommen den Verstand verloren hat.
Ich mache einen weiteren, vorsichtigen Schritt auf sie zu, ohne zu wissen, wie ich auf diese bizarre Situation reagieren soll. Ich muss aufpassen, dass ich nicht die Nerven verliere. «Lass das jetzt endlich, natürlich kennen wir uns.»
Joanna schüttelt den Kopf. «Sie irren sich, wirklich. Woher sollten wir uns denn kennen, Ihrer Meinung nach?»
Verdammt noch mal, langsam reicht es mir. «Entweder du spielst ein abartiges Spiel mit mir, oder ich sollte dich schleunigst ins Krankenhaus bringen. Wir sind verlobt, Jo. Wir leben zusammen.»
Ihre Gesichtszüge entgleisen. Das ist kein Spiel. Sie erkennt mich tatsächlich nicht.
Plötzlich schnellt ihre Hand ohne Vorwarnung nach oben, etwas fliegt auf mich zu, ich drehe mich reflexartig zur Seite, doch es ist zu spät. Der Glaswürfel trifft mich an der Schulter und jagt ein Schmerzfeuerwerk durch meinen ganzen Oberkörper. Ich höre mich selbst aufstöhnen, mir wird schlagartig übel, gleichzeitig habe ich das Gefühl, als trete mir jemand in die Kniekehlen. Meine Beine knicken ein, ich falle schwer auf die Knie und stöhne noch einmal auf. Joanna huscht wie ein dunkler Schatten an mir vorbei und verschwindet im nächsten Moment aus meinem Blickfeld.
Vorsichtig taste ich meine Schulter ab.
Ich glaubte, Joanna mittlerweile recht gut zu kennen, doch nun kommt sie mir so fremd vor, als stecke eine andere Frau in ihrem Körper.
Der Schmerz in der Schulter lässt langsam nach. Ich stütze mich auf dem Boden ab und stemme mich hoch. Das Wohnzimmer schwankt, ich mache zwei, drei vorsichtige Schritte, bis ich mich gegen einen Sesselrücken lehnen kann. Mein Blick wandert zur offen stehenden Wohnzimmertür. Ob Joanna nach draußen gerannt ist? Vielleicht ruft sie sogar die Polizei.
Sie ist krank, daran zweifle ich jetzt nicht mehr. Vielleicht war sie das schon immer. Vielleicht weiß sie es auch und hat mir nur nichts davon gesagt. Vielleicht … ja, vielleicht habe ich die wahre Joanna bisher gar nicht gekannt. Nein, das kann, das darf nicht sein. Ich richte mich auf und schaue mich prüfend um. Nichts schwankt, ich stehe wieder sicher.
Ob ich selbst die Polizei rufen soll? Quatsch, was soll die Polizei hier? Es hat keinen Einbruch gegeben. Meine Verlobte hat den Verstand verloren, aber dafür ist wohl eher ein Arzt zuständig. Ein Psychiater. Ich könnte einen Notarzt rufen. Der wird sie wahrscheinlich sofort in eine Psychiatrische Klinik einweisen lassen, wenn er sie so erlebt. Und wenn sie erst mal in diese Mühlen geraten ist … zumal als Ausländerin mit bisher nur zeitlich begrenzter Aufenthaltserlaubnis. Nein, ich muss erst noch mal mit ihr reden. Wer weiß, was passiert ist, vielleicht ist sie einfach nur völlig verwirrt. Warum auch immer.
Ich schalte das Licht in der Diele ein, und ein heftiger Schmerz durchzuckt die getroffene Schulter. Ich atme tief durch und schaue mich um. Die Haustür ist geschlossen. Wenn Joanna rausgelaufen wäre, hätte sie sie entweder offen gelassen oder aber hastig zugeschlagen, aufgelöst, wie sie ist. Das hätte ich gehört.
Also ist sie wahrscheinlich noch im Haus. Ich gehe zur Treppe, schaue nach oben, aber dann halte ich inne. Etwas stimmt hier nicht. Ich spüre es genau. Langsam drehe ich mich um und lasse meinen Blick wieder durch die Diele wandern. Die Haustür, die Kommode daneben, Zettel auf dem Fußboden, die Garderobe … Die Garderobe. Eine Faust bohrt sich mir in den Magen. Meine Sachen. Sie fehlen. Dort, wo normalerweise zwei meiner Jacken hängen, sind die Haken leer. Darunter, auf dem Regal … Ihre Turnschuhe, drei Paar Freizeitschuhe in verschiedenen Farben, das war’s. Sie gehören alle ihr. Was zum Teufel ist hier los?
Ich gebe mir einen Ruck, ich muss das herausfinden. Ohne zu zögern gehe ich zur Haustür, öffne sie und werfe einen Blick hinaus. Draußen ist alles ruhig. Die Tür fällt laut ins Schloss zurück. Ich sperre lieber ab, sicher ist sicher. Dann steige ich mit festen Schritten die Treppe nach oben. Joanna soll mich ruhig hören, sie soll wissen, dass ich zu ihr komme. Ich möchte jetzt endlich begreifen, was hier läuft.
Ein Blick ins Badezimmer: Es ist leer. Mit grimmiger Entschlossenheit gehe ich auf die Schlafzimmertür zu, lege die Hand auf die Klinke, drücke sie herunter. Abgesperrt. Aha.
«Joanna.» Es klingt energisch. Nicht wütend, aber doch so, dass sie merkt, es ist mir ernst. «Joanna, lass jetzt den Quatsch. Öffne die Tür, damit wir miteinander reden können. Ich tue dir doch nichts, verdammt.»
Stille. Ich warte. Zehn Sekunden, fünfzehn … Nichts. «Joanna, jetzt denk doch bitte mal nach. Wenn ich dir wirklich was tun wollte, glaubst du, dieses lächerliche Türschloss könnte mich dann davon abhalten, zu dir ins Schlafzimmer zu kommen? Ein Tritt, und es fliegt zum Teufel. Aber ich möchte die Tür nicht zerstören, weil es auch meine Tür ist, verstehst du? Wir wohnen hier zusammen. Und wenn es dir so vorkommt, als stimme das nicht, dann werden wir … Moment. Joanna. Hörst du mich?»
Ich merke, dass ich sehr schnell rede. Das habe ich schon immer getan, wenn ich einen Einfall hatte, den ich dringend erzählen wollte.
«Ich habe eine Idee, Jo. Hörst du? Frag mich was. Etwas, das nur ich wissen kann. Das ich wissen muss, wenn wir zusammen in diesem Haus wohnen. Okay? Dann wirst du sehen. Na los, stell mir eine Frage, egal was.»
Wieder herrscht eine Zeitlang Stille, aber dann glaube ich, Geräusche hinter der Tür zu hören. An der Tür. Klack. Die Klinke wird heruntergedrückt, die Tür schwingt langsam nach innen auf. Gott sei Dank.
Joanna steht seitlich vor mir und schaut mich ängstlich an, die Klinke noch in der Hand. Mein Blick richtet sich an ihr vorbei ins Schlafzimmer. Eine eiskalte Hand greift nach meinem Herz. Und zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, dass es vielleicht gar nicht Joanna ist, die den Verstand verloren hat. Sondern ich.
Meine Bettdecke, mein Kopfkissen … Mein Kleiderschrank … Alles ist verschwunden.
Alles, alles habe ich falsch gemacht, einen Fehler nach dem anderen, das wird mir jetzt klar. Jetzt, während der Fremde an der Türklinke rüttelt.
Sackgasse. Kein Ausweg. Warum bin ich nicht nach draußen gelaufen, statt mich selbst einzusperren? Weil ich mich in meinem eigenen Schlafzimmer geborgener fühle? Was für ein Trugschluss. Hier sitze ich in der Falle, es gibt keinen Notausgang, nur das Fenster.
«Joanna.»
Ich schließe die Augen, presse die Daumenballen dagegen. Geh weg, denke ich, geh doch einfach weg.
«Joanna, lass jetzt den Quatsch. Öffne die Tür, damit wir miteinander reden können. Ich tue dir doch nichts, verdammt.»
Genau. Wir sind ja schließlich verlobt.
Gleich fange ich an zu lachen, aus reiner Hysterie, und dann werde ich nicht mehr aufhören können. Ich atme tief durch und bohre mir die Fingernägel in die Handflächen, bis der Drang nachlässt.
Was weiß ich über Menschen mit Wahnvorstellungen? Eigentlich nichts. Dass man ihnen recht geben soll, um sie nicht zu reizen, daran glaube ich mich zu erinnern.
«Joanna, jetzt denk doch bitte mal nach. Wenn ich dir wirklich was tun wollte, glaubst du, dieses lächerliche Türschloss könnte mich dann davon abhalten, zu dir ins Schlafzimmer zu kommen? Ein Tritt, und es fliegt zum Teufel.»
Sofort rücke ich von der Tür ab. Er spricht weiter, erzählt irgendwas davon, dass es auch seine Tür ist und er sie deshalb nicht kaputt treten möchte, aber mir ist völlig klar, dass er es früher oder später doch tun wird, wenn ich nicht aufmache.
Hektisch blicke ich mich um. Nach einer Waffe, etwas Schwerem. Beim nächsten Mal treffe ich richtig. Setze ihn außer Gefecht. Nur habe ich hier nichts, was sich dafür eignen würde. Ich müsste eine Vorhangstange abmontieren, doch dafür bleibt mir bestimmt nicht genug Zeit.
«Ich habe eine Idee, Jo. Hörst du? Frag mich was. Etwas, das ich nur wissen kann, wenn ich hier mit dir wohne.»
Ich muss an mein Handy. Oder raus auf die Straße, aber beides ist nur möglich, wenn ich diese Tür öffne. Und alle Risiken in Kauf nehme, die damit verbunden sind.
Mir ist übel.
«Na los, stell mir eine Frage, egal was.» Der Mann da draußen klingt jetzt hoffnungsvoll.
Er müsste angeschlagen sein. Der Briefbeschwerer hat ihn getroffen, und ich habe so hart geworfen, wie ich konnte. Ich müsste eine Chance gegen ihn haben.
Okay. Wenn, dann schnell. So, wie man ein Pflaster abzieht. Ich drehe den Schlüssel und mache die Tür auf, im selben Moment wird mir klar, dass ich immer noch im Bademantel dastehe, ich dämliche, dämliche Kuh.
Einen Moment lang lächelt der Mann mich an, dann fällt sein Blick an mir vorbei ins Schlafzimmer. Das Lächeln erlischt mit einem Schlag, wird abgelöst von … Fassungslosigkeit. Ungläubigkeit.
Wer weiß, was er sieht, was seine Krankheit ihm vorgaukelt. Vielleicht steht er ja auch unter Drogen.
Die Gelegenheit ist zu gut, um sie aus Angst verstreichen zu lassen. Ich schlüpfe durch die Tür, quetsche mich an ihm vorbei, gleich bin ich an der Treppe, und dann …
Ich schaffe genau zwei Schritte, dann ist er bei mir und packt mich am Oberarm.
«Bleib hier.» Es klingt eher bittend als drohend, aber der Griff um meinen Arm lockert sich dennoch nicht. «Wir reden jetzt miteinander, gut? Jo? Lass uns reden, bitte.»
Ich versuche noch einmal, mich loszureißen. Wenn ich an mein Handy komme und mich unten in die Toilette einschließen kann …
Doch obwohl seine Schulter ihm sichtlich zu schaffen macht, habe ich keine Chance gegen ihn. Er zieht mich wieder ins Schlafzimmer, schließt die Tür und lehnt sich dagegen.
Meine Angst kehrt zurück, mit voller Wucht. Ich könnte immer noch versuchen, das Fenster zu öffnen und hinauszubrüllen. Ja, das hätte ich gleich machen sollen. Statt die Tür aufzusperren.
Der Fremde lässt mich keine Sekunde lang aus den Augen. Schüttelt langsam den Kopf. Atmet zittrig ein. «Du erkennst mich wirklich nicht, oder?»
«Nein. Wirklich nicht.»
Er lacht kurz auf, es klingt alles andere als heiter. «Dann hast du wahrscheinlich auch keine Ahnung, was mit meinen Sachen passiert ist.»
Wie bitte? Seinen Sachen?
Die Ratlosigkeit muss mir deutlich ins Gesicht geschrieben stehen, denn der Fremde weist mit ausgestrecktem Finger auf das Bett.
«Meine Decke. Mein Kissen. War beides noch hier, als ich heute Morgen aufgestanden bin. Von meinem Kleiderschrank ganz zu schweigen. Oder den Schuhen und Jacken unten in der Garderobe.» Er kommt einen Schritt auf mich zu, bleibt aber stehen, als ich zurückweiche.
«Wenn ich ins Bad gehe, finde ich dort auch meine Zahnbürste nicht mehr, richtig? Mein Aftershave? Mein Duschgel?»
Er muss sich eine ganze Welt zusammengesponnen haben, in allen Details. Ein Leben, das es nicht gibt.
Was, wenn ich mitspiele? Einfach so tue, als würde mir nach und nach alles wieder einfallen? Würde er mir das jetzt noch glauben?
Ich sehe ihm direkt in die Augen, obwohl es mir schwerfällt, den Blick nicht abzuwenden. Da ist etwas an ihm, das mich wünschen lässt, ich hätte ein Messer. Mit dem ich zustechen könnte. Immer wieder.
Mein Gott, was denke ich da eigentlich?
Ich presse die Hände gegen die Stirn, und der Drang, mich gewaltsam aus dieser Situation zu befreien, verschwindet. «Sie irren sich. Ich wohne allein hier, seit ich dieses Haus gemietet habe. Es gibt kein zweites Kissen und keine zweite Decke und ganz bestimmt auch kein Aftershave im Bad.»
«Verdammt noch mal, Joanna.» Er versucht so etwas wie ein Lächeln. «Was soll ich nur mit dir machen?»
Die Frage lässt mich erneut zurückweichen. Nichts, gar nichts soll er mit mir machen. Er soll nur gehen.
«Ich fand Ihren Vorschlag gut, vorhin.» Meine Stimme schwankt ein wenig. «Wir machen es so, wie Sie wollten. Ich stelle Ihnen Fragen, die Sie nur beantworten können, wenn Sie wirklich hier wohnen. Und wenn Sie mich so gut kennen, wie Sie behaupten.»
Er nickt, während sein Blick über das Bett, die Wände, den Boden irrt. Sich schließlich wieder an mir verhakt.
«Okay.» Ich durchforste meine Erinnerungen, suche nach etwas, das auch der gewitzteste Stalker nicht herausfinden kann. Fakten, die weder auf Facebook noch auf meiner Homepage aufscheinen.
Aber der Stress fordert seinen Tribut, mir fällt nur banales Zeug ein, nichts Eindeutiges. Nichts, womit er mich überzeugen könnte, wenn er es wüsste.
Also beginne ich mit etwas Beliebigem. Einer alten Gewohnheit. «Sie haben natürlich herausgefunden, was ich beruflich mache.»
«Du bist Fotografin.» Er sagt es langsam, aber ohne zu zögern. «Du machst ein Praktikum bei Manuel Helfrich, weil du seine Arbeit so bewunderst, das ist einer der Gründe, weswegen du nach Deutschland gekommen bist. Deine Bilder sind wunderbar, ich liebe deine Porträts. Du hast mich so oft fotografiert …»
Ich will etwas einwenden, doch er lässt mich nicht zu Wort kommen. «Du hattest ein Lieblingsbild von mir», sagt er, «das hast du gerahmt, und bis heute Morgen hing es genau dort.» Er deutet an die Wand, an eine Stelle über der Kommode.
«Das ist erstens Blödsinn, und zweitens habe ich danach nicht gefragt!» Noch während ich das sage, wird mir bewusst, wie unvorsichtig das ist. Nur weil er mir bisher nichts angetan hat, muss das noch lange nicht so bleiben. Ihn vor den Kopf zu stoßen ist eine schlechte Idee.
«Entschuldigung», murmele ich. «Aber ich würde jetzt gerne meine Frage stellen.»
Er nickt. Fordert mich mit einer mutlosen Geste zum Weitersprechen auf.
«Wenn ich Leute fotografiere, die nervös sind und sich vor der Kamera unwohl fühlen, spiele ich ihnen zu Beginn der Session immer ein Lied vor. Ein ganz bestimmtes. Welches ist das?»
Er öffnet den Mund. Schließt ihn wieder. «Das weiß ich nicht. Ich war ein paarmal bei dir im Studio, aber sobald Kunden kamen, hast du mich jedes Mal rausgeschmissen. Weil Dritte bei einer Fotositzung genauso wenig zu suchen haben wie bei einem Date, meintest du.»
Ich kann fühlen, wie mein Magen sich verkrampft. Er kennt das Lied nicht, wie erwartet – doch der Rest klingt stark nach mir. Eigentlich sogar wortwörtlich.
Aber das muss noch nichts heißen.
Neue Frage. Schnell.
«Wie lautet mein mittlerer Name?»
Wenn er mich kennt, dann kennt er den auch. Dann habe ich ihn raten lassen, so wie ich es bei allen neuen Bekanntschaften tue, meistens beim dritten oder vierten Glas Wein. Er wird gescheitert sein, wie alle anderen. Doch am Ende löse ich auf. Immer.
Der Fremde blickt zur Seite, als könne er nicht glauben, was ich ihn gerade gefragt habe. Einen Moment lang denke ich, er bricht gleich in Lachen aus. Als er wieder spricht, ist seine Stimme leise. «Du hast ihn mir nicht gesagt. Noch nicht. Du wolltest, dass ich ihn selbst errate, aber ich habe es bisher nicht geschafft.»
Mein Mund ist trocken, ich würde viel für einen Schluck Wasser geben. Wieder hat der Mann meine Frage nicht beantwortet, wieder liegt er mit dem, was er sagt, nahe an der Wahrheit.
Du wolltest, dass ich ihn selbst errate.
Er kann seine Informationen nicht nur aus dem Netz haben. Oder daher, dass er mir nachgeschlichen ist. Er muss mit Menschen gesprochen haben, die mich kennen. Die ihm erzählt haben, wie ich ticke, was ich mag, was ich verabscheue …
Er blockiert immer noch die Tür. Sein Blick wandert über mein Gesicht, als suche er dort etwas, das verlorengegangen ist.
«Noch eine Frage», sagt er. «Etwas anderes, etwas, das mehr mit dir selbst zu tun hat, mit deiner Geschichte, mit diesem Haus, mit unserem Leben.»
«Ich habe Ihnen zwei Fragen gestellt, und Sie konnten mir keine davon beantworten.»
Er schließt gequält die Augen. «Bitte», sagt er. «Hör auf, so mit mir zu sprechen. Sie zu sagen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie …» Er unterbricht sich selbst. «Du weißt nicht mehr, wie ich heiße, oder?»
Ich verschränke die Arme vor der Brust. «Das wusste ich noch nie.»
Fassungsloses Kopfschütteln. «Es ist so … unglaublich.»
«Tut mir leid. Aber zur Abwechslung könnte ja ich mal raten.» Jetzt wirkt der Mann verletzlich, und allmählich habe ich die Hoffnung, die Situation vielleicht doch in den Griff zu bekommen. So weit zumindest, dass ich aus diesem Zimmer fliehen kann.
Mein Vorschlag lässt die Augen des Fremden aufleuchten. «Ja – das ist eine großartige Idee! Vielleicht hat dein Unterbewusstsein die Information gespeichert, dann bekommen wir auch den Rest wieder zu fassen.» Er macht einen Schritt auf mich zu. «Nenne einfach den ersten Namen, der dir in den Sinn kommt», sagt er in beschwörendem Ton. «Ohne nachzudenken.»
Das tue ich, genau, wie er es verlangt, und das Ergebnis ist überraschend eindeutig: «Ben.»
Daneben. Das kann ich ganz klar an seinem Gesicht ablesen. In jeder anderen Situation würde seine Enttäuschung mein Mitleid wecken. Aber jetzt verschafft sie mir einen weiteren Vorteil, den ich ausnutzen muss.
«Okay, dann nicht Ben. Ich stelle Ihnen …, Entschuldigung, ich stelle dir noch eine Frage. Eine letzte, gut?»
Er nickt resigniert, auf eine Art, die zeigt, dass er sich nichts mehr davon erhofft.
«Dort in der Wand, über dem Schrank – siehst du es? Das kleine, runde Loch?»
Nein, tut er nicht, kann er gar nicht, von seiner Position aus. Ich winke ihn näher, auch wenn mir nicht wohl ist dabei. «Da, siehst du es? Woher stammt es?»
Ich trete zurück, um ihm Platz zu machen. Einen Schritt, noch einen, in Richtung Tür. Wenn er sieht, dass da gar nichts ist, will ich schon draußen sein und so viel Abstand zwischen uns gebracht haben, dass er mich nicht mehr erwischen kann.
«Da war doch nie …», höre ich ihn noch sagen, als ich schon die Tür aufreiße, auf den Flur renne, da ist die Treppe, schnell, immer zwei Stufen auf einmal, nur jetzt bitte, bitte nicht hinfallen.
«Joanna!»
Natürlich kommt er mir nach, aber ich bin fast schon unten, fast schon an der Tür …
Die abgesperrt ist.
Mein Schlüsselbund hängt am Haken, wo er hingehört. Ich greife danach, er rutscht mir aus den Fingern, fällt klirrend zu Boden.
«Jo! Bitte, du kannst doch so nicht rauslaufen!»
Ich habe ihn wieder, den Schlüssel, und es bleibt noch Zeit. Ich treffe das Schloss gleich beim ersten Mal, drehe ihn einmal herum, zweimal, drücke die Klinke hinunter. Kühle Abendluft schlägt mir entgegen.
Dann ein Ruck. Ich werde zurückgerissen mit einer Wucht, die mich zu Boden gehen lässt. Im nächsten Moment fällt die Tür donnernd wieder ins Schloss.
Ich springe auf, will an ihm vorbei, solange er noch nicht wieder abgesperrt hat, doch er packt meine Arme, so fest, dass ich aufschreie.
«Willst du wirklich, dass sie dich alle so sehen?», brüllt er. «Legst du es darauf an, dass sie dich einliefern?»
Ich wehre mich gegen seinen Griff, mit aller Kraft, aber ich habe keine Chance. Also lasse ich mich einfach fallen.
Damit hat er nicht gerechnet, ich bringe ihn aus dem Gleichgewicht, fast fällt er auf mich. Im letzten Moment dreht er sich zur Seite, ohne meine Handgelenke loszulassen.
Erst jetzt merke ich, dass ich weine.
Er sieht es auch. Legt seine Stirn gegen meine, sein Atem geht stoßweise. «Du brauchst Hilfe, Jo.»
Damit hat er verdammt recht. Und sobald er mich loslässt …
«Sieh mich an», verlangt er. Seine Stimme klingt, als wäre er selbst den Tränen nah.
Ich tue, was er sagt. Unsere Gesichter sind so eng beieinander, dass ich für einen Moment befürchte, er will mich küssen.
«Lassen Sie … lass mich los.»
Er schüttelt den Kopf. «Erik», stößt er hervor. «Ich bin Erik.» Er wartet, als würde er tatsächlich glauben, der Name könnte mir etwas sagen.
«Erik», wiederhole ich folgsam und fühle, wie sich im nächsten Moment sein Griff lockert, als wäre der Name ein Passwort.
Ich befreie meine Hände mit einem Ruck, bäume mich auf, versuche, ihn von mir zu stoßen, doch schon im nächsten Moment drückt das Gewicht des Mannes mich wieder zu Boden. Sein Atem ist heiß in meinem Gesicht.
«Tu das nicht, Jo. Ich will dir doch helfen. Und ich werde dir helfen.»
Sein letztes Wort wird von einem lauten Gong untermalt. Die Klingel. Jemand ist an der Tür.
Ich fahre zusammen. Nie zuvor ist mir die Türklingel so laut erschienen wie in diesem Moment. Joannas Gegenwehr erstirbt augenblicklich, ich fühle sie unter mir erstarren.
In ihren Augen blitzt die Hoffnung auf, dass vor der Tür jemand steht, der ihr hilft. Meine Gedanken überschlagen sich. Wir erwarten niemanden.
Irrsinnigerweise habe ich ein schlechtes Gewissen, mehr noch, ich spüre einen Anflug von Panik. Gerade so, als wäre ich wirklich ein Einbrecher oder ein Verrückter.
Ich wische den Gedanken beiseite, das ist ja lächerlich. Aber ich möchte nicht, dass jemand Joanna in diesem Zustand sieht. Kann es sein, dass sie die Polizei gerufen hat?
«Hilfe! Bitte helfen Sie mir!» Joannas Mund ist nur wenige Zentimeter von meinem Ohr entfernt. Ihr Schreien hinterlässt einen hohen, schmerzhaften Ton in meinem Kopf.
«Verdammt, sei doch still», zische ich ihr zu und widerstehe dem Impuls, ihr die Hand auf den Mund zu legen. Im selben Moment wird mir bewusst, dass ich schnell reagieren muss, wenn die Situation nicht eskalieren soll. Ich drehe mich zur Seite und gebe Joannas Körper frei. Noch bevor ich mich vollkommen aufgerichtet habe, ist sie schon aufgesprungen und an der Tür, reißt sie auf und macht einen Satz nach draußen. «Gott sei Dank», stößt sie hervor. «Ich bin überfallen worden, dieser Mann ist in mein Haus eingedrungen.»
Das Herz schlägt mir bis in den Hals. Die offene Tür versperrt mir den Blick. Ich muss zwei Schritte zur Seite treten, dann stehe ich Bernhard Morbach gegenüber. Er schaut mich überrascht an, Joanna kauert hinter ihm.
Bernhard ist Abteilungsleiter bei Gabor Energy Engineering. Er war noch nie bei mir zu Hause, aber die Notebooktasche über seiner Schulter lässt mich ahnen, was der Grund für diese Premiere ist. Ausgerechnet jetzt. Der Tag heute in der Firma war sowieso schon eigenartig genug, ohne dass ich beschreiben könnte, woran genau es gelegen hat. Wenn nun Bernhard morgen noch herumerzählt, was er gerade hier erlebt …
«Erik …» Bernhard wendet sich irritiert zu Joanna um, die ihren Bademantel am Hals zusammenhält. Er mustert sie von oben bis unten und sieht dann mich an. «Ich verstehe nicht. Was ist hier los?»
Als Joanna meinen Namen hört, werden ihre Augen größer. Ich sehe ihr die Verwirrung an, sehe, wie sie einen Schritt zurück macht, und mir wird klar, was als Nächstes passieren wird. Mir bleibt keine Wahl. Noch während sie sich umdreht um wegzulaufen, bin ich mit einigen großen Schritten an Bernhard vorbei. Von hinten lege ich einen Arm um Joannas Brust und Oberarme. «Jo, bitte», zische ich ihr zu, als sie versucht, sich aus meiner Umklammerung zu befreien. «Du musst wieder reinkommen.»
«Auf keinen Fall! Sie stecken doch beide unter einer Decke. Lassen Sie mich.» Joannas Brustkorb dehnt sich unter einem tiefen Atemzug, doch bevor sie schreien kann, presse ich meine Hand auf ihren Mund. Hastig sehe ich mich um und registriere Bernhards ungläubigen Blick, aber jetzt ist keine Zeit für lange Erklärungen.
«Komm mit», keuche ich und schleife die sich windende und nach mir tretende Joanna unter Aufbietung aller Kraft zurück ins Haus. Sie versucht, mir in die Handfläche zu beißen, aber ich gebe nicht nach.
Endlich habe ich es bis in die Diele geschafft. Bernhard folgt uns tatsächlich ins Haus. Ich lasse Joanna los, haste zur Tür und schlage sie zu. Mit einer schnellen Bewegung drehe ich den Schlüssel im Schloss und ziehe ihn ab, während irgendwo hinter mir mit einem dumpfen Knall eine weitere Tür zugeschlagen wird. Langsam wende ich mich um und atme durch.
«Sie … ist da rein», bringt Bernhard hervor und deutet zur Küche. «Kannst du mir sagen, was das alles zu bedeuten hat? Ich meine … das ist doch die Joanna, von der du schon öfter erzählt hast?»
Ich signalisiere ihm mit der Hand, dass er sich gedulden soll.
Die Küche ist leer. Joanna ist entweder ins Wohnzimmer gelaufen, oder sie hat sich in der Vorratskammer versteckt. Mit ein paar Schritten habe ich die Tür erreicht, lege die Hand auf die Klinke. Abgeschlossen. In ihrer Verwirrung hat Joanna sich also ausgerechnet im einzigen fensterlosen Raum des Erdgeschosses versteckt.
Ich wende mich ab und gehe zu Bernhard zurück, der nervös in der Diele auf und ab wandert.
«Sie hat sich in der Vorratskammer eingeschlossen», beginne ich meine Erklärung und bleibe stehen. «Ich weiß nicht, was los ist, aber Jo ist vollkommen durcheinander. Seit ich heute Abend nach Hause gekommen bin, erkennt sie mich nicht mehr. Ich möchte nicht, dass jemand sie so sieht, deshalb …» Ich zögere und überlege, dass dieser Erklärungsversuch auf Bernhard seltsam wirken muss. Er steht da und schaut mich ratlos an.
Ich schüttele den Kopf. «Tut mir leid, dass du Jo so kennenlernst. Sie ist normalerweise ganz anders. Ich verstehe das auch nicht. Du weißt ja, dass sie Australierin ist, sie soll eigentlich bald zurück, aber das möchte sie nicht, weil wir … Und ich will auch unbedingt, dass sie hierbleibt. Aber wenn jemand sie in diesem Zustand sieht, wird man sie für verrückt halten. Dann wird alles noch viel komplizierter, verstehst du? Deswegen habe ich sie … Deswegen möchte ich nicht, dass sie draußen schreiend herumrennt.»
Endlich nimmt Bernhard seine Tasche von der Schulter und stellt sie neben sich an der Wand ab. «Verstehe …» Sein Gesicht drückt das genaue Gegenteil aus. «Hatte sie so was vorher schon mal?»
«Nein. So habe ich sie noch nie erlebt.» Ich schaue zur Küche hinüber. Von meinem Standort aus kann ich ein schmales Stück der Tür zur Vorratskammer sehen. Was tut Joanna jetzt dadrinnen? Was geht in ihr vor? Sitzt sie vor Angst zitternd auf dem Boden und denkt darüber nach, wie sie dem Verrückten entkommen kann, der in ihr Haus eingedrungen ist und behauptet, hier mit ihr zusammenzuleben?
Ich wende mich ab und wische mir mit einer schnellen Bewegung über die Augen, bevor ich Bernhard wieder ansehe. «Heute Morgen war alles noch in bester Ordnung. Sie war gut gelaunt, als ich losgefahren bin. Irgendwann im Laufe des Tages muss etwas vorgefallen sein, das diese … Verwirrung ausgelöst hat. Ich hoffe, das wird sich von selbst wieder legen, sonst weiß ich nicht, was ich tun soll.» Ich reiße mich zusammen, diese Gedanken helfen jetzt niemandem weiter. Mein Blick streift die Notebooktasche am Boden. Ich deute mit dem Kinn darauf. «Ist das der Grund deines Besuchs?»
«Was? Ach so, ja. Ich fliege morgen früh nach London und kann die Präsentation nicht mehr finden, die einer deiner Jungs mir heute Nachmittag von meinem Arbeitsplatz aus auf das Notebook übertragen hat.» Er stockt und schaut kurz zur Küche herüber. «Aber ich sehe schon, es ist jetzt ein ungünstiger Moment, ich versuche es bei Alex.»
Er hat recht, der Moment ist äußerst ungünstig, aber ich werde auf keinen Fall zulassen, dass auch Alex gleich noch erfährt, was bei uns los ist. «Ach Quatsch», sage ich deshalb und deute in Richtung des Wohnzimmers. «Komm mit, wir schauen uns das mal an.»
Wir sitzen beide auf der Couch, als ich den Computer anschalte. Interessiert blickt Bernhard auf das Display und tut so, als könne er mit den Systemmeldungen beim Hochfahren etwas anfangen.
«Was machst du eigentlich in London?», frage ich, um die Zeit zu überbrücken. Bernhard zögert.
«Ach, das ist wegen dieses neuen Projektes. Du hast ja davon gehört.» Er senkt den Blick.
«Oh. Das. Ja, ich habe mitbekommen, dass es bald so weit ist. Aber nur durch Zufall. Wie du sicher weißt.» Der alte Ärger kommt wieder hoch.
Die Sache ist Bernhard sichtlich unangenehm. Während ich versuche, mich wieder auf das Notebook zu konzentrieren, wandert sein Blick in Richtung Küche. Er sucht etwas, um das Thema zu wechseln.
«Es geht mich ja nichts an, aber ich war ja nun mal gerade bei dieser … Situation dabei, und ich musste an eine Bekannte denken. Der ging es mal ganz ähnlich. Es war bald wieder vorüber, aber sie hat damals überhaupt niemanden mehr erkannt. Nur ist sie auch noch aggressiv geworden, gegen sich selbst und andere. Schlimme Sache. Ist das bei Joanna auch so? Ich meine … Du sagtest, sie erkennt dich plötzlich nicht mehr. Aber ist sie auch auf dich losgegangen?»
Ich finde die Frage merkwürdig, aber merkwürdige Situationen ziehen wohl auch merkwürdige Fragen nach sich. Und das, was Bernhard erlebt hat, seit er vor unserer Tür angekommen ist, legt Fragen dieser Art wahrscheinlich nahe. Zudem ist ihm diese Sache mit dem neuen Projekt sichtlich unangenehm. Letztendlich kann ich froh sein, dass er so reagiert und nicht einfach gegangen ist, bevor ich überhaupt die Gelegenheit hatte, etwas zu erklären.
«Sie hat etwas nach mir geworfen, aber das war eine ganz normale Reaktion, aus Angst. Immerhin geht sie davon aus, ich sei ein Fremder, der in ihr Haus eingedrungen ist. Sonst war nichts, aber das reicht mir auch völlig.»
Bernhard nickt. «Na ja, dann ist es zumindest anders als bei meiner Bekannten. Wer weiß, vielleicht geht es ihr morgen früh schon wieder besser?»
«Ja, das hoffe ich sehr.» Ich merke, dass ich das Display des Notebooks anstarre, ohne irgendetwas zu sehen.
Trotzdem brauche ich nicht lange, um die gesuchte Präsentation im Papierkorb zu finden. Jemand hat sie gelöscht. Das war bestimmt Bernhard selbst, aber wenn ich ihm das sage, wird er es weit von sich weisen. So, wie es fast alle Computernutzer tun, wenn sie etwas verbockt haben. Außerdem bin ich froh, wenn er wieder weg ist und ich mich um Joanna kümmern kann.
Ich stelle die Datei wieder her und öffne sie. «Ist das die Präsentation?»
Bernhard klickt ein paarmal hin und her, dann nickt er erleichtert. «Ja, das ist sie. Gott sei Dank. Wo war sie?»
«Du konntest sie nicht finden», weiche ich aus.
Ich klappe das Notebook zu und stehe auf. Bernhard zögert noch. «Sag mal, kann ich dir irgendwie helfen? Ich meine, wenn ich etwas für dich und Joanna tun kann …»
«Nein, danke. Ich werde jetzt in Ruhe mit ihr reden. Ich bin sicher, es geht ihr bald wieder besser. Sie hat eine Menge Behördengänge und Papierkram vor sich, vielleicht ist sie einfach nur gestresst.»
Ich hoffe, Bernhard hört meiner Stimme nicht an, wie wenig ich selbst von dem überzeugt bin, was ich gerade gesagt habe. Er packt den Computer in die Tasche und erhebt sich ebenfalls.
«Also gut. Ich würde mir an deiner Stelle überlegen, ob ich morgen früh in die Firma gehe.»
So weit habe ich noch gar nicht gedacht. Was, wenn sich Joannas Zustand bis morgen früh nicht gebessert hat? Wenn sie noch immer der Meinung ist, ich sei irgendein fremder Spinner, der in ihr Haus eingedrungen ist?
«Mal sehen. Ich denke aber, das wird schon gehen.»
Ich begleite ihn zur Tür. In der Diele bleibt er stehen, die Augen auf den Durchgang zur Küche gerichtet. «Soll ich vielleicht mal versuchen, mit ihr zu reden? Wenn ich ihr auch versichere, dass sie mit dir zusammen hier wohnt, vielleicht glaubt sie dir dann?»
Es ist sicher gut gemeint, aber ich möchte nicht, dass in dieser Situation jemand mit ihr redet, der ihr tatsächlich fremd ist. Außerdem hat sie ja eben schon klargestellt, dass sie denkt, wir beide steckten unter einer Decke. Nein, wenn es jemand schaffen kann, Joannas Erinnerungen an mich wieder zurückzuholen, dann bin ich das selbst.
«Danke, das ist nett von dir, aber ich denke, es ist besser, wenn ich mit ihr spreche.»
Er zuckt die Achseln und wendet sich der Tür zu. «Also gut. Ich wünsche dir viel Glück und … Ja … Alles Gute.»
«Danke.»
Ich warte, bis er sich ein paar Schritte entfernt hat, dann gehe ich ins Haus zurück. Eine Weile bleibe ich am Kücheneingang stehen und starre die Tür zur Vorratskammer an. Nichts zu hören. Wahrscheinlich hockt Joanna auf dem Boden und lauscht ebenso angestrengt. Meine Joanna.
Ich gehe auf die Tür zu und hebe die Hand. Zögere. Und klopfe schließlich vorsichtig an.
«Jo?», sage ich so leise, dass sie mich wahrscheinlich gar nicht hören kann. Ich räuspere mich und wiederhole lauter: «Jo? Bitte, ich muss mit dir reden.»
Es ist dunkel, und der Lichtschalter ist draußen. Vor der verschlossenen Tür. Draußen sind auch die Stimmen. Die von dem Mann, der sich Erik nennt, und die von dem zweiten, der bloß dagestanden und zugesehen hat, wie ich von seinem Kumpel gewaltsam ins Haus zurückgezerrt wurde.
Sie reden, aber nicht sehr laut. Ich warte darauf, dass irgendwann ein Lachen kommt, einmütig und komplizenhaft, aber das passiert nicht. Ihre gedämpften Stimmen klingen ernst.
Eng ist es hier. Voll. Mit der rechten Hand ertaste ich eine vertraute Form, hart und rund. Eine Konservendose, vermutlich geschälte Tomaten. Gut. Das ist eine Waffe, mit der ich leben kann, sie fühlt sich tröstlich an zwischen meinen Händen.
Eine Zeitlang versuche ich noch, wenigstens Wortfetzen dessen zu verstehen, was die beiden Männer sprechen, dann gebe ich es auf.
Erik. Der Mann mit der Tasche über der Schulter hat diesen Namen wie selbstverständlich verwendet. Er war auch keine Sekunde lang erstaunt, den Fremden in meinem Haus zu sehen – wenn etwas ihn verblüfft hat, dann war ich das. Ich und mein Verhalten.
Das bedeutet, dieser … Erik muss ihm das gleiche verrückte Märchen aufgetischt haben wie mir. Dass er hier wohnt und eine Beziehung mit mir hat.
Also ist er vielleicht doch kein Komplize? Ich weiß es nicht. Keiner meiner Gedanken erscheint mir mehr logisch. Mein Kopf dröhnt, ich erinnere mich dunkel, ihn mir während meines missglückten Fluchtversuchs vorhin am Boden angeschlagen zu haben.
Aber zumindest weiß ich noch, wo ich die Flaschen mit Mineralwasser deponiert habe. Trinken hilft, die Kopfschmerzen lassen nach.
Etwas später höre ich, wie die Eingangstür ins Schloss fällt. Der Mann mit der Tasche ist gegangen, vermute ich, und er wird keinen Finger für mich rühren.
Ich kauere mich in meiner Ecke zusammen. Gleich wird die Pause vorbei sein, das Spiel weitergehen. Ich warte auf Eriks nächsten Zug, trotzdem lässt das plötzliche Klopfen an der Tür mein Herz einen Schlag aussetzen.
«Jo?» Seine Stimme ist leise und drängend. «Jo? Bitte, ich muss mit dir reden.»
Das also wieder. Diesmal bekommt er keine Antwort von mir. Schweigen. Totstellen.
«Jo? Hörst du mich nicht?» Wieder Klopfen. «Geht es dir gut? Ist alles in Ordnung?»
Und wenn nicht? Was machst du dann, Arschloch?
Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten. Ich höre ein Klirren, ganz offensichtlich durchstöbert der Kerl die Küchenschubladen. Kurze Stille, dann das Geräusch von Metall auf Metall, ganz nah.
Er hat etwas gefunden, um die Tür damit aufzubrechen.
«Ich bin okay.» Meine Stimme ist heiser vor Widerwillen, aber immerhin hört Erik auf, das Schloss zu bearbeiten.
«Gott sei Dank», sagt er. «Tut mir leid, dass ich dich vorhin so fest angefasst habe, aber …» Er stockt.
In mir kocht plötzlich Wut hoch, so übermächtig, dass sie meine Angst völlig verdrängt. Mit einem Mal wünsche ich mir fast, dass der Irre da draußen doch die Tür aufbricht und ich mich mit meiner ganzen Kraft gegen ihn werfen kann. Auf ihn einprügeln, bis er sich nicht mehr rührt. Oder auf ihn einstechen, wenn ich das große Küchenmesser zu fassen kriege …
Das Bild ist sehr lebendig in meinem Kopf, verselbständigt sich, und es gefällt mir erschreckend gut. Ich wusste nicht, dass Hilflosigkeit und Gewaltphantasien so unmittelbar Hand in Hand gehen können.
Aber bisher hat körperlicher Widerstand nichts genutzt. Im Gegenteil. Zeit, die Strategie zu ändern.
«Erik?» Ich lasse es klingen, als wäre ich den Tränen nah.
«Ja?»
«Kannst du das Licht für mich anmachen? Bitte?»
«Was? Ja, natürlich. Ich wusste nicht, dass du im Dunkeln sitzt.»
Die Sparlampe unter dem billigen Milchglasschirm an der Decke flackert auf, taucht die vollgestopften Regale in trübes Licht.
Die Dose in meiner Hand enthält tatsächlich geschälte Tomaten.
«Besser so?»
«Viel besser. Danke.»
Es entsteht eine kurze Pause. Als der Mann vor der Tür wieder spricht, ist seine Stimme mit meinem Kopf auf gleicher Höhe. Offenbar sitzt er auf dem Boden. Oder kniet.
«Hör mir zu, Jo. Wir kommen mit dieser Situation nicht alleine klar, wir brauchen Hilfe.» Er klingt erschöpft. Das ist gut. Irgendwann wird er schlafen müssen.
«Ich möchte morgen mit dir zu einem Arzt fahren, damit wir herausfinden, was passiert ist. Vielleicht war der Stress der letzten Wochen zu viel, oder …»
Er beendet den Satz nicht.
«Zu einem Arzt?», frage ich leise.
«Ja, Jo. Bevor es noch schlimmer wird. Wenn ich es nicht verhindert hätte, wärst du heute zweimal schreiend und halb nackt auf die Straße gelaufen. Ich will nicht, dass sie dich in die Psychiatrie einweisen, unsere Situation ist doch so schon schwierig genug.»
Sein Ton ist beschwörend und sanft zugleich, aber mir ist völlig klar, welche Absicht hinter seinen Worten steckt. Er will, dass ich an meinem Verstand zweifle, nicht an seinem.
«Du kannst dir nicht vorstellen, wie weh mir das tut, was da gerade passiert», fährt er fort. «Gestern hast du mir noch gesagt, dass du mich liebst, heute weißt du nicht einmal mehr, wer ich bin.»
Seine Worte werden leiser und leiser. Entweder, er glaubt selbst an das, was er da von sich gibt, oder er ist ein wirklich guter Schauspieler.
«Jo?»
«Ja?»
«Ich liebe dich, und ich finde es furchtbar, dir das antun zu müssen, aber ich kann dich diese Nacht nicht hier rauslassen. Ich kann nicht riskieren, dass du aus einem der Fenster um Hilfe schreist oder noch einmal versuchst, wegzulaufen.»
Wäre es nicht so traurig, müsste ich darüber lachen. Ich habe meine Zelle selbst gewählt, mich ausgerechnet an dem Ort eingeschlossen, von dem aus ich mich am wenigsten bemerkbar machen kann. Ich bin ein wirklich kooperatives Opfer.
«Aber ich bleibe hier», fügt er hinzu. «Ich lege mich direkt vor die Tür, ich lasse dich nicht alleine. Falls du etwas brauchst …»
Ich gebe ihm keine Antwort. Es war ja klar, dass er mir jeden Weg nach draußen abschneiden würde.
In den Regalen bewahre ich meinen Vorrat an sauberen Putztüchern auf, die lege ich mir unter den Kopf und schließe die Augen. Es ist von innen abgeschlossen, Erik kann also nicht zu mir herein. Ich könnte es riskieren, einzuschlafen, aber meine Gedanken kommen nicht zur Ruhe. Immer wieder kreisen sie um die Ereignisse dieses furchtbaren Abends, Augenblick für Augenblick. Sie lassen sich nicht wegdrängen …
Und dann, es müssen mindestens zwei Stunden vergangen sein, fügt sich mit einem Schlag alles zu einem Bild zusammen, glasklar und logisch bis ins letzte Detail.
Was Erik in erster Linie will, ist, dass ich ihm glaube. Dass ich denke, mit mir stimme etwas nicht. Deshalb lässt er diesen Freund hier aufkreuzen, der so tut, als sei Eriks Anwesenheit im Haus selbstverständlich. Wahrscheinlich darf ich in den nächsten Tagen noch mit einigen dieser Begegnungen rechnen.
Und dann der Arztbesuch. Der nächste Akt, gewissermaßen, in dem ich aus berufenem Mund erfahren werde, dass ich eine Schraube locker habe. Jede Wette.
Wenigstens über eines muss ich mir keine Sekunde länger den Kopf zerbrechen: über das Motiv meines fürsorglichen Verlobten auf der anderen Seite der Tür. Wenn man meinen Namen kennt, ist es kein großes Kunststück herauszufinden, wer ich bin. Und vor allem, wer mein Vater ist. Dann kann man durchaus einmal auf die kreative Idee kommen, mir einreden zu wollen, man wäre mit mir verlobt. Vielleicht glaube ich es ja eines Tages, und zack – schon hat man in die drittreichste Familie Australiens eingeheiratet.
Tja. Aber da ist Erik leider an die Falsche geraten.
Ich rolle mich zusammen, versuche, eine erträgliche Schlafposition zu finden, und schließe die Augen. Zumindest ist nicht zu befürchten, dass er beabsichtigt, mir im Schlaf die Kehle durchzuschneiden. Tote Milliardärstöchter kann man nicht mehr ausnehmen.