Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule - Doris Kocher - E-Book

Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule E-Book

Doris Kocher

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Beschreibung

Der Storyline Approach ist ein Ansatz für integratives, projektorientiertes und fächerübergreifendes Lernen, der ursprünglich in Schottland entwickelt wurde und heute in über 40 Ländern praktiziert wird, und zwar in ganz unterschiedlichen Kontexten. Überraschenderweise liegen jedoch kaum Forschungsarbeiten zum Einsatz im Fremdsprachenunterricht vor. Kocher schließt diese Lücke. Sie befasst sich mit der Entwicklung von Storyline-Projekten für den Englischunterricht in der Sekundarstufe 1, die in verschiedenen Klassenstufen erprobt und im Hinblick auf Motivation und Lernerfolg beforscht wurden. Des Weiteren geht Sie der Frage nach, wie der Storyline Approach bestmöglich an Lehramtsstudierende vermittelt werden kann, um eine nachhaltige berufsbezogene Handlungskompetenz zum positiven Umgang mit heterogenen Lerngruppen zu erzielen. Das Seminarmodell wurde in mehreren Forschungszyklen untersucht und evaluiert.

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Doris Kocher

Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule

Theorie, Praxis, Forschung

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

ISBN 978-3-8233-8303-1 (Print)

ISBN 978-3-8233-0169-1 (ePub)

Inhalt

Vorwort0 EinleitungTeil A: Grundlagen, Theorie und Forschungsstand1 Die Ausgangslage: Kinder und Jugendliche in der Schule1.1 Einleitung1.2 Der ewige Patient: Die Schule1.3 Wer hat, dem wird gegeben: Bildungs- und Lebenschancen1.4 Heterogenität in Schule und Unterricht: Dilemma oder Chance?1.5 Gewalt, Stress, Langeweile: Der Schulalltag?1.6 Lebenslanges Lernen: Welche Kompetenzen soll die Schule vermitteln?1.6.1 Lebenslanges Lernen: Lernen für das Leben1.6.2 Kompetenzen: Der Weg zum Ziel?1.7 Zusammenfassung und Fazit2 Der Weg ist das Ziel: Der Storyline Approach2.1 Einleitung2.2 Entwicklung und Verbreitung des Storyline Approach2.2.1 Einleitung2.2.2 Ursprünge und geschichtlicher Hintergrund2.2.3 Verbreitung und Weiterentwicklungen2.3 Grundlegende Prinzipien und Merkmale des Storyline Approach2.3.1 Einleitung2.3.2 Prinzipien: Das Storyline-Konzept2.3.3 Merkmale: Das Storyline-Klassenzimmer2.4 Storyline und Task-based Language Learning2.4.1 Einleitung2.4.2 Grundzüge des Task-based Language Learning2.4.3 Von der Theorie zur Praxis: TBL-framework und Storyline2.4.4 Zum Stand der Aufgabenforschung2.5 Zusammenfassung und Fazit3 Grundlagen einer konstruktiv(istisch)en Lernkultur3.1 Einleitung3.2 Die Ursprünge des Konstruktivismus3.2.1 Geistesgeschichtliche Einordnung des Konstruktivismus3.2.2 Jean Piagets genetische Erkenntnistheorie3.2.3 Lev S. Vygotskijs kulturhistorische Theorie des Menschen3.2.4 Systemtheoretische und kybernetische Grundlagen3.2.5 Gregory Batesons Unterschiede, die einen Unterschied ausmachen3.2.6 Die Kommunikationstheorie der Palo-Alto-Gruppe3.3 Neuere Varianten und Kernthesen des Konstruktivismus3.3.1 Der Radikale Konstruktivismus3.3.2 Der Soziale Konstruktivismus3.3.3 Zusammenschau und Diskussion der Ansätze3.4 Von der Theorie zur Praxis oder vice versa3.5 Der Storyline Approach und konstruktiv(istisch)es Lernen3.6 Zusammenfassung und Fazit4 Grundlagen eines motivierenden Unterrichts4.1 Einleitung4.2 Was ist Motivation?4.2.1 Einleitung4.2.2 Definition4.2.3 Motivationsforschung: Probleme und neue Impulse4.3 Theorien zur Motivation beim Fremdsprachenlernen4.3.1 Einleitung4.3.2 Die sozial-psychologische Periode4.3.3 Die kognitiv-situierte Periode4.3.4 Die prozessorientierte Periode4.3.5 Die sozio-dynamische Periode4.4 Konsequenzen und Empfehlungen für die fremdsprachliche Praxis4.4.1 Einleitung4.4.2 Motivationale Grundvoraussetzungen schaffen4.4.3 Erfolgserwartungen der Lernenden erhöhen4.4.4 Zielorientierung der Lernenden fördern4.4.5 Lernzielorientierung fördern4.4.6 Anregung und Freude beim Lernen vermitteln4.4.7 Präzise Zielsetzungen formulieren4.4.8 Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen stärken4.4.9 Kooperation fördern4.4.10 Selbstbestimmtes Lernen fördern4.4.11 Strategien zur Selbstmotivation vermitteln4.4.12 Konstruktive Attributionen fördern4.4.13 Motivationales Feedback geben und Zufriedenheit erhöhen4.5 Der Storyline Approach und motivierendes Lernen4.6 Zusammenfassung und FazitTeil B: Empirische Studie5 Erkenntnisinteresse und Untersuchungsdesign5.1 Einleitung5.2 Erkenntnisinteresse und Forschungsfragen5.2.1 Einleitung5.2.2 Forschungsfokus Klassenzimmer5.2.3 Forschungsfokus Hochschuldidaktik5.3 Untersuchungsdesign und Datengewinnung5.3.1 Einleitung5.3.2 Das Untersuchungsdesign in schematischer Darstellung5.3.3 Die Genese des theoretischen Sampling5.3.4 Die Ebene der Datenerfassung5.3.5 Die Auswertung und Interpretation der Daten5.3.6 Triangulation als Forschungsprinzip5.4 Zusammenfassung und Fazit6 Forschungsfokus Klassenzimmer6.1 Einleitung6.2 Fallstudie 1: The Farm (Klasse 6)6.2.1 Allgemeine Informationen6.2.2 Die Institution und die Lerngruppe6.2.3 Die Lehrkraft6.2.4 Das Storyline-Projekt6.2.5 Der Unterrichtsverlauf: Beobachtungen und Reflexion6.2.6 Die schriftliche Befragung der Lernenden6.2.7 Das Abschlussgespräch mit der Lehrkraft6.2.8 Fazit6.3 Fallstudie 2: Witches (Klasse 7)6.3.1 Allgemeine Informationen6.3.2 Die Institution und die Lerngruppe6.3.3 Die Lehrkraft6.3.4 Das Storyline-Projekt6.3.5 Der Unterrichtsverlauf: Beobachtungen und Reflexion6.3.6 Das Abschlussgespräch mit der Klasse6.3.7 Die schriftliche Befragung der Lernenden6.3.8 Das Abschlussgespräch mit der Lehrkraft6.3.9 Fazit6.4 Fallstudie 3: Kidnapped in Scotland (Klasse 7)6.4.1 Allgemeine Informationen6.4.2 Die Institution und die Lerngruppe6.4.3 Die Lehrkraft6.4.4 Das Storyline-Projekt6.4.5 Der Unterrichtsverlauf: Beobachtungen und Reflexion6.4.6 Die schriftliche Befragung der Lernenden6.4.7 Das Abschlussgespräch mit der Lehrkraft6.4.8 Fazit6.5 Fallstudie 4: Our Ideal School (Klasse 9)6.5.1 Allgemeine Informationen6.5.2 Die Institution und die Lerngruppe6.5.3 Die Lehrkraft6.5.4 Das Storyline-Projekt6.5.5 Der Unterrichtsverlauf: Beobachtungen und Reflexion6.5.6 Die schriftliche Befragung der Lernenden6.5.7 Das Abschlussgespräch mit der Lehrkraft6.5.8 Fazit6.6 Fallstudie 5: Our Ideal School (Klasse 10)6.6.1 Allgemeine Informationen6.6.2 Die Institution und die Lerngruppe6.6.3 Die Lehrkraft6.6.4 Das Storyline-Projekt6.6.5 Der Unterrichtsverlauf: Beobachtungen und Reflexion6.6.6 Die schriftliche Befragung der Lernenden6.6.7 Das Abschlussgespräch mit der Lehrkraft6.6.8 Fazit6.7 Fallstudie 6: Our Class (Klasse 5)6.7.1 Allgemeine Informationen6.7.2 Die Institution und die Lerngruppe6.7.3 Die Lehrkraft6.7.4 Das Storyline-Projekt6.7.5 Der Unterrichtsverlauf: Beobachtungen und Reflexion6.7.6 Die schriftliche Befragung der Lernenden6.7.7 Die schriftliche Befragung der Lehrkraft6.7.8 Das Abschlussgespräch mit der Lehrkraft6.7.9 Das Gespräch mit den Eltern6.7.10 Fazit7 Forschungsfokus Hochschuldidaktik7.1 Einleitung7.2 Das Seminarkonzept7.3 Fallstudie 7: The Farm7.3.1 Allgemeine Informationen7.3.2 Die Lerngruppe7.3.3 Der Seminarverlauf: Beobachtungen und Reflexion7.3.4 Das Seminarergebnis: Projektdesign und Reflexion7.3.5 Weitere Kontakte: Mails and more7.3.6 Fazit7.4 Fallstudie 8: Witches7.4.1 Allgemeine Informationen7.4.2 Die Lerngruppe7.4.3 Der Seminarverlauf: Beobachtungen und Reflexion7.4.4 Die schriftliche Befragung der Studierenden7.4.5 Das Seminarergebnis: Projektdesign und Reflexion7.4.6 Weitere Kontakte: Mails and more7.4.7 Fazit7.5 Fallstudie 9: Witches7.5.1 Allgemeine Informationen7.5.2 Die Lerngruppe7.5.3 Der Seminarverlauf: Beobachtungen und Reflexion7.5.4 Die schriftliche Befragung der Studierenden7.5.5 Das Seminarergebnis: Projektdesign und Reflexion7.5.6 Weitere Kontakte: Mails and more7.5.7 FazitTeil C: Bilanz und Ausblick8 Zusammenschau und Diskussion der zentralen Ergebnisse8.1 Einleitung8.2 Forschungsfokus Klassenzimmer8.2.1 Einleitung8.2.2 Was motiviert Schülerinnen und Schüler in Storyline-Projekten?8.2.3 Was lernen Schülerinnen und Schüler in Storyline-Projekten?8.2.4 Kann Motivation trotz intensivem Sprachinput aufrechterhalten werden (Klasse 5)?8.2.5 Was gefällt den Lernenden am normalen Englischunterricht besser (Klasse 6)?8.2.6 Wie beurteilen Lernende zwei Storyline-Projekte im Vergleich (Klasse 7)?8.2.7 Gibt es Unterschiede bei der Durchführung eines Projekts (Klasse 9 und 10)?8.2.8 Wie beurteilen die Lernenden den Fries (Klasse 5, 9 und 10)?8.3 Forschungsfokus Hochschuldidaktik8.3.1 Einleitung8.3.2 Wie wird eine motivierende und lernförderliche Atmosphäre geschaffen?8.3.3 Welche Aspekte bzw. Seminarelemente finden die Studierenden motivierend?8.3.4 Welche Einsichten und Kompetenzen gewinnen die Studierenden im Seminar?8.3.5 Wie werden Studierende zu Reflexion und forschendem Fragen angeregt?8.3.6 Wie können Theorie und Praxis gewinnbringend verbunden werden?8.3.7 Wie lernen Studierende eigene Storyline-Projekte zu konzipieren?8.3.8 Wie beurteilen die Studierenden das Seminarkonzept?8.3.9 Wie kann eine nachhaltige berufsbezogene Handlungskompetenz im Umgang mit heterogenen Lerngruppen erzielt werden?9 Schlussfolgerungen und Desiderate für die Praxis9.1 Forschungsfokus Klassenzimmer9.2 Forschungsfokus Hochschuldidaktik9.3 Grenzen und Restriktionen9.3.1 Einleitung9.3.2 Die Forschungsmethode9.3.3 Der Storyline Approach10 AusblickQuellenverzeichnisAnhangAnhang A: Fragebögen der LernendenAnhang B: Fragebögen der StudierendenAnhang C: Transkriptionsregeln für die Verschriftung mündlicher BeiträgeAnhang D: Datenquellen und ihre KurzbezeichnungenAnhang E: Kodierungskatalog und Kategoriensystem

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde 2017 als Dissertation an der Pädagogischen Hochschule Freiburg eingereicht und im Mai 2018 verteidigt. Sie dokumentiert meine vielfältigen (Lern-)Erfahrungen mit dem Storyline Approach in chronologischer Reihenfolge: von der ersten Begegnung und spontanen Begeisterung in den 1990er Jahren bis heute. Über mehrere Jahre hinweg an einer solchen Arbeit zu schreiben, ist bekanntlich nicht immer einfach und die Motivationskurve steigt und fällt aus nachvollziehbaren Gründen. Manchmal standen andere Ziele (z.B. gesundheitliche, familiäre oder berufliche) im Vordergrund, so dass ich meine Arbeit phasenweise für längere Zeit unterbrechen musste. Dennoch war die intrinsische Motivation für das Thema, mitunter auch als Flow erlebbar, stets vorhanden und hat mich immer wieder angetrieben. Ich habe in vielerlei Hinsicht auch persönlich von dieser Arbeit profitiert. Dabei haben mich viele Menschen in unterschiedlichster Weise unterstützt und motiviert: durch Gespräche, Fragen oder auch (willkommene) Ablenkungen.

Ich möchte mich an dieser Stelle zunächst ganz herzlich bei Prof. Dr. Matthias Hutz für die anregenden Gespräche und seine konstruktive Betreuung vor allem in der Endphase meiner Promotion bedanken. Auch danke ich Prof. Dr. Engelbert Thaler für die geduldige Begleitung und sein Interesse an meiner Forschungsarbeit. Sie beide haben mir viel Freiheit gelassen, um mich mit dem Thema intensiv auseinanderzusetzen. Dieses entgegengebrachte Vertrauen weiß ich sehr zu schätzen. Prof. Dr. Thomas Raith danke ich für seine Unterstützung gegen Ende meiner Promotion.

Mein besonderer Dank gilt meinem ehemaligen Kollegen Prof. Dr. Klaus-Dieter Fehse für die jahrelange konstruktive und inspirierende Zusammenarbeit in diversen Forschungsprojekten zum themen- und projektorientierten Fremdsprachenlernen und die zahlreichen gewinnbringenden Gespräche während der Erstellung der Dissertation, die er zunächst als Erstgutachter betreut hatte.

Steve Bell danke ich für seine langjährige freundschaftliche Unterstützung. Durch ihn habe ich den Storyline Approach intensiv kennengelernt, weil er immer die passenden key questions stellte, die mich zum Weiterforschen und (lebenslangen) Lernen anregten. Gleichermaßen danke ich Sallie Harkness, ebenfalls Mitglied des ehemaligen Staff Tutor Team in Glasgow, denn auch sie hatte stets ein offenes Ohr für meine Fragen und unterstützte mich nicht zuletzt durch ihre persönliche Wertschätzung meiner Arbeit.

Zu Dank verpflichtet fühle ich mich auch allen Storyline friends im In- und Ausland, die mich im Rahmen des Golden Circle Seminar immer wieder inspiriert haben. Ebenso den Lehrkräften mit ihren Klassen, die mir (und den Studierenden) die Gelegenheit gaben bzw. geben, Storyline-Projekte auszuprobieren, und die durch ihre positive Rückmeldung zeigen, dass sich der Mehraufwand für projektorientierten Fremdsprachenunterricht in jeglicher Hinsicht lohnt.

Auch den Studierenden aus den diversen Hauptseminaren zum projekt- und themenorientierten Lernen und Lehren gebührt mein Dank. Sie haben mich durch ihren Enthusiasmus immer wieder darin bestärkt, dass Storyline ein Modell ist, das nicht nur auf dem Papier schön klingt, sondern das vor allen Dingen auch realisierbar ist und dazu führt, das Fremdsprachenlernen und -lehren „sinn-voller“, motivierender und nachhaltiger zu machen.

Schließlich möchte ich mich auch bei meinen Eltern bedanken, die früh bemerkt haben, dass ich gerne lerne, und die mich auf ihre Weise darin unterstützt haben. Leider konnten sie die Vollendung dieser Arbeit nicht mehr erleben. Ihnen möchte ich diese Arbeit widmen.

Last but not least danke ich Prof. Dr. Michael Legutke, der mich dazu ermuntert hat, über meine Erfahrungen mit dem Storyline-Konzept zu promovieren. Ohne seine Initiative hätte ich vermutlich nie den Mut gehabt, diesen Schritt zu gehen.

 

Freiburg im Breisgau, im Dezember 2018     Doris Kocher

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Telling a story is by far the most effective way of getting through to audiences and if the content of a particular work is centred around a coherent and interesting storyline, even complex material can be made enjoyable and digestible (Dörnyei 2007, 278)

Die Bezeichnungen der Jugendgeneration überschlagen sich heute förmlich und spiegeln den schnellen Wandel unserer Gesellschaft: Plakative Wortschöpfungen wie „Generation Google“, „Generation Facebook“, „Generation Smartphone“ „Generation Praktikum“, „Generation Stress“, „Generation XXL“, „Generation Z“, „Generation Doof“ (Bonner/Weiss 2008), „Generation beziehungsunfähig“ (Nast 2016), „Generation Porno“ (Gernert 2010), „Generation Ich“ (Keller 2015), „Generation ADHS“ (Kowitz 2013), „Generation Globalisierung“ (Gebhardt-Eßer 2013) oder „Generation Wodka“ (Siggelkow u.a. 2011) spuken durch die Medien, um die Herausforderungen der Gegenwart auf einige greifbare Merkmale zu reduzieren.

Unbestritten ist, dass die heutigen Schülerinnen und Schüler in einem Umfeld aufwachsen, das sich vor allem durch Unbeständigkeit, Leistungsanspruch, Pluralität und Komplexität auszeichnet, so dass man keineswegs – wie die obigen Generationenbezeichnungen suggerieren – von einer homogenen Gruppe ausgehen kann, und es „sehr schwer geworden ist, sich ein Gesamtbild zu verschaffen“ (Bauer, Q. 2007, 6), denn die junge Generation erweist sich als „hochgradig differentiell hinsichtlich ihrer Lebenslagen“ (Stein/Stummbaum 2011, 218). Fakt ist, „die“ Jugend gibt es nicht (Anhorn 2010)!

Die vielseitigen und vielschichtigen Veränderungen im Alltag der Jugendlichen, die sich in äußerst heterogenen Biographien, Kompetenzen und Bedürfnissen niederschlagen, stellen erhöhte und komplexe Anforderungen an die jungen Menschen – auch im Umgang miteinander. Sie wirken sich selbstverständlich auch auf die Schule aus. Darüber hinaus bewirkt die Informationsflut der Medien eine ständige Bewusstmachung der angeblich zunehmend schwierigen Lebenssituation auf den unterschiedlichsten Ebenen. Klafki (1996) spricht von den „epochaltypischen Schlüsselproblemen“ unserer Gegenwart, mit deren Bewältigung sich die junge Generation, neben der Auseinandersetzung mit persönlichen Problemen und Herausforderungen in Familie, Schule und Freundeskreis, ständig konfrontiert sieht – und dies vermutlich stärker als frühere Generationen: Es geht um die Friedensfrage, die Umweltfrage, die gesellschaftlich produzierte Ungleichheit, Auswirkungen der neuen Kommunikations- und Informationsmedien sowie die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen. Dazu kommen aktuell die Themen „Globalisierung“ und „Multikulturalität“. Folglich müssen die Schülerinnen und Schüler im Sinne des lebenslangen Lernens verstärkt auf eine schnelllebige und komplexe Gesellschaft und Berufswelt vorbereitet werden, so dass sie ihre individuelle Zukunft flexibel, aktiv und reflektiert gestalten können. Das bedeutet aus meiner Sicht eine ganzheitliche Bildung, die eben nicht nur auf wirtschaftliche Nützlichkeit abzielt, sondern insbesondere auch die Selbstentfaltung des Menschen im Sinn hat.

Es stellt sich hier die Frage, ob und inwiefern Schule und Unterricht der zunehmenden Heterogenität der Lernenden sowie der Komplexität und Schnelllebigkeit der Gesellschaft gerecht werden und die erforderlichen Kompetenzen vermitteln, um in der zukünftigen Gesellschaft und Berufswelt bestehen und diese zugleich kritisch reflektieren und mitgestalten zu können bzw. wie diese Kompetenzen in Schule und Fremdsprachenunterricht erworben werden können. Eine zweite Frage lautet, wie angehende Lehrerinnen und Lehrer darauf vorbereitet werden können, mit den gegenwärtigen Herausforderungen und Anforderungen konstruktiv umzugehen. Und: „Welche Voraussetzungen unterschiedlichster Art muss ein Fremdsprachenlehrer erfüllen, wenn er dazu beitragen will, Lernwege zu erkennen, Lernbarrieren auszuräumen und Lernprozesse zu effektivieren und autonomer zu gestalten?“ (Königs 2013, 18).

Problemstellung:

Schule und Unterricht gelingen nur, wenn sie auf die Zielgruppe abgestimmt sind, wenn also die Lernenden mit ihren heterogenen Voraussetzungen und Bedürfnissen in der gesamten Planung und Entwicklung von vornherein berücksichtigt und beteiligt werden. In der Theorie gehört diese Einsicht längst zum Allgemeingut, in der Praxis dagegen ist davon (zu) wenig zu spüren, denn noch immer bestimmen Frontalunterricht und Lehrwerke den Schulalltag in erheblichem Maße.

Selbstbestimmtes, aktives, handlungsorientiertes, lernerzentriertes, aufgabenbasiertes, problemorientiertes, ganzheitliches, kooperatives und sinnerfülltes Lernen – das alles sind Begriffe (die Liste ließe sich noch fortsetzen), die in der Fachdidaktik teilweise schon seit mehreren Jahrzehnten thematisiert und diskutiert werden. Entsprechend „reiche“ Lernumgebungen und Lernmaterialien sollen das Fremdsprachenlernen motivierend, effektiv und nachhaltig machen. So die Theorie. Wie aber sieht die Praxis aus? In den meisten Klassenzimmern (und vermutlich auch in den meisten Hörsälen der Universitäten) wird – so belegen diverse Studien – noch immer vorrangig via Frontalunterricht gelehrt, mit der (gut gemeinten) Absicht, möglichst schnell viel „Stoff“ zu „vermitteln“ (heute auch gerne in Form von komplexen PowerPoint- oder Smartboard-Präsentationen). Das Bild vom „Nürnberger Trichter“ ist also noch immer allgegenwärtig. Man gewinnt somit leicht den Eindruck, dass die vielfältigen Erkenntnisse aus der Fremdsprachenforschung und ihren diversen Bezugswissenschaften nicht ankommen bzw. ignoriert werden (vgl. auch Königs 2013, 18f.).

Wo liegt das Problem? Zu großen Teilen offenbar an der Umsetzung der Theorie (deklaratives Wissen) in die Praxis (prozedurales Wissen). Eine meiner Kernfragen lautet deshalb: Wie können Studierende angeleitet werden, das an der Hochschule erworbene Theoriewissen in reflektiertes Handlungswissen umzusetzen? Und: Welche Konzepte und Ansätze bieten sich an, um die oben erwähnten buzzwords mit Leben zu erfüllen, damit diese nicht nur leere Worthülsen bleiben?

Obwohl ich schon einige Jahre als Englischlehrerin in verschiedenen Institutionen gearbeitet hatte und auch als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Pädagogischen Hochschule Freiburg tätig war, wurde mir nach einem Workshop mit Steve Bell, einem der founding fathers des Storyline Approach, im Oktober 1992 bewusst: Das ist die Antwort! Dieser Kurs hat meine berufliche Weiterentwicklung sehr geprägt und ich fragte mich: Wie kann man das Storyline-Modell, das ursprünglich für den muttersprachlichen Unterricht in der Grundschule konzipiert wurde, im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I einsetzen? Und später: Was motiviert Schülerinnen und Schüler und was lernen sie in Storyline-Projekten? Sicher ist Storyline kein Allheil- oder Wundermittel, aber aus meiner Sicht ein guter Weg, um die oben genannten Desiderate mit Hilfe des integrativen Konzepts einzulösen.

Die vorliegende Arbeit beschreibt also in gewisser Weise auch meine eigene Lernbiographie: von der Entwicklung und Implementierung des ersten Storyline-Projekts in einer sechsten Realschulklasse bis zum Einsatz des Storyline Approach an der Hochschule als logische Konsequenz meiner Schulerfahrungen. Ich hatte das große Glück, im Rahmen von verschiedenen Forschungsprojekten an der PH Freiburg, verbunden mit mehreren Forschungsaufenthalten in Glasgow und Aalborg (Dänemark), meine Erfahrungen und Kenntnisse ständig zu erweitern und sie darüber hinaus auf Tagungen im In- und Ausland vorzustellen und zu diskutieren – meaningful and purposeful learning im besten Sinne.

Die insgesamt neun Fallstudien der hier vorgestellten Langzeitstudie bauen alle direkt aufeinander auf: Die sechs Untersuchungen an den Schulen basieren auf verschiedenen Storyline-Projekten, die auf Grund der positiven Erfahrungen fortlaufend weiterentwickelt und anschließend in unterschiedlichen Kontexten ausprobiert wurden. Auf diese Weise konnte ich mein Wissen und meine Kompetenzen im Hinblick auf den Storyline Approach erweitern, davon abgesehen erhöht sich durch die Verschiedenheit der Projekte und Einsatzorte auch die Validität der Befunde.

Nach Abschluss der sechs Pilotstudien stellte sich mir die Frage, wie ich meine vielseitigen Storyline-Erfahrungen in die Lehrerausbildung einbringen und sowohl Sachwissen als auch Handlungswissen, also know how und do how, gewinnbringend an Studierende des Faches Englisch vermitteln kann, um den Fremdsprachenunterricht für Lehrende und Lernende motivierender zu gestalten und möglichst viele Potenziale der heterogenen Lerngruppen auszuschöpfen. Die drei aufgeführten Fallstudien, die anschließend an der Hochschule durchgeführt wurden, spiegeln diesen Prozess wider.

Auch wenn die Fallstudien in den Realschulen inzwischen einige Zeit zurückliegen, haben die Ergebnisse meines Erachtens immer noch Gültigkeit, da es in der Zwischenzeit nur wenige curriculare, strukturelle und institutionelle Veränderungen in Bezug auf den Fremdsprachenunterricht an Realschulen gegeben hat: Zwar wurde 2004 und 2016 in Baden-Württemberg ein neuer Bildungsplan in Kraft gesetzt, allerdings wird in der Rheinschiene das Fach Englisch nach wie vor erst in der Sekundarstufe unterrichtet und die (neue) Kompetenzorientierung entspricht ohnehin dem Grundgedanken des Storyline Approach. Auch Aspekte wie Stundentafel, Organisation des Unterrichts, Lehrwerkorientierung, Klassengröße, Ausstattung usw. haben sich seitdem nicht wesentlich verändert. Andere (allmählich stattfindende) Prozesse im Bildungswesen, wie etwa die Einführung der Ganztags- oder der Gemeinschaftsschule, sind hier nicht von Relevanz. Im Übrigen wurden auch in jüngster Zeit immer wieder kleinere Untersuchungen mit oder von Studierenden durchgeführt, die meine Befunde aus den Pilotstudien unterstützen. Allerdings fanden diese unter gänzlich anderen Bedingungen statt, so dass sie hier nicht weiter berücksichtigt wurden. Ich habe mich also ganz bewusst für die Auswertung dieser sechs Pilotstudien entschieden, um eine nachvollziehbare Entwicklungslinie und transparente Verbindung von Schule und Hochschule/Lehrerausbildung darstellen zu können.

Der große Zeitraum, über den sich die Konzeption, Durchführung, Auswertung und Niederschrift dieser Untersuchungen hinzog, und die Bitten um Vorträge, Workshops und Artikel führten dazu, dass vorläufige Teilergebnisse mancher Schulstudien bereits veröffentlicht worden sind.1 Die positiven Rückmeldungen auf diese Beiträge gaben mir stets wertvolle Anregungen und führten schließlich dazu, die vorliegenden Daten und Ergebnisse unter einem erheblich erweiterten Blickwinkel neu zu betrachten und zu bearbeiten, neue Fragestellungen zu entwickeln, neue Fallstudien zu konzipieren sowie den Forschungskontext erheblich zu erweitern. Darüber hinaus stellt die vorliegende Arbeit die einzelnen Befunde erstmals im Zusammenhang dar und bietet somit wesentlich differenziertere bzw. gänzlich neue Erkenntnisse.

Gliederung der Arbeit:

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in drei Teile: Teil A (Grundlagen, Theorie und Forschungsstand: Kapitel 1-4), Teil B (Empirische Studie: Kapitel 5-7) und Teil C (Bilanz und Ausblick: Kapitel 8-10). Nachfolgend werden die einzelnen Kapitel kurz erläutert.

Kapitel 1 beschäftigt sich mit den Bildungs- und Lebenschancen der heutigen Schülergeneration sowie der zunehmenden Heterogenität in Schule und Unterricht. Des Weiteren werden diverse Probleme des Schulalltags thematisiert (z.B. Unterrichtsstörungen, Motivationsverlust bei Lernenden, Burnout bei Lehrkräften), welche auch im Fremdsprachenunterricht ernstzunehmende Lehr- und Lernbarrieren darstellen und für die bisher nur ansatzweise Lösungen vorliegen. Lebenslanges Lernen gilt mittlerweile als unabdingbares must. Die Frage ist, ob es in der Schule gefördert wird, welche Kompetenzen dafür erforderlich sind und wie diese in der Schule – also auch im Fremdsprachenunterricht – erworben werden können.

Kapitel 2 gibt einen Überblick über den Storyline Approach: Ursprünge, Weiterentwicklungen und Verbreitung des Modells sowie Prinzipien, Merkmale und Beispiele. Des Weiteren werden mögliche Zusammenhänge zum aufgabenbasierten Lernen dargestellt sowie einige Fragen aus der Aufgabenforschung erläutert. Dabei wird aufgezeigt, dass das Storyline-Modell eine Möglichkeit bietet, um den Ansprüchen von Theorie, Forschung und Bildungsplanung gerecht zu werden sowie die dort formulierten Desiderate in die Praxis umzusetzen und somit die Lernenden nicht nur zum lebenslangen Lernen zu motivieren, sondern ihnen auch ihre individuellen Lernfortschritte bewusst zu machen.

Kapitel 3 gibt einen Überblick über verschiedene konstruktivistische Strömungen und einige wichtige Vertreter und Vertreterinnen. Der historische Abriss veranschaulicht die Komplexität und Interdisziplinarität konstruktivistischen Denkens und versucht zugleich herauszuarbeiten, dass es „den“ Konstruktivismus nicht gibt, sondern verschiedene „Konstruktivismen“ (Reich 2004, 33), die sich inhaltlich und graduell unterscheiden, was in der Vergangenheit (leider) oft übersehen wurde. Des Weiteren werden Bezüge zum Storyline Approach transparent gemacht und Prinzipien für eine konstruktivistisch geprägte Lernumgebung abgeleitet. Lernen heißt, Wissen individuell und aktiv zu konstruieren. Dafür muss den Lernenden (nicht den Lehrenden) Gelegenheit gegeben werden, Fragen zu stellen, Lernwege zu erforschen, Prozesse zu reflektieren, Erfahrungen auszutauschen und ihr (Sprachen-)Lernen eigenverantwortlich zu organisieren.

Kapitel 4 beschäftigt sich mit der Frage, was motivierender (Fremdsprachen-)Unterricht ist. Zunächst wird der Begriff „Motivation“ aus verschiedenen Perspektiven definiert. Danach werden verschiedene Ansätze aus der fremdsprachenspezifischen Motivationsforschung dargestellt. Es bietet sich an, hier ebenfalls chronologisch vorzugehen, um Entwicklungen und Einflüsse transparent zu machen. Im Anschluss werden Empfehlungen für einen motivierenden Fremdsprachenunterricht aufgeführt: Wie können strukturelle Gegebenheiten durch didaktisch-methodische Maßnahmen positiv beeinflusst werden? Auch in diesem Kapitel wird auf relevante Anknüpfungspunkte zum Storyline Approach hingewiesen.

Kapitel 5 widmet sich meinem Erkenntnisinteresse und dem Untersuchungsdesign. Ziel ist es, größtmögliche Transparenz über Forschungsfragen, Vorgehensweisen und eventuelle Problemstellungen im Hinblick auf die gewählte Methodik oder die spezifische Situation vor Ort zu vermitteln. Dabei wird auch die Rolle der Forscherin kritisch reflektiert. Um dem komplexen Forschungsfeld in Schule und Hochschule möglichst gerecht zu werden, wurde der Mehr-Methoden-Ansatz (mixed methods research) gewählt. Durch die Triangulation von Methoden, Daten und Perspektiven wird versucht, den Untersuchungsgegenstand aus verschiedenen Richtungen zu betrachten, um zu möglichst validen und reliablen Befunden zu gelangen. Als Forschungsmethode wählte ich die induktive Kategorienbildung, da zu Beginn meiner Studien keine Literatur und keine Forschungsergebnisse zu Storyline vorlagen, auf die ich mich hätte beziehen können.

Kapitel 6 stellt sechs Fallstudien aus verschiedenen Unterrichtskontexten dar. Fünf sehr unterschiedliche Storyline-Projekte wurden in Klasse 5-10 (außer Klasse 8) an mehreren Realschulen ausprobiert und ausgewertet. In diesem Zusammenhang ergaben sich bereits erste Fragen, wie Studierende das komplexe Handlungswissen erwerben können, um Storyline-Projekte selbstständig zu entwickeln, durchzuführen und theoretisch begründen zu können.

Kapitel 7 präsentiert drei Fallstudien, die mit Studierenden an der Pädagogischen Hochschule Freiburg durchgeführt wurden, denn Innovationen lassen sich nur mit entsprechend ausgebildeten Lehrkräften initiieren. Mit zeitlichem Abstand wurden drei Hauptseminare zum Storyline Approach im Englischunterricht ausgewertet, um der Frage nachzugehen, wie ein Kurs konzipiert sein sollte, damit Studierende nicht nur profundes Sachwissen, sondern auch flexibles Handlungswissen erwerben und beides reflektiert miteinander verbinden können.

Kapitel 8 fasst die zentralen Ergebnisse aus Schule und Hochschule anhand der im Vorfeld formulierten Forschungsfragen komprimiert und vergleichend zusammen.

Kapitel 9 präsentiert die aus meinen Befunden abgeleiteten Schlussfolgerungen für den Fremdsprachenunterricht und die Hochschuldidaktik und versucht einen Bogen zur Theorie aus den vorherigen Kapiteln zu schlagen. Des Weiteren werden einige Desiderate für die Praxis formuliert. Abschließend werden einige Restriktionen im Hinblick auf meine Forschungsarbeit sowie die Umsetzung von Storyline im Fremdsprachenunterricht reflektiert.

Kapitel 10 gibt einige Impulse für zukünftige Projekte, Vorhaben und Untersuchungen.

 

Ich möchte an dieser Stelle mit Steve Bells klugen Worten schließen: “Good teaching is about the quality of the partnership between the teacher and the learner. Their relationship is the key to success! (...) Teachers who take pride in their professionalism do so by feeling secure in their own philosophy of teaching. Teaching should be more than the passing out of books“ (Bell 2001, 5). Wie dies realisiert werden kann, soll diese Arbeit zeigen.

Teil A:Grundlagen, Theorie und Forschungsstand

1Die Ausgangslage: Kinder und Jugendliche in der Schule

1.1Einleitung

All the flowers of tomorrow are in the seeds of today (Chinesisches Sprichwort)

Die Entwicklung der heutigen Gesellschaft zur so genannten und vielseitig propagierten „Wissensgesellschaft“ verlangt von jedem Individuum die Bereitschaft und Fähigkeit zum lebenslangen Lernen und damit verbundene Kompetenzen, um sich dem schnellen Wandel der Gesellschaft und auch des Arbeitsmarktes anpassen zu können. Entsprechend nüchtern und sachlich klingt der Bericht über ein einschlägiges OECD-Projekt:

Der beschleunigte Wandel aller Lebensbereiche, insbesondere der Berufstätigkeit, hat weitreichende Konsequenzen für die Lernerfordernisse und die Lernbereitschaft der Menschen. Nur mit kontinuierlicher Weiterbildung ist der Strukturwandel zu bewältigen und Innovationsfähigkeit zu sichern; sie befähigt die Individuen, sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten und die Gesellschaft mitzugestalten. Das ständige Weiterlernen vollzieht sich in einem kontinuierlichen Prozess der Aneignung von Qualifikationen und der Entwicklung von Kompetenzen. Solches – lebenslanges – Lernen ist von den Individuen eigenverantwortlich zu planen und zu steuern. Dies allerdings setzt Qualifikationssysteme voraus, die sie darauf vorbereiten und darin unterstützen (Bundesinstitut für Berufsbildung, Hrsg. 2004, 77).

Erfüllen unsere Schulen diese Forderungen? Werden sie den mannigfaltigen Ansprüchen der Individuen sowie der Gesellschaft gerecht? Gewährleisten sie gleiche Bildungs- und Lebenschancen für alle? Berücksichtigen sie die heterogenen Voraussetzungen und individuellen Bedürfnisse der einzelnen Lernenden? Motivieren und bereiten sie die jungen Menschen auf ein lebenslanges Lernen vor, damit diese mit Optimismus in die Zukunft blicken können? Welche Kompetenzen sind dafür konkret erforderlich? Inwiefern berücksichtigt der Fremdsprachenunterricht die diversen Ansprüche?

Bildung gilt bekanntlich als Motor des Wachstums und als Garant für soziale Gerechtigkeit und somit als wichtigste Investition in die Zukunft. Es stellt sich hier die grundsätzliche Frage, ob und inwiefern die Schule diesen hehren Anspruch einlösen kann: Werden alle Schülerinnen und Schüler entsprechend gefordert und gefördert, so dass ihre individuellen Potenziale erkannt und voll ausgeschöpft werden?

Auf den folgenden Seiten werden zu den Themen „Bildungschancen“ und „Heterogenität“ ausgewählte Ergebnisse aus der empirischen Bildungsforschung vorgestellt und kritisch kommentiert sowie einige relevante Kernpunkte und Fragen zu Anspruch und Aufgabe der Schule zusammengetragen und mit der derzeitigen Schul- bzw. Unterrichtssituation in Beziehung gesetzt, um später konkrete Forderungen ableiten zu können, wie Unterricht in heterogenen Klassen (besser) gelingen kann. Des Weiteren werden diverse Kompetenzen aufgeführt, die in einer zunehmend komplexer werdenden Welt und schnelllebigen Gesellschaft lebenslanges Lernen ermöglichen und fördern sollen. Zwar werden hier zunächst vermehrt Aspekte und Faktoren berücksichtigt, die Schule als Ganzes betreffen, Schwerpunkt der Überlegungen und Ausführungen wird allerdings immer der Bezug zum Fremdsprachenunterricht und/oder zur Sekundarstufe I sein.

1.2Der ewige Patient: Die Schule

We don’t need no education (Pink Floyd)

Dem deutschen Schulsystem geht es laut öffentlicher Meinung angeblich wie den Jugendlichen: ein ewiger Problemfall! Es vergeht kein Tag, an dem man nicht mit Medienberichten konfrontiert wird, in denen mit wenig schmeichelhaften Worten die Schieflage des deutschen Bildungssystems dargestellt wird. Parallel zu den in den Boulevardblättern eher emotional geführten Diskussionen um Bildung und Erziehung nehmen Publikationen und Streitschriften, in denen einerseits wenig konstruktiv auf den altbekannten Schwachstellen herumgeritten wird und andererseits unzählige Reformvorschläge unterbreitet werden, zu, so dass es schwer fällt, den Überblick zu bewahren. Ewige Kritiker und selbst ernannte Reformer publizieren ohne Unterlass, erneuern die alten Buchtitel oder veranlassen Nachdrucke von früheren Exemplaren, ohne sich immer bewusst darüber zu sein, dass sich manches verändert hat und vieles bereits gut läuft. Aber eben nicht alles, und es bleiben zweifellos noch einige gravierende Dinge zu überdenken und den neuen Gegebenheiten anzupassen.

Andererseits ist Kritik am Schulwesen keine Neuerscheinung, denn seit der Antike stellt man sich die Frage, was, wie und weshalb gelernt bzw. gelehrt werden soll.1 Obwohl Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland heute gut (und im internationalen Vergleich sogar überdurchschnittlich gut) verdienen (Kluge 2003, 187; Pommerin-Götze 2005, 153), möchte seltsamerweise kaum jemand mit ihnen tauschen. Fairerweise sollte man sich deshalb selbstkritisch die folgenden Fragen stellen: Werfen wir nicht allzu schnell der Schule Versagen vor statt der Gesellschaft (oder gar uns selbst)? Sind Lehrerinnen und Lehrer nicht oft willkommene Sündenböcke für Fehlentscheidungen bzw. fehlende Entscheidungen und mangelnde Unterstützung von Seiten der Eltern, der Politik und der Gesellschaft?

Richard Münchmeier, Berliner Sozialpädagoge, resümiert in einem Interview bezüglich Ausländerfeindlichkeit, dass viele Probleme, die wir an der Jugend studieren, Probleme unserer Gesellschaft sind: „Politische Bildung allein wird das Problem nicht lösen. Was wir brauchen, sind Lehrstellen und Arbeitsplätze – oder zumindest Perspektiven, die dahin führen“ (Pieper 2000, 38). Joachim Bauer, Arzt und Psychotherapeut an der Universitätsklinik Freiburg, vertritt eine ähnliche Meinung: „Die Probleme, die sich in der Schule zeigen, haben nicht nur mit der Schule selbst zu tun. Wir lassen Kinder heute in einem Land aufwachsen, das – so erleben es jedenfalls viele Jugendliche – außer Geldverdienen, Geldausgeben und Medienkonsum kaum noch sinnstiftende Tätigkeiten oder Lebensziele kennt“.2

Die Schulkritik macht selbstverständlich auch vor dem Fremdsprachenunterricht nicht Halt, und bereits im Jahr 1882 forderte Viëtor, dass der Sprachunterricht umkehren müsse (Viëtor 1984). Beim Lesen von Viëtors Streitschrift stellt man mit Erstaunen fest, dass manche seiner Kritikpunkte auch heute noch genauso aktuell sind und im Rahmen von fachdidaktischen Publikationen oder Fachtagungen noch immer diskutiert werden.

Über Schule muss also mit Sicherheit nachgedacht werden, aber mehr kritisch-konstruktiv statt emotional-destruktiv, denn unser Bildungssystem hat einige Schwächen, das wissen wir nicht erst seit PISA3. Und: Trotz diverser Reformbemühungen (z.B. Gemeinschaftsschulen, Ganztagsschulen usw.) sollten Hatties (2009) Befunde aus der deutschen und internationalen Schulforschung im Blick bleiben: „Unterrichtsmerkmale sind für Schulleistungen deutlich erklärungsmächtiger als Schulmerkmale“ (Köller 2012, 72).

1.3Wer hat, dem wird gegeben: Bildungs- und Lebenschancen

Gute Bildung darf etwas kosten (Klippert 2010, 292)

Egal, wie man zu Vorgehensweise und Aussagen der diversen OECD-Studien stehen mag, das wirklich Gute an den PISA-Studien ist, dass sie – nach dem ersten Schock – sowohl in der Öffentlichkeit als auch in Fachkreisen eine breite Diskussion über unsere Bildungseinrichtungen angestoßen und geradezu ein „publizistisches Trommelfeuer“ (Kluge 2003, 74) entfacht haben:1

Als im Dezember 2001 die für Deutschland unerfreulichen Ergebnisse der OECD-Studie PISA zeigten, dass es nicht nur um die Erziehung, sondern auch um die Bildung in Deutschland schlecht bestellt sei, wurde das Diskussionsfeld erweitert. Die neue deutsche Bildungskatastrophe erregte die Gemüter der Bevölkerung. In den Ursachenzuschreibungen, die nach dem ‚PISA-Schock‘ auf vielen Ebenen eingesetzt haben, geraten neben der unzureichenden Bildungspolitik und unzulänglicher individueller schulischer Förderung auch schwierige familiäre und soziale Hintergründe der Kinder sowie mangelnde Erziehungskompetenzen der Eltern ins Blickfeld der Diskussionen (Tschöpe-Scheffler 2007, 11).

Nach der schmerzhaften Feststellung im Jahr 2000, dass Deutschland im internationalen Vergleich von 32 Ländern nur auf Rang 20 bzw. 21 gelandet war, somit zu den „Verlierern im globalen Bildungswettbewerb“ (Kluge 2003, 74f.) zählte und insbesondere in Lesekompetenz, Naturwissenschaften und Mathematik schlecht abgeschnitten hatte, dazu offensichtlich auch die meisten „Bildungsverlierer“ (Ebd., 75) unter den Industriestaaten hervorbringt, stellte sich alsbald der Nutzen der öffentlichen Blamage durch PISA 2000 ein: Wettbewerb. Dieser hat bewirkt, dass zwischenzeitlich zahlreiche Ressourcen sowohl in finanzieller als auch immaterieller Form freigelegt und umgesetzt wurden, so dass Deutschland bei PISA 2006 besser abschnitt und dieser Trend offenbar anhält. Das ist erfreulich – aber noch nicht genug! Studiert man nämlich den nationalen Bildungsbericht 2008, der offenlegt, dass im Jahr 2006 zwar fast 15 Milliarden Euro mehr für Bildung ausgegeben wurden, jedoch der „Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt rückläufig ist“ (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Hrsg. 2008, 18; nachfolgend: ABB)2 und im internationalen Vergleich sogar unter dem OECD-Durchschnitt liegt, dann wird klar: Es muss noch mehr investiert werden, sowohl in konzeptioneller als auch finanzieller Art.

Dass sich Investitionen lohnen, wurde mittlerweile erkannt, denn durch diverse Sonderprogramme „sind die Bildungsausgaben überproportional gestiegen“ (ABB, Hrsg. 2012, 6). Im Jahr 2010 wurden insgesamt 172,3 Milliarden Euro für Bildung ausgegeben: „der Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) nahm – bei einem um 3,9 gestiegenen BIP – von 6,9 auf 7 % zu“ (Ebd.). Ob das Bildungsbudget in den letzten Jahren tatsächlich stark gestiegen ist, lässt sich schwer einschätzen, denn auch im 5. Bildungsbericht wurde für 2012 zwar eine „weitere Steigerung der Bildungsausgaben“ dokumentiert, allerdings (erneut) mit dem Hinweis: „aber Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) leicht rückläufig“ (ABB, Hrsg. 2014, 5).

Die PISA-Befunde aus den Jahren 2000 (PISA, Hrsg. 2001), 2003 (PISA, Hrsg. 2004) und auch 2006 (PISA, Hrsg. 2007), auf die ich im Einzelnen nicht näher eingehen kann, bestätigten im Grunde genommen das, was schon durch zahlreiche frühere Untersuchungen3 in Deutschland belegt und beklagt worden ist, nämlich einen großen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft bzw. Bildungsnähe des Elternhauses und schulischer Leistungsfähigkeit der Kinder. Sie zeigten deutlich, „dass das deutsche Schulwesen in besonderer Weise sozial selektiv wirkt und somit nicht nur die Begabungsreserven einer Gesellschaft nur unzureichend ausgeschöpft werden, sondern zudem soziale Ungerechtigkeit produziert wird“ (Frederking u.a. 2005, 7). Diese Feststellung war im Prinzip nichts Neues, doch „PISA machte die Misere zum Medienereignis“ (Kluge 2003, 74) und zeigte die Wirkung eines mittleren Erdbebens.4

Oft wurde in diesem Zusammenhang kritisiert, dass die multikulturelle Randgruppe für den Gesichtsverlust Deutschlands verantwortlich sei. Allerdings handelt es sich in diesem Fall um eine sehr verengte Sichtweise: „Das deutsche PISA-Leistungsdefizit ist sicherlich zu einem Teil ein Migrantenproblem. Aber es sind weniger der Migrantenstatus als solcher, sondern eher die verwendete Sprache und die Sprachkompetenz, welche sich auf die Leistungen auswirken“ (Sacher 2005, 49).5 Eine schlechte sprachliche und kommunikative Kompetenz wirkt sich natürlich auch auf die Leistungen in den Sachfächern aus, wo vermehrt divergentes Denken oder Problemlösestrategien zum Einsatz kommen, denn jedes Lernen und jede Wissenskonstruktion ist bekanntlich (auch) sprachbasiert.

Verleugnet werden darf hier jedoch nicht, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund auf Grund der äußerst schlechten Leseleistungen auch im Jahr 2003 (PISA II) als „Risikogruppe“ (Pommerin-Götze 2005, 144) eingestuft wurden, was nicht nur deren Bildungschancen, sondern auch deren Ausbildungs- und Berufschancen verringert und auch hinsichtlich einer Integration in die Gesellschaft nicht förderlich ist (PISA, Hrsg. 2004, 265). Dies wird auch im Bildungsbericht 2008 bestätigt: „Migrationshintergrund führt in allen Stufen des Bildungssystems zu Benachteiligungen“ (ABB, Hrsg. 2008, 17). Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund erhalten seltener eine Empfehlung für Realschule oder Gymnasium, und „gelangen sie auf höhere Schulen, haben sie größere Schwierigkeiten, sich dort zu halten“ (Stein/Stummbaum 2011, 207). Sie besuchen nicht nur seltener ein Gymnasium oder eine Hochschule, sondern verlassen auch doppelt so häufig die Schule, „ohne zumindest den Hauptschulabschluss zu erreichen“ (ABB, Hrsg. 2008, 17). Während die Bildungsbeteiligung in Deutschland kontinuierlich gestiegen ist, stagniert sie bei Personen mit Migrationshintergrund (Stein/Stummbaum 2011, 207).

Auch der Bildungsbericht 2012 attestiert, dass über 19 % der 15-Jährigen nicht richtig lesen und Texte verstehen können. Jugendliche mit Migrationshintergrund und diejenigen mit einem niedrigen sozio-ökonomischen Status sind dabei „überdurchschnittlich häufig vertreten“ (ABB, Hrsg. 2012, 9). Eine frühe Sprachförderung für Kinder mit nicht deutscher Familiensprache wird deshalb noch immer dringend empfohlen (Ebd.; Stein/Stummbaum 2011, 216).6 Im Übrigen hat die DESI-Studie7 (DESI-Konsortium, Hrsg. 2008; nachfolgend: DESI) gezeigt, dass auch die Lesekompetenz im Fremdsprachenunterricht gefördert werden muss (Eisenmann 2012, 90).

Die „Ausschöpfung der Begabungsreserven“ (Altrichter/Hauser 2007, 5) scheint heute wieder eine Renaissance zu erleben, aber nicht allein aus ethischen, moralischen oder sozialen Gründen, sondern schlicht und ergreifend aus demographischen und den damit verbundenen finanziellen Sorgen, denn es geht um die Sicherung der zukünftigen Rentenzahlungen und unseren Wohlstand, die im Zuge des globalisierten Wettbewerbs und der schrumpfenden Schülerpopulation gefährdet sind. Ähnliche Befürchtungen hatte man übrigens bereits Mitte des letzten Jahrhunderts. Der „PISA-Schock“ kann quasi als Nachfolger des früheren „Sputnik-Schocks“ betrachtet werden, denn in der unmittelbaren Nachkriegszeit und in den 1950er Jahren war offensichtlich geworden, dass die Bildungsbeteiligung in Deutschland stark an die soziale Herkunft gebunden ist. Dieser Befund führte damals zu diversen Reformmaßnahmen und setzte unter anderem eine breit angelegte Bildungsexpansion in Bewegung, um eine angeblich drohende „Bildungskatastrophe“ (Picht 1964) aufzuhalten sowie wirtschaftliche und politische Nachteile zu vermeiden. Geißler (1994) beschreibt zwei Paradoxe der damals initiierten Bildungsexpansion: nämlich die Aufwertung (Upgrading) und gleichzeitige Entwertung (Inflationierung) der Bildungsabschlüsse, was beim Wettbewerb um Arbeitsplätze und damit verbundene Lebenschancen eine „vertikale Verdrängung“ (Geißler 2011, 281, im Original Fettdruck) zur Folge hatte. Die Bildungsexpansion verbesserte zwar im Sinne der „Umschichtung nach oben“ (Ebd., 278, im Original Fettdruck) die Bildungschancen insgesamt, verstärkte aber gleichzeitig die soziale Ungleichheit auf dem Weg zu höheren Bildungsniveaus.8

Der damals ersehnte „Fahrstuhl-Effekt“ ist also ausgeblieben, stattdessen ist die Konkurrenz um Lebenschancen über Bildungsabschlüsse für viele wesentlich länger und anstrengender geworden. Die letzten Shell Jugendstudien haben gezeigt, dass es bis heute nicht gelungen ist, „soziale Ungleichheit beruhend auf der Herkunft der Jugendlichen über die Schule auszugleichen. Vielmehr zementiert Schule mit ihrer Funktion der Zuweisung von Bildungskarrieren solche sozialen Unterschiede“ (Shell Deutschland Holding, Hrsg. 2010, 80; nachfolgend: Shell). Fest steht: Für den Statuserhalt kann der erworbene Bildungstitel nur „durch die Bereitschaft zum ‘Lebenslangen Lernen’ in seinem Wert erhalten werden“ (Ebd., 2010, 71).

Erfreulicherweise profitieren von der Bildungsexpansion insbesondere immer mehr Mädchen und junge Frauen, die zumindest im Bereich der Schulbildung die Jungen sogar überholt haben.9 Allerdings ist dieser Bildungsaufstieg „keine Garantie für ein Aufholen von Frauen im späteren Berufsleben“ (Shell, Hrsg. 2006, 68), denn nach wie vor existieren bei der Wahl von Studienfächern oder Ausbildungsberufen die altbekannten Rollenmuster und auch hinsichtlich der Erwerbsbeteiligung von Männern und Frauen existieren „erhebliche Unterschiede“ (ABB, Hrsg. 2008, 17): Frauen sind zwar immer häufiger erwerbstätig, allerdings wegen der Kindererziehung vielfach nur in Teilzeit (ABB, Hrsg. 2012, 5). Außerdem werden Frauen trotz gleicher Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt noch immer „deutlich niedriger als Männer bezahlt“ (Shell, Hrsg. 2010, 74). Daran hat sich bis heute nichts geändert!

Soziale Disparitäten im deutschen Bildungssystem entstehen primär bei den Übergangsentscheidungen von der Grundschule in die Sekundarstufe (Baumert/Köller 2005; Shell, Hrsg. 2010; 2015). Trotz vielfältiger Bemühungen in den vergangenen Jahren bestätigen diverse Studien, dass „in Deutschland die Koppelung zwischen sozialer Herkunft und Kompetenz [noch immer] zu stark“ ist (PISA, Hrsg. 2007, 30) und dass diese hierzulande „nach wie vor stärker ausgeprägt ist als in anderen Staaten“ (ABB, Hrsg. 2008, 15). In der 16. Shell Jugendstudie wurde belegt, dass Deutschland unter den OECD-Ländern das Land ist, „in dem der schulische Erfolg am stärksten vom sozialen Status der Eltern abhängt“ (Shell, Hrsg. 2010, 72). Im Bildungsbericht 2014 wird moniert, dass „trotz leichter Verbesserung (...) weiterhin eine starke soziale Ungleichheit bei der Bildungsbeteiligung bestehen [bleibt]“ (ABB, Hrsg. 2014, 6). Dies wird auch in der 17. Shell Jugendstudie bestätigt (Shell, Hrsg. 2015, 66ff.). Von einer Chancengleichheit sind wir also noch weit entfernt. Darüber hinaus wird das kognitive und motivationale Potenzial der Lernenden bedauerlicherweise „nur unzureichend ausgeschöpft“ (Stein/Stummbaum 2011, 209).

Nach Auswertung der PISA-Studie aus dem Jahr 2006 kam man zu dem vielsagenden Schluss, dass es sich offensichtlich auszahlt, „gründlich relevante Bedingungen zu untersuchen und Neues zu wagen“ (PISA, Hrsg. 2007, 30). Die vorliegende Arbeit kann vielleicht einen Beitrag dazu leisten. Die diversen Befunde sollten allerdings Anlass sein, nicht nur die Bildungspolitik, sondern auch die Familien- und Sozialpolitik auf den Prüfstand zu stellen (Sacher 2005, 49), denn die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist noch immer ein Problem und wird durch ein Betreuungsgeld sicher nicht gelöst. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte nach der Veröffentlichung des nationalen Bildungsberichts im Juni 2008 die Bildungspolitik zur Chefsache erklärt und die „Bildungsrepublik Deutschland“10 ausgerufen. Man darf also (weiterhin) gespannt sein!

1.4Heterogenität in Schule und Unterricht: Dilemma oder Chance?

Der Sinn von Freiheit ist ja schließlich Differenz (Winfried Kretschmann)

In den vergangenen Jahren sind – maßgeblich initiiert durch die enttäuschenden Ergebnisse der PISA-Studien – eine Reihe an Publikationen zum Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht erschienen, obwohl dieses Thema in der bildungspolitischen und schulpädagogischen Diskussion alles andere als neu ist, denn schon im ausgehenden 18. Jahrhundert beklagte Johann Friedrich Herbart (1776-1841), Verfasser der ersten Allgemeinen Pädagogik, „die Verschiedenheit der Köpfe“ als Hauptproblem des Unterrichts (Tillmann/Wischer 2006, 44), wohingegen viele Ansätze aus der Reformpädagogik genau diese Verschiedenheit zu nutzen und zu fördern versuch(t)en. Dennoch hat in Deutschland die Ausrichtung des Unterrichts auf die „Mittelköpfe“ seit Ernst Christian Trapp (1745-1810) eine lange Tradition, und Lernende, „die in ihrem Entwicklungs- und Kenntnisstand außerhalb dieses Bereichs liegen, laufen Gefahr, zu ‘Problemfällen’ zu werden“ (Tillmann 2004, 7).

Auch Wenning (2013) diskutiert die Frage, ob die zunehmende Thematisierung von Heterogenität „nur eine Mode ist [oder] ein Symptom für eine bestimmte Reaktionsform auf (gesellschaftliche) Abweichungen darstellt“ (Ebd., 128), und ob die festgestellte Heterogenität schon vorhanden oder in der Schule erst konstruiert bzw. produziert wird (Ebd., 134ff.). Die Beiträge in Budde (Hrsg.) (2013) beschäftigen sich mit der (berechtigten) Frage der (Re-)Produktion von Heterogenität in der Schule.1

Fakt ist, dass in Fachkreisen derzeit intensiv diskutiert wird, ob Heterogenität als Dilemma und Lernhindernis oder als Chance und Bereicherung bewertet werden soll.2 Auch Fragen hinsichtlich Chancengleichheit, individueller Förderung, Möglichkeiten der Binnendifferenzierung, Koedukation3, Hochbegabtenförderung4, Umgang mit Kindern aus Migrantenfamilien oder Möglichkeiten der Integration bzw. Inklusion von behinderten Kindern5 tauchen in diesem Zusammenhang immer wieder auf. Meist bezieht man sich bei dem uneinheitlich verwendeten Begriff „Heterogenität“ allerdings auf kognitive bzw. entsprechende leistungsbezogene Unterschiede in einzelnen Fächern und blendet andere Merkmale weitgehend aus.6 Doch wie heterogen bzw. homogen sind Lerngruppen im deutschen Schulsystem eigentlich?

Obgleich in Deutschland Kinder und Jugendliche schon immer unterschiedliche Voraussetzungen und Bedürfnisse in die Klassenzimmer mitgebracht haben und es diesbezüglich auch schon in der Vergangenheit Diskussionen in den Erziehungswissenschaften gab, erstaunt hier umso mehr, „dass das deutsche Schulsystem nach wie vor von der paradigmatischen Idealvorstellung einer homogenen Gruppe, die ohne störende Einflüsse von innen und von außen im Lernen vorwärts kommen soll, bestimmt wird“ (Boller u.a. 2007, 12). Erschwerend kommt hinzu, dass vielfach noch immer von einem Schülerbild ausgegangen wird, „das längst nicht mehr allein der Wirklichkeit an unseren Schulen entspricht: deutschsprachig, mit christlichem Hintergrund, aus intakter Familie“ (Kluge 2003, 89). Divergenz wird als störend und somit negativ empfunden. Wenning (2013, 149) kritisiert zu Recht „einen, bewusst oder unbewusst, diskriminierenden Umgang mit Verschiedenheit“.

Obwohl lange bekannt und oft belegt ist, dass die vergleichsweise frühe Auslese (tracking) und Verteilung im hierarchisch gegliederten Schulsystem zahlreiche Probleme mit sich bringt, dominiert im Umgang mit Heterogenität noch immer die Strategie der äußeren Differenzierung nach Leistung, was jedoch zwangsläufig auch eine (inoffizielle) Selektion nach sozialen und ethnischen Merkmalen nach sich zieht (Tillmann/Wischer 2006).7 Somit fungiert die Schule hinsichtlich Lebenschancen nicht – wie grundsätzlich anzunehmen – als Türöffner im Sinne der Gleichberechtigung für alle, sondern reproduziert und verfestigt die bereits bestehenden gesellschaftlichen Ungleichheiten und Machtverhältnisse noch mehr.

In der Tat wird in unserem gegenwärtigen Schulsystem mit unterschiedlichen organisatorischen Maßnahmen wie Späteinschulungen, Verteilung auf die unterschiedlichen Schulformen, Sitzenbleiben oder Schulformwechsel8 immer wieder versucht, durch Reduzierung der Leistungsunterschiede Homogenität in Lerngruppen herzustellen, „dass eine Passung zwischen Lerngruppe und Lernangebot erreicht wird“ (Trautmann/Wischer 2007, 44), allerdings ohne zu hinterfragen, ob dies überhaupt von Vorteil für die Lernenden ist. Hintergrund ist die Ansicht, dass sich Lernen in homogenen Gruppen besser organisieren lasse und somit „die Lehrkraft auch für alle den gleichen (frontalen) Unterricht machen“ kann (Tillmann/Wischer 2006, 44). Andererseits erstaunt (übrigens auch die PISA-Autoren), dass vor allem deutsche Lehrkräfte immer wieder über die „große Leistungsheterogenität in Sekundarschulen“ (Ebd., 45) und die damit verbundenen Belastungen klagen, obwohl der internationale Vergleich zeigt, dass es auf Grund der horizontalen Gliederung des deutschen Bildungswesens „kaum leistungshomogenere Sekundarschulen als in Deutschland“ gibt (Ebd.). Warum also empfinden gerade Lehrkräfte im hochselektiven Sekundarbereich Heterogenität als besondere Belastung (Wenning 2013, 130)?9

Doch der Schein trügt, denn jede Schulform weist in sich eine große Leistungsstreuung auf, und auch die einzelnen Klassen des gegliederten Schulsystems sind in sich wiederum stark leistungsheterogen, so dass die Homogenität der Lerngruppe „eine Fiktion“ bleibt (Tillmann/Wischer 2006, 45). Laut Sacher (2005, 44) ist das deutsche Schulsystem „offensichtlich nicht das Instrument“, um wirklich eine Homogenisierung der Lernenden herzustellen. Gerade auch durch die DESI-Studie (DESI, Hrsg. 2008) wurde im Fach Englisch eine große Leistungsheterogenität in allen Schularten bestätigt. Bedauerlich ist vor allem die Tatsache, dass diese institutionelle Fiktion viele Opfer fordert und auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen wird, denn circa ein Viertel aller Schülerinnen und Schüler bleibt bis zur 10. Klasse mindestens einmal sitzen (von Saldern 2007, 43).10 „Problemfälle“ müssen eine Klasse wiederholen, die Schule wechseln oder diese sogar gänzlich ohne Abschluss verlassen, was weder aus lernbiographischen noch aus wirtschaftlichen Gründen vertretbar ist.11

Untersuchungen belegen (und erklären auch die Ergebnisse der PISA-Studien): „Wir haben die homogensten Gruppen und zugleich die größte Leistungsspreizung, verbunden mit den negativsten Werten für soziale Koppelung (...): Im Umgang mit Heterogenität erhalten deutsche Schulen die Note mangelhaft“ (von der Groeben 2007, 6). Im Rahmen der Diskussionen um eine zukunftsfähige Bildungspolitik muss also dringend der Frage nachgegangen werden, welche Vor- und Nachteile unser gegliedertes Schulsystem auszeichnen, denn offensichtlich ist es „historisch entstanden und wurde – soweit bekannt – niemals pädagogisch begründet“ (von Saldern 2007, 43). Darüber hinaus zeigt sich im Vergleich mit anderen Ländern, wo Kinder und Jugendliche mitunter bis zur 9. oder 10. Klasse in einer Einheitsschule gemeinsam lernen, dass die bewusste Homogenisierung von Lerngruppen eben nicht den gewünschten positiven Effekt zu haben scheint: „Ganz im Gegenteil scheint vielfach sogar eher eine bewusste Heterogenisierung von Lerngruppen einen besseren und klügeren Weg zum Erfolg darzustellen – insbesondere wenn es um Lernziele geht, die über die Ebene des reinen Wissenserwerbs hinausgehen“ (Ebd., 50).12

Tillmann und Wischer (2006) sprechen sich nach Begutachtung der eher uneinheitlichen Forschungsbefunde für eine „begrenzt heterogene“ Zusammensetzung einer Lerngruppe aus (Ebd., 46), vorausgesetzt im Unterricht werden ausreichend binnendifferenzierende Maßnahmen genutzt. Sie warnen insbesondere „vor einer Homogenisierung am ‘unteren Ende’ des Schulsystems“ (Ebd., 44), denn gerade in Hauptschulklassen kommt es häufig zu einer verhältnismäßig hohen Konzentration von Verhaltens-, Lern- und Erziehungsproblemen, die ein Lernen – selbst für motivierte Schülerinnen und Schüler – oft sehr mühsam und mitunter sogar unmöglich machen. Die gegenwärtige Diskussion um die Gemeinschaftsschule ist zumindest ein Zeichen, dass diese Problematik wahr- und ernstgenommen wird.

Neben den dringend erforderlichen „großen Entwürfen“ für eine situationsangepasste Schulentwicklung von „oben“ (Makroebene), geht es auch um eine innere Reform des Schulwesens von „unten“ (Mikroebene), die eine soziale, kulturelle, geschlechts-, alters-, interessen- und leistungsbezogene Heterogenität der Gesellschaft und somit auch der Lerngruppe berücksichtigt, bejaht und für alle Beteiligten gewinnbringend nutzt. Ein sinnvoller Umgang mit Heterogenität bedeutet schlicht mehr als die bloße Vermittlung von diversen Methoden oder „Tipps und Tricks“, und ein paar zusätzliche Arbeitsblätter als Differenzierungsmaßnahme reichen sicher nicht aus (Ratzki 2007).13

Neben den bereits erwähnten Diversitäten existieren natürlich noch viele andere Unterschiede, die tagtäglich auf das Schulleben und den (Fremdsprachen-)Unterricht einwirken: nicht nur der gesamte sozioökonomische und soziokulturelle Erfahrungshintergrund, alters- und geschlechtsspezifische Besonderheiten, fachbezogene Kenntnisse und Vorerfahrungen, allgemeine Fähigkeiten und Begabungen, Persönlichkeitsmerkmale, Arbeitshaltung, Arbeitstechniken, Arbeits- und Lerntempo (Altrichter/Hauser 2007, 6), sondern auch individuelle Stimmungen, tagesabhängiges körperliches und seelisches Befinden, Klassenatmosphäre und – nicht zu vergessen – die Motivation und Einstellung zu Schule und Fach (vgl. Kapitel 4).

Der produktive Umgang mit heterogenen Lerngruppen stellt sehr komplexe und vielfältige Anforderungen an das Lehrerhandeln, doch andererseits gelingen Lernen und Lehren erst, wenn Kinder und Jugendliche sich akzeptiert fühlen und einen Sinn darin sehen, warum sie sich im Klassenzimmer befinden. Einzelne Lehrkräfte gelangen möglicherweise schnell an ihre Grenzen, wenn sie unter den jetzigen Rahmenbedingungen und gängigen Vorstellungen von Unterricht als „Einzelkämpfer“ jedes Kind individuell fordern und fördern sowie individuell beraten und evaluieren sollen, dennoch bestehen – auch im jetzigen Schulsystem – vielfache Möglichkeiten, die real existierende Heterogenität der Lerngruppe als positive Herausforderung zu betrachten und zu nutzen, anstatt dagegen anzukämpfen. Lehrkräfte (und auch Lehramtsstudierende) müssen sich „von der Illusion der homogenen Lerngruppen verabschieden und Heterogenität als Normalität, als Bereicherung und als Chance begreifen“ (Eisenmann/Grimm 2012, II). Sie müssen im eigenen Interesse auch lernen loszulassen, denn Schüleraktivierung führt auch zu Lehrerentlastung.14

Fazit: Wenn die Leistungen unseres Schulsystems und somit auch der Umgang mit Heterogenität nachhaltig verbessert werden sollen, dann müssen Überlegungen auf drei Ebenen stattfinden, um dem Ziel von gerechteren Bildungs- und Lebenschancen näher zu kommen: auf Schulsystemebene, auf Schulebene und auf Klassenebene (von Saldern 2007, 50). Auch Restriktionen und überkommene Traditionen müssen sowohl auf der Makroebene als auch der Mikroebene geklärt und kritisch diskutiert werden.15 Letztendlich lässt sich die Vision von Schulen als „Treibhäuser der Zukunft“ (Bauer, J. 2007, 35) nur realisieren, wenn die Unterschiede innerhalb einer Lerngruppe genutzt und für alle fruchtbar gemacht werden. Lernen gelingt bekanntlich nur, wenn ein Bedürfnis vorhanden ist und Lernbedürfnisse entstehen nur, wenn Differenzen und Fragen auftauchen. Folglich sollte die Diversität im Klassenzimmer als Lernanlass zum gegenseitigen Austausch und gemeinsamen Wachsen genutzt werden!

Ob und inwiefern man in Zeiten zunehmender Homogenisierungsbestrebungen durch kultusministerielle Standardisierungsvorgaben, Kompetenzorientierung, Output-Orientierung und zentrale Kompetenzstandüberprüfungen der steigenden Heterogenität der Schülerschaft sowie der pädagogischen Forderung nach Individualisierung, Differenzierung und Lernerautonomie tatsächlich gerecht werden kann (Eisenmann/Grimm 2012, I), bleibt allerdings fraglich. Aus meiner Sicht stellt jedoch der Storyline Approach nicht nur ein flexibles und fundiertes Konzept für vielfältige Differenzierungsmaßnahmen dar, ohne dabei Ausgrenzung zu generieren, sondern bietet darüber hinaus auch eine gute Möglichkeit, um eine Brücke zwischen Standardisierung und Differenzierung zu schlagen, da die Individualität der Lernenden anerkannt wird und zugleich vielfältige Kompetenzen erworben werden (vgl. Kapitel 2). In Teil B werde ich untersuchen, ob dies auch im fremdsprachlichen Klassenzimmer gelingen kann.

Vermutlich wird Differenzierung „für lange Zeit eine der größten Herausforderungen“ bleiben (Eberle u.a. 2012, 31). Im Bereich der Fremdsprachen ist zudem noch mehr Schulpraxisbezogene Forschung vonnöten, um Konsequenzen für das professionelle Handeln von Lehrkräften ableiten zu können (Eisenmann 2012, 95). Zu Recht fordert Trautmann (2010, 62): „Insbesondere Lehrende mit ihren unterschiedlichen Überzeugungen und Kompetenzen müssen zukünftig viel stärker in den Blick genommen werden, denn letztendlich sind es die Lehrkräfte, die die geforderten Innovationen umsetzen sollen“. Ob und inwiefern Storyline die Lehrkräfte darin unterstützen kann, die erforderlichen Kompetenzen zu erwerben, um mit der zunehmenden Heterogenität im Klassenzimmer konstruktiv umgehen zu können, sollen meine Fallstudien in Teil B zeigen.

1.5Gewalt, Stress, Langeweile: Der Schulalltag?

Born to be wild (Steppenwolf)

Horrormeldungen von schießenden, stechenden oder raufenden Jugendlichen attackieren uns fast täglich aus den unterschiedlichsten Quellen und erwecken den Anschein, dass viele (vor allem männliche) Schüler äußerst gewalttätig und kriminell sind. Studien und Publikationen zum Thema „Gewalt an Schulen“1 häufen sich, seit die Schulgewaltforschung in den 1990er Jahren intensiviert wurde (Fuchs u.a. 2005, 11). Die Thematisierung der Jugendkriminalität in den Massenmedien und den Pressemitteilungen der Polizei beeinflusst allerdings die Wahrnehmung von Delikthäufigkeiten. Laut Dollinger und Schmidt-Semisch (2010) ist beispielsweise die physische Gewaltanwendung gegen Personen in den Medien „deutlich überrepräsentiert“ (Ebd., 11). Trotz kritischer Stimmen aus Wissenschaft und Forschung werden diese Verzerrungen und Pauschalisierungen im Vergleich zu statistisch erhobenen Delikthäufigkeiten „massenmedial und politisch kaum ernst genommen“ (Ebd.).2 Ohne die Problematik verharmlosen zu wollen: Laut Kriminalstatistik 2012 des Bundesministeriums des Innern (nachfolgend: BMI) ist beispielsweise die schwere Körperverletzung Jugendlicher (14-18 Jahre) im Vergleich zu 2011 um 16,5% zurückgegangen (BMI, Hrsg. 2013, 11).3

Nimmt man zudem Bezug auf die im Jahr 2005 vom Bundesverband der Unfallkassen durchgeführte Studie „Gewalt an Schulen“, dann kommt man zu dem Ergebnis, „dass die Zahl der meldepflichtigen Raufunfälle insbesondere in den letzten Jahren nicht angestiegen, sondern sogar rückläufig gewesen ist“ (Shell, Hrsg. 2006, 140), auch wenn die Anzahl der Schlägereien an Schulen von 2006 auf 2010 um 1 % leicht angestiegen ist (Shell, Hrsg. 2010, 162ff.).4 Somit wird deutlich, dass die öffentliche Meinung bezüglich der zunehmenden Aggression und Gewalt an Schulen irreführend ist, denn die Daten belegen, „dass Jugendgewalt nach wie vor eher auf der Straße oder in anderen öffentlichen Räumen und nicht vorrangig in den Schulen ausgetragen wird“ (Shell, Hrsg. 2006, 140). Spektakuläre Amokläufe sind nicht nur ungewöhnlich, sondern auch singulär (Hurrelmann/Bründel 2007, 72).5

Eine Langzeitstudie (1994-2004), bei der in Bayern 4.523 Schülerinnen und Schüler befragt wurden, belegt, dass das Gewaltaufkommen vor allem bei den schwerwiegenden Gewaltaktivitäten gesunken ist: „Die massenmedial vermittelte Vorstellung, wonach Gewalt an Schulen immer häufiger auftrete und immer brutaler werde, muss auf Basis unserer Daten zurückgewiesen werden“ (Fuchs u.a. 2005, 107). Nachgewiesen wurden im Rahmen der Studie dagegen Zusammenhänge zwischen Gewalt(formen) und Geschlecht sowie zwischen Gewaltaktivitäten und Bildungsniveau (Ebd., 108), die auch in Untersuchungen von Melzer (2006b, 20), Oertel u.a. (2015, 260f.) sowie in der 15. und 16. Shell Jugendstudie (Shell, Hrsg. 2006, 142; 2010, 23f. und 162ff.) bestätigt werden.6 Ferner gilt als gesichert, „dass ca. 3-5% der Schülerinnen und Schüler unter Mobbing leiden“ (Oertel u.a. 2015, 260). Hier muss die Schule reagieren!

Antisoziale, aggressive und gewalttätige Verhaltensweisen haben sowohl erzieherische als auch gesellschaftliche Ursachen. Zwar kommt man bereits in der 15. Shell Jugendstudie zu dem Schluss, dass es keinen Grund gibt, „die Situation übermäßig zu dramatisieren“ (Shell, Hrsg. 2006, 22). Nichtsdestotrotz sind hier entsprechende Präventions- und Interaktionsmaßnahmen erforderlich, beispielsweise auch durch Unterrichtsformen, die die Heterogenität der Lerngruppe berücksichtigen und das soziale Lernen fördern. Wolfgang Melzer (2006b), Professor für Schulpädagogik und Leiter der Forschungsgruppe Schulevaluation an der TU Dresden, fordert, „alte – aber nicht veraltete – reformpädagogische Forderungen nach ganzheitlicher Bildung (...) endlich in Angriff zu nehmen“ (Ebd., 19f.) und somit „den Leistungs- und den Sozialgedanken im Kontext der schulischen Lebenswelt miteinander zu versöhnen“ (Ebd., 23). Gewaltprophylaxe hat auch viel mit Eigenverantwortung zu tun. Wie sich später zeigen wird, sind die genannten Aspekte Kernprinzipien des Storyline-Modells, welches somit gute Dienste erweisen könnte (vgl. Kapitel 2).

Gewalt im Kontext der Schule kann in unterschiedlicher Form und Ausprägung zutage treten.7 Es würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen, auf alle in Frage kommenden Formen, endogenen und exogenen Ursachen und Auslöser möglicher Gewaltäußerungen einzugehen, so dass ich mich auf eine Auswahl von Gründen für Gewaltaktivitäten in Form von Unterrichtsstörungen beschränke, welche durch eine verstärkte Lernerorientierung, wie dies bei Storyline-Projekten der Fall ist, gemildert oder sogar vermieden werden können.8 Denn Bildungsangebote, die auf demokratiepädagogischen Ansätzen basieren, ermöglichen jungen Menschen, „ihre Potentiale tatsächlich einzubringen“ (Magnus/Sliwka 2015, 459) und fördern somit persönliches Wachstum und positive Entwicklungswege.

Egal, wie man das Blatt dreht oder wendet: Die Schule trägt allein schon auf Grund der gesetzlichen Schulpflicht ein gewisses Gewaltpotenzial in sich. Lehrkräfte haben zwar kein Recht mehr auf körperliche Züchtigung9, doch der Selektionscharakter der Schule, die Leistungs- und Konkurrenzorientierung, der Wettbewerbscharakter sowie der immense Erwartungsdruck, gepaart mit fehlenden Zukunftsperspektiven, wird von vielen Schülerinnen und Schülern als strukturelle Gewalt empfunden, zumal Zeugnisse als „Berechtigungsnachweise“ für Bildung und die spätere Berufswahl inklusive „Einkommen, Macht und Einfluss“ dienen (Hurrelmann/Bründel 2007, 105).

Auch die schul- und unterrichtsorganisatorischen Bedingungen können die Entstehung von Gewalt und Unterrichtsstörungen begünstigen: große, anonyme und unübersichtliche Schulen; triste und schlecht ausgestattete Räume10; zu große Klassen; ein gewaltbelastetes Schulmilieu (Fuchs u.a. 2005); „pädagogisch inkongruentes und inkompetentes Verhalten von Lehrerinnen und Lehrern“ (Hurrelmann/Bründel 2007, 121); eine schlechte sozial-emotionale Klassen- und Unterrichtsatmosphäre (Lösel/Bliesener 2003, 175); schlechte personale Beziehungen zwischen Lehrkraft und Schülerschaft; überwiegend wissenschaftlich orientierte Lern- und Lehrformen (Hurrelmann/Bründel 2007, 115); „langweiliger oder methodisch einseitig durchgeführter Unterricht, der zusätzlich noch Themen beinhaltet, die an der Lebenswirklichkeit von Schülerinnen und Schülern vorbeigehen“ (Ebd., 121); fehlender Anwendungsbezug von Unterrichtsinhalten (Fuchs u.a. 2005, 38); fehlende Eigenverantwortung der Lernenden; als unfair oder einseitig11 empfundene Beurteilung von Leistungen oder Verhaltensweisen; pejoratives, aggressives und etikettierendes Lehrerverhalten (Melzer 2006b, 22; Oertel u.a. 2015, 259), wenig förderndes Engagement von Lehrkräften (Fuchs u.a. 2005, 38) und vieles mehr.

Indem sie den Unterricht bewusst durch sicht- und/oder hörbare Handlungen stören, die Mitarbeit verweigern, rebellieren oder gar resigniert den Unterricht schwänzen12, wehren sich Lernende „gegen die Zwangsinstitution Schule und gegen Unterrichtsformen und -inhalte, die ihnen nicht gefallen“ (Hurrelmann/Bründel 2007, 80). Sie zeigen offen, wenn sie sich durch die ungleichen Machtverhältnisse in ihrer Selbstentfaltung und Selbstbestimmung beeinträchtigt fühlen und verwenden ein vielfältiges Repertoire an Störmaßnahmen, um auf die fehlende Anerkennung ihrer individuellen Bedürfnisse aufmerksam zu machen.

Disziplinstörungen werden von Lehrkräften zunehmend als eines der größten Probleme empfunden, da sie ein Unterrichten oft gänzlich verhindern. Viele sind deshalb nicht nur verunsichert, sondern gestresst, überfordert und erschöpft. Betrachtet man die zunehmende Anzahl von Publikationen zum Thema „Burnout“ oder „Stress im Lehrerberuf“13, dann wird offensichtlich, dass viele mit der pädagogischen Herausforderung hinsichtlich „der Widerspenstigen Zähmung“ nicht mehr klarkommen und durch Strafmaßnahmen und aggressives Verhalten den psychologischen Druck auf die Schülerinnen und Schüler erhöhen: „Der Druck wiederum führt zu schlechteren Schulleistungen und ist häufiger mit Gewaltverhalten und Delinquenz der Schülerschaft verbunden“ (Ebd., 82f.). Dazu kommt die belastende Tatsache, dass sich Lehrkräfte oft als Einzelkämpferinnen bzw. -kämpfer an ihren Schulen fühlen und von Seiten des Kollegiums oder der Schulleitung häufig nicht die gewünschte Unterstützung erhalten.14 Nicht verwunderlich ist somit, dass der Lehrerberuf zu der Berufsgruppe mit den meisten Frühpensionierungen gehört (Ebd., 129; Unterbrink u.a. 2007).

In einer groß angelegten Studie15 hat der renommierte Freiburger Arzt und Burnoutforscher Joachim Bauer zusammen mit der Universitätsklinik Freiburg, der TU Dresden, dem Regierungspräsidium Freiburg sowie dem Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung (Gymnasien und Sonderschulen) Freiburg das Ausmaß der Gesundheitsgefährdung von 949 Lehrerinnen und Lehrern an 10 Gymnasien und 79 Hauptschulen im Raum Freiburg untersucht (Bauer, J. 2007; Unterbrink u.a. 2007): 21,6% der befragten Lehrkräfte weisen eine deutlich ausgeprägte “imbalance of effort and reward“ auf (Unterbrink u.a. 2007, 433), wobei Lehrkräfte an Hauptschulen stärker betroffen sind als jene an Gymnasien (Ebd.) und man davon ausgeht, dass die Dunkelziffer noch höher ist.16 Im Vergleich mit anderen nationalen und internationalen Studien weisen die hier befragten Lehrerinnen und Lehrer offenbar relativ hohe Werte auf: “In an overall perspective, our sample seems to be more affected by burnout compared to previous investigations with teachers. With respect to Germany, the situation of teachers may have worsened in recent years“ (Ebd., 439).

Als Ursachen werden im Rahmen der Freiburger Untersuchung – auch unter Rückgriff auf andere Studien – an erster Stelle die allgemeine Arbeitsbelastung bzw. Arbeitsüberforderung, zu große Klassen und zunehmende Verhaltensauffälligkeiten der Schülerschaft genannt (Unterbrink u.a. 2007). Andererseits existieren auf der Ebene der Lehrkräfte nicht selten Selbstrestriktionen und inadäquate Idealvorstellungen von „gutem“ Unterricht, die auch ein effizientes Lernen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler erschweren: „Die bedeutsamste [Selbstrestriktion, Anm. D.K.] liegt in der Macht der Tradition: Bestimmte Unterrichtsformen, gewohnte Interaktionsformen usw. werden ungern verändert“ (von Saldern 2007, 46). Becker (2004) zählt in diesem Zusammenhang drei Komponenten auf, die (zum Teil seit Comenius) als geheime Leitbilder für „richtigen“ bzw. „idealen“ Unterricht gelten:

die Vorlage eines perfekten, im Voraus exakt geplanten Drehbuchs (Skript), das minutiös abgearbeitet wird;

die Bewegung der gesamten Lerngruppe im Gleichschritt, welche spätestens am Stundenende am gleichen Ausgangspunkt anzukommen hat;

die Kontrolle der Lehrkraft über alle und alles, damit sich alle Beteiligten an das Drehbuch halten.

Laut Becker (2004, 12) lösen Unterschiede der Lernenden „vermutlich ständige unbewusste Ängste aus, man werde das sorgfältig entworfene Drehbuch nicht einhalten können“. Diese Ängste wiederum, die auf Lehrerseite häufig zu Stress und Erschöpfung führen und auf Schülerseite Frustrationen und Unterrichtsstörungen hervorrufen können, liegen jedoch nicht zwangsläufig in der heterogenen Lerngruppe selbst begründet, sondern in der eigenen Vorstellung von gutem (Fremdsprachen-)Unterricht: “Some teachers say that they find teaching classes of mixed ability one of their main problems. But maybe the problem is in thinking of ‘mixed ability’ classes as a problem rather than as something natural in any group of individuals“ (Moon 2000, 26).

Tillmann und Wischer (2006) verweisen auf diverse Befunde aus der empirischen Bildungsforschung, die belegen, dass erfolgreicher Unterricht in heterogenen Lerngruppen sehr stark von der fachlichen und methodischen Kompetenz der Lehrkräfte und dem Einsatz von binnendifferenzierenden Maßnahmen abhängt – eine Erkenntnis, die nach Binsenwahrheit klingt, wäre da nicht der Zusatz: „Zugleich entsteht aber auch der Eindruck, dass ein solcher Unterricht im deutschen Schulsystem nicht allzu häufig stattfindet“ (Ebd., 47).17