Fremde Wesen - Stefanie Gödeke - E-Book

Fremde Wesen E-Book

Stefanie Gödeke

0,0

Beschreibung

Auf der Suche nach ihren familiären Wurzeln erforscht Caroline das Leben der Frauen ihrer Herkunftsfamilie. Dabei entsteht ein fesselndes Panorama, das gesamte 20. Jahrhundert überspannend. In Ostpreußen verliebt sich vor 1933 die großbürgerliche Kaufmannstochter Luise in den ärmeren, von sozialem Mitgefühl geprägten und die NS-Mitgliedschaft verweigernden Förster Kalweit. Ihre Schwester Ottilie entflammt für die ungewöhnliche Jüdin Laura Seroka und macht mit ihr erste erotische Erfahrungen. Ein junger Mitarbeiter wird aus Rache an der Familie von den Nazis erschossen. Der junge Familien-Patriarch Erich Kalweit verschweigt für das Familien-Überleben die jüdisch-christliche Herkunft einzelner Familienmitglieder. In der scheinbaren Idylle sowohl in Ostpreußen als auch später im Westen kommen Schuld und gleichzeitiger mitmenschlicher Einsatz nur schleppend ans Licht. Sie tauchen bei den Töchtern Marthe und Anne als tragisches Element dunkler Lebensgeheimnisse wieder auf. Schaffen es die Nachgeborenen, die familiären Verflechtungen aufzulösen, ein neues Leben zu beginnen?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 405

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



„Wenn Unfreiheit die Abtötung von Leben ist, dann wird alles Private, jeder Gedanke und Wille, jede Regung des Individuums zu einem Antidotum gegen den psychischen Tod.“

Kazimierz Brandys

Personenverzeichnis Hauptfiguren:

Erich Kalweit, Forstamtmann

seine Schwester Irmgard

und Eltern, getötet auf Überfahrt nach Skandinavien

Luise Suhrkau

Ottilie Suhrkau (unverheiratet)

und deren Eltern Mathilde und Wilhelm Suhrkau, Kaufmannsfamilie

Kinder von Luise und Erich:

Marthe und Anne, Albert und Walther

Caroline, Tochter von Marthe, ihre Cousins

Karl von Rohwerder, Nachbar, Reichswehroffizier, NS-Funktionär

Lore von Belau, spätere Rohwerder, Schulkameradin Luises

Emma Porschke (Cousine von Luise und Ottilie)

Kutscher und Gutshofvorarbeiter Fritsche

Forstobermeister Gottschewsky

Laura Seroka, Freundin Ottilies, und ihre Eltern

Andrey Oschnewsky, polnischer Freund der Familie

Lydia, Kindermädchen von Marthe, deportiert

junger Russe jüdischer Herkunft als Zwangsarbeiter, ermordet

Jochen Werneck, zeitweise Ehemann Marthes

und seine Eltern

Ein Unbekannter

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Kapitel XXIX

Kapitel XXX

Epilog

Prolog

Eines Tages, als ich auf Reisen war zu meiner Großeltern Grabstätte, kam ein unbekannter Mann in einer Kleinstadt, die stets meine Zwischenstation war, auf mich zu. Wieder hatte ich auf dieser Durchfahrt infolge eines verwandtschaftlichen Treffens einen meiner Cousins dabei, der sich gerade verabschieden wollte. Verblüfft stand er da und starrte auf den Mann, während ich ein absurdes Gefühl bekam in Unwirklichkeit einzutreten. Der Mann blieb in einem Abstand von etwa zehn Metern vor mir stehen. Andere Passanten strömten wie rauschender Regen an uns vorbei, ein horizontaler rapider Niederschlag während der Einkaufszeit stellte sich ein, Geschäftigkeit war fühlbar und flink, der Feierabend vor dem müden Umfallen nahte. Der Mann war sehr groß und schwer gebaut, in einen langen dunklen Mantel gekleidet, ohne dick auszusehen. Seine Augen hielten meine fest und lenkten sie. Unbeirrt versuchte ich weiter zu gehen und wich ihm seitlich aus. Er holte sein Portemonnaie, schwarz und gebogen von Scheinen, aus dem Innenrevers seines Mantels und entnahm ein schmales, kleines Foto. Diesmal streckte mein Cousin die Hand danach aus. Es war eine Schwarz-Weiß-Fotografie aus den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, eine Nahaufnahme, schräg im Profil. Der Mann auf dem Foto war schon alt und trug einen Hut. Er hatte das gleiche Augenrund und die gleichen Augenringe wie ich, die gebogene Nase, die Wangenknochen, die Haarfarbe, den Teint. Dem Todesjahr zufolge war er gestorben, als ich noch ein Kind war. „Dein Vater war sehr, sehr viel älter als Deine Mutter, er war ein Leben auf einem anderen Kontinent gewöhnt, er hat Dich nicht gekannt“, sagte der Mann, der ebenfalls mit ihm vertraut oder verwandt zu sein schien. Er wirkte hilflos. Er setzte an zur Erklärung, in der auch Hamburg, Berlin und der Taunus vor langer Zeit vorkamen, und schwankte dabei, als wäre das Gehen doch besser. Mein Cousin begann ihn halb unwillkürlich, halb ärgerlich zu stützen. Ich fing an, mit einem krächzenden Laut zu lachen, der sich völlig fremd in meinen Ohren anhörte. Da wusste ich es. Eines Tages werde ich nicht mehr sein. Nicht auf diese Weise. Ich gehe ins Licht. In meine eigene Fotografie und verschwinde.

1. Kapitel

I

Meine Großmutter Luise erzählte immer gern und viel. Sie war eine der Personen, von denen man sagt, sie hören sich gern reden. Stets legte sie Wert darauf, dass ich diese und jene Bekannten, Nachbarn, Landsleute aus der alten Heimat oder weitläufige Verwandte bei der einen oder anderen Gelegenheit, die sich bot, kennenlernte. Bei all diesen Begegnungen wurde ich mit einem gewissen Stolz, der mich anfangs überraschte und mich später manches besser verstehen ließ, als ihre älteste Enkeltochter vorgestellt, und manches Mal konnte ich mir nicht verkneifen, genauer nachzufragen, worum es sich bei den mal geschwätzigen, mal informellen Plaudereien handelte. In einigen Situationen knüpfte ich selbst Gespräche mit mir kaum vertrauten Menschen an, je nach Art und Inhalt des Gesprochenen auch ohne Luises Beisein. Wenige Male ergab sich daraus Feindschaft, seltener Freundschaft, aber ein immer genaueres Bild der Ereignisse, von denen meine Großmutter sprach, und ein wachsender Zweifel an der Gewissheit, mit der sie an ihren Schilderungen festhielt. Ich suchte nach Fotos im alten Buffetschrank, nach Dokumenten aus der Zeit des zweiten Weltkriegs, Feldpost, Liebes-, Alltags- und Abschiedsbriefen, ich fand Testamente, Familienstammbäume, Ahnentafeln, Heirats- und Sterbeurkunden. Anlässlich verschiedener familiärer Zusammentreffen im Haus meiner Großmuttern sprach ich mit einigen meiner nächsten Verwandten über Vorkommnisse, die weit und nah zurücklagen, um ihre Sicht der Dinge zu erfahren. Manchmal belauschte ich Gespräche und Streitereien, die nicht für meine Ohren bestimmt waren. Ich besah mir die Fremde, die zwischen den Worten, den Gesten und den Gesichtern aller Beteiligten entstanden und über die Jahrzehnte angewachsen war, die Muster aus erzwungener Übereinkunft und existentieller Notwendigkeit, die die Luft zwischen ihren Körpern stark verästelte und sie wie ein Dickicht aus unausgesprochenen Gefühlen umgab, weil sie der Mythos einer einzelnen Frau umrankte, die ihre Familie zu beherrschen wusste und sich ein Leben lang selbst beherrschen ließ. Niemand von uns hat meiner Großmutter ausdauernd zu widerstehen vermocht, denn ihr zu widersprechen, andere Versionen des Erlebten nicht nur heimlich aufzuspüren, sondern auch zu verfechten, hätte bedeutet, ein Gesetz zu brechen, das unser aller Grundlage war. Ich ging oft auf dem schmalen Feldweg entlang, der links um das Haus herum zu den Maisfeldern und zu der alten Linde führte, und der dann in den Wald einbog. Unter der mächtigen Linde stand eine Holzbank, auf die ich mich ab und an setzte. Während des Laufens machte ich mir Gedanken, die auch um meine eigene Kindheit kreisten. Es dauerte Jahre, bis ich glaubte, genug zu wissen und das Ungewisse darin zu entdecken, und noch einmal so lange, bis ich mein Schweigen brach.

Das Elternhaus meiner Großmutter Luise Annabell Ida Suhrkau hatte einundzwanzig Zimmer. Es lag linkerhand der Hauptstraße von Darethen, in einem kleinen Ort etwa zehn Kilometer südlich vom heutigen Olsztyn, ehemaligen Allenstein entfernt, der bis 1945 zu Ostpreußen gehörte. Wie sich die Orte und Namensgebungen verändert haben, existiert dieses Haus nicht mehr. Reisende aus Polen berichteten, an seiner Stelle befänden sich dort inzwischen eine Tankstelle und ein Supermarkt. Während der Kindheit, Jugendzeit und der ersten Ehejahre Luises ist dieses mehrstöckige, in einem Winkel angelegte und mehrmals aus- und umgebaute Wohnhaus einer Kaufmannsfamilie, die sich über drei Generationen hinweg in den Stand großbürgerlichen Gutsbesitztums hevorgearbeitet hatte, Dreh- und Angelplatz regen geselligen und geschäftlichen Verkehrs gewesen. Hier wurden nicht nur, in einem Raum, den Luise mir als Ballsaal schilderte und der nach ihren Erzählungen mehr als zweihundert Menschen Platz bot, die den Jahreszeiten entsprechenden Feste gefeiert. Er wurde auch für gesellschaftliche Ereignisse genutzt, die für die beiden einzigen Töchter des Hauses eine willkommene Unterbrechung des steten, von Geschäftsinteresse und Mitarbeit geprägten Tagesablaufs darstellten. Im Parterre des Wohnhauses lag ein großes Gemischtwarengeschäft, das von der Familie mit Hilfe einiger Angestellten betrieben wurde. In einem Nebenraum, dem offiziellen Büro des Vaters, wurden alte Handelsbeziehungen erneuert und neue dazugewonnen, Abrechnungen getätigt, Bestellungen aufgenommen, der Schriftverkehr über jene Warenlieferungen geführt, die währenddessen im Gutshof angekommen waren, verladen und ausgepackt wurden. Eine Gaststätte, eine Mühle, die zur damaligen Zeit in ostpreußischer Provinz unerlässlichen Stallungen und Landbesitz, vor allem Getreidefelder, gehörten zu den zusätzlichen Einnahmequellen. Wie die Zimmeraufteilung zwischen der Familie Suhrkau und deren Dienstpersonal im einzelnen gestaltet worden war, ob es einen eigenen Gesindetrakt gab, ließ sich aus den Erzählungen meiner Großmutter nie entnehmen. Schemenhaft nur tauchten am Rande ihrer Bemerkungen einige Zimmer auf, in denen mehrere Dienstmädchen und eine Köchin aus- und eingingen und wohl auch schliefen. Es hat einen Kutscher gegeben namens Friedrich, von den Kindern allenthalben Fritsche gerufen, der die beiden Töchter, Luise und Ottilie, wenn es ihr Arbeitsalltag zuließ, dann und wann durch Wald und Flur fuhr.

Der Vater war, wie schon sein Vater und Großvater, von Beruf Gastwirt, ein tüchtiger, gewitzter Geschäftsmann, mit vielerlei Beziehungen zu den jüdischen Kaufmannsfamilien in der Stadt, die er wohlweislich nach und nach abbrach, als der Sozialdemokrat Otto Braun durch den Preußenputsch der Reichsregierung 1932 seines Amtes enthoben wurde. „Ihre Geschäfte stehen über kurz oder lang schlecht, mein Lieber, die alten Verbindungen taugen nicht für die neue Zeit“, hieß einer der Ratschläge, auf die sich Luise in diesem Zusammenhang besann. „Und anderes Verhalten kam in unserer Situation auch nicht in Frage, das war nun mal so“, beschied mir meine Großmutter mit Nachdruck. Ein Ausdruck der Brüskiertheit und eine von alters her in Pflichterfüllung geübte Entschlossenheit belebten ihr Gesicht wie ein Echo ihrer eigenen Worte, das jede meiner weiteren Nachfragen ins Reich der blasphemischen Unwissenheit abkommandierte.

Auf der Mutter Veranlassung hin schickte man die ältere der beiden Töchter, Luise, in ein Internat, so dass die französische Sprache, der Gesangunterricht, das Klavierspiel und das Abitur der höheren Töchterschule sie mit einem passenden savoir vivre ausstattete. Die jüngere Tochter wurde schon früh bis ins Detail mit dem Geschäftsgebaren vertraut gemacht, um auf eine Heirat mit dem ältesten Sohn einer nur unweit ansässigen Gutsbesitzerfamilie und auf die damit einhergehende Fusion der Besitzungen vorbereitet zu werden. Den alteingesessenen ostpreußischen Erbadelsfamilien, „selbstverständlich, das wussten wir, es gab ja viel Reichere als uns“, sagte Luise mit hochgezogenen Augenbrauen, war man durch Herkunft, die nicht durch Jahrhunderte geschliffenen Traditionen, und den mühsam erwirtschafteten Wohlstand unterlegen. Als meine Großmutter 1934 ihre große Liebe, den Forstbeamten Erich Kalweit heiratete, war sie dreiundzwanzig Jahre alt und wusste, was es hieß, in eigener Sache zu kämpfen: Ihren Mädchennamen hatte sie nach der Heirat nur widerwillig und mit einem gewissen Bedauern aufgegeben.

Jahre nach Beendigung des Krieges, dem blutig geplatzten Traum vom tausendjährigen Reich, der tote, beschädigte, hassende und verirrte Menschen in die für die meisten von ihnen Anstoß erregende Wirklichkeit entließ, nach der Flucht in den Westen Deutschlands, schickten Luise und Erich Kalweit sich noch einmal an, ihre Nostalgie durch eine Ansammlung sie dafür entschädigender Souvenire zu betäuben. Sie griffen auf einen später auch mir bekannten polnischen Aussiedler, einen gebürtigen Allensteiner namens Andrey Oschnewsky, zurück. Andrey war ein an meiner Familie mit einer gewissen Anhänglichkeit festhaltender, kleinwüchsiger und magerer Mann mit früh beginnender Glatze und einem seltenen Lächeln, das von unter herab quer über das ganze Gesicht lief, bevor es seine Augen erreichte. Er war mit meinen Großeltern durch eine tragisch endende Liaison mit einem ihrer ehemaligen Dienstmädchen verbunden und erwehrte sich den Ansprüchen des eingeschworenen Kreises ostpreußischer Landsmannschaft nicht. Ihn beauftragten sie, in die vertraute Landschaft zurückzukehren, in die Ortschaften ihrer Erinnerungen und der verlorenen Güter. Der letzte Familienwohnsitz in der ehemaligen Heimat sollte, ohne dass man sich selbst direkt dazu ins Verhältnis setzte, denn von Schuld, Scham und Schmerz als selbst verursachtem Übel war nie die Rede gewesen, in Augenschein genommen und begutachtet werden. Auf ihr Geheiß und eine Entlohnung zog der Mann aus, um auf polnischem Grund und Boden nach Schätzen zu suchen, die dort kurz vor dem Aufbruch mit dem Treck vergraben worden waren.

Von Allenstein über Darethen und Stabigotten am kleinen Bahnhof vorbei Richtung Süden fuhr Andrey auf einer einsamen Chaussee, die in einen holprigen Waldweg mündete, auf den Hohensteiner Forst zu. Inmitten dichter Kiefernbestände gab der Weg nach einer etwa halbstündigen Fahrt den Blick frei auf jenen See, der der einzigen dort entstandenen menschlichen Behausung schon seit jeher seinen Namen gegeben hatte: einer Försterei, die aus einem etwas heruntergekommenen Haupthaus samt anliegenden kleineren Gebäuden und dem Landgut bestand, welches die Hohensteiner Forstverwaltung dem Forstamtmann Erich Kalweit seit Anfang des Jahres 1935 zur Pacht überlassen hatte.

Die acht Kilometer zwischen Darethen und der Försterei Hohenwalde waren, wusste Andrey nach seiner Rückkehr zu berichten, zuweilen anzuschauen, als habe niemals der Krieg gewütet, als habe keine Grenzverschiebung zwischen zwei Nationen stattgefunden, als sei seine Verlobte Lydia vor der Vertreibung der Deutschen nicht in einem der von ihnen errichteten Lager verschwunden, als vergegenwärtige sich noch einmal eine rückwärts gewandte, trügerische Vision, ein Abglanz jugendlicher Zukunft, die ihm sein gestohlenes Glück als Widerschein ins Gedächtnis rief, während er den immer noch menschenleeren, weiten Landstrich durchfuhr, der aus nichts anderem zu bestehen schien als aus klarer Luft, Wäldern, Wiesen und einem blassblauen, wolkenlosen Himmel. Einmal kam er an einem einzelnen Gehöft vorbei, aber es war niemand zu sehen. Wie einen isolierten Abschnitt, ein aus der übrigen Landschaft herausgeschnittenes Bild vor Augen, durchfuhr er den noch immer kopfsteingepflasterten Weg, dessen Biegungen er folgte, kilometerweit an seinen Rändern gesäumt von üppig wachsenden Grasbüscheln, hier und da vermischt mit einer Schmalspur aus feinem Kies und Sand. In dieser Jahreszeit war der heiße Sommer bereits welk und stumm in den Herbst übergegangen; er hielt aber noch an seiner Trockenheit fest und spendete ausgedörrte, poröse, staubige Erde, von der Andrey, auf halber Strecke aus dem Wagen steigend, eine Handvoll aufhob und in eine Tüte steckte. Seitlich des Weges standen hohe, lichte Gestalten, eine um die vorige Jahrhundertwende angelegte Allee aus Birken, die sich vom Boden her dunkel und schmalstämmig, auf halber Höhe weißmarmoriert, dann im leichten Spiel des Windes mit einem filigranen Schwung des locker gebeugten Geästs und mit der ihnen eigenen bescheidenen Pracht unzähliger, zwischen Höhe und Weite spielender Blätter, hervorhoben, in der Nähe ein Flimmern erzeugend, doch auch weithin sichtbar, solange er fuhr.

Das letzte Stück des Weges umgab ein zusammenhängendes, urwüchsiges Waldgebiet, ein Bestand kronenschlanker, schaftförmiger, über hundertjähriger Kiefern, zu denen er, in den dritten Gang schaltend, kurz empor sah, um seinen Blick dann über den Waldboden schweifen zu lassen, der bedeckt war von Preißel- und Blaubeergestrüpp und, an einer Lichtung, vereinzelt in Gruppen stehenden Wacholderbüschen. Ein harziger Geruch lag in der Luft. Die Lichtung, die er kurz darauf erreichte, zog sich sternförmig durch eine Senke, an die sich ein Plateau anschloss, das den großen Plautziger See umgab. Kleinere Birkenbestände schoben sich nun in den Vordergrund und wechselten in lockerer Folge mit der Kiefernlandschaft ab, dem Windbruch sichtlich preisgegeben. Über sie hinweg sah man aufs Gewässer des weitflächigen Sees, in dessen Mitte eine kleine Inselbank lag. Andrey hielt den gemieteten Jeep an, stieg aus und ging langsam auf die Umrisse einer Behausung zu, die er so deutlich wiedererkannte, dass er mit seinem Handrücken unwillkürlich über seinen Hals strich.

Die Försterei stand einsam und verlassen. Das bloße Mauerwerk des vormals weinberankten Backsteinbaus unter grünbemoostem Ziegeldach gab es noch, im rechten Giebel des Daches gähnte ein großes Loch, einzelne, zerbrochene Ziegelreste lagen verstreut zwischen aufgeworfenen, lehmigen Erdhügeln, das alte Holzgatter, das den Garten umschloss, hing schief und krumm, Regen und Wind hatten große Lücken geschlagen, die von Unkraut überwuchert waren. Disteln und Brennnesseln wuchsen strauchhoch, wo ehemals die Gemüsebeete angelegt waren, eine einzige Fensterscheibe, staubbedeckt und blind, war erhalten geblieben, gab den Blick aber nicht frei auf das ehemalige Kinderzimmer, in dem Lydia Kowolka drei Jahre lang die vier Kinder des Ehepaares Kalweit betreut und umsorgt hatte. Andrey blickte sich um, sein Brustkorb hob und senkte sich, es war still, so still, dass das Geräusch, das der Atem in seiner Nase verursachte, ihm bis in die Stirn vorzustoßen schien. Die Tür unter dem Torbogen, dessen schmiedeeiserne Fassung vollständig erhalten war und nur an einigen Stellen Rost angesetzt hatte, war verschlossen, aber es wäre ein Leichtes gewesen, durch eines der scheibenlosen Fenster zu klettern. Andrey suchte sich einen Stein, den er, wie Luise mir später berichtete, mit in den Westen nahm und während er mit ihr sprach, in der Hand hielt, wobei er ihn, langsam, in stoßweisen Sätzen sprechend, mit angewinkelter Armbeuge vor seinem Bauch auf und abhüpfen ließ. Mit diesem Stein zerschlug er die letzte erhalten gebliebene Fensterscheibe, kratzte die gröbsten Splitter vom äußeren Fenstersims und sah in den Raum. Es stank nach abgestandener Luft, Fäulnis und Schimmel. Das Zimmer von etwa fünfzehn Quadratmetern war leer, ein einzelner Holzklotz lag auf dem Steinfußboden, Spinnenweben legten sich um Andreys Mund, als er sich, ans äußere Mauerwerk gepresst, soweit er konnte, in den Raum vorzubeugen versuchte. Dunkle Flecken an den gekalkten Wänden über dem Kamin und ein Rest lindgrüner, gestreifter Tapete waren die letzten Zeugen einer Generationen währenden Bewohnbarkeit. Er starrte lange darauf. Mit einer abrupten Bewegung drehte Andrey sich um und ging an dem zusammengefallenen Geräteschuppen vorbei auf drei dicht nebeneinander gepflanzte, dunkel schimmernde Blautannen zu. In genau fünf Meter Abstand von ihnen begann er damit, die Erde auszuheben.

Während ihm der Schweiß vom Gesicht rann, die Sonne stand tief am Himmel, und er die zweite der mitgebrachten Schaufeln zur Hand nahm, schlug ihm die von den Ostpreußen benannte Stelle Erinnerungen ins Hirn, die er umso weniger abwehren konnte, je tiefer er grub. Lydia, wie sie mit wehendem Haar bei einem seiner sonntäglichen Besuche quer über die Wiese lief, um ein Kind aus dem schilfigen Uferwasser zu ziehen. Lydia, das dunkle, ein wenig angekrauste, lange Haar im Nacken gerollt und straff gesteckt zu einer Schnecke, wie sie an einem Feiertag Mohn pflückte und mit blauen Schwertlilien zusammenband, ihre schlanke Gestalt mit den schmalen Hüften und dem etwas flachen Po in dem flachsfarbenen Leinenkleid, das von einem selbst geschneiderten anthrazitblauen Band locker zusammengehalten wurde und das er in Gedanken hundertmal aufgebunden hatte, hundertmal hatte er die kleinen Holzknöpfe mit leichtem Griff in Bewegung gesetzt, die ihren schmalen Hals und den Brustansatz seinem Blick entzogen. Lydia, wie sie mit den Kindern sang, auf Polnisch und in gebrochenem, ostpreußisch gefärbten Dialekt auf Deutsch, wie sie eines ihrer zwei Marjellchen an die Hand nahm, um es in der Küche abzufüttern, dabei Wulle, Wulle, Gänschen vor sich hinsummend, Lydia, die Lawernje zubereitete und ihm beim Abschied ein Gläschen davon in die Hand drückte, Lydia mit den hervorgehobenen Wangenknochen, die in einer direkten Linie zu den Mundwinkeln abzubiegen schienen, und dem breit entworfenen Mund zusätzliche Fülle schenkten. Lydia, die ihm mit leicht geöffneten Lippen und doch verlegen errötend, - wie war sie jung gewesen, so jung -, sacht einen Kuss auf seinen Mund drückte, den er noch abends in seiner Kammer schmeckte und dem er im Traum nachgab. Lydia, mit der er sein Leben hätte teilen mögen und die nicht war wie die Mädchen, die er vorher gekannt hatte, denn sie war weder bieder noch lüstern, selten schlecht gelaunt und geradezu eilfertig, aber nie so dienstbeflissen, dass man die Person dahinter nicht mehr erkannte. Sie war unfähig zur Lüge, aber oft beschämt, wenn ihr etwas nicht gleich zur Hand ging, und bei alledem war sie eigenwillig und trotzte jedem strengen und ungerechten Einspruch gegen die Kinder, gleich von wem er kam, vielleicht weil sie spürte und es ihr etwas ausmachte, dass sie ihnen, zwei Jungen und zwei Mädchen, bei aller anfallenden Arbeit nicht gerecht werden konnte. Was Luise Kalweit, die, anlässlich fortlaufender Jagdgesellschaften und dem damit verbundenen Umfang der Vorbereitungen, ihre Kinder oft als lästiges Nebengeräusch empfand, sichtlich mit einer Mischung aus Bewunderung und Geringschätzung erfüllte, wenn sie davon sprach.

Andrey hob über einen Meter tief aus und fand nichts. Einmal stieß er auf Tonscherben, ein zweites Mal auf einen kleinen gebogenen Eisenlöffel, wie ihn die Kinder dieser Gegend früher zum Spielen benutzt hatten. Er maß mit dem Blick seinen Abstand zu den Tannen, ging zum Auto zurück, setzte kurz die Wasserflasche an, spülte sich die Hände ab und begann zwei Schritte von der vordersten Tanne entfernt, erneut zu schaufeln. Es waren Lydias bernsteinfarbene, am Rand der Iris nachdunkelnde Augen, die ihm an ihr am besten gefallen hatten. Sie hatten einen Zauber ausgestrahlt, der je nach dem Stand der Sonne und Wolken, je nach dem Grad ihrer Erschöpfung und Freude, je nach den Momenten des Wiedersehens und der Trennung, dunkler oder heller ausfiel. Wenn er ihr Gesicht in seine Hände genommen hatte, zu schüchtern, um ihren Leib mit seinen Schenkeln zu berühren, aber mit dem Daumen leicht ihre äußere Ohrmuschel streichelnd, hatten ihre Augen einen Ausdruck angenommen, dessen Glanz warm auf seinen Körper fiel und sein Geschlecht berührte. Ja, noch seine Fußspitzen hatten so viel davon gehabt, dass er, was er sonst gern achselzuckend aus Notwendigkeit vergaß, spürte, dass seine Stiefel zu eng waren, um die Zehen darin auszustrecken.

Kurz bevor Andrey aufgab, er mutmaßte, die bezeichnete Stelle sei irrtümlich falsch angegeben worden oder es war ihm jemand zuvorgekommen, stieß er mit dem Spaten auf eine fünf Finger breite, knorrige Wurzel. Er hielt inne, bückte sich und strich mit den Fingerspitzen über ihr feuchtes Geflecht. Über seinem linken Auge pochte unvermittelt ein anhaltender, stechend scharfer Schmerz. Lydia hatte eine Vorliebe für das Sammeln von Wurzeln gehabt, kleine und große, knorrige und geschwungene, sie hatte sie „meine Gesichter“ genannt und, zusammen mit einer Anzahl bizarr aussehender Steine, die sie immer irgendwo auf einem ihrer Spaziergänge fand, um einen kleinen Tümpel gelegt, zu dem sie in der wärmeren Jahreszeit oft in ihrer Mittagspause gelaufen war. Nun war Lydia tot, seine ermordete Lydia, die unter anderen Umständen seine Frau geworden wäre, die er um alles in der Welt genommen hätte, auf jener Straße, nachdem die Schwester von Luise sie vergeblich in dem Wagen der Eltern in Sicherheit hatte bringen wollen, in jenem Moment, als sie später in den Zug stieg zu den anderen, mit einem kleinen Handkoffer in der Hand, ihn unverwandt anblickend, während Erich Kalweit, was selten bei ihm vorkam, mit lauter Stimme dem Kommandanten des Allensteiner Regiments gegenüber seine Arbeitskraft zurückverlangte und hernach, anders als Andrey, der stumm und wie angewurzelt dastand, auf dem Bahnsteig hin- und herlief, später aber sehr ruhig wurde, nachdem er auf dem ersten Revier ebenso wenig Erfolg gehabt hatte wie nach dem Verhör und der Zug gen Osten längst abgefahren war. Und Andrey konnte nicht anders, er hieb mehrmals im Affekt, aber bei klarstem Verstand auf die Wurzel ein, als könne er damit seine ehemalige Untätigkeit, seine Hilflosigkeit und seine Wut sprengen. Doch das Geflecht gab kaum nach.

An diesem Punkt seines Gesprächs mit meiner Großmutter hielt er ihrer Erinnerung zufolge den mitgebrachten Stein fest in seiner Hand gepresst, später sagte er mir, er habe ihn vor seinem selbst erbauten Häuschen nahe der Haustür vergraben. Luise meinte, er habe sie am Ende seiner Mitteilungen für einen Augenblick mit einem eigentümlichen Ernst, ja fast vorwurfsvoll, angesehen. Kurze Zeit später sei er gegangen. Sie verwahrte sich dagegen, irgendetwas mit dem zugegebenermaßen traurigen Schicksal dieser deutschsprachigen Jüdin zu tun oder etwas unterlassen zu haben. Alles, was getan werden konnte, hatte ihr Mann Erich Kalweit, unbesehen der Ängste und Sorgen seiner Frau vor den daraus für die eigene Familie zu befürchtenden Konsequenzen, versucht. Dass es nicht half, damals nicht, heute nicht und vermutlich nie, wusste Luise nicht oft genug und mit Hinweisen auf den beängstigenden Gestapo-Besuch mit anschließendem Verhör zu betonen, und stets kulminierte diese Mahnung in dem Satz, dass der Staat eine viel größere Macht habe als der einzelne. Nie vergaß sie hinzuzufügen, dass, wenn jeder bestimmen wollte, wessen die Allgemeinheit bedürfe, es auch heute keine Ordnung gäbe, und zwar so beharrlich, dass die einmal am Rande mit Bedauern geäußerte Bemerkung: „Stell Dir vor, der Andrey Oschnewsky hat nie geheiratet“, unmerklich darin verschwand.

II

Zwischen Luise und Ottilie hatte es von Kindheit an große Unterschiede gegeben. Noch im hohen Alter stritten die beiden Damen oft, und erst nach dem Tod der Jüngeren, der einen Triumph für die Ältere darstellte, konnte Luise in einem abgemilderten Ton über das anstößige Wesen ihrer Schwester reden, an dem sie sich ihr Leben lang gerieben hatte. Im Haushalt war Ottilie wirklich kaum zu gebrauchen, sie verwechselte den Kochlöffel mit dem Suppenlöffel, warf das Frühstücksgeschirr mit dem Kaffeegedeck, die Cognacgläser mit den Aperitifgläsern durcheinander, obwohl sie es hätte besser wissen müssen; aber alles, was ihrem Wesen fremd war, schlüpfte durch die Maschen ihrer Erziehung. „Ottiiilie, Du verstehst davon nichts“, sagte Luise dann in einem Ton, der größte Verachtung ausdrücken sollte und es auch tat, und nahm der Schwester die Utensilien aus der Hand. Woraufhin Ottilie schnippisch antwortete: „Du redest wie unsere Mutter, wenn sie getrunken hatte und niemand, nicht mal die fleißige Grete, es ihr recht machen konnte, weil Vater wieder im Allensteiner Hotel unterwegs war“. Luise, knapp und beherrscht, drehte sich um, nahm die Sache selbst in die Hand und ließ die Schwester wortlos stehen. So ging es oft, und meine Großtante flüsterte dann jedem, der es hören wollte, zu, dass es ihre Schwester schon immer in allem besser gewusst zu haben glaubte.

Aber einmal hat sie ihr doch ein Schnippchen geschlagen, und es war ihr eine große Freude, wie sie mir an einem Wochenende im Haus meiner Großmutter bei einem Gläschen Schnaps kundtat. Ottilie trank gern harte Sachen, „das sind wir Deutschordenpruzzen so gewöhnt“, behauptete sie, und sie wurde meist zusehends lustiger dabei und scherzte ihre Wehmut Schluck um Schluck auf eben den winzigen Rest Flüssigkeit zusammen, der im Glas verblieb, wenn sie es abstellte. Man war gemeinsam während eines Besuchs von Ottilie, inzwischen seit Jahrzehnten mit dem niedersächsischen Land vertraut, zum Einkauf gegangen, in ein Damenbekleidungsgeschäft, der Büstenhalter wegen, die Luise brauchte. Sie hatte zugenommen, was sie, die sich stets jeden Morgen Punkt sieben an ihren Toilettentisch setzte, zu verbergen suchte, und nun war es doch soweit, dass eine neue Größe der Körbchen der Üppigkeit ihres Busens angemessen schien. Während Luise, von einer Fachverkäuferin mit aller gebotenen Höflichkeit beraten, in der Umkleidekabine verschwand, saß Ottilie auf einem für sie bereit gestellten Hocker. Ihre Schwester hatte die Muße, sie warten zu lassen.

Und wie oft Ottilie auf die Ältere hatte warten müssen, wie viele unzählige Male sie in der alten Heimat als unbrauchbare kleine Schwester in einer Ecke abgestellt worden war, fiel ihr plötzlich und unmittelbar ein, und sie erzählte es mir: wenn Luise vom Vater einen neuen Füllfederhalter für das Internat geschenkt bekam, wenn sie in den Küchenräumen während der Abwesenheit der Mutter das Kommando für die aufzutragenden Speisen übernahm, wenn sie, von einem halben Dutzend Verehrer umrahmt, zum siebzehnten Geburtstag auf dem obersten Treppenabsatz des Haupthauses ein Ständchen entgegennahm, die jüngere Schwester am Treppenaufgang mit einem raschen, überlegenen Blick streifend, wenn sie im Mädchenzimmer ihre Koffer auspackte, und von den Ausflügen ans Kurische Haff oder zum Tannenberg- Denkmal berichtete oder von der in die Ostsee abfallenden Steilküste bei Groß Dirschkeim schwärmte, die die Schwester nie besteigen würde. Ottilie hatte es aufgegeben, diese Momente zu zählen, seit sie verstand, dass das Missverhältnis zu ihrer Schwester nicht auf einem Missgeschick, ihrem Unfall beruhte, sondern seinen Anfang schon mit ihrer Geburt genommen hatte. Da war Luise bereits acht gewesen, der ungekrönte Liebling ihrer Eltern, obgleich die Angestellten Ottilie später mehr Sympathie entgegen brachten. Fritsche zum Beispiel hatte sie mehrmals heimlich in die alte Kutsche gesetzt und vorsichtig durch die Gegend gefahren.

Das zweite Kind kam überraschend für die bereits in die Vierziger vorgerückten Eltern. Es bot zugleich den willkommenen Anlass auf die Hoffnung eines männlichen Erben, der das kaufmännische Gut in seinen Händen weiter festigen und vermehren würde. Wie Luise im Andenken an die preußische Königin, deren Portrait im Ankleidezimmer der Mutter rechts neben der Fensterfront über der Chaiselongue hing, nach dieser benannt worden war, sollte der zu erwartende Sohn den Namen Wilhelm tragen. „Denn ich musste ja ein stattlicher Bürge der Tradition werden“, stellte Ottilie fest, während sie sich schwungvoll einen neuen Schnaps eingoss, wobei ihr der Schwung so großzügig geriet, dass sie kurz entschlossen die in einem Viereck angelegte Seidenspitzendecke auf dem Eichentisch ein Stück über den bereits nachdunkelnden Spritzer auf der Holzmaserung verschob. „Aber es ist ganz anders gekommen“, stellte sie, nachdem sie das Glas kopfüber in einem Zug geleert hatte, mit einer Stimme, die kaum nüchterner werden konnte als sie war, fest, und versicherte mir, während sie sich neu eingoss, sie sei völlig klar im Kopfe. Was auch stimmte, man sah es ihr an.

Sie hatte meergrüne Augen, die zur Pupille hin ins Gelbliche übergingen wie bei einer Katze, wenn sie sich bis zur Ernüchterung, und dazu führte es bei ihr immer, betrank. Kein Mensch konnte sich so voll laufen lassen wie sie und niemand, den ich bis jetzt gekannt habe, konnte im Dunst des Alkohols so klare, präzise Worte für die Nachträglichkeit des Bewusstseins finden. Ihre wahre Haltung fand sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, erst im Alkohol, und dann stand sie ihrer Schwester, wenn auch auf andere Weise, in nichts nach.

„Es war einer dieser kornreifen Spätsommertage, kurz vor meinem siebten Geburtstag, und Du kannst mir glauben, die Enttäuschung meiner Eltern hab ich immer gespürt, und je mehr ich sie spürte, desto mutwilliger wurde ich. Wir fuhren nach Haus übers Feld, die Heuballen wurden eingeholt“. So habe es angefangen, als Missgeburt des Schicksals, als der Anfang längst gemacht war ohne sie, als das gelebte Leben, in das ihr Name ohne ihr Zutun gestanzt war, in sie einfiel; und sie erinnerte sich genau des Heuwagens, auf dem sie und ihre Schwester saßen, sprach von den Pferden, die müde, doch gehorsam auf den elterlichen Gutshof zutrabten und von ihrem Bewusstsein, einer unwiderstehlichen Vernunft, die keinen repräsentativen Nachfolger abgab, wozu sie ursprünglich, das heißt bis zum Zeitpunkt, als nicht nur der Kopf, sondern auch ihr Körper aus dem Blutraum des stöhnenden, mütterlichen Bauches gezogen wurde, ausersehen war. Sie wusste nicht wie, doch dass sie in einer Laune die Pferde zu einem letzten Trab anspornte, vorbei in einer scharfen Kurve am Schlafzimmerfenster der Eltern, vorbei an Diele und Speisekammern auf die Ställe zu, mit einem eleganten Bogen hinüber noch in Richtung Scheune. Dann aber scheuten die Pferde, Hufe knallten gegen den Wagen, die Schwester schrie auf, ein Brauner strauchelte und Ottilie wusste nicht, was ihr geschah, wozu sie das Gleichgewicht verlor, den unbekannten Befehlen, die vom jungen Körper ausgingen, gehorchend und fiel, fiel dem Boden entgegen, der hart war und steinig. Noch heute habe sie es vor Augen, wiederholte meine Großmutter meist kopfschüttelnd auch bei anderen Gelegenheiten, wie die Schwester erst kurz vor dem Aufprall ihren Leib schützend zur Seite warf, und Ottilie mit dem Messer in der Stimme, den Kopf über das Schnapsglas gebeugt, sprach von ihrem Rücken als einem, „der Zeugnis von mir ablegt“, und griff nach hinten zu ihrem Buckel, der uns allen stets vergegenwärtigte, was niemals geschah: es wurde ein Junge geboren.

Spätestens jetzt, bei solch unumwundenen Offenbarungen kam Brahms ins Spiel, wenn Ottilie nicht in den Keller ging, um eine neue Flasche zu holen. Sie hörte ausschließlich klassische Musik, mit Vorliebe Brahms oder Schubert, solange sie sich noch halten konnte am Leben, das ein bitteres Ende nahm, welches dem Anfang an Wucht gleichkommen zu wollen schien, sein Klavierkonzert Nr. 1 in d-Moll, und Ottilie schwieg dazu und hielt den ganzen ersten Satz durch und nach den ersten Tönen des Adagio stand sie auf und ließ den Tonarm knapp zurückfallen, um dem aufkommenden Geflenne ein Ende zu bereiten.

Denn lustig, hatte sie gemeint, und meinte es auch jetzt zu mir, sollte es im Leben zugehen, mit einem Paar Augen, die herausfordernd funkelten und genau hinsahen, und Ohren, die sie gespitzt hielt in alle Himmelsrichtungen, und dem Gesicht eines Clowns, der seine Traurigkeit mit einem lauten Lachen pariert, das über sich selbst Bescheid weiß, und der Melancholie die besten Witze entreißt. Und das hielt sich, während sie über den Hocker sinnierte, auf dem sie gesessen hatte im Bekleidungsgeschäft, und die geschäftige Verkäuferin vor ihrer Nase hin und her watschelte, mit Entenfüßen und Knallwaden, wie sie feststellte, und nach dem zweiten Kaffee, den sie dankend angenommen hatte, habe sie endgültig diese Warterei satt gehabt. „Das heißt, ich wusste es gar nicht, wie satt ich es hatte“, schmunzelte sie und goss Schnaps nach, es war der sechste und ihre Nase keineswegs rot, „und weißt Du, bei uns in Darethen fuhr einmal ein Wanderzirkus vorbei, und wie gern wär ich da mitgefahren, und die bunt bedruckten Wagen bildeten einen Kreis, und ich schlich mich hin und sah den Frauen zu, wie sie übten und ihre Körper flogen, und einmal, ein einziges Mal hat mich Vater mitgenommen in ein Varieté, als mein Rücken so gut wie ausgeheilt war und nur das schäbige Ding da übrig blieb, und als die dumme Pute wieder an mir vorbei kam, während Luise in ihrer Kabine schnaufte, stand ich auf, hob meinen Faltenrock und tanzte, wirklich, so war‘s, ich tanzte, tanzte Cha - Cha - Cha oder das, was ich dafür hielt, und sang dabei, so laut ich konnte.“ Ottilie sah mich lachend an, aber ihr Blick war scharf, ich sah gerade noch so zurück. Luise habe dann keinen Büstenhalter mehr kaufen wollen, und die Verkäuferin habe mit gesenkten Augenlidern hastig die Schachteln einsortiert. “Ich hab mich nicht entschuldigt, aber die Fröhlichkeit war weg, als wir den Laden verließen“, murmelte Ottilie nach einer Pause, nun das Glas mit ihren Fingern im Kreis vor sich hindrehend, das Gesicht von plötzlicher Erschöpfung gezeichnet, die Linien zog und die weiche, leicht erschlaffte Haut der Wangen zweiteilte. Sie stand auf, schien sich auf etwas zu besinnen, was sie mir nicht mitteilte, setzte sich aber schnell wieder und blickte hinüber zum Plattenspieler, der in einer Ecke des Wohnzimmers auf einem Beistelltisch stand. Ihre Schwester, meine Großmutter, hörte ungern Schubert, und so unterließen wir es, ihn anzustellen, obwohl die Zeit bis zu ihrem Eintreffen damals ausgereicht hätte.

Ende der dreißiger Jahre trennten sich die Wege der Schwestern. Die Entfremdung zwischen ihnen war schon mit der Heirat Luises und ihrem Einzug in die Försterei Hohenwalde gewachsen, und sie nahm ihre endgültige Gestalt an, als Ottilie sich weigerte, anzuerkennen, dass es geboten war, Fritsche zu entlassen. „Um das zu verstehen, hättest Du Laura Seroka kennenlernen müssen“, sagte sie mir. Und ich lernte sie kennen, wenn auch nicht persönlich. Sie war ein Ereignis, nein, das Ereignis in Ottilies Leben, und hatte nach kurzer Bekanntschaft schon eine Bedeutung gehabt, die ihr unwiderruflich bewusst machte, dass sie niemals und unter gar keinen Umständen auf den Stand zurück konnte, den ihre Eltern ihrer ganzen Geschäftstüchtigkeit zu Grunde gelegt hatten, die sie mit Freuden auch bei dieser zweiten Tochter gut entwickelt sahen. Denn Ottilie Suhrkau hatte tatsächlich Geld im Blut, wie man damals zu sagen pflegte, sie konnte rechnen und jonglieren, „ich wusste schon als ganz junges Ding, wie man verhandelte“, erklärte sie mir verschmitzt. Sie zog, noch keine zwanzig Jahre alt, mit einer in der Handelsschule antrainierten Kennermiene nach Allenstein aus, um das Warensortiment für die Käuferschaft auf unwiderstehliche Weise zu bereichern, und erklärte dem erstaunten Vater, dass Bonbons in der Auslage wie glitzernde Perlen auszusehen hätten, die den Formen der Ohrgehänge weiblicher Kundinnen gleichen müssten, damit diese sich in ihrem Geschmack doppelt geschmeichelt fühlten; dass der Anblick eines Seidenschals die pelzige Stofflichkeit eines Pfirsichs und sein sinnliches Aroma wachrufen müsse und der Schal deshalb zu parfümieren sei, um sich gut zu verkaufen. Sie feilschte sich um Herz und Verstand, wenn es darum ging, einem Warenlieferanten Prozente abzuhandeln, und gab im Preis nicht nach, wenn Gäste einer Gesellschaft im Haus, der Ballsaal war gegen eine entsprechende Mietrate auch für Auswärtige nutzbar, eine ihrer Meinung nach unangemessene Pauschale verlangten.

Sie wusste auch ihren buckligen Rücken zu verbergen, bevorzugte creme- und ockerfarbene Seidenblusen, die sie drapiert mit farblich abgestimmten Chiffonhalstüchern und dezent gemusterten Seidenschals schöngeistig betonte, zog fast ausschließlich dunkle Hosen an, die ihre langen, schmalen Beine gut zur Geltung brachten und ließ sich Mäntel nähen, die unter den Achselhöhlen im Schnitt weit ausfielen. Selten ließ sie sich den unaufhörlichen Schmerz, den die verkrümmte Wirbelsäule ihr bereitete, anmerken, manchmal entfuhr ihr ein leises Stöhnen, wenn sie zu rasch die Arme gehoben hatte oder etwas Schweres trug; sie wurde schnell müde und hielt sich nur mühsam für Stunden auf einem Stuhl. Streng nach Vorschrift betrieb sie regelmäßig die vom Hausarzt verschriebene Gymnastik, turnte jeden Morgen auf dem Fußboden ihres im ersten Stock liegenden Zimmers hinter zugezogenen Vorhängen und verbat sich, dass jemand hereinkam und dabei zusah. Mit ihrem ins Brünette wechselnden, weich im Nacken sich kringelnden, dunkelblonden Haar, das erst spät von grauen Strähnen durchzogen wurde, der porzellanweißen Haut, den klaren, grünen Augen und ihrer filigranen Figur strahlte sie nicht nur auf Photographien und in meiner frühen Kindheit, sondern noch zur Zeit unserer Gespräche einen mitunter fast leichtsinnig wirkenden Liebreiz aus, der sicherlich dauerhafter gewesen wäre, hätte nicht ein ihr unbewusst jäher Wechsel im Gesichtsausdruck, der von Mal zu Mal entstellende, böse oder traurige Fratzen entwarf, und die leicht eingezogene, gekrümmte Schulterpartie diese Eleganz durchbrochen.

In der Zeit, als sie Laura Seroka kennenlernte, hatte sie begonnen zu rauchen, erst ohne die Einwilligung der Eltern, dann mit erweichender, knurriger Zustimmung des Vaters. Hin und wieder begegnete sie in diesen Jahren, in denen sie endlich auch einmal einige Ausflüge unternahm, Karl von Rohwerder, dem einzigen Sprössling eines der weitläufigen Nachbarsgüter, Pferdenarr und von früh an mit der Trakehner-Zucht vertraut, und zudem im letzten Jahr zum Hohensteiner Schützenkönig gekürt; den sollte sie in ein paar Jahren heiraten, wie ihre Mutter ihr an ihrem fünfzehnten Geburtstag wohlüberlegt auseinandergesetzt hatte, doch damals kannte sie ihn nur flüchtig und fand ihn etwas fade. „Sein Gesicht war so lang wie seine Augen trüb und die Nase hatte es in sich“, war der einzige, merkwürdig bittere Kommentar, den ich ihr über sein Aussehen entlocken konnte. Doch im Herbst 1937 hatte sie ihn einmal im Hohensteiner Forst auf einer Treibjagd beobachtet, wenn auch nur von der Kutsche aus, und es hatte ihr einen Stich gegeben bei seinem schnittigen Anritt, dass sie nie würde reiten können. „ Ich war mir sicher, und es beruhigte mich, dass meine Eltern am Ende nicht gegen meinen Willen entscheiden konnten, wen ich heiraten würde, aber es war ebenso klar, wenn mir auch damals noch ziemlich gleichgültig, dass sie ihn und den Landsitz seiner Familie, der dazugehörigen Gestüte wegen, favorisierten“, ließ sie mich wissen. In einem einzigen Punkt, der dann zum gravierendsten wurde, „auch was meine Schwester und die Fusionspläne unserer Eltern anging“, bemerkte Ottilie wenig später mit einem abweisenden Gesichtsausdruck, sei sie dann mit ihrem Vater, den sie sonst der Mutter vorgezogen hatte, aneinander geraten. Dieser Punkt betraf sein Wohlwollen gegenüber der NSDAP und seine Begeisterung für den nationalen Krieg, den seine Frau nicht teilte. „Fritsche, Laura und die Nazis“, murmelte sie mürrisch vor sich hin, denn offene Trauer zeigte sie selten. Vielmehr bestand sie mit eingekniffenen Mundwinkeln darauf, dass ich uns nun erst einmal Tee und Gebäck servierte, nachdem sie eine ihrer Handinnenflächen vors Gesicht gehalten hatte, um sich ihren Atem ins Gesicht zu blasen. „Da wird einem ja übel“, war ihr Kommentar, obwohl ich ihr versicherte, dass mir keineswegs so zumute war.

III

An einem der ersten wärmeren Märztage im Frühjahr 1938 hatte Ottilie während des allwöchentlich stattfindenden Marktes Laura in Allenstein kennenglernt. Fritsche, der wie jeden Samstag nach Handwerkszeug für die Sattelkammern, Eisen für die Hufbeschläge, nach Futtermittel und Futtertrögen und neueren Ausfertigungen von Reitgerten und Peitschen Ausschau halten wollte, im Warenlager, auf dem Hof und in den Ställen nach dem Rechten sah, den Vorarbeitern Anweisungen überbrachte und sich diverse Bestellungen aus dem Surhkau’schen Hause aufschrieb, hatte früh morgens schon wohlwollend den Stand der Sonne am Himmel betrachtet. Hernach hatte er den Zweispänner im Hof aufgeputzt, das Verdeck heruntergeschlagen, eine Dienstmagd veranlasst, ihm schafswollene, gefütterte Decken zu bringen und nach Absprache im Büro, das gnädige Fräulein augenzwinkernd zu Besorgungen auf dem Markt eingeladen. Ottilie liebte den sorgenfreien, natürlichen Umgang mit diesem trotz seiner mittleren Jahre schon weißhaarigen Kutscher mit den hellen, ein wenig wässrig wirkenden blauen Augen, die durch einen stark ausgeprägten Lidstrich halb verdeckt waren und seinem ganzen Gesicht einen melancholischen Ausdruck gaben. Sie hatte ihn von klein auf gekannt, und war ihm zwischen Ställen, Lagerscheune und Hof hinterher gerannt, seit sie auf den Beinen stehen konnte. Ihre Eltern ließen sie gewähren und unterbanden weder den herzlichen, offenen Ton, in dem Ottilie mit ihm sprach, noch ihre Anhänglichkeit, die sie ihm bezeugte, so oft sie ihn sah, solange Freiheiten dieser Art begrenzt auftraten, und nicht auch mit den übrigen Bediensteten zur Gewohnheit wurden. Fritsches zärtliche Fürsorge für das allzu zarte Mädchen, das mit dem Heranwachsen tatsächlich an Ansehen gewann, wie er es bald nach der Geburt nach einem Blick in ihr Gesichtchen vorausgesagt hatte, kam Margarethe und Wilhelm-August Suhrkau bei aller geschäftigen Betriebsamkeit auf dem Anwesen nicht ungelegen. Es mochte ihnen wohl auch als besonderer Ausdruck seiner Loyalität erscheinen, da er, seit bald zwei Jahrzehnten in ihrem Dienst, sonst nicht einen Deut von Jovialität an den Tag legte.

Die unausgesprochene Liebe, das geheime, doch nicht auf Dauer einlösbare Bündnis zwischen einer herangewachsenen, mitunter widerspenstige Verhaltensweisen an den Tag legenden Kaufmannstochter, die man Angst hatte, unter Wert verkaufen zu müssen, und einem von Konventionen und Zwängen nicht gänzlich zu erschütternden Bediensteten, der die Fähigkeit zur politischen Unbestechlichkeit entwickelte, blieb für immer in Ottilies Gedächtnis, in ihrer archaischsten Vorstellung bewahrt. Die Beziehung dieser beiden so unterschiedlichen Pole, die füreinander Zuneigung empfanden, aber denen Erfüllung und Freundschaft versagt blieb, sollte, wie sich später herausstellte, ein Licht auf die oft undurchschaubar wirkenden Verhältnisse werfen, die das Schicksal der Frauen unserer Familie prägten.

Wie Ottilie musste auch Luise, die Schwester, die sich in ihren Träumen, auf Gesellschaften und im Ankleidezimmer königlicher gab als die längst auf ein paar Knochenreste zusammengeschrumpfte Königin, im Verlauf ihres Lebens anerkennen, was nicht ihr bloßer Wille gewesen sein konnte; ihre Hingabe, ihre Stärke, wurde zu ihrer Schwäche, wenn sie sie zur Hörigkeit und Idealisierung verkommen ließen, ihr Temperament, ihre Sinnesglut wurde zum Fluch, wenn sie sich von ihnen entfernten, ihr wissbegieriger Verstand wurde betrogen von der Angst, mit einem wachen, weiblichen Geist allein zu bleiben. Ihr Wesen, ihre Weiblichkeit war ihnen beiden fremd. Ottilie wenigstens war ohne große Vorbilder, auf der Suche nach Nachahmung, dem Wunsch, nach bewährtem Muster zu folgen, und der Anlage, etwas heraufzubeschwören, was das Gegenteil davon tat.

„Fritsche wusste nicht nur stets, was zu tun war, sondern auch, wie man es zu tun hatte und wer wem zur Hand gehen sollte, während er selbst Hand anlegte“, sagte Ottilie und brachte mich, ihren Erinnerungen nachsinnend, auf andere Gedanken. Sie verrührte einen Schuss Schnaps zusammen mit einem Zuckerstückchen in ihrer Tasse Tee, eine Angewohnheit, die sie ihr Leben lang beibehielt, sich aber sonst in Gesellschaft verkniff. Dass Fritsche sich von der Auflösung der sozialdemokratischen Stadtverordnetenversammlung nicht begeistert zeigte, und die ehemalige ostpreußische Landesregierung verteidigte, nahmen ihre Eltern in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Machtübernahme gleichmütig zur Kenntnis. „Fritsche war dafür zuständig, dass die Pferde angespannt, getränkt, gefüttert, gepflegt und bei Bedarf ausgewechselt wurden, Stalljungen aus dem Dorf waren anzulernen. Ursprünglich hatte mein Vater ihn als Kutscher eingestellt, aber nachdem er selbst ein Auto fuhr, übernahm Fritsche im Laufe der Jahre alle möglichen Aufgaben. Er war unersetzlich für einen reibungslosen Tagesablauf mit den Fuhrwerken und die Transportabwicklung, aber das sah Vater erst, als er gegangen war“, fuhr Ottilie fort.

Fritsche, äußerlich früh gealtert, aber von ausdauerndem, zähem Willen, war ein Packesel von der Sorte, um die sich nie einer geschert hatte, dessen Vater als Königsberger Stallmeister bei einem Reitunfall starb, als er selbst noch jung und mittellos gewesen war, ein Lachudder, wie man sagte. Der sich erst recht und schlecht durchgeschlagen und dann 1914 freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatte, und mit dem dann nach seiner Rückkehr kein Krieg mehr zu gewinnen war. „Nej, todjeschlachen ham wirr jenuch“, ließ er Ottilie ein ums andere Mal wissen, wenn die Truppenübungen der Garnisonen über die Felder hinweg unüberhörbar waren. Er verachtete die Kriegstümelei und Wehrbereitschaft an der östlichen Grenze zu den Nachbarstaaten, grunzte verächtlich über die Soldatenmützen in Zivil und ging den Schießübungen der freiwilligen Patrouillen des schwarzen Grenzschutzes aus dem Weg. Aber auf Fritsches Beständigkeit, das wussten die Suhrkaus, war Verlass. Seine Treue zur Heimat wurzelte nicht allein im ostpreußischen Landstrich, sondern im über Generationen von Einwanderern eingefleischten und eingeschworenen Gemeinsinn, durch blutige Geschichte erworben und erkämpft, aufgezwungen und verordnet. Ihm gerbte der stete Jahreszeitenwechsel und die Viehzucht das Fell, der Anbau und Abbau der Ernteerträge auf den Äckern und Feldern, das von rhythmischer Mühsal beeinflusste Leben, die hundertundfünfzig Feldarbeitstage im Jahr, die erst mit der letzten Winterfurche am 1. November endeten. Seit Urzeitgedenken war dieses Land Lehnswesen gewesen, belehnt wurde alles, Arbeit, Menschen, Besitz, Erde, Vieh, Wälder, Straßen, Glaube, Liebe, Pflichten bis in den Tod, mit dem das belehnte Leben an die nächste Generation, und nur sehr selten auch in eine andere Schicht, überging.

Fritsche kannte die südostpreußische Regierungsbezirkshauptstadt wie seine Westentasche. Er hing an ihr, seit er zum ersten Mal in diese Provinz gekommen war; mitsamt ihren traditionellen im Allensteiner Stadtzentrum angesiedelten Handwerksbetrieben der Schuhmacher, Sattlermeister, Schneider, Drechsler, Eisenschmiede, den vielen Einzelhandelsgeschäften, dem kleinstädtischen Milieu auf Einkaufsstraßen und dem Marktplatz; einer Mischung aus Fuhrwerken, Pferdeäpfeln, provinzieller Gemütlichkeit beim Plausch und tüchtiger Geschäftigkeit beim Verhandeln, vorbeieilenden Herren im Zylinder und städtischen Mägden mit Hauben, ländlichen Mägden mit Kopftüchern, bäuerlichen, derben Marktfrauen und Ausruferinnen, flatterndem Geflügel auf den Straßen und einer Schar Wildgänse im Flug über den Häuserdächern, und dem einzigen Glockenspiel Ostpreußens, bestehend aus den dreißig Glocken des neuen Allensteiner Rathauses, die dann im Verlauf des Weltkriegs eingeschmolzen wurden. Da war er schon fort, weit entfernt von einer Heimat, die jedem seinen Platz zuwies, wenn man, wie die meisten, vom bloßen Zubrot des Besitzstandes zu leben wusste und seine Pflicht kannte, an der alle auf ihre Weise teilnahmen und teilhatten und an die Fritsche unter den Nazis seinen Glauben verlor: Die Pflicht des Generalfeldmarschalls und Großgrundbesitzers, des Rittmeisters und Oberinspekteurs, des Gutsverwalters und Vorarbeiters, die Pflicht der Mägde, Gutsarbeiter, Tagelöhner und Schnitterkolonnen, der Bauern und ihres Gesindes, die Pflicht der Vieh-, Boten- und Gassenjungen, der Küchenmägde und Feldarbeiterinnen, der Pfarrer und der Förster, der Fabrikarbeiter, der Juweliere und Museenwärter, und schließlich, sie alle vereinend, als Hitler noch andere Pflichten zur Pflicht machte, von denen sich Fritsche frei fühlte, die Pflicht, aus dem Land zwischen Weichsel und Memel die Kornkammer des Reichs zu machen, sich arisch zu fühlen und die Juden zu hassen, die Pflicht zur bedingungslosen Kriegsbegeisterung, zur Bernsteingewinnung und zur erstklassigen Rassegestütszucht, und zudem staatsverbundene Pflichten aller Art, mit einer Verantwortung versehen, die einem fanatischen Gefühl gleich kam.

Wir schenkten Tee nach. Unmerklich hatte das Licht im Raum an Tagesfülle verloren, es dämmerte bereits. Ich knipste die Stehlampe neben dem Teewagen an und ging in die Küche, um die vielen Zigarettenstummel wegzukippen. Ottilie schwieg eine Weile. Ihr Vater fand es eine glänzende Idee, oberhalb der Stalltür die Verse eines der bekannten ostpreußischen Reiterlieder annageln zu lassen, obwohl die Surhkau’schen Ställe nur ein gutes Dutzend Pferde beherbergten. Sie summte mir eine Textzeile vor, mit den Handknöcheln den Takt auf der Tischplatte schlagend: „Dass ein jeder Reiter werde, ... wuchsen Deine edlen Pferde auf dem Heimatboden auf“. In seinem letzten Arbeitsjahr behandelte Wilhelm August Suhrkau seinen höchsten Angestellten ganz im sonst üblichen Ton der Befehlsübergabe. Ottilie erinnerte sich noch genau an einen kurzen, aber heftigen Wortwechsel, nachdem sie aus der Handelsschule nach Hause zurückgekehrt war. „Während es Vater ganz in Ordnung fand, ja, sogar eine gute Sache, dass unser Generalfeldmarschall, wie er ihn immer nannte, der ja nicht umsonst zum Reichspräsidenten gewählt worden war, als altgedienter Haudegen und leuchtendes Symbol der Befreiung von den Russen, auf Hitlers Anordnung noch vor 1933 das ehemalige Familiengut Neudeck als Staatsgeschenk zurückerhielt, wie so viele andere Gutsherrenbesitzer mit hohen militärischen Positionen auch, beharrte Fritsche darauf, dass der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten ebenso zum Bestandteil unseres Preußentums gehörte. Fritsche“, sagte Ottilie, „hat meinen Vater daran erinnert, dass siebenundsiebzigtausend deutsche Soldaten jüdischer Herkunft im ersten Weltkrieg kämpften, wovon niemand mehr etwas wissen wollte. Wo denn die gerühmte preußische Eigenständigkeit, die allen fremden Einflüssen trotzt, das Erbe der Urväter geblieben sei, seit Braun im Exil in Skandinavien sitze, hat er meinen Vater gefragt. Diese Nachricht hatte nur im Flüsterton in der Kirche die Runde gemacht“, fügte Ottilie beiläufig hinzu. „Mein Vater gab ihm unwirsch zur Antwort, es sei nicht seine Sache, sich in die hohe Politik einzumischen, sondern ihr zu folgen und zu dienen. Der alte Fritz habe auch nur durch absolute Gefolgschaft Preußen zu dem gemacht, was es dann habe werden können.“ Plötzlich klingelte im Esszimmer das Telefon.