Die unzählige Alte - Stefanie Gödeke - E-Book

Die unzählige Alte E-Book

Stefanie Gödeke

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Beschreibung

Über den Zeitraum eines Jahres läuft eine Frankfurter Studentin zwischen dem Philosophikum der Universität und der Pflegebedürftigkeit einer über 90-jährigen Frau aus prekären Frankfurter Verhältnissen hin- und her: Umgeben von brisanten Vorfällen, Armut, Obdachlosigkeit, Hunger nach Erotik und Lebensfreude, Schizophrenie, Alkoholismus, die die große Welt der Philosophie scheinbar nicht berühren, aber im Staub des Althergebrachten sinnlich erscheinen. Hier wird das Leben der ebenso schönen wie garstigen Johanna Maria Born und das Schicksal ihrer weiblichen Vorfahren aus dem Spessart belichtet. Erzählt und reflektiert wird das Geschehen aus der Perspektive der studentischen Hilfskraft Maren Gottschalk. Ihr Leben ist vom Flugzeugabsturz ihrer Eltern geprägt und von einem Kind, zugehörig ihrer wachsenden erotischen Liebe zum Bibliothekar des Instituts, Frank Jakobi, das seine Mutter schon bei seiner Geburt verloren hat. Über die Philosophie kommt der Universitätsalltag mit dem Gegensatz von Ethik und Ökonomie samt Gentechnik und Reproduktionsmedizin ins Spiel. Und die erotische Liebesgeschichte stellt die Frage, ob ein Ausweg aus der Sinnsuche des Menschen ohne Liebe möglich ist.

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„Denn es zeigt sich jetzt, dass tatsächlich nur die Verständigungsrationalität im emphatischen Sinn –und nicht z.B. eine die normativ neutrale Sinnverständigung nur durch Machtansprüche oder Interessenbezüge ergänzende Rationalität – der Autonomie des selbstreflexiven Sprachlogos entsprechen kann. Es lässt sich also zeigen, dass der Sprache tatsächlich das Telos der Verständigung innewohnt.“

Ein zweiter Versuch, mit Habermas gegen Habermas zu denken,

Karl-Otto Apel 1998

„Die Mauern stehn

Sprachlos und kalt; im Winde

Klirren die Fahnen.“

Hälfte des Lebens, Friedrich Hölderlin ,1804

„Wenn er allein war, war es ihm so entsetzlich einsam, dass er beständig laut mit sich redete , rief, und dann erschrak er wieder, und es war ihm, als hätte eine fremde Stimme mit ihm gesprochen.“

Lenz, Georg Büchner, 1839 von Gutzkow veröffentlicht

„Geschwätz!“ brüllte er.“Die bekannten Idiotismen. Natürlich! In der Mitte thront immer das souveräne Ich. Und das Ich meint immer, es wäre da. In Wahrheit ist es schon futsch im selben Moment, wo der Magen anfängt, sich selbst aufzufressen. Das tut er nämlich. Wenn man nicht wieder was anderes hineinstopft, frisst er sich selber. Das ist beginnende Unsterblichkeit.(...).“ - „Quatsch“, schrie er geärgert.“ Es gibt überhaupt keinen Kreislauf.(...)“. Endlich sagte sie vorwurfsvoll: „Es fehlt Ihnen eine harmonisch befriedigende Weltanschauung.“ „Das sagen meine Kritiker auch“, seufzte der Philosoph.

In Harmonie mit dem Kosmos, Theodor Lessing 1930

„Dass Philosophieren sterben lernen heiße“

Essais, 19. Hauptstück, Michel de Montaigne, 1580

Buch-Umschlaggestaltung von Julian Frederik Kolbe

Webseite der Autorin: www.stgoedeke.de

Ein schriller Ton drang in die Stille des Treppenhauses. Hinter der Wohnungstür blieb es still. Nach dem dritten Klingeln, der Zeigefinger hatte lange auf die Schelle gedrückt, waren langsame, schlurfende Schritte zu hören, die sich von innen näherten. Das Schloss wurde zurückgeschoben und die Tür einen Spalt geöffnet. Eine Weile, bevor sie sich auf den Weg gemacht hatte, war der jungen Frau mitgeteilt worden, die Klientin sei von der Sorte „störrischer Mensch, schwierig zu handhaben“. Die Wohnsiedlung, die sie zehn Minuten durchquert hatte, bis sie die richtige Hausnummer fand, lag dann verwahrlost zwischen unscheinbaren Büschen und Gerümpel. Man roch die Armut, bevor man sie sah.

Die Haustür hatte mühelos Zutritt gewährt. Das zugige Treppenhaus war hell, von einer Einfallslosigkeit übertüncht, die trotz der frischen Farbe kahl wirkte. Ein schwerer Dunst, ein Gemisch aus klammer Wäsche und erhitztem Fett, hing in der Luft. Wie von selbst schüttelte sich leicht und unwillig der Kopf, straffte sich ein Halsmuskel: „Guten Tag, Frau Born. Ich heiße Maren Gottschalk“. Von heute aus betrachtet, schob sich Marens Stimme unnatürlich laut in den Türspalt.

Das Gesicht gehörte einer sehr alten Frau, die die dargebotene Hand übersah. Im übrigen blieb es skeptisch. Vor allem die wachen blauen Augen, durchdringend und hochmütig im Blick, die in das Gegenüber einfielen. Sie waren von einer breiten, zum Kinn hin schräg abfallenden, aber fleischlosen Hautfläche umgeben. Die Schultern, leicht vornübergebeugt, drückten Ablehnung aus. Ein nackter, sehniger Arm hob sich, strich dünnes weißes Haar zurück, das Gesicht blieb geneigt, der Blick fasste fest und voll zu. Runzeln, rechts und links über die Wangenknochen gezogen, standen im Kontrast zum frischen Farbton der Iris, dazwischen schob sich eine schmale Nase vor, gerade und stolz, und am kräftigen Hals war ein Muttermal. Die Greisin sah gebrechlich, aber nicht hilflos aus, beeindruckte durch die Zähigkeit, mit der sie sich kaum merklich bewegte, und durch die Kantigkeit ihrer Kontur. Die knochigen Hände hatten dieselbe Festigkeit wie die Augen. Einzelne Finger waren leicht gekrümmt. Kühn, fast herrisch erschien der Schwung der Augenbrauen und energisch das Kinn. In der Tür stand eine herbe, protestantische Schönheit, die sich bis zuletzt allein behelfen wollte.

Die junge Frau rief sich Daten ins Gedächtnis. Man hatte sie informiert: Johanna Maria Born, Jahrgang 1913. Da öffnete die Methusalin lauernd die Tür, lockte mit dem Finger, bedeutete ihr, hereinzukommen. In ihren hellen, klaren Augen funkelte ein Schimmer Misstrauen in spiegelglattem Vergnügen. „Aber waschen dürfen sie mich nicht“, sagte sie und kehrte der Fremden gemächlich den Rücken zu. Sie ging mit kleinen Schritten hinüber in einen winzigen Flur und weiter in das anliegende Zimmer. Die Ausdünstungen ihres Körpers warfen Marens Geruchssinn ins Treppenhaus zurück, ihre Beine folgten pflichtbewusst. Sie betrachtete blasse, sehnige Waden, pergamentgeäderte, ungebräunte Haut. Johanna Maria Born trug ein von Hüfthöhe an von Urin durchtränktes, ockergelb beflecktes Nachthemd, dessen stellenweise von weißer Farbe durchsetzter Saum ausgefranst war. Im Wohnraum angekommen, setzte sie sich in einen von zwei schäbigen, altertümlichen Sessel von unbestimmt dunkler Farbe und hielt den Blick nach vorn, das Kinn schob sie vor: Ein gealtertes Kind, mit diesem weiten Blick, über die Jahre hinweggezogen.

Maren reagierte ausweichend und fragte nach den Utensilien für einen Kaffee, das war der übliche Auftakt. Die sechzig, maximal neunzig Minuten, die sie zur Verfügung hatte, damit sie nachher auf einem Pflegedienstplan ordnungsgemäß abgerechnet werden konnten, waren schon vor Beginn des Dienstes, vor Ablauf irgendeiner Zeit aufgeteilt in einzelne Arbeitsvorgänge, die keinen seelischen Zugang erschließen wollten. Johanna Born war keine Hilfe, sie brauchte sie. Alltägliche Probleme hatte sie längst verworfen, lange schon, bevor Maren bei ihr eintrat. Seitdem gehörten sie nicht zu ihr, sondern zum Personal, den jungen Frauen.

Die Schachtel, die sich Wohnung nannte, bestand aus einem einzigen Zimmer, quadratisch, mit breiter Fensterfront und einer schmalen Balkontür, einem kleinen Flur samt integrierter Kochnische, einem winzigen Bad. Die Wände wirkten fleckig, klebrig und feucht. Der Balkon, ein ummauerter Kasten, war mit knospenlosen Geranien geschmückt und ließ Platz für einen Wäscheständer und mehrere hintereinander aufgestellte Wäsche- und Mülleimer. Die Badezimmertür stand Tag und Nacht offen, für den Notfall, obwohl der immer seltener eintrat: Johanna machte gern in die Hose. Der Eingang zwischen Flur und Wohnzimmer war türlos. Hier lebte sie, umgeben von Kalenderbildchen, einem Familienfoto und einem braunen Holzkreuz, die seit nunmehr vierzig Jahren an der braungemusterten Blümchentapete hingen: Sie wollte nicht fort, sie wollte hier sterben.

Die Filtertüte fand sich, die Kaffeedose dagegen nicht, und während nach ihr gesucht wurde, saß Johanna regungslos in ihrem Sessel und starrte ins Licht der Fensterscheiben, das die grobmaschigen Vorhänge durchließen. Maren wandte den Kopf in Richtung des kleinen Waschbeckens mit dem Sprung in der Emaille und des kotbespritzten Klodeckels, der sich zwei Meter von ihr entfernt befand. Sie zog die Tür zum Bad mit einer schnellen Handbewegung zu, so dass ein ausreichend schmaler Lichtstreifen auf die Küchennische fiel, aber der Toilettenrand hinter der Tür verschwand. Die Kaffeedose fand sich im Vorratsschrank, inmitten weiß gestrichener, morscher Holzbretter, gehalten von schwärzlich muffigen Seitenwänden. Dazwischen standen, ordentlich aneinandergereiht und sortiert, Gewürze, Lebensmittel in Dosen und verschweißte Verpackungen. Jemand hatte vorgesorgt. Der halbdunkle Raum darunter bot Platz für einen Staubsauger, Handfeger und Schaufel, Eimer und Putzlappen. Flüchtig streiften die Augen der jungen Frau drei Herdplatten. Sie stellte eine gelbe, henkellose Kaffeekanne, offensichtlich ein Einzelstück, auf das schmale Küchenbord, eine moderne Kaffeemaschine besaß Johanna nicht.

Während die braune Flüssigkeit aus dem Filteraufsatz lief, betrat Maren den Wohnraum. In der Ecke gegenüber der Balkontür stand ein wuchtiger Fernseher auf einem wackeligen Beistelltisch, an einer Längswand befand sich eine alte Klappcouch, die Johanna nachts als Bett diente. Ein weißes, zerknülltes Bettlaken, ein an einigen Stellen geflickter, lindgrüner Bettüberzug und ein hellblauweißgestreiftes, zusammengedrücktes Kopfkissen hingen zerwühlt halb über dem Couchrand, halb auf dem ausgetretenen, an den Außenrändern zerfaserten, sonst bleichen Teppichboden. Eine schmodderige Strickjacke lag über der Lehne des zweiten, unbenutzten Sessels, von dem aus Maren mit einem verbeulten kleinen kupferfarbenen Kerzenständer, einem schmutzigen Papiertaschentuch, einem von Essensspuren befleckten Glas und einigen Paar Nylonstrümpfen Bekanntschaft schloss und darüber hinweg Johanna ins Gesicht blickte. „Ich habe Hunger“, sagte der alte, blutleere Mund ohne Umschweife, und das klare Blau um die Pupillen bis zum Irisrand unterstrich die Herausforderung. Eine knappe Lautbildung war alles, was sie zwischen ihren schmalen Lippen hervorbrachte. Die Muskelbewegung am Kiefer, der breit war, unterstrich die Starrsinnigkeit, mit der sie auf Gefühl verzichtete.

Die junge Frau hob den Arm und sah auf ihre Uhr. Das Ziffernblatt mahnte: Zehn Minuten waren schon vergangen. Sie stand auf, um den Kaffee einzugießen. In einem sperrholzartigen Ungetüm aus dunkler Eiche, das die beiden letzten Weltkriege überstanden hatte, fanden sich links hinter Johanna eine Kleiderstange für Wäsche, auf der rechten Seite Fächer für das Geschirr. Maren entnahm zwei Tassen, zwei Unterteller, einen Frühstücksteller. Das Porzellanservice war unvollständig, aber fein geschliffen. „Nach dem Waschen, Anziehen, Kämmen und Zähneputzen mache ich Ihnen ein Frühstück nach Wunsch. Blutdruckmessen und Medikamentennahme dürfen wir nicht vergessen“, sagte sie und stellte das Geschirr auf den Tisch, legte die Nylonstrümpfe zur Seite, ging zur Balkontür, öffnete sie, sog lauwarme frische Luft ein, schmiss, von einem Strahl gleißenden Sonnenlichts geblendet, das Taschentuch in den Abfalleimer und kehrte zum Sessel zurück. „Als erstes ziehe ich Ihr Bett ab und dann setze ich mich fünf Minuten zu Ihnen, um beim Kaffee ein wenig Gesellschaft zu leisten. Dann helfe ich Ihnen gern im Bad.“ Die junge Frau stand auf und ging zur Kochnische, nahm die Kaffeekanne, kam zurück, goss Kaffee ein. Die alte Frau saß bewegungslos und schwieg.

Maren hatte von diesem Schweigen gehört, sie war darauf vorbereitet worden. Es war sozusagen einzigartig, einmalig in seiner Konsistenz, ein stählerner Ring, der Angst umschloss und ausstrahlte, so hieß es von Mitarbeiterinnen, die andere Menschen rund um die Uhr betreuten. Sie hatten zu bleiben, Altenpflegerinnen, Krankenschwestern, seltener auch Krankenpfleger, unter wechselnden Leibern, Gerüchen und Dünsten aus After und Mundhöhle, eitrigen Wundmalen, offenen Geschwüren, psychotischen Schüben und Kathederpisse, schmerzlichem Stöhnen, wirren, grimmigen Zurufen und geflüsterten Dankesworten. Sie würde gehen, das war ein Unterschied. Es war das Jahr der Abgabetermine, der mündlichen Prüfungen, der schriftlichen Anfertigung einer Arbeit. Sie hatte es vorwiegend mit Männern zu tun: Mit jungen und alten, beredten und verschwiegenen, toten und verehrten. Netten, Liebenswerten, Verrückten, Querköpfen, Geifernden, grüblerischen Zweiflern, Fachverwaltern knappster freundlichster Tonlage, mitunter erschüttert vom eigenen Eifer, der Vollstreckung des Lebens durch schwindelerregende Theorien, von packender Gesetzeskraft, von höchster Innovation, atemberaubenden Paradigmenwechseln, die ganze Schübe von Menschen durch die Welt schleuderten über Hunger Dürre Katastrophen Arbeitslosigkeit hinweg, auf Kongressen, in Wertekommissionen und Parteigremien. Sogar Managerseminare waren voll davon. Maren verglich das Schweigen und die Stille der philosophischen Bibliothek, den flatternden Hauch der wahllos umgeblätterten Buchseiten mit Johannas einfachem Dünkel, während sie das stinkende Bettzeug abzog, die Decke draußen zum Lüften auf den Wäscheständer legte, die nassen Bezüge in den Plastikeimer warf und zudeckelte. Nachher wird sie in den Keller gehen, um eine Waschmaschine laufen zu lassen.

An die Plastikhandschuhe hatte die junge Frau sich schon nach den ersten Tagen der Einarbeitung gewöhnt, auch an die Sitzunterlage, die die Fasern der Kleidung von Angestellten und Mitarbeitern schonte. Sie kannte die Pflegelotions und Hautcremes, die Abrechnungsordner, die Buchführungsanordnungen. Weniger vorbereitet war sie auf die Scheiße, die überall in der Wohnung verstreut lag, zu kleinen Krümelchen zusammengerollt und vertrocknet und auf den Anblick von Johanna, die, völlig unbeabsichtigt natürlich, mit ihren ausgelatschten Hausschuhen unbekümmert durch das frisch Hingekackte lief. Sie hatte sich dieses Jahr mit einem alten Menschen ausgesucht, einer Frau, die starb, obwohl man noch nichts sah davon. Ihr Schweigen rief etwas herbei, was nicht schon der Tod sein konnte, allenfalls ein Vorläufer. Johanna galt als verwirrt. Maren hatte noch nicht herausgefunden, warum, aber sie griff zurück auf den Bescheid, den man ihr mitgegeben hatte: Gesichter sah Frau Born. Lauter Gesichter bisweilen. Sie konnte nicht ahnen, was ich später, viel später mit Johannas Augen sah: eine nackte, vorüberhuschende Gestalt, die hinter dem Fenster Fratzen schnitt und einen überlangen Penis wie eine geschwollene Gurke gegen die Fensterscheibe drückte, einen Mann, der plötzlich hinter dem Fernseher auftauchte, einem Affen gleich, klein, behaart, dunkel, mit frechem, in der Stirn zusammengedrücktem Gesichtsausdruck, der seinen schwellenden Schwanz zärtlich am Bildschirm rieb, sich vor Johanna verbeugte und die Beine breit gestreckt, vor ihr zu onanieren begann, langsam, genüsslich, mit Bewegungen, die ein Stöhnen bei ihr hervorriefen. Johanna hörte es genau und sah gebannt der kräftig wichsenden Hand zu, die die weiche Konsistenz härtete, sah die glänzende, runde, sich rötende Eichel zwischen Daumen und Zeigefinger dicker und dicker werden, sah den fleischgewordenen Wulst sich durch die halb geschlossene Hand stemmen, fühlte sich hin und her gerissen vom Schreck, der sich in keinem lustvollen Gefühl aufhob. Der Mann war so plötzlich verschwunden, wie er gekommen war.

Die subjektive Gewissheit innerer Erfahrung wollte Johanna weder teilen noch rechtfertigen noch hervorheben, eine mit anderen geteilte Sprache kannte sie kaum. Sie war angewiesen darauf, dass jemand sie auch so verstand. Dafür konnte die Philosophie ebenso wenig wie Johanna Maria Born mitsamt ihren kunstlosen Wänden, die Maren schauerlich trüb streiften; weder Verdienst noch Moral schmückten sich bei Johanna, weder wirkte im Besonderen das Allgemeine noch erschien das Schöne als Idee. Es gab nur dieses Kreuz, und das als einsamen, undeutlichen Fleck in einem verglasten Rahmen steckende Foto aus der Jugendzeit: Da stand sie halbwüchsig im Schatten unter ihren Geschwistern, fünf waren es von ursprünglich acht, die übrig geblieben waren. Von diesen lebte noch sie.

Wenn man sich fragt, ein abwegiger Gedanke natürlich, reine Neugier vielleicht in diesem Fall, vielleicht auch nicht. Wenn jemand fragen sollte, warum Maren damals Philosophie studieren musste, was nicht allein von den Buchrücken, dem bedruckten Papier und der Welt abhing, die es wieder und wieder zu interpretieren galt, weil Mitleid und Leiden zusammengefasst Nachdenklichkeit erleichtern, dann bekommt darauf keine Antwort, wer Johanna nicht kannte. Natürlich ist es unsinnig, jetzt, im Nachhinein, Johanna Maria Born kennenlernen zu wollen, denn sie ist tot, längst vermodert oder auch verbrannt. Und ich wüsste nicht einmal zu sagen, auf welchem Friedhof überhaupt, in welcher Urne, unter welcher Erde sie steckt hier, heute, noch wo ihr Geist sich derzeit befindet. Nur die Schatten, die sie an die Wand warf, in einer Höhle, an die sich Maren noch erinnern können wird, wenn sie selbst einmal daran ist, abzugehen, diese Schatten werden länger und länger, und eines nachts, wenn sie verschwunden sind und Maren mit ihnen, wird man in diese Höhle eintreten können. Johanna würde dort sitzen, starrsinnig wie eh und je, und unbeherrscht und ganz und gar nicht stumpfsinnig mit dem Kopf nicken und jedwede Auskunft verweigern. Die Schatten galten nicht ihr, sie blickte nie auf und suchte keinen und nahm nicht an, was sie auf anderes Augenlicht abwarf.

Ursprünglich hatte die junge Frau weder Licht noch Schatten im Sinn, sie ging an den Verwaltungsgebäuden der Universität, den Menschen, den Bücherständen und Buchläden, den stehenden und stromförmigen Gebilden von vereinzelt und massenhaft ins Blickfeld gestoßenen, rein zufälligen Ansammlungen von Studenten vorbei, trat auf die Ampelanlage zu, überquerte die Straße und fragte sich: Wofür leben? Das fragte sie sich täglich, wöchentlich, monatlich und meinte, die Philosophie wüsste eine Antwort darauf. Eine Antwort sollte es geben für eine, die durch Grüppchen von menschlichen Wesen hindurchging mit dem Kopf unter dem Arm wie eine Reisende, einem Kopf, den man auch wieder abgeben konnte, wenn man ihn nicht mehr für nötig hielt: wenn der Tod das Leben zu sich hereinholte. Dass der Kopf gewisse Funktionen hatte, die nicht nur das Denken betrafen, schob Maren auf ihren Körper zurück, den sie tagtäglich in Gebrauch nahm beim Waschen, Gehen und Küssen. Manchmal dachte ihr Kopf, ohne sich um den großen ganzen Rest des Körpers zu kümmern. Das nahm sie zum Anlass, ihn zurückzurufen, doch die Verbindung zwischen Körper, Empfindung und Kopf war nicht wieder herzustellen. So sah der Tod aus, den die Philosophie mit Johanna teilte. Die junge Frau teilte ihn mit sich selbst.

Nun hatte Johanna auch eine Großmutter gehabt. Das könnte sich ändern, bald schon, wenn intelligente Maschinen vieles besser können als der Mensch, wenn die ersten computergesteuerten Kreaturen Entscheidungen ohne menschliches Bewusstsein treffen und sich selbstständig vermehren. Wenn wir unsere Unsterblichkeitsphantasie in unserer eigenen Technologie abspeichern, unser Bewusstsein schrittweise durch Microchips ersetzen. Weißes Haar wirkt schließlich alt, schwabbelig der Speck an den Hüften. Solche Brüste brauchen auch kein Silikon mehr. Ein gieriges Verlangen, in welchem Jahrhundert wurde es geboren? - als das Schicksal der zurückgebliebenen Afrikaner mitsamt den verbliebenen Großmüttern mit dem Schicksal kommender Generationen in der Galaxie nicht mehr vergleichbar war. Es ist denkbar, dass Johannas Großmutter auch gern einen Blick auf die Erde geworfen hätte, aber ihr Leben stand in keinem Verhältnis dazu.

Doch wozu den Erzählvorgang durch verschwenderische Gedanken strapazieren, das Filmmaterial voreilig opfern, das der Kopf den kleinen Bedeutungsträgern entnimmt, wenn sie beispielhaft angeordnet sind. Statt durch Ausschweifung Gefahr zu laufen, sich in bildlosen Bestandteilen zu verlieren, kehre ich ohne Umschweife zu den damaligen, rätselhaften Geschehnissen zurück, die zweifellos auch ohne die Erwähnung von Johannas Großmutter geeignet wären, einen Bericht, eine Dokumentation, eine Erzählung mit Material zu füllen. Es soll Johannas Eigenart überlassen bleiben, von der man sich allzu leicht anstecken lässt, wie man sieht, die Toten im Munde zu führen wie andere Leute Redensarten.

Johanna rief sie herbei, in dem sie hörbar vor sich hinmurmelte, nachdem sie in großen Pausen geschwiegen hatte und schwupp, saß ihr toter Bruder asthmatisch atmend auf der Couch, schwupp, saß ihre früh verstorbene Schwester in einer Ecke des Zimmers, schwupp, ging ihr verschollener Vater hinkend durch den Raum, schwupp, stand ihre ermordete Mutter mit verschränkten Armen verführerisch im Türrahmen. So abgeschlossen von der übrigen Welt war das Leben in dieser Wohnung, dass die Zeit bei Johanna rückwärts lief statt vorwärts, ihre Stimme Gestalten hervorrief, die sie tonlos agieren ließ, und die Gegenwart derart bevölkerte, dass, war man erst einmal eine Weile bei ihr, sich hinter der Wohnungstür alles, was sich draußen abspielte, in eine ferne, unwirkliche Klamotte verwandelte.

Wenn ich wüsste, dachte die junge Frau, die neben der Alten stand, wie das Schweigen von Johanna auf mich übergeht, wie sie das macht, dass es mich zwingt, fassungslos meinen Blick wieder und wieder auf jenes Foto an der Wand zu richten, besonders zum linken unteren Winkel. Dort stand Johanna mit den jüngsten Brüdern und Schwestern, umschlossen von einem blassen Stehkragen, den der gehämmerte Ausdruck ihrer Augen Lügen strafte. Das war nicht Gegenstand ihres Daseins. Johanna, so stand es im Ordner der Pflegedienstleitung, der Krankenkassenvereinbarung, der Pflegeversicherung, juristisch, utilitaristisch abgesegnet durch den zuständigen, abgeordneten ärztlichen Sachverstand, Johanna musste jetzt ins Bad. Das war auch nötig, obwohl sie den Kaffee nicht angerührt hatte und immer noch kein Wort gefallen war. Auf den Tisch blickte die eine, die andere starrte auf den Schrank, dazwischen schwang sich ein Hauch von Bewusstsein: angespannte Nichthintergehbarkeit. Maren dachte später zurück an dieses erste Gegenübersitzen, als sie das einzige Fotoalbum im Wäschefach fand und einer schnörkellosen, steifen Handschrift entnahm, dass der bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Auswurf einer verhärmten, glanzlosen Frau, die das letzte Foto einer Reihe wiedergab, 1848 geboren worden war. Im anfänglichen Spielraum von Unwissenheit, die sich zu orientieren suchte, öffnete die Alte die Beine und löste sich. Sie urinierte auf den Sessel, dass es tropfte. Ein Blick auf Johanna zeigte Entspannung: sie wirkte befreit. Ihr Gesicht lächelte, ohne sich zu verziehen. Maren konnte gehen oder kommen oder bleiben: im Bad waren sie noch lange nicht. Johanna beugte sich vor, griff nach der Tasse, hob sie und führte kalten Kaffee an den Mund, ein Rinnsal aus dem Mundwinkel ließ sie ebenfalls laufen. „Ich habe Hunger!“, sagte sie mit fast geschlossenem Mund, ohne die Stimme zu heben, ein singender Unterton säuselte zwischen den entschlossenen Lippen.

Gleich werde ich Dir eine knallen, dachte Maren mit zusammengebissenen Zähnen, und Dich hinüberzerren ins Bad, wo Du Dir Deinen Arsch allein abputzen kannst, und diese miese, dreckige, stinkende Wohnung verursacht mir Grauen, eine Übelkeit, die noch anhalten wird, wenn ich schon lange gegangen sein werde. Du verdammtes Biest. Ab jetzt ins Bad mit Dir.

„Sie gehen sich vor dem Frühstück waschen, es muss sein!“, erklärte die junge Frau. Macht schüttelte sich aus und beugte sich mit Maren über Frau Born, griff nach ihrem Arm, packte Johanna an der Schulter, ihre Gesichter näherten sich. Ein Glimmen entfachte sich unter Johannas gräulich-weißen Haarsträhnen. „Frau Born, ich habe zwei Brötchen mitgebracht. Dazu gibt es Honig mit Butter, dick beschmiert. Und frischen Kaffee. Wenn sie angezogen sind, fühlen Sie sich wohler und können es sich schmecken lassen. Oder hat Ihre Mutter Ihnen das anders beigebracht?“ Johannas Lieblingsbruder war Pfarrer gewesen, das musste doch zu irgendwas nütze sein. Immerhin zuckte ihr Gesicht jetzt. „Schlüpfer, Unterhemd, Strümpfe, es ist alles da, möchten Sie lieber den hellblauen Rock oder das dunkelgrüne Kleid überziehen?“ Die junge Frau versuchte anzuwenden, was sie wusste: Johanna liebte seltene, beschauliche Momente. „Am besten wir nehmen das Kleid, es ist so schönes Wetter, das passt gut.“ Mit einem Griff, der beherzt nach vorn stürzte, sprang sie auf und riss die Alte mit sanfter Gewalt aus dem Sessel.

Die Angst fällt zwischen Wangenknochen und Nasenwurzel als Schatten ein. Johanna lässt sich hochziehen, schwankt ein wenig, möchte zurückfallen. Maren verstärkt den Druck. „Na kommen Sie, das schaffen wir doch“. Es wird gezerrt und geschubst und geschoben. Das nasse Nachthemd klebt an ihren Beinen und Johanna schlurft und hält sich am Türrahmen fest. Das Bad ist winzig, der Gestank legt sich zwischen Gaumen und Zunge. Die junge Frau kann sich nicht gleichzeitig die Nase zuhalten und Johanna das Nachthemd ausziehen, die jetzt stöhnt, auweh, ohje, achnee und den Ellenbogen knapp an Marens Schlüsselbein vorbeistößt; eine Übelkeit, die sich in den Kniekehlen festbeißt, stößt im Magen eine Runde Sechzig-Grad-Wäsche an. Maren starrt auf die zurechtgelegten sauberen Waschlappen, damit sie das kotbeschmierte, verkrustete Handtuch, mit dem Johanna sich auch die Nase putzt, nicht anzusehen braucht. Johanna spielt ein anales Sprachspiel nach dem anderen, dessen Regeln kaum einer mehr folgen kann. Der Lappen wird ins lauwarme Wasser getaucht, während Johannas krumme Finger sich an den Waschbeckenrand klammern. Ein weißer, gerundeter Rücken mit lauter kleinen Leberflecken schämt sich. Die junge Frau überspielt das mit einer fachmännisch aufgesetzten Anweisung: „Bitte die Beine etwas breiter, Frau Born, helfen Sie ein wenig mit, ja so ist es gut“. Johanna beginnt laut und deutlich zu stöhnen und Maren wäscht die dunkelgelbbraune Brühe aus dem Lappen und versteht nicht, sie versteht es wirklich nicht. Sie denkt, Johanna findet das anstrengend, sie hält sich kaum noch und fällt gleich, ich muss mich beeilen, aber die Scheide muss, das weiß ich, besonders gründlich ausgewischt werden, die Hautfalten zwischen den Beinen, da setzen sich sonst Bakterien fest, breiten sich Entzündungen und Vereiterungen aus. Und die Hand, der Lappen und Maren gleiten behutsam zwischen die Beine, hinein in die Wölbung, und Johanna bewegt sich, stöhnt, jammert jajaja, und Maren ist irritiert. Sie trocknet Johanna schweigend ab, die sich nicht mehr geniert: „Kratz mich mal da am Rücken!“ Es wird gekratzt. Das stinkende Abwasser läuft durch den Siphon. Johanna muss noch angezogen werden: Der Toilettendeckel ist herunterzuklappen, die Spritzer, nimmt sich Maren vor, entferne ich nachher.

Ihr geht durch den Kopf, warum eine Reihe schwer arbeitender Menschen sich solch misslich zu nennende Bedingungen gefallen lässt, wo doch eine Nachricht, eine Mitteilung, ein Anschreiben gereicht hätte, um über einen amtlichen Bescheid eine Einweisung durchzusetzen und andere Klienten anzufordern. Johanna schnäuzte einer ihrer Mitarbeiterinnen gern in den frisch gebügelten Rock, eine andere schlug unverhofft zurück. Seitdem lässt sie die Hände ruhen.

Von der Sorte Großmütter kannte Maren keine. Ihre nannten sich Oma und waren anders. Das Dorf am bergigen Abhang, einem Vorläufer des hessischen Spessarts, in dem Johannas Großmutter gelebt hatte, war von der Paulskirche gute fünfzig Kilometer entfernt. Soweit war sie zu Fuß nie gekommen, sondern sie ging nur bis Hanau, erst in eine Gelatinefabrik und später dann zur Pulverfabrik auf dem Großauheimer Gelände, und das zweimal in der Woche hin und zurück. Das wusste ich noch nicht, damals, als Maren sich abmühte, Johanna die Strumpfhose über die Ferse zu schieben; der Fuß war hart und knochig und widerborstig und zappelte und wich aus und Johanna machte auauauau, und während sie kniete, fühlte sie, dass Johanna den Kopf hob und sie ansah und plötzlich, ganz plötzlich mischte sich in unsere Augen Farbe, ließ die Rede sein vom Zubrot der Liebe, und sparsam ging sie um mit Weiß. Das war kurz und knapp und vergaß sich wieder. Es lag auf Johannas Gesicht: das vergaß man nicht.

Maren, eine Studentin im Fach Philosophie, in einer Stadt wie Frankfurt, in einem Jahr wie diesem, zog die Tür hinter sich zu. Fiel aus dem Alptraum. Nach den Eintragungen in den Pflegedienstordner suchte sie das Weite, suchte nach Treppenstufen, schwankte aus der Haustür. Ein Erwachen ergab sich nicht, während Schritt auf Schritt sich lähmend folgten, die Sonne streichelte den Nacken nicht, der kleine Spatz auf der Siedlungsbank sah sie nicht mit gewitzten blanken Äuglein an, nicht der Rosengarten in der Parkanlage blühte und warf mit Duft nur so um sich. Johanna hatte das Leben zusammengestrichen und auf einen einzigen ekelerregenden, widerwärtigen, zerstörerischen Punkt reduziert: Das blanke Nichts. Aber es lebte noch.

Ich gehe da nie wieder hin. Ich habe das nicht nötig. Das hat nichts mit mir zu tun, nicht mit Philosophie und schon gar nicht mit Liebe. Ich bin nicht Jesus: Es gibt Dutzende anderer Möglichkeiten. Teilzeit, freie Mitarbeit, Kurierdienst, Bedienung. Verschiedene Nachhilfeinstitute suchen immer jemanden in den Hauptfächern. Alles, nur das nicht. Und warum sieht mich dieser Mann an, auf der Parkbank, verlottert wie er ist, mit diesen stumpfen, abgeblätterten, leblosen, leeren, nein, das kann man nicht Augen nennen, oder etwa doch, sind das noch Augen, die mich verfolgen. Von weit her sehen sie meine Bluse an zwischen den Rosen, nicht mich, nicht des Frühlings blaues Band und nicht die pflaumenleichte Zeit der Frühe, nur die bunte Bluse sehen sie, verfolgen mich, als hätt' ich was. Das kann nicht sein. Ich bin nicht für diese Welt zuständig. Ich hab sie nicht gebaut und muss zusehen, wie ich zurechtkomme. Da ist ein Kind, mit seinen kurzen dicken Beinchen und den Prachtlocken im Wind und dem runden Po in Shorts, das läuft und springt und freut sich, und dort ist ein Supermarkt, vorn, nur noch an diesem Wasserhäuschen vorbei, wo sie schon wieder gucken, saufen, saugen, schlucken, nuckeln, und durch die Welt, die uns trennt, laufe ich wie unsichtbar schnurstracks abgewandt auf den Einkaufsmarkt zu. Da kommt die Einkaufspassage, hier eine Bank, dort eine Bushaltestelle, in den Supermarkt gehen sie auch, um sich ihr Gesöff zu holen, den fehlenden Glanz im Auge der Mutter: Es gibt eine Grenze zwischen unsichtbarem Pergamentpapier, Papyrusrollen und diesem, und mein Portemonnaie ist aus Leder und meine Achselhöhlen riechen anders. Was ich leiste, leiste ich, das ist der Beitrag zum Leben. Oderetwanicht? Warum ist sie dann zurückgegangen zu dem Mann und hat sich auf die Parkbank gesetzt zu ihm, und sie haben eine Zigarette geraucht, schweigend, umsonst, völlig umsonst hat sie ihm eine angeboten, und er hat nicht gelächelt, und die Augen sahen rotumrändert müde aus und sahen sie kaum an, schwielige Hände hatte er, und dann sagte sie, heulen wollte sie nicht: Ich muss jetzt gehen.

Der Junge war mager und hibbelig und unübersehbar auffällig mit sich selbst beschäftigt. Er lief zwischen den hohen Bücherwänden der Universitätsbibliothek hindurch und zog Schleifen, stapelte unsichtbare dicke Wälzer und Papiere auf einem freien Tisch, baute Türmchen auf und wieder ab, lief zurück in die Gänge, tänzelte. Zwischen Material und Boden glitt er aus und fiel und schob sich in eine Lücke ausgeliehenen Freiraums zwischen Max Weber und Werner Sombart. Da lugten braunes Haar und ebenso braune Augen und eine kleine Rotznase in einem ovalen Gesichtchen für einen Moment zart und still hervor und lauschten den gelehrten Geräuschen belesener erwachsener Menschen, und Maren konnte nicht anders als lächeln. Dann ging sie wieder an ihren Tisch, meinte, im Umblicken einen zu erkennen, der zu dem Kind gehören mochte und sammelte ein, was sie brauchte, um zu verstehen. Anderntags sah sie schon auf dem Sprung zu einer Vorlesung den Jungen wieder, diesmal in der philosophischen Bibliothek, und auch die Hand, die ihn umfasste. Das ist doch der Bibliothekar, dachte Maren bei sich, der aushilft, wo er kann, und wo er nicht kann, hilft er auch und knipst den Lichtschalter an, wenn nötig, damit die Buchstaben genauer in uns einfallen und nüchterne Gedanken sich ordnen, und gießt die Pflanzen in den Räumen, die uns zu einer harmonischen Gliederung der begrifflichen Erkenntnis im Widerschein der Natur verhelfen, und geht ans Telefon und ordnet Fragen in der richtigen Reihenfolge nach Handapparat, Software und Seminarräumen, und manchmal verhaspelt er sich beim Reden, hat nicht studiert, ist nicht wie unsereins, denkt er, und wird noch ein wenig beflissener. Eine Dreiviertelstelle hat er und sieht denen zu, die über ihn hinweglesen und liefert, was er zu tun bekommt. Und das Kind gehört zu ihm. Aber was soll an dem Kind anders sein als an anderen, was meinst Du, alle sind sich doch auch nicht gleich. Maren weiß es nicht zu entscheiden, nickt freundlich im Hinausgehen. Da steht das Kind und wartet, dass der Vater endlich Zeit hat nicht nur für andere. In den braunen Augen streiten sich Neugierde und die Furcht, dass die Neugierde umsonst ist. Der Vater schaut sehnsüchtig aus dem Fenster.

: Einen Anfang gibt es nicht. Und das Ende ist noch nicht abzusehen. Der nächste große Schritt ist die Entschlüsselung der Funktionsweise der menschlichen Gene, damit die Nutzung individueller Gendaten voranschreiten kann.

Maren kennt den Professor als eine öffentliche Person und als Experten für Wirtschaftsethik und Technologietransfer. Jetzt bricht er ab, verschiebt das Erfordernis einer Enquete-Kommission, die Recht und Ethik der Gentechnik nach Bedarf einteilen soll, auf die nächste Woche. An seiner Stelle spricht heute noch ein anderer: den hat er mitgebracht als Gast. Der steht im Anzug, zwischen den Fingern hält er die Kreide, betont sich an der Tafel mit Brille und Worten, worüber er Zeichen setzt. Meine Damen und Herren. Risiken und Chancen des Zeitalters. In einer Stadt wie Frankfurt liegen Verelendung und Innovation gefährlich nahe beieinander.

Die kommunale Stadtentwicklung gehört weltweit zu den drängendsten gesellschaftlichen Problemen. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, muss sich die Politik ihrer öffentlichen Verantwortung stellen. Auch in Afrika, Asien und Lateinamerika, wo Mega-Citys mit bis zu 30 Millionen Bewohnern explodieren. Wir können nicht Schritt halten, wenn wir den Fortschritt nicht regulieren, sonst löst der Aids-Faktor all unsere Probleme. Die Zuwanderung von Ausländern, die unter der Armutsgrenze leben, wird zu einem Defekt unseres Systems führen, für das ein liberales Ausländerrecht nicht mehr aufkommen kann. Da uns Johanna schon genug Kopfschmerzen bereitet. Nein. Er sagte: Ich danke Ihnen.

Ein genstrategisch optimales Verhalten hat sie nie an den Tag gelegt, so schien es Maren auf dem Weg zu Johanna. Johannas Großmutter ging es genauso. Die hatte keine Ahnung, dass das Ich durch das Andere auf sich selbst reflektiert. Schreiben wollte sie lernen und ein wenig rechnen, sonst nahm sie es so, wie es war, das zieht sich selbst groß. Der Waschtag begann um vier Uhr, die Wäsche wurde über Nacht eingeweicht und gekocht, damit sich Schmutz lösen konnte, dann wurde sie auf großen Steinen eingeseift und mit massiven Holzstücken geschlagen, und Johannas Großmutter spülte die Kleider in Fluss und Bachlauf aus, die Wäsche musste gebleicht werden und wieder gespült. Vor Schulbeginn waren die schweren, geflochtenen Wäschekörbe und eisernen Wannen zum Wasserbett zu tragen, und nach dem letzten Begießen waren sie nach Hause zu bringen und aufzuhängen, denn eine Wasserleitung hatte der Haushalt nicht und auch kein Waschbrett und keine Kurbelwaschmaschine, und einen Handstampfer hat Johannas Großmutter nie gekannt. Sie heiratete früh und bekam den kleinen Hof. Der Mann trank und gab das Geld aus, und die Landwirtschaft blieb ihr überlassen. Nebenher bekam sie Kinder, hatte keine Zeit für das Wochenbett und kein Geld für ärztliche Hilfe, und der Mann und die Geburten und die körperliche Arbeit auf dem Feld und im Stall ließen die Gebärmutter weit heraustreten, bis sie zwischen den Beinen hing und scheuerte an ihrem Körper. Hin und wieder rieb sie ein wenig Salatöl darauf. Weil der Mann sie in betrunkenem Zustand schlug, sperrten die ältesten Kinder sie in den Abendstunden in den Keller. Johanna hat das lange Zeit unterschlagen. Als sich ihre Großmutter beim Dreschen eines Tages die Hand abriss, versuchte sie eine Unfallrente zu erhalten, aber ihr Mann unterschrieb auf Anraten des Bürgermeisters beim Bürgermeister eine Verzichtserklärung. Johannas Großmutter blieb hartnäckig in der Hoffnung auf eine Rente von monatlich zehn Mark, und die Kaiserin schrieb tatsächlich zurück: Sie könne ihr leider nicht helfen, schrieb sie, und sandte ihr zwanzig Mark. Das war noch vor der Arbeit in der Fabrik.

Zwischen Sandstein, Muschelkalk und Schiefer, steinigen Böden und Kartoffeläckern, von Waldflächen aus Kiefern, Buchen und Eichen umgeben, in einem der windschiefen Steinhäuser, bestehend aus einem überirdischem Keller, einem Wohnraum mit angeschlossener fensterloser, stickiger Kammer und einer kleinen Küchenecke, in einem Wetterloch namens Cassel wurde sie geboren. Unter demselben Dach befanden sich auch der Viehstall und die Scheune. Das gab es in Johannas Siedlung nicht: Johanna lebte in Frankfurt. Weil der Schornstein fehlte, strömte der Rauch gewöhnlich durch alle Räume durch die Luken und durch die in der Mitte quer geteilte Tür hinaus. Im Inneren wohnte die Familie mit entfernten Verwandten und unzähligen Kindern. Die Betten waren schmutzig und in geringer Zahl in dem dumpfen Kämmerchen aufgestellt, man schlief zu mehreren in einem. Die Ortschaft lag vereinzelt und ziemlich abgelegen. Krämer, Trödler, Hökerweiber, jüdische Händler und Botenfrauen übernahmen sommers wie winters die Versorgung der Bevölkerung, die fremdländischen Kesselflicker ließ man auf der Straße vor dem Haus oder im Hof sitzen. Das umherfahrende Volk war unverzichtbar, aber nicht mit Einheimischen zu vergleichen. Zur älteren Schwester von Johannas Großmutter - oder war es die Tante? - war man freundlich: Das war die mit den Holzschuhen und mit der Kötze auf dem Rücken. Sie war Weck- und Butterhändlerin, die Käse, Federvieh und Milch, Kaffee und allerlei Spezialitäten von Kolonialwarenhändlern in die Dörfer trug, aber auch für Postaufträge zuständig war. Manchmal sah man sie in Fulda, Schlüchtern oder Brückenau auf dem Markt, und bei stürmischem Wetter war sie auch mit einem ihrer Kinder unterwegs, um in den Apotheken, den Lädchen und Geschäften der umliegenden Städte für ihre Kundschaft einzukaufen. Mindestens einmal in der Woche lief sie von Schlüchtern nach Fulda und zurück, das macht sechzehn Stunden und trug ihr den Namen „fliegender Holländer“ ein. Johannas Großmutter wird sich darauf besonnen haben, als sie den Mann und die halbwüchsigen Kinder verließ. Nur das jüngste Kind, ein Mädchen, nahm sie mit.

Johanna hat sich etwas Besonderes ausgedacht. Sie öffnet die Tür und sagt zu der jungen Frau: „Ich kenn Dich nicht. Du kannst wieder gehen!“ Gibt der Tür einen Ruck, als wolle sie sie wieder schließen. Marens Fuß stoppt den Vorgang, die Tür lässt sich öffnen und Johanna schlurft im Hintergrund. Maren blickt auf das Guckloch wie auf ein Bollwerk, eine trutzige Burg, durch deren Schießscharte ein giftiger Pfeil trifft. Johanna will auf keinem Meter Nähe. Die Nachbarin macht auch die Tür auf, noch nicht bekannt, aber vertraut wie das Lied der Straße, es klingt wie ein Leierkasten, der zugunsten von Maren aufspielt und sich gegen Kleingeld und Kinkerlitzchen verwahrt. Große Augen macht sie, rund und mütterlich und vorwurfsvoll und seufzt. „Ja, das Hannerle,