Fretten - Helena Adler - E-Book

Fretten E-Book

Helena Adler

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Beschreibung

Dem Elternhaus ist sie mit knapper Not entkommen, da bemerkt sie, die jüngste Tochter des Pleitebauern: Der Provinz entkommt man nicht. Also schließt sie sich einer Bande von Vandalen und Störenfrieden an, die die Provinz in die nahe Stadt tragen, den Schlachthof plündern und in Tierkadavern Drogen schmuggeln. Sie tanzen und sie wüten, sie spielen mit ihren Leben, weil sie es gewohnt sind, zu verlieren. Die Party ist erst aus, wenn die nächste beginnt, das Motto lautet »Überleben«. Bis plötzlich nicht nur die eigene Existenz auf dem Spiel steht: Sie gebiert einen Sohn, den sie liebt wie einen Erlöser, und wird in dieser Liebe zu einem Scheusal im Kampf gegen die Sterblichkeit.Die Infantin wächst heran, zu einem Scheusal, zu einer Mutter, zu einem zärtlichen Scheusal von Mutter. Dieses Buch ist liebevoll und ehrlich bis auf Blut und Knochen!Fretten ist ein Bastard, ein Bankert, ein Mischling aus Lebensanklage und Liebeserklärung, gezeugt im Rausch der Verewigungssucht, im heiligen Zorn auf die Existenz und den Tod, geboren in Trümmern aus der Lust am Tabubruch. Es nennt beim Namen, was einen Namen hat, und zwar nicht zwischen den Zeilen, sondern Schwarz auf Schwarz, mit Sprachgewalt und einem Galgenhumor, dass einem die Luft wegbleibt.

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Seitenzahl: 177

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Die Arbeit an diesem Roman wurde vom Land Salzburg durch ein Arbeitsstipendium und durch ein Projektstipendium des Bundeskanzleramts für Kunst und Kultur gefördert. Die Autorin bedankt sich bei allen, die zur Fertigstellung dieses Romans, formell und informell, beigetragen haben für die Unterstützung.

© 2022 Jung und Jung, Salzburg

Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung, Bearbeitung und Übersetzung, bleiben vorbehalten

Umschlagbild: Idee Helena Adler, Fotografie Shara Reier

Umschlaggestaltung: Shara Reier

ISBN 978-3-99027-190-2

Helena Adler

FRETTEN

Roman

für mein geliebtes Kind

Inhalt

1 Die Beständigkeit der Erinnerung

2 Das irdische Paradies

3 Die Erfindung der Ungeheuer

4 Das Gelbe Haus

5 Sattler-Panorama

6 Nighthawks

7 Twenty Marilyns

8 Hexenküche

9 Don Juan d’Austria

10 Der Wolfgangsee

11 Die großen Fische fressen die kleinen

12 Gestade der Vergessenheit

13 Fleischbude

14 Meat Joy

15 Mutterschaft

16 Der Ursprung der Welt

17 Besuch bei einer Wöchnerin

18 Das Mutterkostüm

19 Engelssturz

20 Ein Kanarienvogel unter Karnivoren

21 Madonna mit Kind

BILDZITATE

Es ist ein einziges Leiden, und dann entsteht etwas daraus.

Virginia Woolf

Wenn Du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt Du von den Schmerzen, die in mir sind und was weiß ich von den Deinen. Und wenn ich mich vor Dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüsstest Du von mir mehr als von der Hölle, wenn Dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich. Schon darum sollten wir Menschen voreinander so ehrfürchtig, so nachdenklich, so liebend stehn wie vor dem Eingang zur Hölle.

Franz Kafka

Ich male nie Träume oder Albträume.

Ich male meine eigene Realität.

Frida Kahlo

Das Mutterherz ist der schönste und unverlierbarste Platz des Sohnes, selbst wenn er schon graue Haare trägt – und jeder hat im ganzen Weltall nur ein einziges solches Herz.

Adalbert Stifter

fret/ten (süddeutsch / österreichisch): sich abmühen, sich plagen, mühsam über die Runden kommen, sich aufreiben, sich wund reiben

1 Die Beständigkeit der Erinnerung

Ich wache auf im Kindskörper, im Inneren der alten Bauernbaracke. Ich steige aus dem leeren Elternbett, das fröstelt, seit ich allein bin. Kaltes Holz unter meinen Blasenentzündungsfüßen, verzogene Dielen, die sich derart aufwölben, als würden Tote ihre Gräber aufschlagen. Das schwarze Vorhaus schluckt mich, dass mir schwindlig wird. Ich klammere mich an die Silhouetten der Wölfe, die vor der Küchentür winseln. Durch den Türspalt kriecht warmer Dampf, ranzig süßlicher Fleischgeruch beizt sich in meinen Magen. Reizend! Kühe in der Küche, zumindest das, was von ihnen übrig ist. Pansen zerfransen sich in einem silbernen Bottich am Herd, quellen um die Wette im Wasserwall, wie Meerestiere im seichten Sud, wie Schaumgestorbene. Die Mutterkuh rührt mit einem langen Stiel im Festmahl für die Köter. Die Mutterkuh gehört zum Bauerngefüge und fügt sich unter jedes Joch. Gesund sei das, sagt sie, was da an Mai-Morcheln erinnert. Die Mägen der Wiederkäuer werden den Hunden vorgekaut, so hat sie das mit den Karotten früher bei mir gemacht. »Weißt du, mein Kind«, spricht die Mutter, »bei uns gibt es nur Schürzenträger und Schürzenjäger, merk dir das.« Dabei wischt sie ihre sauberen Hände in das schmutzige Wickeltuch. Niemand hier trägt eine weiße Weste. Nicht einmal ich.

2 Das irdische Paradies

Als ich geboren wurde, war da eine weiche Welt, in die ich fiel und mich fortan betten durfte. Ich sank in eine Welt aus Daunentuchenten, die sich unter meinem Kindergewicht sanft zusammendrückte. Rundherum blähten sich Airbags aus Mutterkuchen und Vaterbäuchen, sie umgaben mich von allen Seiten, und wenn sie es nicht taten, dann tat es der Germteig der Urgroßeltern, der ständig irgendwo aufging, und wenn er ruhte, sich weiterblähte, hütete mich immer noch der kleine Berg, auf dessen Plateau wir wohnten, der eigentlich ein saftiger Hügel war, eine Endmoräne, ein vom Gletscher aufgeschobener Erdwall, der mir das Gefühl gab, über den Dingen erhaben und über dem Dorf enthoben zu sein. Und selbst unser Bühel bauschte sich vor mir, sobald ich Anstalten machte, ihn zu verlassen. Alles plusterte sich auf, damit ich nur nirgendwo aneckte. Die Erwachsenen bandagierten die Welt um mich herum und stellten die Weichen. Sie polsterten meine Kinderschuhe und ließen mich auf Watte gehen. Ecken und Kanten wurden abgeschliffen, nur meine eigenen nicht. Alles gab nach, selten spürte man Widerstand. Ständig hatte man das Gefühl, über dem Boden zu schweben, alles von höherer Warte aus zu betrachten. Wir waren die Sagrada Familia, und die bestand nebst der Sippe mit den üblichen Andächtigen aus einem Weiler, der vor sich hin wucherte. Unsere bescheidene Bude trug eine cremegelbe Bröckelfassade und hellgrüne Fensterläden. Zu ihren Seiten buckelten die kleineren Nebengebäude, duckte sich der Stall und noch ein paar gebrechliche Scheunen, die sich jährlich schuppten, sodass wir uns an ihrer Holzhaut schieferten, so oft wir sie berührten, als würden sie beweisen wollen, dass sie noch lebten. Wir waren mit all diesen Gebäuden verwachsen, und niemand konnte sagen, wo sie anfingen und wir aufhörten. Der Garten der Urgroßeltern war ein einziges Blumenversteck, die Gräser so hoch, dass ich mich wie ein Kitz im Sommerfeld darin verbergen konnte. Zwischen den Büschen lagen Katzennester, aufgeheizt von der Sonne und dem Sommerfell, frisch verlassen und liegewarm, wie eingebeulte Polster. Ich schlief unter Ribiseln und Brombeerstauden. Ich war so klein, dass mir die Stachelbeeren so groß vorkamen wie Wassermelonen. Hinter den Himbeersträuchern lagen Felder voll Sonnenblumen, die sofort an mir zu schnüffeln begannen, wenn ich ihnen in der Blüte zu nahetrat. Ihre Köpfe wanderten mit dem Licht von Osten nach Westen, immer die gelbe Mutterscheibe im Blick. Die Pfauen stolzierten bedächtig über den staubigen Boden, vornehm wie Luftakrobaten, die auf einem Seil balancieren. An dem einen Tag erhoben sich die blauen Fasane über Farnfelder, am nächsten zogen sie ihre Schleppen wie schwere Barockkleider über den Hinterhof und verhielten sich wie bessere Hühner. Sowie sie einen Bewunderer erspähten, liebäugelten sie mit ihren irisierenden Guckern und breiteten ihr Federgut aus, dabei wedelten sie sich bei jedem getanen Schritt mit ihrem Fächer zu, als gäben sie sich selbst Applaus. Weiter hinten im Garten simulierte unsere Flamingo-Kolonie ein prächtiges Abendrot, wie Soldaten in Rosa steckten sie mit ihren Stelzen im Sumpf, und ihre Schnabelspitzen sahen aus, als hätte man sie in Schokolade getunkt. Alles war voll Farbe, nur die Tauben waren blass, und die Krähen sahen aus wie Schatten ihrer selbst, worüber sie ständig ätzten, wenn sie über die Wälder flogen.

Die Welt roch nach Baumwipfel und Zirbelkiefer. Nach frisch gefallenem Schnee. Nach aufgewühlter Erde und nach meinem Kinderschorf. Ständig schien eine Abendsonne in alle Winkel und Verstecke dieser Welt, und ständig schwirrte irgendetwas durch die Luft. Insekten verwandelten sich in Schneeflocken, ohne dass es einem sofort auffiel, und so war das Land irgendwann von einem Tag auf den anderen frostig geworden. Man maß die Zeit an der Umgebung und ihrer Vielfalt. Wenn aus Schmetterlingen Glühwürmchen geworden waren, setzte die Sonnenwende ein. Die Menschen schienen perfekt an ihr Umfeld angepasst und sahen aus wie das Gemüse, das sie aus der Erde zogen, und wie das Fallobst, das am Boden landete. Im Winter schloss man die Türen, verbarrikadierte sich und las bei Kerzenlicht. Wir hatten kein Geld, aber immerhin Bücher und unbeschriebene Blätter. Ich verbrachte viel Zeit bei den Urgroßeltern, die im selben Haus wohnten, und wenn nicht dort, dann im Taubenverschlag am Balkon der maroden Hütte nebenan, von dem aus man zum Weiher hinübersah. Der Holzschuppen schien jeden Moment einzustürzen, das Dach hing knietief kopfüber, aber ich liebte diesen morschen Elfenbeinturm, in den mir niemand folgen konnte. Zumindest niemand, der schwerer war als ich, und jeder hier brachte mehr auf die Waage. Unter den losen Brettern versteckte ich Briefe, die ich an Lebewesen einer anderen Spezies schrieb, an Engel oder Aliens, jeder Besucher war mir willkommen. Der Blick von dort oben umfasste die ganze weiche Welt, auch den Garten hinterm Haus, der so viele Geheimnisse barg wie Mauselöcher. Im Süden lagen der Watzmann und der Untersberg, und im Osten konnte man die Nasenspitze des Schafbergs erkennen und wie sie über unsere Hügellandschaft schnofelte, den Duft unserer Weizenfelder einsog. Die Berge lagen genau in der Entfernung, in der ich sie haben wollte. Sie kamen mir nicht zu nah, verdeckten nie meine Sicht, gaben mir aber das Gefühl, jederzeit in See stechen zu können. Sie inszenierten ein unendliches Meer, hinter dem Italien lag, und warteten in Reichweite auf mich wie Altvordere.

Jeder Tag roch nach Abenteuer, überall gab es Refugien und Schlupflöcher, keine Mauer war gerade, kein Boden eben. Fantastische Wesen urinierten aus ihren Mündern von den Dachtraufen herab. Ich stellte mich darunter, um zu wachsen. Ich war nicht hungrig, ich war lebensgierig. Ich gedieh, und ich wuchs so schnell, dass mir dabei ständig die Knochen brachen. Man faschte meine Arme, umwickelte die Haut, strich Wasser über das weiße Netz und wartete, bis alles hart wurde, bis diese zweite Haut verknöcherte. Jeden Gips trug ich wie eine Trophäe.

Ich war anspruchslos und frosthart, und ich ging immer schwanger mit neuen Geschichten, die ich mir ausdachte. Nie war es still, außer beim ersten Schnee. Kanalisationen und Tunnelsysteme durchzogen unser Land, unterhalb der Moorwiese erstreckte sich ein Löschteich im Erdinneren, auf dem ich mit einem alten Boot fuhr und Fährmann spielte. Wann immer ein Tier starb, warf ich mir einen Umhang über und ruderte den toten Körper von der einen zur anderen Seite, weil ich dachte, ich könnte seine Seele so sicher ins Totenreich geleiten. Der Himmel hing weit herab, und was über ihm war, wusste ich nicht, ich ahnte nur, dass es weit war. Neben dem Weiher erhob sich ein kleiner Bühl, auf dem eine halbrunde, offene Kapelle erfolgreich um Besucher warb. So nisteten Jahr für Jahr die Amseln in der Krone Mariä und zogen dort ihre Küken heran. Den Bühel stellte ich mir als Insel vor, wenn ich auf ihm saß. Ich zeichnete das Gebirge, das vor mir lag, als Unterwasserlandschaft mit Tusche und Deckweiß, und malte mir an ungetrübten Sonnentagen aus, ich würde auf ehemaligem Meeresgrund leben, unter allerhand seltsamen Landbewohnern. Als wären die Berge rundum einmal mächtige Felsen gewesen, deren Spitzen über die Wasseroberfläche hinausragten. Als säßen wir mit dem Hosenboden am Ozeanboden, wo nun alles an Licht und Luft gedieh. Noch im Bett drückte ich mir jeden Morgen mit den Fingern die Augäpfel gegen das Gehirn und wartete dann, bis die bunten und grellen Blitze verschwanden, sich der schwarze Schatten lichtete und sich ein weiter Raum auftat, der weiß war und von roten Adern durchzogen. Gleichzeitig stellte ich mir vor, dass das alles ein Himmelsgewölbe war, eine Pforte in die Ewigkeit. Wenn ich dann vom Fenster ins Tal hinabsah, wanden sich die Menschen dort wie geschäftige Ameisen, die sich mühten, Leben in ihren Haufen zu bringen. Wir sind dem Himmel viel näher als die da unten, dachte ich, wir würden die Sintflut überleben. Das Tal mit all seinen Talmenschen wäre schnell überflutet, würde sich binnen Sekunden wie ein verstopftes Waschbecken füllen. Wir aber stiegen mit unseren Tieren in die provisorische Arche Noah, in den auf dem Feld stehenden Getreidekasten, einen hölzernen Kornspeicher, der aussah wie ein finsteres Hexenhaus mit massiven Wänden, ein Konstrukt, das stockstabil wirkte und bestimmt nicht unterging.

Die Mutter zitierte ständig aus der Bibel und brachte uns damit auf die Psalmen. Der Vater erzählte Geschichten aus der griechischen Mythologie, veranschaulichte den Stammbaum der olympischen Götter praxisnah anhand der Namen, die er den Kühen zuordnete und mit Kreide auf kleine Tafeln schrieb, die hinter ihnen an der Holzvertäfelung angebracht waren. Und er selbst sah aus wie Poseidon, wenn er mit dem Traktor über die Wiesen donnerte und den Inhalt des Güllefasses übers Feld spritze. An guten Tagen nannte er die Mutter Demeter, denn diese Form der biologisch-dynamischen Landwirtschaft galt in seinen Augen als Königsklasse der Agrarkultur. Er ergatterte ausrangierte Särge von der nahegelegenen Mülldeponie, zersägte sie und lagerte Kartoffeln darin oder baute daraus ein Hochbeet für Radieschen und Rettich. Ich glaubte alles, was mein Vater mir auftischte, und hielt die bare Münze noch für Gold. Der Urgroßvater brachte mir seltene Wörter bei, die wir hegten wie bedrohte Tierarten. Und die Mutter sagte seltsame Gedichte auf, sobald es dunkel war, aber erst, nachdem sie die Heilige Schrift verstaut hatte, weil sie nicht wollte, dass ihr profanes Wort in Gottes Ohr drang. »Ich will dir was erzählen, von Hutsche-Butsche-Bählen«, flüsterte sie, während sie mit ihrem Zeigefinger mein Gesicht umkreiste, »aber sei mir ja verschwiegen, sonst werde ich dich bei der Nase kriegen.« Das I von verschwiegen zog sie dabei so in die Länge wie meinen Zinken, den ich von ihr geerbt hatte. Sie konnte alle Reime und Gedichte auswendig aufsagen und ihre Textsicherheit gab mir Geborgenheit.

Das Urvertrauen steckte einem in allen Knochen, und mochten sie noch so morsch sein. »Eppan wird’s da oben auch noch geben«, sagte die Urgroßmutter immer, sobald ich Zweifel an etwas hegte. »Eppan wird’s schon richten. Eppan schaut auf uns.« Eppan war weiß Gott was, aber all ihre Hoffnung und ihr Glaube steckte in diesem Wort.

3 Die Erfindung der Ungeheuer

Ich wurde nicht geboren, ich wurde fallengelassen, geworfen und niedergeschmettert, und ich habe nicht geschrien, sondern geschluckt. »Warum schreit das Kind nicht?!«, haben die Ärzte geflucht, mir auf die nackten Hinterbacken geklatscht, um mich zu einer Stellungnahme über die Welt zu zwingen. Schreie sind Lebensbejahung, doch ich hielt den Mund. »Moment«, mahnte die Hebamme, als sie meinen rosa Organismus mit Auge und Ohr sondierte: »Sie schluckt!« Und wie ich schlucken musste! Und was ich zu schlucken hatte! Ein Ärztereigen in voller Montur empörte sich über mich und meinen Aufzug, über die, die sich ab jetzt meine Eltern nannten, und über die rostige Rüstung, in der ich zur Welt kam. Der Oberarzt schüttelte den Schädel, die Turnusärztin schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als sie auf die Rückbank der versifften Karre stierten, auf der die erleichterte Gebärerin das blutdurchsoffene Badetuch unter ihrem Gesäß zusammenraffte. »In dieser Kiste?!«, entrüsteten sich die Heilkundigen. Sie blendeten mit Stirnleuchten in unsere intime Welt, die sich vor ihnen ausgebreitet hatte wie ein Faltzelt. In ihren Gesichtern war zu lesen, dass wir Verlierer waren, durchgefallen, eine Bagage von Untauglichen, die das Leben ausgemistet hatte. Ekel, Abscheu und Überheblichkeit wechselten im Mienenspiel der medizinischen Mustermenschen, und ich begann mich zu schämen, noch bevor ich mich gesehen hatte. Statt Stolz blähte mich hinkünftig Herkunftshader. Ich war eine geballte Ladung. Und meine Fäuste öffneten sich immer erst, wenn sich die Türen hinter denen schlossen, die mich verließen. Ich musste viel schlucken. Immer wieder.

In der harten Welt bauschte sich nichts. Die Vaterbäuche waren Kriegswampen, bis oben hin gefüllt mit den Traumata der Vorgenerationen, die Mutterkuchen ausgetrocknete Seen. Alles war ausgeweitet. Ich war umgeben von Tränensäcken, von Hautlappen, ausgedehnten Gebärmüttern, leergesoffenen Mutterbrüsten. Nichts gab Halt, aber alles nach. Die Kleider, die Betten, selbst das Fell der Tiere, überall fiel ich hindurch. Nichts war in Form, alles fühlte sich labbrig an. Die kranken Bäume standen in ständiger Angstblüte, die Vögel verloren ihren Federschmuck in der Schockmauser, Wanderratten wurden bei uns sesshaft und verscheuchten die Katzen aus ihren Heunestern oder zwangen sie, ihre Gschrappen zu adoptieren, die sich dann bei der Katzenmutter satt soffen.

Die Zeit wollte nicht vergehen, sie rieselte zu Boden wie Salz. Die Welt war stehengeblieben. Sie schlüpfte in die Augenhöhle des Universums zurück, um dort schwarze Löcher ins Vakuum zu starren. Das zweite Auge des Universums war aber die Sonne, ein Auge, das die anderen blendete und alles zu durchleuchten schien, obwohl es selbst scheel und blind war. Ich wusste genau, warum mir der milde Mond schon als Kind lieber war. In ihm erkannte ich mein eigenes Gesicht mit all seinen Kratern.

Vorhersehung lag in der Luft. Die Raben, die täglich über die Dächer flogen, landeten immer nur auf unseren Feldern. Regenwürmer verknoteten sich absichtlich. Die Sonne fiel auf, weil sie so selten schien, der Regen herunter. Es stank ständig nach Hundsdreck, nicht penetrant, häufig überraschend, und es trieb einen in den Wahnsinn, weil man nie wusste, woher der Gestank kam. Man untersuchte Schuhsohlen, roch an seinen Fingernägeln und kratze den talgigen Schmutz darunter vorsichtshalber heraus.

Das Leben in der harten Welt bestand aus Rupfen, Zupfen und Häuten, aus Auslösen und Auflösen. Alles alterte und verwitterte und war von Patina überzogen. Mehr als alles liebte ich die Ungetüme. Die Unverstandenen. Die, die aus kindlichem Jähzorn heraus Erwartungen zerstörten. Aber auch die, vor denen man sich ekelte. Vor denen man instinktiv zurückschreckte, zu denen man Sicherheitsabstand hielt. Die, deren Makel man nicht zählen konnte, und die, die keinen Hehl aus ihren Schwächen machten. Ich hatte eine nicht zu leugnende Leidenschaft für Monstrümer, Bestien und Ungeheuer. Diese Ungeheuer waren meine Familie, und ich ein Kind im Volksschulalter. Freilich war diese Welt die gefährlichste von allen. Sobald man ruhte, schlugen die Zeitraffer zu. Ich hasste es, wenn sie mit ihren Meißeln neue Falten in die Gesichter der Eltern schlugen. Die beiden mussten unentwegt rackern und in Bewegung sein, um nicht verschluckt zu werden. Bewegungslosigkeit hieß Stillstand, und Stillstand bedeutete Verfallsbeschleunigung. Es waren neben den Urgroßeltern vor allem die Planeten, die mich großzogen. Und die Stadtlichter in der Ferne meine Nachtleuchte. Wölfe waren meine Kuscheltiere, und nach Klageliedern schlief ich am besten. Man sagte, der Garten und ich hingen zusammen, doch ich wusste nicht genau, wie. Ich fühlte mich als Schmarotzer. Bei jedem Wachstumsschub begannen die Blumen zu welken. War ich krank, trieben den Bäumen die Knospen im Winter aus. Ich wollte nicht wachsen, legte mir schwere Bücher auf den Kopf und schnürte mich ein. Ich trug immer ein Fernrohr bei mir, um mich notfalls von den Dingen um mich herum zu entfernen. Die Eltern hatten wenig Zeit für mich, sie stritten viel, kämpften miteinander oder gegen das jeweilige Schwiegergeschlecht. Gleichwohl vergötterte ich diese harte Welt, in der ich mich nicht vergewissern musste, dass ich am Leben war. Mein Leid bewies es mir jeden Tag, denn wer leidet, der lebt.

Die Welt, in der ich lebte, es waren mindestens zwei. Ich konnte mich nie entscheiden, welche mir näher lag, manchmal gingen sie nahtlos ineinander über, doch meistens standen sie im Widerspruch. In der einen gab es überall Tiere, Felle, Pelze und Federn, zum Streicheln, Wärmen, Bergen und Betten. Es war ein Gefilde der Seligen, in dem ich mit den Wölfen sprechen und mit den Katzen jedes Gegenüber anschnauzen durfte. Den Truthahn und die Pfauen imitierte ich so perfekt, dass mir ihre Weibchen überall hin nachrannten, und der Stier zog seine Schnauze zu einer Schnute, wenn ich es ihm vormachte. Der Wechsel in die andere Welt erfolgte oft abrupt, wie ein niederfahrender Blitz, und die Schlachten, die sich die Eltern lieferten, wirkten wie Brandbeschleuniger. Diese andere Welt war brutal, voll Dreck und Kadaver. Der Tod war allgegenwärtig, weil in der riesigen Sippe ständig jemand verkümmerte, siechte oder starb, Vieh oder Mensch, Kopf oder Zahl. Da und dort schuf ich mir kleinere Unterwelten und Nebenwelten. Ich illustrierte die Gebilde und Labyrinthe in meinem Kopf und schrieb darüber. Ich zeichnete einen prächtigen Sultan mit Turban, der aus einem Sack Sultaninen mit runzeligen, schmerzverzerrten Gesichtern aß und auf einer Riesenbanane zwischen zwei Bäumen saß wie auf einer Hängematte. Ich fertigte Naturstudien von Insekten an, sammelte tote Schmetterlinge und Nachtfalter, Käfer und Larven und versah mein Insektarium mit Notizen. Ich ließ Hirschkäfer und Hirschkühe auf dem Papier gegeneinander kämpfen. Irgendwo schnappte ich auf, dass es möglich war, seine Gene zu verändern, und daran hielt ich mich fest. Der schlaue Onkel, Biologe, Bildhauer und Imker, den die Waldorfschüler Hirn nannten, zeigte mir seine Schmetterlingszucht, ein Gewächshaus voller Zitronenfalter, aus dem ein frisches Gelb strömte, sich bewegte und wand, als wäre es lebendig. Ein Gelb, das ich mit Aquarellfarben wiederzugeben versuchte. Der Onkel begutachtete meine Sammlung von Zeichnungen, ein Bestiarium bizarrer Welten und Phantasmen, deformierter Gestalten und grotesker Schattenwesen, die, wenn alle anderen schliefen und ich wach lag, unter den Betten und aus den Kästen hervorkrochen, die sich durch Dielenspalten zwängten und durch Mauerrisse quetschten, die ich aufs Papier brachte, um sie zu bezeichnen, um sie aus meinem Inneren zu bekommen, damit sie mich irgendwann vielleicht in Ruhe ließen. Sobald die Eltern eindämmerten, schlüpften sie in unser Schlafgemach, wurden sichtbar, schwollen an und gediehen im Spiel zwischen Licht und Schatten. Sie nährten sich von der Nacht und zeigten ihre Fratzen im Scheinwerferkegel, den vorbeifahrende Autos an die Wand warfen. Sie saugten sich voll mit der Feuchtigkeit in den Gemäuern, tranken sich satt an der Dunkelheit und fraßen sich in die Träume der Eltern, die am nächsten Morgen erschlagen und verwirrt wirkten, so als hätten sie etwas verloren, als hätten sie sich selbst verloren. Die Monster der Nacht waren eigenwillig und unheimlich. Oft waren es Tiere mit menschlichen Zügen oder skurrile Menschenfiguren