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LGBTQ+-Romance zum Wegsuchten und zwischen den Zeilen lesen … Sei stolz und leuchte! Das ist Mahalias Motto. Deswegen will sie ihre Queerness mit einer Coming-Out-Party feiern. Doch für sich selbst einzustehen, kann eine große Herausforderung sein, vor allem wenn das Geld dafür fehlt und ihre Mutter (noch) nichts von ihrer Queerness weiß. Als sich Mahalia in das neue Mädchen - Siobhan - in ihrer Klasse verliebt, ist klar: Sie muss diese Party feiern und der Welt zeigen, wer sie ist. Aber die komplizierten Gefühle zu Siobhan sind nicht die einzige Hürde, die Mahalia überwinden muss, denn dann verliert ihre Mum auf einmal ihren Job und sie hat riesigen Streit mit ihrer besten Freundin. Trotzdem ist sie fest entschlossen, die Party ihrer Träume zu feiern und alles zu geben. Vielleicht hat sie so beim Mädchen ihres Herzens ja doch noch eine Chance … Nach "Off the Record" komponiert Camryn Garrett ihren neuen Roman wie ein Musical: leicht, unterhaltsam und mit ganz vielen Gefühlen. Andere Bücher von Camryn Garrett bei Arena: Off the Record. Unsere Worte sind unsere Macht.
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Seitenzahl: 358
Weitere Bücher vonCamryn Garrettim Arena Verlag
Off the Record. Unsere Worte sind unsere Macht
Isabel Abediwohnt mit ihrer Lebensgefährtin in einem alten Bahnhof am HamBurger Stadtrand. Einen großen Teil ihrer Jugend verbrachte sie in den USA, machte ihren Highschool-Abschluss in Oregon und zählte als Praktikantin zum Team einer Werbefilmproduktion in Los Angeles. Nach ihrem ersten Berufsleben als Werbetexterin erfüllte sich ihr Traum, Bücher zu schreiben. Sie ist Autorin vieler erfolgreiche Kinder- und Jugendbücher, die in andere Sprachen übersetzt wurden. Zu den Büchern, die sie selbst aus dem Englischen übersetzt, zählt auch »Off the Record« von Camryn Garrett.
Ein Verlag in der Westermann Gruppe
1. Auflage 2024
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2024 Arena Verlag GmbH
Rottendorfer Str. 16, 97074 Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Text copyright © 2023 by Camryn Garrett
Permission for this edition was arranged through the Gallt and Zacker Literary Agency, LLC.
Friday I’m in Love
Words and Music by Robert Smith, Simon Gallup, Paul S. Thompson, Boris Williams and Perry Bamonte
Copyright © 1992 by Fiction Songs Ltd.
All Rights in the United States and Canada Administered by Universal Music – MGB Songs
International Copyright Secured
All Rights Reserved
Reprinted by Permission of Hal Leonard LLC
Aus dem Englischen von Isabel Abedi
Lektorat: Jessica Mauwena Lawson
Covergrafik: Erick Dávila
Umschlaggestaltung: Sora Kim
Vignetten: Sora Kim
E-Book ISBN: 978-3-401-81065-2
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@arena_verlag
@arena_verlag_kids
HINWEIS ZU SENSIBLEN THEMEN
In dieser Geschichte werden rassistische Sprache (u. a. die englische Entsprechung des N-Wortes in Kapitel 6), Bilder oder Handlungen dargestellt. Dies ist nicht die persönliche Meinung der Übersetzerin oder des Verlages, sondern soll aufzeigen, welchen (Alltags-)Rassismen und vorurteilsbehafteten Vorstellungen Schwarze Menschen und People of Colour ausgesetzt sind und teilweise selbst internalisiert haben. Dies können sensible Themen sein.
An Lingeringlillies, dafür, dass they mir gezeigt hat, welche Art von queerer Frau ich sein wollte, ohne überhaupt meinen Namen zu kennen.
Dressed up to the eyes
It’s a wonderful surprise
To see your shoes and your spirits rise
Throwing out your frown
And just smiling at the sound
And as sleek as a shriek,
Spinning ’round and ’round
Always take a big bite
It’s such a gorgeous sight
To see you in the middle of the night
You can never get enough
Enough of this stuff
It’s Friday
I’m in love!
»FRIDAY I’M IN LOVE« BY THE CURE
AKTUELLER KONTOSTAND: 300 $
–50 $ für Naomis Geschenk
Mich zu NaomisSweet-Sixteen-Party zu fahren, war Moms Idee. Wer jetzt denkt, es läge daran, dass ich nicht Auto fahren kann, dem würde die San-Diego-Kraftfahrzeugbehörde widersprechen – selbst wenn ich die Prüfung dreimal machen musste. Ich habe meinen Führerschein. Und trotzdem darf ich so gut wie nie fahren, wenn ich es will. Wie zum Beispiel jetzt gerade.
»Weißt du«, sage ich, »hätte ich eine Sweet-Sixteen-Party gehabt, wäre Naomi selbst dorthin gefahren.«
»Mahalia.«
Mom presst ihre Lippen fest aufeinander. Wenn sie am Steuer sitzt, klebt ihr Blick immer auf der Straße, also kann ich so viel mit den Augen rollen, wie ich will, und komme trotzdem damit durch. Aber wenn sie mich dabei nicht anschaut, macht es ehrlich gesagt auch nicht denselben Spaß. Also starre ich stattdessen auf meinen Schoß. Zwischen meinen Füßen ist Naomis Geschenk. Es steckt in einer glitzernden Tasche, die wir vom Dollarshop bekommen haben. Es ist nur ein einfaches Kleid von Forever 21, aber um es mir leisten zu können, musste ich einen satten Anteil Benzingeld opfern. Ich hoffe, es sieht nicht so billig aus, wie es sich anfühlt.
»Wir haben das jetzt mehrfach durchdiskutiert«, fügt Mom hinzu. »Es gab kein Geld, um dir eine Party zu bezahlen. Nicht in diesem Jahr.«
Sei kein Trotzkind, sei kein Trotzkind –
»Aber du hast gesagt, ich könnte eine Party schmeißen.« Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Weißt du noch? Du meintest, zu meinem Sechzehnten könnte ich eine gigantische Party feiern, weil du nie eine bekommen hast.«
»Als ich das meinte, warst du sechs«, feuert Mom zurück. »Als du sechs warst, sahen die Dinge anders aus.«
Frustriert ziehe ich den Kopf wieder ein. Mom hat recht. Die Dinge waren anders, als ich sechs war – da hatten wir nämlich noch viel weniger Geld. Uns dahin zu bringen, wo wir jetzt sind, hat Mom viel Zeit gekostet. Aber manchmal will ich mehr. Und jedes Mal komme ich mir wie ein Riesenarschloch dabei vor.
Eine Haarsträhne weht mir in den Mund, und ich spucke sie aus. Die Fenster sind runtergekurbelt, weil Mom anti-Klimaanlage ist, und ich mag es, wie der Fahrtwind meine Haare durch die Gegend wirbelt. Für einen Afro sind meine Haare nicht drahtig genug, aber sie sind auch nicht so geschmeidig, als dass ich sie wie die weißen Mädels tragen könnte. Also hab ich diese Art krausen Wuschelkopf, den ich jede Nacht zu Zöpfen flechte, um ihn zu bändigen, und jeden Morgen wieder aufmache. Zumindest war ich heute gegenwärtig genug, mir ein Stirnband überzustreifen.
»Und überhaupt, ein Mädchen muss keine Party haben«, sagt Mom. »Rechnungen müssen bezahlt werden, Mahalia. Miete und Strom und Heizkosten und Essen, all diese Rechnungen. Oder hättest du lieber deine Party und würdest dafür den Rest des Jahres hungern?«
Ich meine, ich hätte diese Party echt gern gefeiert.
»Klingt doch gar nicht so schlimm«, lenke ich schließlich ein und versuche ihr ein Lachen zu entlocken. »Wir säßen ja nicht auf der Straße oder so. Wir könnten bei Dad wohnen.«
Mom macht dieses Geräusch, das wie Pshh klingt.
»Okay«, sage ich. War vielleicht nicht der beste Witz. Als Dad und seine Freundin meine jüngere Halbschwester Reign bekamen, hat Dad sechs Monate lang »vergessen«, meinen Unterhalt zu zahlen. Dass er uns für ein Jahr ernähren könnte, bezweifle ich. »Aber ich bin sicher, es wäre kein großes Ding gewesen. Sagst du nicht immer, der Herr versorgt uns?«
»Nicht, wenn es um albernes Zeug geht«, entgegnet sie. »Der Herr versorgt uns mit dem, was wir brauchen.«
»Tut er das?« Ich versuche meine Stimme unbefangen klingen zu lassen, aber es fällt mir schwer. »Warum haben wir dann kein Haus? Oder Rücklagen fürs College? Oder Geld, damit du wieder aufs College gehen kannst?«
Moms Hände klammern sich fester um das Lenkrad.
»Gott ist kein Flaschengeist, und das weißt du«, sagt sie. »Du reibst nicht an der Bibel und wartest auf drei Wünsche.«
Ich schnaube. Sie blickt mich aus dem Augenwinkel an und setzt ein winziges Lächeln auf. Für eine Sekunde denke ich, dass es überstanden ist und dieses ganze Gott-Gerede hinter uns liegt. Aber dann –
»Der Herr hat uns einen Körper zum Arbeiten gegeben«, sagt sie. »Er hat mich zum Pflegeheim geführt, als ich – als wir – es am nötigsten hatten. Er gab dir den Grips, mit dem du dir ein großartiges Stipendium für den nächsten Herbst sichern kannst. Gott hilft denen, die sich selbst helfen. Vergiss das nicht, okay?«
Ich hasse es, mit Mom über Gott zu sprechen, hauptsächlich, weil sich die Regeln von Mensch zu Mensch ständig zu ändern scheinen, und in der Kirche, die wir seit meiner frühen Kindheit besuchen, sogar von Sonntag zu Sonntag. Mir kommt einfach alles daran zu bequem vor. Der Herr wird uns versorgen, aber nicht zu sehr. Der Herr vergibt uns unsere Sünden, aber zu sündigen, ist schlecht, und wir sollten es niemals tun.
Wenn Pastor Patrick in der Kirche sagt: »Heutzutage ist der Teufel in diesem Land lebendig«, ist Moms »Amen« ebenso lautstark wie das Wort Gottes. Sie sagt immer, der Teufel führt uns stets in Versuchung und lenkt uns weg von den Wegen des Herrn, und genau deshalb sei sie auch mit fünfzehn schwanger geworden. Nicht weil Dad überzeugend und Mom geil gewesen ist.
Ein Teil von mir will sagen, es lag an Mom und nicht an Gott, dass sie diesen Job bekommen hat. Aber damit würde ich nur einen Streit auslösen, so viel ist sicher. Also strecke ich die Hand nach dem Radio aus. Mom schlägt sie weg und schaltet eine ihrer christlichen Hip-Hop-CDs ein. Ich stoße einen dramatischen Seufzer aus.
»O bitte«, übertönt Mom die funkigen Beats. »Ich weiß genau, dass du sie liebst.«
Ein paar dieser Songssind eingängig. Aber dann schrauben sich die Bibelsprüche für den Rest des Tages in meinen Kopf, und ich fühle mich wie eine Heidin, weil ich nicht an sie glaube.
Gott sei Dank erscheinen links am Straßenrand jetzt die großen, kunstvoll verzierten Säulen des Restaurants – einem strahlend weißen Gebäude direkt am Wasser. Gigantische Fenster mit Meerblick. So eine Location können sich nur NaomisEltern leisten. So eine Location hätte ich mir für meine nicht existente Party gewünscht.
Aber das ist jetzt auch egal. Für meinen Sweet-Sixteen bin ich zu spät dran und so etwas wie ein Sweet-Seventeen existiert nicht. Die nächstbeste große Party an meinem Horizont ist wohl am ehesten eine Hochzeit oder eine Beerdigung.
Mom hält vor dem Restauranteingang, und mir fallen garantiert gerade die Augen aus dem Kopf. Da sind Leute in Uniformen, die Mäntel entgegennehmen und Autos parken. Wie abgefahren ist das bitte?
»Sei brav«, sagt Mom und zwickt mir in die Wange. »Ich will nicht hören, dass du dich Mr und MrsSanders gegenüber unhöflich verhalten hast. Verstanden?«
Ich strecke ihr die Zunge raus. Das soll größtenteils ein Scherz sein – ich bin ständig bei Naomi zu Hause und sehe ihre Eltern garantiert öfter als meine eigene Mutter, aber das sage ich nicht laut. Mom kann schließlich nichts dafür, dass ihr das Pflegeheim diese unfassbaren Stunden zumutet. Sie trägt schon ihre Pflegekleidung, und für eine Blitzsekunde spult mein Gehirn vor, sodass ich sehe, wie sie sich nach einer Zwölfstundenschicht langsam in unsere Wohnung schleppt, als hätte sie den ganzen Tag nicht eine einzige Gelegenheit gehabt, sich zu setzen.
»Mahalia?«
Ins Restaurant steuern bereits Menschen in High Heels und Anzugjacken. Fast keins der Gesichter kommt mir bekannt vor, aber ich bin ziemlich sicher, dass diese Personen nicht bei Forever 21 einkaufen. Mein Rücken verspannt sich. Das hier ist eine andere Nummer, als nach der Schule bei Naomi zu Hause zu chillen.
Mom gibt mir einen Stups.
»Sei brav«, sagt sie wieder, als ich die Tür öffne. »Ich liebe dich.«
»Tschau, Mom.« Ich schlucke angestrengt. »Ich lieb dich auch.«
Ich steige aus ihrem schrottreifen Auto und blicke nicht zurück.
AKTUELLER KONTOSTAND: 250 $
Als Naomi und ihre Eltern anfingen, die Party zu planen, war ich so aufgeregt, als wäre es meine eigene. Ich wollte dabei sein, als Naomi Kleider anprobierte, ich wollte mit ihr Einladungskarten aussuchen und mich mit ihr über die Musikwahl austauschen. Irgendwo mittendrin muss ich wohl vergessen haben, dass ich nicht die einzige Gästin auf der Party sein würde.
Naomi ist meine beste Freundin, aber in sozialer Kompetenz ist sie mir haushoch überlegen. Ich kenne viele Leute, weil wir auf dieselbe Schule gehen, aber ich bin nicht wirklich mit ihnen befreundet. Es sind eher Leute, mit denen ich mich zu Zweiergruppen im Chemielabor zusammentun würde.
Dieser Saal ist voll von Personen, die für ein Laborteam infrage kämen. Naomis Freund:innen haben die verschiedensten Races, Gender und Alter. Sie stehen an runden Tischen, über die weiße Tischdecken drapiert sind, und knabbern Appetizer. Und dann ist da diese riesige Tanzfläche aus Holzparkett, auf der ein paar tapfere Seelen versuchen, die Party an den Start zu bringen.
Ich pflanze mich an einem der Tische nieder und schlage Wurzeln, auch dann noch, als mehr Menschen zur Tanzfläche pilgern. Ich bin umringt von Fremden; einer älteren Frau, deren Frisur aussieht wie ein Bienenstock, einem Ehepaar, und einem Mädchen, das ich aus der Schule kenne. Etwa alle zehn Minuten ploppt Naomi in der Menge auf, und ich kann meinen Blick nicht von ihrem Kleid lösen.
Als sie es mit ihrer Mom gekauft hat, war ich dabei – ich erinnere mich noch genau, wie die Verkäuferin das Kleid anpries, und dabei Ausdrücke wie Deep-V-Neck Corsage und natürlicher Taillenumfang benutzte, unter denen ich mir nicht wirklich etwas vorstellen konnte. Aber eins war – und ist noch immer – leicht zu verstehen: Naomi sieht wunderschön darin aus. Das Kleid ist lang und lavendelfarben. Wenn ich die Spaghettiträger und den geschnürten Rücken ignoriere, kann ich mir bildhaft vorstellen, wie Naomi den Saum ihres Kleides rafft und einem verbotenen Liebhaber aus einem Jane-Austen-Film querfeldein hinterherjagt.
Ich versuche ihr zuzuwinken, aber sie nimmt nur ein einziges Mal Notiz von mir. Sie ist wie eine Königin umschwärmt von einer hundertfachen Schar an Staatsangehörigen, die offensichtlich schwer begeistert darauf aus sind, sich mit Tanten und Onkeln, Cousins und Cousinen zu unterhalten.
Seufz.
»Mahalia!«
Die dröhnend laute Stimme lässt mich zusammenzucken. Hinter mir ist MrSanders. Er schaut mit einem Grinsen zu mir runter. Seine Stirn ist verschwitzt, und auf seinem blauen Frackhemd prangt ein dunkler Fleck. Ich kann mir nicht verkneifen zurückzulächeln.
»Ich habe dich schon überall gesucht«, sagt er. »Warum tanzt du nicht?«
»Oh«, sage ich, werfe einen kurzen Blick auf die Tanzfläche, und sehe kleine Kinder quietschend Fangen spielen. »Ich war schon. Ich hab einfach, ähm, eine Pause gebraucht.«
Er reibt mir die offensichtliche Lüge nicht mal unter die Nase. Stattdessen zerrt er mich förmlich von meinem Sitzplatz hoch und in eine Umarmung hinein. Noch bevor mir klar wird, dass auch seine Schultern verschwitzt sind, lehnt schon mein Gesicht daran. Es ist heiß hier drin, als käme die Klimaanlage nicht gegen all die tanzenden und singenden Menschen auf der Tanzfläche an. Naomi hat auf all das traditionelle Sweet-Sixteen-Zeugs verzichtet – keinen Hofstaat, keine schicken Schuhe, keine Reden. Das Einzige, was hier abgeht, ist haufenweise gutes Essen plus endlos viel Tanzen.
MrSanders wiegt uns vor und zurück. »Bist du sicher, dass die Musikwahl deinen Maßstäben gerecht wird?«
Ehe ich es verhindern kann, hat mein Blick sich bereits verfinstert.
»Keine Ahnung, was der DJ da macht«, sage ich. »Er könnte doch einfach, na ja, klassische Hits spielen. Die Hälfte der Leute hier kennt keine Doja-Cat-Songs.«
Was, Hand aufs Herz, auch ziemlich berechtigt ist.
»Ah, das ist mein Mädchen.« Sein Grinsen wird noch breiter. »Ich habe Naomi gesagt, wir sollten was in Richtung OldSchool spielen, ein bisschen Luther Vandross vielleicht –«
»Oh, nein, Mr S.«, entgegne ich. »Da wäre sie auf keinen Fall mitgegangen.«
Er lacht. Ich glaube nicht, dass er betrunken ist, er wirkt einfach nur glücklich. Mom geht es manchmal okay, aber ob ich sie jemals glücklich gesehen habe, weiß ich nicht.
»Ich hasse es, dich hier ganz allein sitzen zu sehen«, sagt er ernüchtert. »Ich bin sicher, Naomi hätte dich gerne um sich.«
»Ja, klar.« Ich werfe einen flüchtigen Blick über meine Schulter. »Ich wollte nach ihr schauen, aber sie hat haufenweise Leute, mit denen sie sich unterhalten kann. Ist schon okay. Ernsthaft. Ich suche sie später.«
Vertraute Klaviertöne ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich. Ruckartig wirbelt mein Kopf Richtung Tanzfläche. Durch die Lautsprecher dringt Stevie Wonders »Don’t You Worry ’Bout a Thing«. All die Schwarzen Erwachsenen sind jetzt abgewandert, sie jubeln und wiegen sich auf der Tanzfläche. Meine Hüften bewegen sich sanft zum Rhythmus. Sich nicht zu Stevie Wonder zu bewegen, ist ein Ding der Unmöglichkeit.
Am DJ-Pult legt NaomisMom mit einer anderen Mutter los. Ihrem Aussehen nach könnte MrsSanders glatt noch aufs College gehen, obwohl sie drei Kinder hat und eine megaangesagte Anwältin ist. Plötzlich sieht sie Naomi so ähnlich, dass sich mein Herz zusammenkrampft. Ich will auch mit meiner besten Freundin tanzen. Nicht mit ihrem Dad.
»Gesell dich gerne zu MrsSanders und mir«, bietet er mir an und wirbelt mich herum. »Wir versuchen zusammen rauszufinden, wie wir zu dieser Musik tanzen können.«
»Nein, mir geht’s gut«, sage ich und zucke vor ihm zurück. »Ich wollte eh grad auf die Toilette. Aber vielen Dank, ich komm später noch mal zu Ihnen.«
»Auf jeden Fall.« Er lächelt. MrSanders lächelt immer. Ich frage mich, wie sich das anfühlt, wenn du mit jedem Aspekt deines Lebens komplett zufrieden bist. »Bis später, Mahalia.«
Er spricht meinen Namen aus, wie er ausgesprochen werden soll, voller Sound und Swing. Bei Mom klingt er immer flach und formell.
Ich frage einen Kellner, wo die Toiletten sind, und steuere Richtung Flur. Die späte Nachmittagssonne strahlt durch die hohen Fenster und beleuchtet den Weg zu den Toiletten am Ende des Korridors. Ich trage kein Prinzessinnenkleid wie Naomi, aber einen hübschen Rock. Meine Beine fühlen sich nackt an.
In öffentlichen Toiletten sind üblicherweise jede Menge Frauen, weshalb es mich überrascht, diese hier leer vorzufinden. Ich blicke mich in einem der Spiegel an. Ich habe mich zu Hause mithilfe von YouTube-Videos geschminkt; normalerweise kriege ich Naomi dazu, mir beiseitezustehen, aber diesmal hatte sie genug damit zu tun, sich selbst für die Party fertig zu machen. Als ich das Haus verließ, hätte ich ebenso gut aus einem Abiballfoto herausspazieren können, aber jetzt sieht mein Gesicht aus, als hätte ich alles weggeschwitzt. Und ich hab nicht mal getanzt. Es ist nicht fair.
»Brauchst du Hilfe?«
Ich drehe mich um. Hinter mir steht ein Schwarzes Mädchen, sie ist light-skinned und könnte mixed oder auch nicht mixed sein. Kurze, wilde Locken umrahmen ihren Kopf wie eine Krone, und ihre Wangen sind übersät von Millionen brauner Sommersprossen. In ihren braunen Augen ist etwas Ernstes, als würde sie mich inspizieren, aber auf ihren Lippen liegt ein sanftes Lächeln. Ich glaube nicht, dass ich sie je in der Schule gesehen habe. Ansonsten hätte ich sie auf jeden Fall erkannt.
Und weil ich unter hübschen Mädchen ja so wortgewandt bin, würge ich hervor: »Was?«
»Du hast grad dein Gesicht berührt.« Sie tritt auf mich zu, so dicht, dass ich die Wärme ihres Arms an meinem spüre. »Als würde dir dein Make-up Sorgen machen.«
»Oh.« Ich hab das Gefühl, nicht atmen zu können. Ihre Worte haben einen leichten Akzent, aber ich kann nicht ausmachen, woher er kommt. »Äh, ja. Es war – es ist heiß.«
Gott. Je mehr ich rede, desto schlimmer wird’s. Aber ich glaube, ich muss weiterreden. Wenn ich aufhöre, geht sie vielleicht, und ich will, dass sie so lange wie möglich bleibt.
»Hier.« Sie greift nach der kleinen pinkfarbenen Tasche, die sie bei sich trägt. »In diesem Stadium ist es am einfachsten, alles abzuwischen.«
Sie zieht ein Päckchen Abschminktücher hervor. Ich stehe da, rühre mich nicht, schaue nur. Ich will irgendwas Witziges oder Flirtiges sagen, aber in meinem Gehirn ist nichts. Ihre Tasche schließt sich klickend.
»Sieht im Grunde nicht schlecht aus«, sagt sie, während ihr Blick über meinen zittrig aufgetragenen Kajal und Lidschatten wandert. Ich bin erstarrt. »Aber trotzdem halte ich Feiern für eine schreckliche Idee, wenn du dir dabei die ganze Zeit einen Kopf um dein Make-up machen musst. Was meinst du?«
»Äh«, sage ich. »Klar?«
Ihre Hand, bedeckt von dem kleinen weißen Tuch, schwebt neben meinem Hals. »Darf ich?«
Ich nicke, wahrscheinlich zu eifrig. Ich weiß nicht mal, wie dieses Mädchen heißt, aber sie ist mir so nah, und ich kann nicht aufhören sie anzuschauen. Sie drückt das Tuch gegen meine Wange und tupft sanft. Ich beobachte, wie sich ihre dunklen Augenbrauen konzentriert zusammenziehen. Ihre Berührung ist warm. Jeder Teil meines Körpers ist warm.
»Da«, sagt sie und schmatzt anerkennend mit den Lippen. »Perfekt.«
Das ist sie absolut. Und sie ist auch das Einzige, an das ich den ganzen restlichen Abend denken kann – während ich mit NaomisDad zu »Before I Let Go« tanze, während ich mir einen kleinen Champagner stibitze, als die Erwachsenen gerade nicht hinsehen, während ich über die Tanzfläche hinweg verstohlene Blicke auf sie werfe … Sie tanzt wie eine weiße Frau in einer Werbung für irgendein fragwürdiges Medikament, wirft ihr Haar zurück und ihr Lachen an die Decke. Ich will wissen, warum sie so glücklich ist. Wie lange kennt sie Naomi schon? Hat sie sich auch am Champagner bedient?
Aber als ich den Mut aufgebracht habe, zu ihr rüberzugehen, taucht schließlich doch Naomi auf, verschwitzt und ein bisschen gerötet und grinsend, als hätte sie ein Geheimnis.
»Da bist du«, sagt sie. »Ich hab dich überall gesucht.«
Sie greift nach meinen Armen und schwingt sie von einer Seite zur anderen. Irgendwann heute Abend hat sie ein Diadem erlangt, und es ruht auf ihrem Kopf, als hätte es sein ganzes Leben dort verbracht.
»Alter«, sage ich mit einem Lachen in der Stimme, während ich ihre Arme drücke. »Ich war hier. Bist du Cody hinterhergejagt, oder was?«
Ich mach nur Spaß – tatsächlich habe ich Naomi heute nicht mit Cody gesehen. Er ist dieser weiße Geek, auf den Naomi seit einer Ewigkeit einen Crush hat. Sie sind einander ziemlich ähnlich – beide Klassenbeste und bei jeder Schul-AG am Start.
Naomi kichert. Oha, sie hat sich definitiv am Champagner bedient.
»Noch nicht. Aber der Abend ist trotzdem perfekt.« Sie flüstert mir förmlich ins Ohr. »Findest du nicht?«
Meine Brust fühlt sich flatterig an, teils vom Champagner und teils vom Tanzen. Ich fühle mich, als könnte ich die ganze Nacht durchtanzen, ohne darüber nachzudenken, wer mich anschaut. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich mich das letzte Mal so gefühlt habe. Wir stehen so nah beieinander, dass unsere Wangen gegeneinanderprallen, als ich nicke. Naomi kichert wieder.
»Warte«, sage ich. »Weißt du, was noch perfekt ist?«
Ich drehe mich zu der Stelle um, an der ich die Fremde zuletzt gesehen habe, als sie ihren weißes-Mädchen-Pharma-Werbetanz abzog. Aber sie ist fort. Es kommt mir vor, als hätte die Tanzfläche ein Loch.
»Was ist perfekt?«, fragt Naomi und drückt meinen Arm, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Hab ich mir das, was auf der Toilette passiert ist, eingebildet? Hat dieses Mädchen überhaupt existiert? Ist sie wirklich so fantastisch, wie ich dachte, oder bin ich auf dieser Party nur ein bisschen zu angeschickert?
»Ähm«, sage ich und drehe mich wieder zu Naomi.
»Die Playlist.«
»Gott, Mahalia«, Naomi verdreht die Augen. »Halt die Klappe und tanz.«
Dann zieht sie mich mitten auf die Tanzfläche. Selbst als der DJ nachgibt und einen Doja-Cat-Song spielt, als alle Mädchen aus der Schule auf die Tanzfläche strömen und es sich anfühlt, als könnte ich die Nacht durchtanzen, denkt ein kleiner Teil von mir noch immer an die Zartheit der Hand des Mädchens an meiner Wange. Selbst wenn mein Gehirn diesen Augenblick ausgeschmückt und ihn zu etwas ausgearbeitet hat, was er nicht war – die Erinnerung in mir ist warm und weich, genau wie ihre Berührung.
AKTUELLER KONTOSTAND: 225 $
–25 $ für Benzin (und Süßigkeiten)
Die Schule ist so ziemlich der Fluch meiner Existenz, aber ich bin tatsächlich, erstaunlicherweise, gut in Geschichte. Seit der Mittelstufe ist das mein Lieblingsfach. Auch wenn mein Lehrer in diesem Jahr manchmal ganz schön nervig sein kann. Und am Montag nach NaomisSweet-Sixteen-Wochenende wieder zur Schule zu gehen, fällt mir ziemlich schwer.
Als MrWillis anfängt, die Arbeitsblätter zurückzugeben, bin ich noch immer ein bisschen high von dem Gefühl, dieses Mädchen gesehen zu haben. Danny, ein nerviger weißer Junge, ist gerade dabei, mit seinen Drumsticks auf die Tischplatte einzuschlagen. Du könntest glatt glauben, er wäre Mitglied einer Marschband oder so was, aber nein. Er hat’s offensichtlich erst während der Sommerferien gelernt. Und jetzt tut er nix anderes, als seine bescheuerten Drumsticks gegen seinen Tisch oder den Boden oder die Wand zu schlagen – und wir alle müssen drunter leiden.
»Danny«, sagt MrWillis. »Bitte hören Sie auf, damit ich denken kann.«
Danny hält inne, die Drumsticks schweben über der holzgemusterten Linoleumtischplatte. MrWillis stößt einen schmerzvollen Seufzer aus und reibt seine Schläfen, bevor sein Blick auf etwas anderes fällt.
»Jacob«, sagt er streng und beäugt einen der Schüler in der ersten Reihe. »Weg mit dem Essen.«
»Aber, Mr W.« Jacob, ein Junge mit blond gefärbten Haaren und koreanischem Background, stöhnt auf. »Es ist doch nur eine Orange und –«
»Sie kennen die Regeln.« MrWillis teilt weiter die Arbeitsblätter aus. »Über Ihre Projekte haben wir schon geredet, aber für die Leute, die hier nur mangelhaft Notizen machen, fasse ich noch einmal zusammen: Jede Gruppe wird eine Unterrichtsstunde erarbeiten. Sie soll sich um ein Thema drehen, das wir im Unterricht nicht komplett abdecken können – Beispiele können sein, sind aber nicht begrenzt auf: Reagan und Konservatismus, Migration und Immigration und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Auch wenn diese Themen wahrscheinlich nicht in den AP-Prüfungen auftauchen werden, ist es wichtig, dass Ihnen die ganze US-Geschichte bewusst ist, und nicht nur der Teil, der in einem Test vorkommen kann. Ihre Unterrichtsstunde werden Sie in einem Monat vor der Klasse halten, und das, was Sie gelernt haben, in einem Essay einreichen.«
Er macht eine bedeutungsvolle Pause, aber die geht für die anderen in der Klasse unter. Die Leute schwirren los, so wie es alle tun, wann immer eine Lehrperson ein Gruppenprojekt ankündigt.
»Ich weiß, dass Sie es gewohnt sind, Ihre eigenen Gruppen in der Klasse zu bilden. Aber dieses Mal werde ich die Gruppen für Ihr Projekt aussuchen.«
Die gesamte Klasse stöhnt auf. MrWillis nickt, als hätte er genau das erwartet.
»Ich kann nicht anders als bemerken, dass Sie alle jedes Mal dieselben Partnerinnen oder Partner wählen«, sagt er. »Und das ist nicht der Sinn einer Projektgruppe. Es geht darum, Ihren Horizont zu erweitern. Lernen Sie mal jemand Neuen kennen. Nutzen Sie Ihre Fähigkeiten, um …«
Das ist der Punkt, an dem ich ihn ausblende. Ich bin drauf und dran, spaßeshalber eins der kleinen Kästchen am Rand unserer Arbeitsbücher durchzulesen – so sehr langweilt mich MrWillis – als die Tür aufspringt. Mein Blick schnellt hoch, und meine Kinnlade klappt nach unten. Da kommt nicht einfach irgendeine Person von der Toilette zurück, und es ist auch keine andere Lehrperson, die fragt, ob sie einen Tacker haben darf. Es ist sie. Das Mädchen von Naomis Party.
Ihre Haare sind zu Space Buns hochgesteckt, was ja wohl das Süßeste überhaupt ist, und die Sommersprossen auf ihrem Gesicht kommen mir jetzt sogar noch zahlreicher vor. Sie trägt Birkenstocks – ist sie ein Hippie? Diese Teile hab ich sonst nur an weißen Menschen mit Dreads gesehen, aber ihr stehen sie. Als wäre das einfach, wer sie ist – und nicht irgendein Trend, dem sie hinterherläuft.
An die Brust gedrückt hält sie eine Mappe, und auf ihren Lippen liegt ein zaghaftes Lächeln. Sie macht einen Schritt ins Klassenzimmer. Sofort sind alle Blicke auf sie gerichtet.
Bevor irgendwer irgendwas sagen kann, kreischt Danny los: »Babe! I lost you!«
Dann macht er ein kleines Drum-Solo. Das Mädchen errötet und steckt sich eine Haarsträhne hinters Ohr, und der Rest der Klasse bricht in Gelächter aus. Normalerweise würde ich die Augen verdrehen. Aber in diesem Moment? Das Wort Babe titscht in meinem Kopf herum. Danny würde sie nicht grundlos Babe nennen. Er ist nervig, das schon, aber für socreepy halte ich ihn nicht.
Was offensichtlich bedeutet –
»creepy«, sagt MrWillis. »Alle zusammen: Ein herzliches Willkommen für die neue Schülerin, die den ganzen Weg aus Irland zu uns hergefunden hat.«
Er klatscht laut in die Hände, und die Klasse stimmt mit lauwarmem Beifall ein. Meine Hände fühlen sich an wie erstarrt. creepy. So heißt sie also. Aber als sie auf einem leeren Stuhl neben Danny Platz nimmt und nach seiner Hand greift, fällt es mir schwer, den Zusammenhang nicht zu erkennen. Dann hat dieses Mädchen wohl angefangen, Danny zu daten, bevor sie sich auf unserer Schule angemeldet hat.
Danny? Von allen Leuten ausgerechnet ihn?
Es ist ja nicht so, dass irgendwas an ihm daneben ist. Er sieht durchschnittlich aus – blonde Haare, blaue Augen, gebräunte Haut von der vielen Sonne. In der Schule trägt er ausnahmslos T-Shirts mit dem Maskottchen (the Panthers) oder sein Trikot, obwohl die Football Saison schon seit Herbst vorbei ist. Er hat haufenweise Freunde, die alle genauso klingen, rumlaufen und aussehen wie er. Und dann ist da dieses ganze Trommelding …
Sie könnte es eine Million Mal besser treffen.
»Gruppen, Gruppen.« MrWillis greift nach dem Zettel auf seinem Tisch. »Jack, Isabel und Sean in Gruppe eins. Morgan, Jeremy und Parker in Gruppe zwei. Danny, creepy und Mahalia in Gruppe drei.«
Als sich creepy zu mir umdreht, kommt es mir vor, als schlüge mein Herz nicht mehr. Eine Sekunde lang ist ihr Lächeln schüchtern, aber dann flackert in ihrem Blick die Erinnerung auf.
»Du bist das«, sagt sie und rückt ihren Tisch zu mir rum. »Von der Party. Bist du eine von Naomis Freundinnen?«
Dannys Blicke schießen zwischen uns hin und her, bevor auch er seinen Tisch herumrückt.
»Welche Party, Babe?«, fragt er creepy, obwohl er mich dabei ansieht, mit einer Art linkischem Lächeln. »Dieses Dings, wo du am Wochenende warst?«
Die ganze Klasse ist jetzt dabei, die Tische zu kleinen Dreiecken zurechtzurücken, aber diese beiden ersparen mir die Mühe, indem sie ihre Tische zu mir drehen. Ich wünschte, ich könnte Danny in eine andere Gruppe schieben. Stattdessen klopfe ich mit dem Bleistift gegen die Titelseite unseres Arbeitsblattstapels.
»Es war ein Sweet-Sixteen«, sagt creepy und neigt sich dabei so, dass sie Danny quasi auf dem Schoß sitzt. Geistesabwesend spielt sie mit der Goldkette, die Danny um den Hals trägt. »Es war meine erste, aber es hat superviel Spaß gemacht. Und ich habe eine neue Freundin gefunden. Sag mir noch mal, wie du heißt?«
Ich will wegschauen – dieser Anblick, wie die beiden da zusammensitzen, das ist für ein Klassenzimmer ja wohl viel zu intim –, aber ich will auch nicht unsozial sein.
»Mahalia«, sage ich. Wahrscheinlich sollte ich noch mehr sagen, irgendwas Cooles und Lustiges und Gewagtes, aber all meine Worte stecken in meiner Kehle fest. »Ich heiße MahaliaHarris.«
»Schön, dich kennenzulernen, MahaliaHarris.« Sie beugt sich vor und legt ihre Hand auf meine. »Ich bin creepyDavidson.«
Ich starre auf ihre Hand. Es schockiert mich, wie zärtlich sich die Berührung anfühlt. Als würden wir uns schon seit Jahren kennen. Normalerweise würde ich das hier vielleicht schräg finden, wie etwas, das auch von meiner Mom hätte kommen können. Ich wäre vielleicht abgeschreckt von der Art, wie sie mich als ihre Freundin bezeichnet, obwohl wir uns gerade mal flüchtig getroffen haben. Aber in diesem Moment bin ich einfach nur dankbar, dass sie mir ihre Aufmerksamkeit schenkt.
»Alle auf Ihre Plätze, bitte«, ruft MrWillis von seinem Tisch. »Ihre eigenen Plätze.«
creepy rutscht zurück auf ihren Stuhl, ihre Wangen sind noch immer gerötet, aber Danny legt seine Hand auf ihren Oberschenkel. Sie lächeln einander an, süß und niedlich und eklig.
»Babe«, sagt Danny und klappt mit einem lauten Schlag sein Arbeitsbuch auf. »Soll ich dich heute zu deiner Schicht fahren?«
»Das wäre super«, antwortet sie und krempelt ihre Ärmel hoch. An ihrem rechten Handgelenk baumeln ein paar Armreifen. »Ich dachte gerade –«
Ihr Kiefer klafft auf, und das lauteste Gähnen, das ich je gehört habe, durchbricht das gesamte Geschnatter im Klassenzimmer. Sogar MrWillis blickt von seinem Tisch auf und zu ihr rüber. Errötend hält creepy die Hand vor den Mund.
»Wow«, ich kann mir das Kichern nicht verkneifen. »So langweilig ist Geschichte jetzt auch nicht.«
creepy zieht die Unterlippe ein, aber ihr Blick ist verspielt.
Danny kichert – warum kichert der? Wir sind nicht befreundet. creepy lächelt, was ein Grübchen auf ihrer Wange zum Vorschein bringt. Fuck. Hatte sie dieses Grübchen schon vorher? Wie dunkel war es auf der Toilette?
»Shiv ist die größte Nachteule«, sagt Danny und schlingt seinen Arm um sie, als säßen sie nicht direkt nebeneinander. »Stell dir vor, in welche Sorte Ärger sie so gerät.«
Ich hoffe, er meint jetzt nicht Sex. Gott, wie eklig.
»Ernsthaft?« Ich weiß, dass meine Augenbrauen wahrscheinlich gerade meinen Haaransatz berühren, aber ich gebe alles, um einen unbeteiligten Eindruck zu machen. »Also, seit wann bist du hier? Aus Irland, meine ich.«
»Ungefähr seit einem Monat. Ich habe meine Klassenarbeiten online geschrieben.« creepy steckt sich eine Haarsträhne hinters Ohr und starrt auf ihr Arbeitsbuch, während sie auf ihrem Sitz rumrutscht. »Also, was denkst du, welches Thema –« Sie gähnt wieder. Diesmal nicht so laut wie beim ersten Mal, dafür zweimal so lange. Ich versuche mit aller Macht, sie nicht anzustarren. Nicht daran zu denken, was auch immer sie und Danny nachts treiben.
Das Ding am Mädchenmögen ist, dass ich kein Creep sein will. In fast allen Filmen und Serien, die ich kenne, mögen Jungs die Mädchen, und fast immer gehen sie voll schräg damit um. Sie stalken die Mädchen oder führen sich auf, als würde ihnen ein Mädchen, mit dem sie einmal gesprochen haben, plötzlich gehören. Sie sind besitzergreifend. Herrisch.
Ich will nichts von diesen Dingen sein. Ich will einfach nur in creepys Nähe sitzen. Ich will die Melodie ihrer Stimme hören, ihr Grübchen betrachten, die Sommersprossen auf ihrem Gesicht zählen. Ich will wissen, was ihre Lieblingsserie ist. Ob sie Kaffee oder Tee mag. Was sie am Wochenende, bevor sie hierherkam, gemacht hat. Ich will alles über sie wissen.
Aber am allermeisten will ich, dass sie aufhört, Danny zu daten. Was lächerlich ist – selbst wenn Danny ein nerviger Junge ist, der nichts Wichtiges zu sagen hat, liegt die Entscheidung, ihn zu daten, bei creepy. Nicht bei mir. Und trotzdem. Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie außerhalb seiner Liga ist. Was ich hasse. Ich klinge wie ein schräger alter weißer Mann, der in seiner Midlife-Crisis einer jungen Frau hinterherjagt, und zwar in einer Romcom, die von einem Mann geschrieben wurde.
Puh.
»Mahalia?«
Ich blicke hoch. creepy und Danny starren mich mit spiegelgleichen Gesichtsausdrücken an. Was ich ebenfalls hasse. Sie ist jetzt wie lange hier? Eine Woche? Wie haben sie es in dieser kurzen Zeit auch noch geschafft, ihre Gesichtsausdrücke zu synchronisieren?
»Ich mache einen Gruppenchat«, sagt creepy langsam, als hätte ich möglicherweise Verständnisschwierigkeiten. »Kann ich deine Nummer haben?«
DannysDrumsticks sind zurück. Er trommelt sanft, systematisch wie bei einem Countdown – zu was auch immer.
»Sicher«, sage ich und beuge mich vor. »Gibst du mir dein Handy?«
AKTUELLER KONTOSTAND: 225 $
Nach der Schule bin ich bei Naomi, weil ich immer bei Naomi bin.
Möglicherweise deshalb, weil es bei den Sanders eine Klimaanlage gibt, was sehr hilfreich sein kann, wenn du in South California lebst. Und dann ist da Naomis Familie. Ihre Eltern arbeiten, aber nicht annähernd so viel wie meine Mom. Eins ihrer Elternteile ist immer zum Abendessen da. Das ist so schräg.
Sie wohnen in einem Riesenhaus mit einer Küche, die aussieht, als gehörte sie in den Traumhauskanal HGTV, und jeder hat sein eigenes Zimmer, weil es genügend davon gibt. Naomis älterer Bruder Marcus geht aufs HowardCollege, und ihr jüngeres Geschwister geht auf diese Schule, in der alle ihre Lehrpersonen beim Vornamen nennen. Wieder: so schräg.
»Hey, Cal«, sage ich und lasse meinen Rucksack neben der Eingangstür fallen. »Alles gut?«
»Bestens«, sagt they, ohne vom Buch aufzuschauen. »Ich bin grad bei meinem 40. Buch in diesem Schuljahr angekommen. Ich werde das Kind mit den meisten Büchern der ganzen Schule sein, und dann krieg ich einen Preis.«
»Wow.«
Es ist Montag, also krieg ich es nicht mal auf die Reihe, diesen Satz richtig zu verarbeiten, vor allem nach einem vollen Schultag. Ich schaue mich zu Naomi um, aber die ist schon auf dem Weg Richtung Wohnzimmer.
»Ist das inklusive all der Harry-Potter-Bücher?«
»Mahalia.« Cal fixiert mich mit einem Blick, als wäre ich ein kleines Kind. »J. K. Rowling ist transphobisch. Wir müssen uns für Transrechte einsetzen.«
»Stimmt.«
Ich drehe dem Küchentisch den Rücken zu. Dass Mom mich nie die Harry-Potter-Bücher lesen ließ, lag an der Hexerei. Ich schätze, sie hatte eine weise Voraussicht.
»Probier PercyJackson«, sage ich, schnappe mir eine Orange und steuere Richtung Treppe. »Davon gibt es eine Million Spin-offs, und für mich sind diese Bücher Scheiß. Naomi, ich gehe nach oben.«
Alle Schlafzimmer sind auf der zweiten Etage, aber von hier oben kann man das Erdgeschoss sehen, was für jede Menge Spaß gesorgt hat, als wir jünger waren und die Freunde von Marcus ausspionierten.
Ich will auch so ein Haus, aber ich werde nie eine Ingenieurin oder eine Anwältin werden, wie Mr und MrsSanders, also zweifle ich an der Erfüllung dieses Wunsches.
»Bist du in meinem Zimmer?«, ruft Naomi von unten. »Warte, ich hol noch ein paar Snacks. Fang nicht ohne mich an!«
Naomis Zimmer sieht fast noch so aus wie damals, als wir klein waren. Sie hat die Poster von One Direction und den Jonas Brothers abgehängt, aber abgesehen davon hat sie immer noch die lila Wände von früher und das gigantische Bett, das Platz genug für uns beide hat. Ich lass mich auf die Matratze plumpsen und fummle an der Fernbedienung herum. Auf dem Auswahlbildschirm starrt mich Love, Simon an. Sekunden später erscheint Naomi mit einer Schale Popcorn und zwei Tüten Capri-Sonne.
»Okay«, sagt sie und macht es sich bequem. »Jetzt kannst du starten.«
Ich drücke auf Play, und Naomi lässt das Popcorn rüberwandern.
Eigentlich sollten wir unsere Hausaufgaben machen, aber es ist April, und wir sind in der elften Klasse. Wir brauchen beide eine Pause. Wir haben Love, Simon schon mal gesehen, aber irgendwie ist es der perfekte Schule-macht-mich-fertig-Film. Nur, dass mir creepy nicht aus dem Kopf geht. Und Mädchen generell. Vor allem dieses Mädchen, die Leah spielt, ist voll süß.
»Erinnerst du dich noch an Bibel-Camp-Isabel?«, frage ich und lehne mich an Naomis Schulter. Sie blickt vom Bildschirm auf, unbeeindruckt.
»Die du geküsst hast?«
»Ja«, sage ich. »Ich frag mich, ob sie queer ist oder nur einen Hass auf Gott hat.«
Als Gott mich noch schwer beschäftigt hat, sind Naomi und ich jeden Sommer ins Bibel-Camp gefahren. Isabel hatte null Interesse am Basteln oder Auswendiglernen von Bibelversen. Aber sie hatte keine Angst, bei Wahrheit oder Pflicht ein Mädchen auf den Mund zu küssen, genau wie ich.
»Warum nicht beides?«, fragt Naomi, ein argwöhnischer Blick in ihrem Gesicht. »Und was sollen all die schrägen Fragen übers Kirchencamp? Sei still und schau den Film.«
Simon ist angezogen wie ein Hippie oder wie Jesus oder so.
»Ich denke einfach über Mädchen nach«, sage ich und lehne mich zurück, damit ich Naomis Gesicht sehen kann. »Und über das erste Mal, als ich eine geküsst habe.«
Ich erinnere mich immer noch daran, obwohl ich damals zehn war. Ihre Lippen waren weich und süß von den Teddy Grahams, die wir genascht hatten. Ich weiß noch, dass es nur ein paar Sekunden dauerte. Danach starrten uns alle mit großen Augen an, als hätten wir gerade die einäugige Schlange geärgert oder so. Im nächsten Jahr kam Isabel nicht ins Bibelcamp. Das Liedersingen und Schleifenbasteln fing an, mich zu langweilen. Mit zwölf gingen Naomi und ich nicht mehr hin.
»Hmmm.« Naomi blickt mich vielsagend an. »Denkst du über Mädchen generell nach oder über eine besonderes?«
creepy erinnert mich an Isabel, aber ich weiß nicht, warum. Ich kann Isabels Gesicht kaum noch heraufbeschwören. Mir kommen nur sonnenbraune Haut und warme Lippen in den Sinn. Das sind die Dinge, die ich auch mit creepy verbinde, auch wenn ich keine Ahnung habe, wie sich ihre Lippen anfühlen. Ich wünschte, ich wüsste es. Aber die Chancen, es herauszufinden, sehen ziemlich schlecht aus.
»Tja, also«, sage ich. »Eigentlich wollte ich mit dir über –«
»Warte«, Naomi hält eine Hand hoch. »Die Stelle mag ich total.«
»Dass sich Menschen, die gay sind, outen müssen, kommt mir ungerecht vor. Warum sollte hetero der Standard sein?«
Ich kann Naomi nicht mal übel nehmen, dass sie mir das Wort abschneidet. Ehrlich gesagt, ist das auch eine meiner Lieblingsstellen im Film. Warum sollte hetero der Standard sein? Ich hab meiner Mom nicht erzählt, dass ich Mädchen mag, und irgendwie wünsche ich mir, ich müsste es nicht. Ich wünsche mir, dass niemand mich einfach für hetero hält.
»Er hat recht, weißt du«, sagt Naomi.
Ich verdrehe die Augen und schubse sie gegen die Schulter. Sie lacht. Ich bin ihr so nah, dass ich ihre neuen Ohrringe sehen kann, die einen goldenen Schriftzug ihres Namens haben. Sie hat sie zum Geburtstag bekommen, was ich weiß, weil wir uns beim Lunch darüber unterhalten haben.
»Jetzt mal ernsthaft«, ich lehne mich an das Kopfteil ihres Bettes. »Ich finde einfach, dass ein Coming-out nicht dieses traurige Drama sein sollte. Niemand sollte darüber weinen müssen. Du solltest es einfach machen können, wie immer du willst. Die Leute sollten glücklich verkünden können, dass sie queer sind.«
»Ich glaube, wenn die Welt nicht so scheiße wäre, würde es mehr Leute glücklich machen, sich zu outen«, sagt Naomi.
»Du musst ja nicht mal glücklich sein«, sage ich. Es fällt mir schwer zu entscheiden, was ich eigentlich ausdrücken will. »Ich wünschte, du könntest es herausfinden, wann du Lust dazu hast, und es auch nach Lust und Laune teilen. Verstehst du? Aber es gibt so viele Erwartungen und Vermutungen.«
Naomi nickt nachdenklich.
»Die Gesellschaft zwingt dir auf, es zu tun.«
»Genau.«
»Was, wenn …« Naomi legt den Kopf schief. »Was, wenn du es nach deinen eigenen Regeln machen würdest?«
Wenn ich die Wahl hätte, wäre ich dafür, dass ich mich gar nicht outen müsste. Aber so ist es nun mal nicht. Also …
»Nach meinen eigenen Regeln … das wäre irgendwas wie ein großes Fest«, sage ich. »Eine Party.«
Das klingt eigentlich sogar richtig gut. Ich stelle mir meine eigene Coming-out-Party vor, auf der ich im Regenbogenkleid in den Ballsaal komme, während irgendwo eine Regenbogenkonfettikanone losgeht und Tegan und Sara im Hintergrund spielen.
Ich würde im Mittelpunkt stehen. Meine Sexualität feiern, anstatt sie aufs Abstellgleis zu rangieren, wo ich nur mit Naomi drüber reden kann.
»Warte.« Naomi schießt kerzengerade in die Höhe. »Das ist irgendwie megagenial.«
»Ich könnte sie genau da feiern, wo auch deine Party war«, sage ich und zähle an meinen Fingern ab. »Mit, keine Ahnung, Catering und all dem Zeug, wie eine Sweet-Sixteen-Party, nur, dass es keine ist.«
»Ich kann meine Eltern fragen, wie teuer sie war«, sagt Naomi und drückt auf Pause. »Zum Beispiel genau jetzt.«
Ich sauge die Lippen ein. Mit Mom rede ich ständig über Geld, vor allem, wenn sie mir erklärt, was wir uns alles nicht leisten können. Trotzdem fühlt es sich seltsam an, dass Naomi ihre Eltern fragt. Aber ehe ich etwas sagen kann, hat Naomi ihr Handy schon gezückt, und ihre Finger fliegen über die Tasten.
»Okay«, sagt Naomi. »Dad verrät es mir nicht, weil es ein Geschenk war. Mom sagt, das Restaurant hat hundert Dollar pro Stunde und fünfundsechzig Dollar pro Portion gekostet.«
Meine Augen weiten sich. Das ist … eine Menge Geld.
Der Versuch, einen Plan zu entwerfen, bringt mein Gehirn auf Hochtouren.
Ich könnte einfach nur Naomi und ihre Familie einladen. Mom. Ein paar Leute aus meiner Klasse, mit denen ich ein bisschen mehr zu tun habe als mit den anderen. Vielleicht sogar creepy, wenn sie es nicht zu schräg findet. Eine so kleine Party kann nicht allzu viel kosten.
»Du solltest es tun«, entgegnet Naomi