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Am 5. Januar 2024 ist Helena Adler gestorben, mit vierzig Jahren, viel zu früh. Für drei Bücher hat die Zeit gereicht, und mit diesen Büchern, vor allem aber mit »Die Infantin trägt den Scheitel links« ist es ihr gelungen, sich in die Geschichte der neueren deutschsprachigen Literatur einzuschreiben. Mit überschäumender Sprachlust, mit unbändigem Wortwitz, auf Leben und Tod und mit Hohn und Spott und Zähnen und Klauen hat sie sich ihrer Herkunft gestellt und der Alptraumidylle der österreichischen Provinz auf der Wetterseite einen frischen Anstrich verpasst. Sie hat auf Biegen und Brechen alle Register gezogen, denn ihre Literatur war nicht nur ein sehr großer Spaß, sondern immer auch eine sehr ernste Angelegenheit. Das zeigt sich auch an den drei noch zu Lebzeiten abgeschlossenen Texten, die dieser Band versammelt. Sie wüten und sie poltern wie eine Liebeserklärung an das Leben, die das letzte Wort behalten will – und behält!
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Seitenzahl: 50
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© 2024 Jung und Jung, Salzburg
Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung, Bearbeitung und Übersetzung, bleiben vorbehalten
Umschlagbild: Detail Drittes Wandelbild, Isenheimer Altar
(Versuchungen des hl. Antonius)
Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.com
ISBN 978-3-99027-313-5
HELENA ADLER
Drei Texte
Dort, am Fuße der Goldberggruppe, wo das Gebirge seinen letzten Anlauf nimmt, genau in einer Höhe von eintausendundsechshundert Metern, wohnt Josef in einem bescheidenen Mietszimmer, das aus nichts weiter besteht als Sand, Kies und Zement. Da liegt er mit seinem drahtigen Gestell in einem alten Holzbett, das sich nur aus Brettern und einer Matratze zusammensetzt. Die Matratze entspricht der Standardgröße von neunzig mal zweihundert. Er selbst fällt mit seinen Einmeterachtzig nicht aus dem Rahmen. Eigentlich möchte er kurz ruhen. Dafür hat er aber keine Zeit. Die Schaumstoffmulde ist noch warm, wenn er sie um fünf Uhr dreißig verlässt. Tagsüber ist das Bett unbewohnt. Die kalkweiße Wäsche darauf, pedantisch gefaltet, friert ein bisschen vor Einsamkeit. Das tut Josef nur ein kleinwenig leid, denn ausnahmslos die Faulenzer rasten untertags in ihren Kisten, sagt er neckisch zum Bettgestell, das seine Katze ist, während er ihm über das Fußteil streicht und es zu schnurren beginnt. Er scheuert sein Gesicht mit groben Händen, an denen fünf Stahlspäne sitzen, und spült es mit klarem Wasser ab, bevor es zu rosten beginnt. Bei der Gelegenheit riskiert er ein Auge in den Spiegel, das andere haftet bereits an der Uhr. Doch die Zeit lässt sich nicht ablesen. Seit ein paar Tagen sieht er verschwommen. Er sperrt mit einem alten Eisenschlüssel die Tür zu seiner Kemenate ab. Die Baustelle schreit schon nach ihm.
Eine klassische Schönheit ist er nicht, der Josef, denn wenn er schön wäre, hätte er ja auch nicht die Probleme mit den Frauen, die eigentlich gar keine sind, weil wo nichts ist, da kann es auch keine Umstände geben. Das Gesicht ist hohlwangig, über den Augen trägt er grobe Wülste, der Mund zieht einen langen dünnen Strich von einem Ohr zum anderen. Die Nasenwurzel breit, die Nüstern groß. Nur die Augen sind geradlinig, ein wenig anhänglich, sobald es irgendwas zum Sich-anhängen gibt. Aber viel zu weit auseinander. Ein bisschen erinnert er an eine magere Herbstkatze, meinen die Unterjocher, die Talbewohner. Eine vom Spätwurf, die den Winter nicht übersteht. Eine, die von kräftiger Bauernhand an die Wand geschleudert wird, bis ihr das Genick bricht.
Josef reibt sich den Nacken. Nicht mehr lange, dann wird er endlich eine längere Pause einlegen. Seine Kopfschmerzen lassen ihn verstummen. Reden kann er sowieso nicht, das sagen ihm die Unterjocher, wenn er schweigt. Bevor er Halt macht, hat er aber noch Einiges zu erledigen. In seiner Funktion als Hochzeitslader, ein Amt, das seine Familie seit Generationen bekleidet, macht er keine Fehler, und der Holzstock, dessen Unterseite in einem Eisenstück steckt, gibt dem alten Hasen Sicherheit. Im Zweifelsfall versteckt er sein Gesicht hinter den darauf angebrachten weißen Bändern, die mit Initialen und Namen der Brautpaare übersät sind und ihm einen göttlichen Rauschebart verleihen. Sein Kostüm, das aus Strümpfen, Lederhose, Mantelkleid und einem schwarzen Hut mit Feder besteht, winselt ungeduldig vor jeder Hochzeitsjagd, sobald er es aus dem Kasten lässt. Wie gerne würde er einen Säbel tragen, wie im siebzehnten Jahrhundert noch üblich, um die Fährte der Brauträuber aufzunehmen, träumt Josef wagemutig, während er schon Baustellenarbeit verrichtet. Einen Säbel, der seinen stummen Schnabel ersetzt. Er schließt die Augen, atmet tief ein, und dann denkt er sich frei von seiner Vergangenheit, versucht sich eine eigene Biografie einzuzementieren. Es ist nur ein kurzer Moment, in dem der Beton flüssig ist.
Als Maurer ist Josef für den Rohbau zuständig. Rohkost hat ihm aber noch nie zugesagt. Jemand, der ihn nicht kennt, könnte glauben, er wäre schroff, bloß weil er die Grobkonstruktion innehat. Weil ihn die Innereien nichts angehen, das, was den Menschen, das Haus, im Innersten zusammenhält. Dabei könnte Josef die Gretchenfrage aus dem Stegreif beantworten und ist auch allzeit dazu bereit, wenn er sich beim Glattstreichen des Wandputzes umdreht, sobald ihm auf die Schulter geklopft wird. Meist wird er aber nur an die Pause erinnert und antwortet mit einem stillen Nicken. Das Bauwesen ist eine filigrane Sache, denkt Josef, denn, wenn du ein Haus errichtest, was übersetzt nichts weniger bedeutet als die ausbetonierte Gebärmutter der Menschen, dann musst du bereits beim Gießen der Bodenplatte ein Gefühl dafür haben, in welche Richtung der Beton fließt. Das Gebäude muss bestmöglich auf den Hausherrn abgestimmt sein, ohne seine eigene Hallstimme zu verlieren. Je mehr Mensch, desto weniger Hall. Der Mensch lebt in Synthese mit seinem Wohnhaus, atmet das Haus, atmet der Mensch. Bricht der Mensch zusammen, stützt ihn das Haus. Bricht das Haus zusammen, begräbt es den Menschen unter sich, weil die Stützfunktion dann auch verlorengeht. So simpel ist die Geschichte mit dem Tragwerk, denkt sich der Josef, während er den Mörtel anrührt und es ihm wieder schwarz vor Augen wird.
Er rührt den Mörtel an, der Bürgermeister Joch seine Schwiegertochter. Gestern war Josef bei ihm, weil morgen sein Sohn, der junge Jochen, heiratet, und bei dieser Gelegenheit hat Joch seiner zukünftigen Schwiegertochter Maria auf den Hintern geklatscht, als sie aus der Küche kam, um ihnen Schnäpse zu servieren. Bleibt doch in der Familie, hat sich der Joch dabei gedacht. Und Jochen, sein Sohn, hat es wohl gesehen und seine Fäuste geballt, was wiederum nur Josef auffiel. Doch weder Jochen noch Josef sind Bürgermeister, also haben sie nichts gesagt. Und auch die restlichen Anwesenden, der Vizebürgermeister und die Wirtshausonkeln, haben den Vorfall souverän ignoriert und ihn mit lautem Gegröle als unausweichliches Schicksal eines hiesigen Mädchens besiegelt. Niemand mag den Sohn vom Bürgermeister, weil niemand den Bürgermeister