Off the Record. Unsere Worte sind unsere Macht - Camryn Garrett - E-Book

Off the Record. Unsere Worte sind unsere Macht E-Book

Camryn Garrett

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Beschreibung

Schweigen bedeutet Unrecht. Reden bedeutet die Gefahr, alles zu verlieren. Für was würdest du dich entscheiden? Schreiben ist Josies Leben. In Texten kann sie ihre Gedanken fliegen lassen und ihr inneres Sorgenkarussell anhalten. Als die 17-Jährige einen Schreibwettbewerb gewinnt, darf sie ein Filmteam auf eine Pressetour durch die USA begleiten. Doch auf der Reise erfährt Josie etwas Ungeheuerliches: Ein gefeierter Regisseur belästigt Mädchen und Frauen am Set - und kommt offenbar schon lange damit durch. Schnell wird die ersehnte Reise zu ihrer größten Herausforderung, denn was kann ein Mädchen wie sie schon ausrichten? Es gibt so viele Gründe, zu schweigen. Es gibt so viele Gründe, nichts zu sagen. Und doch muss Josie den Mut finden, den Text zu schreiben, der alles verändern wird. In "Off the Record" gibt Camryn Garrett all den mutigen und kämpferischen Menschen ein Gesicht, die sich für Gerechtigkeit einsetzen und deren Geschichten doch zu oft unsichtbar bleiben. "Selten habe ich einen Menschen, der sich selbst als ängstlich bezeichnet, so für seinen Mut bewundert, wie Josie Wright. Ihre Story macht Mut. Sie geht uns alle an - und dieser Roman ist ganz großes Kino." (Isabel Abedi)

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Seitenzahl: 475

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Camryn Garrettist in New York geboren und aufgewachsen. Schonfrüh interessierte sie sich für das Schreiben journalistischerTexte und interviewte mit 13 Jahren bereits Prominente wieWarren Buffett und Kristen Bell als TIME for Kids Reporterin.Ihre Artikel wurden in der Huffington Post, MTV und imRookie Magazine veröffentlicht. »Off the Record«ist das erste Buch, das von ihr auf dem deutschenMarkt erscheint.

Isabel Abedi,1967 geboren, arbeitete 13 Jahre lang als Werbetexterin.Abends, am eigenen Schreibtisch, schrieb sie Kinder- undBilderbuchgeschichten und träumte davon, eines Tages davonleben zu können. Dieser Traum hat sich längst erfüllt: IsabelAbedi hat inzwischen zahlreiche sehr erfolgreiche Kinder-und Jugendbücher veröffentlicht, von denen manche bereitsausgezeichnet und in andere Sprachen übersetzt wurden.Sie lebt und schreibt in Hamburg.

1. Auflage 2021

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2021 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Str. 16, 97074 Würzburg

Copyright © 2021 by Camryn Garrett

Published by Arrangement with Camryn Garrett

Originaltitel: Off the Record

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Alle Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Isabel Abedi

Umschlaggestaltung: Erick Dávila

ISBN 978-3-401-60645-3

E-Book ISBN 978-3-401-80975-5

Besuche den Arena Verlag im Netz

www.arena-verlag.de

Für Überlebende

@JosieTheJournalist: Hilfe, ich hab vergessen, wie man schreibt

Ich habe ein und denselben Satz fünfmal umgeschrieben. Egal, wie ich die Worte drehe und wende – druckreif klingen sie nicht.

Offensichtlich können Filme von Schwarzen nur dann mit guten Kritiken rechnen, wenn es Problemfilme sind, die unser Leiden dramatisch zur Schau stellen. Wo sind unsere glücklichen Filme? Es gibt sie – aber Oscars gewinnen sie nicht.

Ich schlage mit der flachen Hand auf die Tastatur meines Laptops. Was natürlich nichts ändert. Nach wie vor sitze ich im Wohnzimmer auf der Couch, im Fernseher läuft eine Episode der Real Housewives. Mein Word-Dokument starrt mich schweigend an und der Cursor blinkt, als wollte er mich herausfordern, den verfluchten Satz zum sechsten Mal umzuformulieren. Wie soll ich einen kritischen Kommentar wie diesen abrunden? Schlussendlich ist mir klar, dass die meisten Menschen, die das hier lesen, weiß sind und sich nicht mit dem Thema Rassismus beschäftigen wollen, aber bitte kündigen Sie ihr Zeitungsabo trotzdem nicht.

Ich verkleinere die Dokumentansicht, um mein Postfach zu checken. Keine neuen E-Mails. Noch immer dieselben Nachrichten im Posteingang: eine E-Mail von Target, eine vom Spelman College, die mir den Eingang meiner Bewerbung bestätigt, ein paar Nachrichten von Instagram. Nichts vom Wettbewerb. Kein Mensch schreibt mir, ob ich gewonnen oder verloren habe.

Puh! Ich reibe mir die Stirn und starre auf die Deep Focus Titelseiten, die über unserem Fernseher hängen. Die Porträts der Obamas, von Serena Williams und Jimi Hendrix. Sie zählen zu den großartigsten Titelseiten meiner absoluten Lieblingszeitschrift. Normalerweise inspirieren sie mich. Aber in diesem Augenblick reiben sie mir etwas zu demonstrativ unter die Nase, dass ich dem Ergebnis des Talentwettbewerbs entgegenfiebere. Falls ich gewinne, krieg ich die Chance, eine Titelstory für diese Zeitschrift zu schreiben. Ich könnte eine Titelstory für Deep Focus schreiben!

Ich nehme einen tiefen, zittrigen Atemzug. Das ist fast zu viel für meinen Kopf.

Worauf ich mich konzentrieren sollte, ist dieser Kommentar, den Monique von mir erwartet. Ich hoffe, sie mag ihn. Sie mochte meinen letzten und auch den davor. Das sollte mir ein besseres Gefühl geben. Aber meinem Sorgenkarussell ist es komplett egal, wie ich mich fühlen sollte. Laut meinen Schwestern mache ich mir über alles Sorgen, sogar über unnötige, insbesondere aber über die wirklich wichtigen Dinge.

Wieder schiele ich auf den Posteingang. Noch immer nichts Neues. Heute ist der letzte Tag. Wer gewonnen hat, wird bis zum Abend informiert. Aber mein Postfach bleibt still. Warum brauchen die so lang? Was, wenn sie meine Textproben nicht mochten oder meinen Schreibstil zu unreif fanden oder davon abgeschreckt waren, wie viel ich über Rassismus schreibe?

»Na, da schau her. Unsere Josie hat sich seit meiner Abfahrt nicht vom Fleck gerührt.«

Mein Kopf schnellt hoch. Dad kommt durch die Tür geschlurft, mit der linken Hand zieht er einen lilafarbenen Koffer hinter sich her, mit der rechten hält er seinen Rucksack am Riemen. Keine Ahnung, wozu Alice das ganze Zeug braucht. Ihr College ist grad mal eine Autostunde entfernt. Wenn sie wollte, könnte sie jedes Wochenende nach Hause kommen.

Dad trägt noch immer seine Buchhalterkleidung. Das weiße Shirt und die schwarze Krawatte umwehen eine Aura aus Zahlen und Rechnungen. Dads Blick fällt auf den stumm geschalteten Fernseher. Blonde Frauen in Glitzerkleidern liefern sich ein wildes Wortgefecht an einem gigantischen Esstisch.

Ich zucke mit den Schultern.

»Ich lass das nur als Hintergrundkulisse laufen«, sage ich.

Alice erscheint und verdreht zur Begrüßung die Augen. Sie sieht noch genauso aus wie beim Abschied im August; von den zerschlissenen Jeans über die lila gefärbten Spitzen der Box Braids bis hin zu ihrem Markenzeichen: dem gelangweilten Gesichtsausdruck.

Scheinbar haben auch die ersten paar Monate am College nicht das Geringste geändert.

»Und? Woran schreibst du gerade?«, fragt sie und schleudert ihren Rucksack in die Ecke. »An einer weiteren Inhaltsangabe der Real Housewives?«

»Halt die Klappe.« Meine Schwester weiß ganz genau, dass ich diese Zusammenfassungen nur geschrieben habe, um einen Fuß in die Tür zu kriegen. »Das hier ist ein ernsthafter Artikel.«

»Hast du beim letzten Mal auch gesagt.«

Mit finsterer Miene öffne ich meine E-Mails, schicke das Dokument ab und klappe meinen Laptop zu. Mein Text ist startklar. Wenn Monique etwas daran auszusetzen hat, wird sie mir ihre Anmerkungen schicken, so wie immer. Zumindest ist der Text besser als eine Zusammenfassung der Real Housewives.

»Lasst gut sein, Mädels«, sagt Dad. »Wo ist Maggie?«

»Bei der Arbeit«, entgegne ich. »Und die Bücherei hat Thanksgiving vorverlegt und feiert das jetzt mit Spielen oder so, deshalb hat Mom Cash mitgenommen. Wahrscheinlich muss sie bis zum Ende bleiben und alles aufräumen.«

»Die beuten sie ganz schön aus.« Dad schüttelt den Kopf, aber seiner Stimme fehlt der Biss. »Schon immer.«

Ich stehe vom Sofa auf. Kaum habe ich meine Arme nach Dad ausgestreckt, da hat er mich schon umschlungen. Die besten Umarmungen kommen immer von ihm.

Schließlich löse ich mich, um Alice zu umarmen, aber sie zuckt schnaubend zurück. Keine Ahnung, warum ich es überhaupt noch versuche.

Als Dad und Alice ihr Gepäck hochgebracht haben, ist auch der Rest der Familie zu Hause eingetrudelt. Meine älteste Schwester trägt noch ihre Arbeitskleidung, Khakis und Schürze. »Hier kommt Maggie, die Angestellte des Monats«, verkünde ich und halte mein Handy hoch. »Schießen wir doch gleich mal ein Glückwunschfoto.«

Mit aufgerissenen Augen stürzt Maggie auf mich zu. »Josie, verdammt –«

»Mama«, ruft Cash und windet sich. »Nicht fluchen!«

»Hast ja recht, Baby.« Maggie schaut zu ihrem Sohn herunter. »Keine Flüche.«

Als Cash in die Küche tapert, streckt sie mir die Zunge raus. Ich pruste los.

Heute ist unser erstes Familiendinner seit Alices Abschiedsabend vor dem College. Es ist nicht so, dass wir uns aus dem Weg gehen, unsere Terminkalender finden einfach keinen gemeinsamen Nenner. Dad kommt spät von der Arbeit, Maggie macht ständig Überstunden und Alice ist im College. Bleiben Mom, Cash und ich und für gewöhnlich essen wir abends vor dem Fernseher. Es scheint Cash fast ein wenig zu erschrecken, dass er plötzlich am Esstisch sitzt.

Als sich auch die anderen auf ihren Stühlen niedergelassen haben, trommle ich mir mit den Fingern gegen den Oberschenkel und bekämpfe den Drang, zurück an den Computer zu gehen, um nachzuschauen, ob ich endlich eine Antwort vom Wettbewerb bekommen hab. Und um zu checken, ob Monique schon auf meine E-Mail reagiert hat.

Laut Maggie bin ich überall und ständig auf der Suche nach Dingen, die mein Sorgenkarussell am Laufen halten. Und ich schätze, ich hab auch jetzt wieder was gefunden. Die Deadline zur Abgabe ist nicht vor nächster Woche und eigentlich bin ich sicher, dass mit meinem Text alles in Ordnung ist. Aber wenn mich eine Sache umtreibt, dann tendiert diese Sorge dazu, auch in alle anderen Bereiche meines Lebens hineinzubluten. Als würde es nicht reichen, dass ich ängstlich auf die Rückmeldung vom Wettbewerb warte, zerbreche ich mir pausenlos den Kopf über alles, was mit dem Text für Monique schiefgelaufen sein könnte – der Artikel könnte gelöscht worden sein oder sich in Luft aufgelöst haben, Monique könnte ihn schrecklich finden und nie wieder mit mir arbeiten wollen, meine Worte könnten wie die einer anderen klingen und mich als Plagiatorin dastehen lassen, Monique könnte mir vorwerfen, rassistisch zu sein (obwohl sie selbst Schwarz ist) und sich fragen, was in aller Welt ich wohl als Nächstes verzapfen werde …

So geht es endlos weiter – und hört erst auf, wenn ich mit dem Schreiben anfange. Keine Ahnung, was es ist. Irgendetwas am Schreibprozess bringt mein Gehirn dazu, für einen kleinen Moment abzuschalten.

»Wie läuft’s bei Spelman, Alice?«

Moms Frage reißt mich aus meinen Gedanken. Mom kleidet sich immer wie eine hippe Bibliothekarin – Sketchers-Turnschuhe und ein T-Shirt mit der Aufschrift Alle Coolen Kids Lesen. Der Bügel der pinken Lesebrille klemmt im Knopfloch ihrer Strickjacke.

»Super.« Alice greift sich noch ein Stück Pizza aus der geöffneten Schachtel. Die selbst gekochte Mahlzeit kommt erst morgen auf den Tisch, wenn sich die gesamte Familie zum Thanksgiving-Essen versammelt. Allein der Gedanke daran lässt mich schaudern.

»Ich bin im College jetzt übrigens einer Schwesternschaft beigetreten«, erklärt Alice, »und das hilft mir echt total, mich mehr als Teil der Gemeinschaft zu fühlen.«

»Du? Eine Schwesternschaft?« Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Das ist ja wohl ein Witz, oder?«

»Hey, komm schon«, wirft Maggie ein. »Sie kann doch mal was Neues ausprobieren.«

Ein selbstzufriedenes Lächeln erhellt Alices Gesicht. Ich mag es lieber, wenn ich Maggie für mich habe.

»Du wirst sicher auch alles Mögliche austesten, wenn du nächsten Herbst nach Spelman kommst«, fährt Maggie fort. »Wer weiß? Vielleicht trittst du auch einer Schwesternschaft bei.«

Alice schnaubt. Ich blitze sie an.

»Genau«, sage ich. »Vielleicht. Das werden wir dann ja sehen, schätze ich.«

»Bei Spelman ist jede Menge los.« Alice verdreht die Augen.

»Du wirst schon was finden, was ich nicht als Erste probiert habe.«

Ich kralle mich an meiner Tasse fest. Säßen Mom und Dad nicht am Tisch, würde ich über Alice herfallen und sie höchstwahrscheinlich postwendend über mich. Aber jetzt muss ich mich am Riemen reißen und mich zivilisiert verhalten, auch wenn nichts von alldem hier meine Schuld ist.

Schon seit der Mittelstufe will ich aufs Spelman College. Mom hat da studiert, Grandma, sogar Tante Denise. Das war schon immer mein Ding gewesen, aber letztes Jahr bewarb sich plötzlich Alice, einfach so, komplett aus dem Nichts heraus – und wurde angenommen. Natürlich hab ich mich trotzdem frühzeitig, im allerersten Zulassungsverfahren, beworben – genau wie es von Anfang an mein Plan war. Aber jetzt werde ich den Campus mit meiner Schwester teilen müssen, wenn sie mich annehmen.

Und das war definitiv nicht Teil meines Wunschszenarios.

»Tante Josie?«, Cash streckt seine kleinen Hände nach mir aus. »Was ist eine Schwesternschaft?«

»So was wie ein Club«, nimmt Dad mir das Wort aus dem Mund. »Aber für Studentinnen.«

»Vergiss nicht, dein Gemüse zu essen, Josephine.« Mom schaufelt mir eine Portion Salat auf den Teller. »Besser ein bisschen mehr Salat als ein weiteres Stück Pizza. Denk dran, dass Diabetes bei uns in der Familie liegt.«

Alice und Maggie wechseln Blicke. Ich starre krampfhaft auf meinen Teller, aber ich bezweifle, dass Mom es kapiert. Sie teilt ständig diese Kommentare aus, als würde ich nicht ohnehin schon jeden Bissen zweimal abwägen.

»Grandpa?« Cash wendet sich an Dad. »Erzählst du mir eine Geschichte?«

»Nach dem Essen, Kumpelchen.«

Ich stochere mit der Gabel in meinem Salat herum. Maggie rät mir immer, ich soll Mom sofort wissen lassen, was ihre Worte mit mir machen, bevor sie vergisst, was sie gesagt hat. Aber das geht jetzt nicht. Cash sitzt direkt neben mir. Außerdem würden wir dann sowieso nur streiten, weil sie behaupten würde, dass sie sich lediglich um meine Gesundheit sorgt. Wie soll ich darauf reagieren, ohne zickig zu klingen?

Statt eine Antwort zu geben, stehe ich auf und fange an, den Tisch abzuräumen, ehe irgendwer darum bitten kann. Ich will dieses Familiendinner hinter mich bringen, und zwar so schnell es geht.

»Josie, bleib bitte noch«, ruft Dad mich zurück. »Deine Mutter und ich möchten gerne mit dir sprechen. Allein.«

Maggie hebt Cash vom Stuhl und räumt das Feld. Alice sprintet die Treppen hoch. Verräterinnen.

Dass Mom und Dad ein solches Gespräch ankündigen, ist nicht normal. Normalerweise reden sie einfach drauflos. Meine Schwestern schicken sie nur dann aus dem Zimmer, wenn sich die Gespräche um meine Ängste drehen. Sehnsüchtig starre ich Cash hinterher. Ihn zu babysitten, wäre mir gerade echt tausendmal lieber, als ein vertrauliches Gespräch mit Mom und Dad zu führen.

Ich zermartere mir das Hirn, um herauszufinden, worüber die beiden mit mir sprechen wollen. Ich bin nicht schwanger. Ich trinke keinen Alkohol, ich nehme keine Drogen. Ich gehe einfach nur zur Schule, schreibe nebenbei ein paar Artikel für Zeitschriften und jobbe in Coras Hühnerstall, einem schäbigen kleinen Restaurant in unserer Nähe. Tatsächlich hab ich nicht mal viele Freundinnen oder Freunde. Klar, es gibt diese sogenannten Schulfreundschaften, die Leute, mit denen man sich im Klassenraum unterhält, die Mittagspause verbringt oder sich im Sportunterricht zusammentut. Aber jetzt ist fast Dezember. Wir sind also beinahe in unserem Abschlussmonat, bei dem praktisch niemand von uns mehr physisch in der Schule erscheinen muss.

Jordan und Sadie, die Mädels, mit denen ich meine Mittagspause verbringe, hab ich seit gestern nicht mehr zu Gesicht bekommen, und abgesehen von den letzten beiden Schultagen nächste Woche, bezweifle ich, dass wir uns in diesem Jahr noch mal treffen werden.

»Worum geht’s?«, frage ich mit dem Rücken zur Tür. Meine Hand unter dem T-Shirt krampft sich zur Faust. »Meine Bewerbung bei Spelman?«

Das meiste davon hab ich selbst gemacht, aber Mom und Dad mussten den Antrag für die finanzielle Förderung ausfüllen und die Anmeldegebühren zahlen. O mein Gott. Haben wir Geldsorgen? Was, wenn meine Eltern das College nicht zahlen können? Dass ich meinen Beitrag leisten muss, war mir natürlich von Anfang an klar – für die Privatschule kriegen meine Eltern einen Rabatt, weil Tante Denise die Schulverwaltung leitet, aber mit drei Töchtern und Berufen der Mittelschicht bezweifle ich, dass sie das College stemmen können. Was, wenn es so schlimm um uns steht, dass mein Honorar für die journalistischen Texte und mein Gehalt von Coras Hühnerstall nicht ausreichen? Wir haben finanzielle Unterstützung beantragt, aber wenn auch die nicht genügen sollte, was dann?

Ich will tief Luft holen, doch in meiner Brust herrscht Atemnot.

»Nein, darum geht’s nicht.« Mom greift nach meiner Hand und zieht mich zurück zum Tisch. Ich bin noch immer wütend wegen der Sache mit der Pizza, aber Moms weiche Hände und ihr liebevolles Lächeln machen es mir echt schwer, lange sauer auf sie zu sein.

»Wir haben uns nur um dich gesorgt, Josephine, das ist alles.«

»Gesorgt, um mich?« Meine Augenbrauen schießen hoch. Mein Blick gleitet zu Dad. Es kommt mir vor, als hätte er seit Beginn dieser Unterredung kein einziges Mal geblinzelt. »Warum denn das?«

»Na ja«, setzt Dad an. »Du verhältst dich einfach so gar nicht wie ein Teenager.«

»O.« Ich klatsche mir mit beiden Händen gegen die Oberschenkel. »Kommt das jetzt wieder?«

Seit ich auf die Highschool gehe, steht dieses Thema quasi einmal pro Monat an. Ich schätze, ich war in ihren Augen einfach noch nie normal. Schüchtern war ich schon immer, aber meine Eltern behaupteten, das wüchse sich aus, bis ich anfing, mich für ganze Unterrichtsstunden auf dem Schulklo einzuschließen. Dieser Zug ist längst abgefahren.

»Tja, also.« Mom wirft einen Seitenblick auf Dad. »Seit dieser schweren Zeit, die du in der Mittelstufe durchgemacht hast –«

»Mir geht’s gut«, versichere ich ihr und sinke auf den nächstbesten Stuhl. »Echt. Versprochen. Das ist doch Jahre her!«

Die Falten auf Dads Stirn kräuseln sich.

»Ernsthaft«, schiebe ich nach. »Ich war einfach nur beschäftigt mit dem Projekt für mein Abschlussjahr und allem.«

Nach meiner schweren Zeit in der Mittelstufe haben meine Eltern für mich einen Schulwechsel organisiert. Maggie hatte damals schon ihren Abschluss und Alice wollte ihre Freundinnen nicht verlassen, also war ich die Einzige, die auf die Oak Grove ging, eine Privatschule voll von Kindern reicher Eltern. Es klingt schräg und künstlerisch zugleich; ich genieße tatsächlich das Privileg, mich von einer professionellen Journalistin unterrichten zu lassen. Wir haben sogar einen echten Newsroom, den wir für unsere redaktionelle Arbeit nutzen können. Und ein weiterer Pluspunkt, auf den sich garantiert alle in der zwölften Klasse freuen: Wir kriegen quasi den gesamten Dezember frei. Theoretisch, um das große Abschlussprojekt anzugehen; wir können uns ehrenamtlich engagieren, ein Projekt umsetzen oder ein Arbeitsfeld ausprobieren, das uns interessiert. Alle finden es super, nur meine Eltern waren nicht wirklich begeistert von der Vorstellung, dass ich bis Neujahr zu Hause bleibe.

Mein Blick jagt zwischen den beiden hin und her. Dad sieht aus, als litte er unter Verstopfung.

»Das ist es nicht«, presst er hervor. »Du hast das alles großartig gemeistert, Josie! Und darum geht es uns auch gar nicht.«

»Es ist einfach schwierig, sich keine Sorgen um dich zu machen«, sagt Mom, als hätten sie dieses Gespräch einstudiert. »Maggie war ein bisschen wild, aber sie war Teil einer Gruppe und Alice ist aufgeblüht. Ich weiß, dass du hart an deinem Projekt gearbeitet hast, aber –«

»Du hast keine Freundinnen«, beendet Dad ihren Satz. »Und keine Freunde. Dabei ist es für ein Mädchen in deinem Alter doch völlig normal, dass –«

»Hallo? Ich habe sehr wohl –«

Mom wirft mir diesen vielsagenden Blick zu, in dem ich ihre Worte lesen kann: Achte auf deinen Tonfall, bevor ich dich bereuen lasse, deinen Mund geöffnet zu haben. Also halte ich die Klappe. Aber was wollen sie denn von mir hören? Nur weil ich keine AGs leite wie Alice oder einen Haufen Freundinnen habe, wie Maggie, heißt das doch nicht, dass mit mir was nicht stimmt!

Klar, ich hab vielleicht keine beste Schulfreundin oder einen besten Schulfreund, aber wer hat das schon? Und, jetzt mal ernsthaft, wie viele von uns werden nach unserem Schulabschluss im Mai noch irgendetwas miteinander zu tun haben? Die meisten können einander nicht mal ausstehen. Das ist doch auch der Grund, warum in unserem Klassenchat alle subtwittern, lästern oder sich gegenseitig bekriegen.

Ich will mit Menschen zusammen sein, die füreinander da sind. Wenn das nicht geht, dann bleib ich lieber allein.

»Also«, bekräftige ich achselzuckend. »Wie schon gesagt: Ich war mit meinem Schreiben beschäftigt und mit dem Vorweihnachtstrubel bei Cora.«

Und da kommt auch schon gleich die Resonanz – Moms zusammengekniffener Mund gepaart mit einem Seitenblick, den Dad ihr zuwirft. Aber das lasse ich mir nicht vorwerfen. Schreiben ist das Einzige, was hilft.

»Wir sind stolz darauf, dass du schreibst«, versichert Dad und klopft mir leicht auf die Schulter. »Aber du kannst nicht alles auf eine Karte setzen. Du musst ein paar Freundschaften schließen.«

»Ich habe Freundinnen«, erkläre ich und richte mich auf. »Meine Twitter Community gehört dazu. Jordan und Sadie sind meine Freundinnen. Genau wie Monique.«

Jetzt kneift Dad die Lippen zusammen, während Mom seufzend ihren Kopf in den Nacken wirft.

»Ist Monique nicht deine Redakteurin?«, fragt Dad schließlich. »Dann zählt sie nämlich nicht.«

»Ebenso wenig wie virtuelle Kontakte«, schnappt Mom. »Diese Leute kennst du ja nicht mal.«

»Monique ist die Mentorin für mein Abschlussprojekt.« Ich lege den Kopf schief. »Wisst ihr nicht mehr? Ich musste es extra von unserem Schuldirektor O’Connor genehmigen lassen. Sie ist also eine reale Person und sie ist, na ja, irgendwie beeindruckt von mir. Sie hat nur deshalb angefangen, meine Texte anzunehmen, weil sie mir auf Twitter gefolgt ist. Auch online kann man wertvolle Beziehungen haben.«

»Das ist aber nicht das, was wir meinen«, sagt Mom. »Es ist nicht normal, dass du mit Erwachsenen befreundet bist. Du solltest deine Zeit mit Jugendlichen verbringen.«

Meine Eltern zu verstehen, ist einfach unmöglich. In der einen Minute reden sie vom College, in der nächsten erklären sie mir, ich würde nicht genug herumalbern. Was erwarten sie denn von mir? Klar, manchmal scrolle ich durch Instagram und werde eifersüchtig, wenn ich alle auf Partys oder auf dem Weg in die Innenstadt von Atlanta sehe. Aber wenn ich mich dauernd mit ihnen treffen würde, wüsste ich nicht, wie ich mich verhalten müsste. Beim Lunch höre ich Jordan und Sadie ständig davon reden, was sie über Sport und Tanzevents denken oder darüber, wie viel irgendwer abnehmen muss. Sechzig Prozent dieser Zeit fühle ich mich komplett orientierungslos und trotzdem habe ich kein Interesse daran, mich zurechtzufinden.

»So einfach ist das alles nicht«, sage ich. »Ich verbringe sehr viel Zeit mit Leuten in meinem Alter. Viele von ihnen arbeiten bei Cora, wie ihr wisst, und viele sehe ich jeden Tag in der Schule. Josh Sandler zum Beispiel oder Liv Caroll. Erinnert ihr euch an sie?«

Unerwähnt lasse ich die Tatsache, dass Josh mir höllisch auf die Nerven geht und dass ich die meiste Zeit meiner Schicht damit verbringe, auf Livs superenges Kellnerinnen-Shirt zu starren, während sie die Gäste bedient, aber ich schätze mal, das geht meine Eltern auch nichts an.

»Aber du gehst nie aus«, entgegnet Dad. »Du gehst nicht auf Schulbälle oder in Clubs. Du bringst nie irgendwen mit nach Hause. Wir wollen dich nicht in die Enge treiben – aber vielleicht sollten wir dieses Thema wirklich mal bei Laura ansprechen.«

Jetzt ist es an mir, die Lippen zusammenzukneifen. Die Leute aus der Schule und aus unserem Viertel waren sehr oft Gesprächsthema zwischen meiner Therapeutin und mir. Ich kann es ganz bestimmt nicht brauchen, dass Mom und Dad einen Löwenanteil unserer Zeit mit Was-auch-immer-das-hier-sein-soll belagern. Es gibt wichtigere Dinge, die ich mit Laura besprechen muss.

Ich habe längst akzeptiert, dass ich wahrscheinlich keine engen Freundschaften in meiner Schulzeit schließen werde. Und ich bin einfach nur froh, dass ich dieses Kapitel bald abschließen kann. Aber das kann ich Mom und Dad unmöglich erklären, ohne sie nur noch mehr in Aufruhr zu versetzen. Ich will es nicht mal versuchen.

»Ich glaube, ich muss einen klaren Kopf kriegen.« Ich lege meine Hände auf den Tisch. »Kann ich eine Runde mit dem Auto drehen?«

@JosieTheJournalist: Eigentlich hatte ich mir meine rebellische Teenagerphase ziemlich cool vorgestellt, aber alles, was ich auf die Reihe bekommen hab, ist, mir hinter Dads Rücken Tarantino-Filme reinzuziehen (die es nicht mal wert sind)

Das Beste am Endlich-siebzehn-Sein ist für mich das Autofahren. Weil ich kein eigenes Auto habe, kann ich zwar nicht losdüsen, wann immer ich will, aber sobald sich meine Hände auf das Lenkrad legen, geht’s mir besser. Auto fahren macht mir bewusst, dass es da draußen noch eine andere Welt gibt. Das Leben besteht nicht nur aus unserer Stadt und meiner Highschool, auch wenn es sich noch so sehr danach anfühlt.

Und dann gibt es natürlich noch das Dairy Queen zehn Fahrminuten von unserem Haus entfernt.

Schreiben war schon immer meine große Leidenschaft, aber die Tatsache, dass ich für meine Artikel bezahlt werde, erhöht den Spaß enorm. Ich muss niemanden anbetteln, mir heimlich einen Milchshake zu kaufen, sondern kann mir selbst einen gönnen. Ich versuche es ja, ich versuche es wirklich, aber diese Diät, mit der Mom mich ständig unter Druck setzt, funktioniert einfach nicht. Ich hab alles ausprobiert: Ich habe Punkte gezählt, auf Kalorien geachtet, Weizen und Milchprodukte vom täglichen Speiseplan gestrichen und jetzt mache ich diesen »gesunden Lebenswandel«, auf den Mom so schwört. Nichts davon wirkt. Entweder ich schaffe es, bis zu sieben Kilo abzunehmen (und bringe sie zwei Monate später wieder auf die Waage), oder es ändert sich nichts. Es lohnt sich einfach nicht. Wenn Mom das doch nur verstehen würde!

Heute bin ich noch satt vom Abendessen, also lasse ich Dairy Queen links liegen und steuere die Hauptstraße an. Warmer Südwind weht durch die offenen Fenster. Im Hintergrund läuft das Radio. Mom hasst es, beim Fahren Musik zu hören, aber wenn ich hinter dem Steuer sitze, drehe ich sie voll auf.

Der durchdringende Klingelton meines Handys lenkt meinen Blick für eine Blitzsekunde auf den Beifahrersitz. Zu Hause habe ich mein Handy immer auf lautlos gestellt. Hauptsächlich deshalb, weil ich lieber Nachrichten schreibe, als zu telefonieren. Jetzt ist das Handy nur auf laut geschaltet, weil das eine von Moms und Dads Regeln ist. Ich fahre an den Straßenrand und parke das Auto.

Es ist Monique.

Aus irgendeinem Grund hatte ich mir eingebildet, es könnte jemand vom Wettbewerb sein. Für einen Moment setzt mein Herzschlag aus, bis die Angst ihn wieder hochjagt. Wahrscheinlich hat Monique meinen letzten Text gelesen. So schnell? O Gott! Alles fängt wieder von vorne an: der flache Atem, die rasenden Gedanken, die innere Blockade. Schon gut. Alles ist gut. Sie wird was Nettes sagen. Aber ich kann nicht anders, als mich zu fragen, ob sie nicht doch aus einem anderen Grund anruft. Vielleicht fand sie meinen Text schrecklich. Vielleicht war er sogar so mies, dass sie nie wieder mit mir zusammenarbeiten will und mir deshalb auch keinen Fortschrittsbericht für die Schule schreiben wird. Und dann werde ich mir diese Wahnsinnsarbeit umsonst gemacht haben, ohne einen Tätigkeitsbericht dafür zu bekommen, und das Abschlussjahr nicht bestehen.

Es muss nicht mal etwas Großes und Schlimmes sein. Schon etwas so Simples wie peinliche Stille lässt Panik in mir aufkommen. Ich hasse Stille in Gesprächen, egal, ob man sich gegenübersteht oder telefoniert. Ich weiß nie, was ich sagen soll. Ich weiß nie, wie ich klingen soll. Und dann fängt die Stille an, auf mich einzuprügeln, härter und härter, bis mir die gesamte Luft ausgeht.

Mein Handy hat aufgehört zu klingeln. Ich umklammere das Lenkrad noch fester, den Blick nach unten gerichtet. Es dauert nicht mal eine Sekunde, bis es von Neuem losklingelt. Ich zwinge mich zu einem tiefen Atemzug, nehme den Anruf an, ehe ich mich davor drücken kann, und halte das Handy ans Ohr. Je schneller wir ins Gespräch kommen, desto schneller werde ich mich entspannen. Hoffe ich jedenfalls.

»Hi«, setze ich an. Meine Stimme klingt brüchig. Puh. Hoffentlich hat sie nichts gemerkt.

»Hey, Josie!« Moniques Stimme ist voll und laut. Ich mach mir solche Sorgen darum, wie ich rüberkomme, und sie wirkt völlig unbeschwert. »Ich hoffe, mein Anruf kommt nicht ungelegen?«

»Nein, nein«, verssichere ich ihr und schüttle den Kopf, obwohl sie mich nicht sehen kann. »Wir haben gerade gegessen und ich vertreib mir nur ein bisschen die Zeit. Wie geht’s dir?«

»Ich bin endlich zu Hause und genieße den Feierabend«, erwidert sie lachend. »Wir waren ewig im Büro, um vor den Ferien noch alle Deadlines einzuhalten, und New York im Winter ist definitiv nicht wie in den Filmen. Aber apropos Deadlines, ich wollte mit dir über den Text sprechen, den du mir vorhin geschickt hast.«

»Oh.« Etwas in meinem Magen fängt an zu brennen. Meine Finger krallen sich noch ein bisschen fester um das Handy. Wann immer sie Anmerkungen hat, bringt Monique sie freundlich rüber. Trotzdem fällt es mir leichter, ihre Meinung nicht persönlich zu nehmen, wenn sie mich per E-Mail erreichen. »Du hast ihn gelesen? Schon?«

»Jap.« Sie lässt das p ploppen. »In einem Rutsch. Konnte nicht aufhören. Wie du darüber geschrieben hast, dass Filme von Schwarzen nur dann Wertschätzung kriegen, wenn die Schwarzen darin leiden, hat bei mir voll den Nerv getroffen. Ich glaub, mir ist immer schon aufgefallen, dass die heftigen Problemfilme Preise einheimsen und Komödien wie Coming to America leider draußen bleiben müssen.«

»Stimmt.« Ich räuspere mich. »Ich wünschte, für alle Filme würden dieselben Spielregeln gelten. Ich meine, kaum jemand interessiert sich zum Beispiel für Coming of Age-Filme über Schwarze Jugendliche. Aber wenn sie vor Schmerz und Elend triefen, wie Precious, dann saugen die Leute sie auf. Soll das heißen, die Zuschauer fasziniert »Black Pain«? Ich hab das Gefühl, man will uns wissen lassen, dass schmerzhafte Geschichten über uns die wichtigsten sind. Und das kann ja in vielen Fällen sogar stimmen. Es darf nur nicht die Regel werden.«

»Dein Text ist brillant«, erwidert Monique.

Meinem Herzen wachsen Flügel. Ich selbst bin immer der Meinung, dass meine Texte etwas Wichtiges zu sagen haben, aber das bedeutet nicht, dass alle anderen es auch so empfinden. Moniques Lob treibt mich regelrecht an.

»Und du hast das Thema so unglaublich klug herausgearbeitet. Glaub mir, du wirst einfach immer besser, mit jedem Text, den du mir schickst.«

»Oh.« Ich rutsche auf meinem Sitz herum. »Wow. Danke. Wirklich. Vielen Dank.«

Komplimente sind mir unangenehm, weil ich nie weiß, wie ich auf sie reagieren soll. Ich will höflich und bescheiden sein, aber ich will auch nicht rüberkommen, als wäre ich davon überrascht. Schreiben ist mein Ding. Ich weiß, es gibt immer Luft nach oben, aber ich hab das Schreiben im Blut. Ich bin gut darin. Ich weiß es, seit Monique die ersten Essays auf meinem Blog gelesen hat und mich per E-Mail bat, Filmkritiken für das Essence-Magazin zu schreiben. Ich weiß es, seit ich ihr mein Alter verraten habe und sie komplett ausgeflippt ist. Aber trotzdem: Ihr Lob ist noch immer Musik in meinen Ohren.

»In deinen Worten steckt eine Kraft, die viel bewegen kann«, legt Monique nach. Ich lehne mich in meinem Sitz zurück und lasse ihre Worte wirken. »Ich wünschte nur, deine Texte würden mehr Aufmerksamkeit erregen, gerade weil du noch so jung bist.«

»Kann schon sein.« Ich zupfe an meiner Jeans, unsicher, was ich noch sagen soll. »Aber ich will nicht, dass die Leute nur wegen meines Alters auf meine Texte aufmerksam werden, verstehst du? Es geht nicht um mich, es geht um das, was ich schreibe.«

»Ich verstehe dich«, sagt Monique. »Aber ganz unter uns: Du hast mehr drauf als manche aus meinem Team.«

Das Lachen bleibt mir im Hals stecken. Bin ich so gut? Mir wird fast schwindelig.

»Aber egal, ich habe dich nur angerufen, weil ich dich wissen lassen wollte, was ich denke«, fährt sie fort. »Ich weiß, ich schreibe dir auch in meinen E-Mails, dass ich dich für talentiert halte, aber ich wollte sichergehen, dass es dir wirklich bewusst ist. Hier geht es nicht mal um Potenzial, Josie. Du bist schon eine Autorin und Journalistin. Alles, was du tun musst, ist dranbleiben. Wenn du in mein Alter kommst, werden die Leute dir aus der Hand fressen, falls sie das nicht sowieso schon tun.«

»Schön wär’s«, erwidere ich schnaubend. »In meiner Familie punkte ich mit dem Schreiben jedenfalls nicht. Meine Eltern halten mich für schräg und meine Schwester hört mir zwar manchmal zu, aber ich weiß, dass sie es nur tut, damit ich mich besser fühle. In der Schule rede ich ohnehin mit niemandem drüber. Ich glaube nicht, dass dort irgendwer was damit anfangen kann. Die Einzigen, die mich wirklich verstehen, sind meine Follower auf Twitter.«

Kaum ist mein Redeschwall beendet, bereue ich ihn auch schon. Monique hat mich angerufen, um mir ein Kompliment zu machen, und nicht, um sich mein Gejammer über die Schule anzuhören. Ich will nicht, dass sie mich für einen launischen Teenager hält. Aber Monique legt nicht auf. Das hab ich zwar auch nicht ernsthaft befürchtet, aber manchmal lassen sich diese erbärmlichen Gedanken schwer abschütteln.

»O ja, die Highschool.« Monique seufzt, so lang und tief, dass es beinahe wie ein Lied klingt. »Mein Mädchen, das sind Zeiten, die ich definitiv nicht vermisse. Aber mach dir keinen Kopf. Das sind einfach nicht deine Leute. Das ist in Ordnung, oder? Deine Leute können überall sein – vielleicht sogar an Orten, an denen du sie am wenigsten erwartest – und dir bleibt noch so viel Zeit, sie zu finden. Das ist das Beste am Erwachsenwerden.«

Ich schicke ein Lächeln in den Himmel über meiner Windschutzscheibe. Es gibt so viel Welt da draußen, von der ich jetzt noch nichts weiß. Filme, die sehenswert sind, Ideen, die mich inspirieren oder weiterbringen werden, Länder, die ich bereisen, und Menschen, die ich kennenlernen kann. Die wahre Welt ist überhaupt nicht klein. Und an manchen Tagen ist es diese Vorstellung, die mich antreibt.

@JosieTheJournalist: Bist du schon mal beim Lesen einer E-Mail in Tränen ausgebrochen?

Maggie hat immer irgendein Ding am Laufen. Ständig startet sie ein neues Projekt – mal pflastert sie die Wände mit inspirierenden Zitaten zu, dann macht sie eine Ausbildung zur Geburtshelferin oder startet eine Rohkostdiät (die echt der größte Horror war). Und irgendwie gelingt es ihr immer, uns andere mit hineinzuziehen.

Aber gegen das Spiegelritual habe ich nichts einzuwenden. Davor drücken kann ich mich sowieso nicht, da wir drei uns ein Badezimmer teilen. Unser Spiegelritual ist ein weiterer Versuch von Maggie, zu helfen. So wie ihre im Haus verteilten Post-its mit positiven Bestärkungen oder die ruhige Ecke mit Sitzsäcken und Entspannungsmusik, die sie mir in meinem Zimmer eingerichtet hat.

Ich weiß ihre Mühe zu schätzen. Nur leider bringt die Aufmerksamkeit, die andere Menschen mir schenken, mein Sorgenkarussell so richtig in Fahrt.

Ich kann nicht anders, als sie zu hinterfragen. Bin ich eine zu große Belastung? Bin ich nervig? Störe ich?

Die anderen sind schon unten und helfen Mom bei den Vorbereitungen. Sie sind also zu beschäftigt, um nach mir zu sehen – damit hab ich das Badezimmer für mich allein. Genau das ist es, was ich im Augenblick brauche.

Dass ich gestern nichts vom Wettbewerb gehört habe, heißt offensichtlich: Ich hab verloren. Ich bin Ablehnungen gewohnt – Bewerbungen an verschiedene Zeitschriften zu schicken, bringt diese Erfahrung mit sich – aber weh tut es trotzdem.

Ich streiche mir das Haar aus dem Gesicht und stelle mich meinem Spiegelbild. Ich hab Augenringe und an den Mundwinkeln ein paar verkrustete Pickel, aber ansonsten kann ich mich sehen lassen. Die Regel ist, dass wir jeden Morgen etwas Positives zu unserem Spiegelbild sagen.

Es hat eine Weile gedauert, aber ja, ich mag mein Gesicht. Ich habe dunkelbraune Haut und volle Lippen und das, was Beyoncé eine »Negro Nose« nennen würde. Mein Gesicht sieht echt süß aus, vor allem mag ich meine Wangen. Mom kneift mir immer noch manchmal hinein, als wäre ich ein Kleinkind. Und ich hab was aus meinen Haaren gemacht. Ich hab zwar keinen Afro, aber es gibt eine hübsche Menge kleiner Löckchen da oben. Ich lächle.

Ernsthaft, ich brauche dieses Ritual nicht. Ich finde mich nicht hässlich. Aber Maggie meint, es geht nicht um die äußere Schönheit. Was zählt, ist der innere Frieden oder das Selbstbewusstsein oder so was in der Art. Also öffne ich meinen Mund und sage: »Du bist klug und liebenswert und talentiert.« Es klingt, als wäre es ein Satz von Barney, dem Dino aus der Zeichentrickserie.

Mein Gesicht zu mögen, ist einfach. Was mir zu schaffen macht, ist der Rest meines Körpers. Ich ziehe mein Tanktop, in dem ich letzte Nacht geschlafen habe, hoch und schaue auf meinen hervorquellenden Bauch. Ich glaube, es ist einfach eine Angewohnheit, ihn in diesen Augenblicken einzuziehen. Jedes Mal, wenn ich ihn loslasse, fühle ich mich befreit – und bin enttäuscht.

Mit meiner Therapeutin Laura arbeite ich an meinem Framing, so nenne ich es, weil es mich an einen eingerahmten Fernsehbildschirm erinnert. Es geht darum, sich selbst und die eigene Situation in einem anderen Licht zu sehen.

Also versuche ich, mein Gesicht nicht zu verziehen, wenn ich meinen Bauch sehe. Ja, er sollte vielleicht nicht ganz so dick sein, aber er ist völlig in Ordnung, denn jeder Körper ist anders. Wenn ich alleine bin, habe ich kein Problem mit meinem Bauch. Ich versuche, an Winnie Puuh zu denken und daran, wie sehr er von allen geliebt wird und wie ihn sein kurzes Crop Top quasi zur Mode-Ikone gemacht hat. Dieser Gedanke zaubert mir ein echtes Lächeln ins Gesicht. Ich reibe mit den Händen über meinen Bauch und schwenke ihn vor dem Spiegel auf und ab. Es ist nichts falsch an einem Bauch. Bäuche sind knuffig und sie beherbergen wichtige innere Organe.

»Tun die weh?«

Rasch schaue ich auf und begegne im Spiegel dem Blick von Alice. Sie ist größer als ich, was in Anbetracht meiner knapp 1,64 m Körpergröße auch keine Kunst ist. Ihr Seidenschal ist noch um ihren Kopf gebunden und ihr Schlafshirt schlottert um ihre schlanke Taille. Ich muss eine große Portion meiner Eifersucht in mir zurückdrängen.

»Tut was weh?« Ich räuspere mich und bewege meine Arme.

»Die Dehnungsstreifen.« Pfeilschnell streift ihr Blick meinen Bauch, noch ehe ich das Tanktop wieder runterziehen kann. »Maggie hatte diese Streifen während ihrer Schwangerschaft, obwohl sie sich ständig mit Sheabutter eingecremt hat.«

»Ich erinnere mich.« Ich muss den Kopf schütteln, als ich daran denke. Ich war dreizehn und damit alt genug für eine Kein-Sex-vor-der-Ehe-Predigt meiner Eltern. »Und nein, sie tun nicht weh.«

Es scheint nicht so, als wollte Alice mich runtermachen, aber so ganz sicher bin ich mir bei meiner Schwester nie.

Und selbst wenn sie es nicht so gemeint hat, meine Stimmung ist umgeschlagen. Es ist nicht nur meine eigene Stimme, die mir eintrichtert, es sei etwas falsch an meinem Körper. Normale Menschen sollten keine Dehnungsstreifen haben, es sei denn, sie sind schwanger. Ich weiß nicht mal, wie ich diese tiefen Rillen an den Rändern meines Bauches bekommen habe. Sie sind dunkler als der Rest meiner Haut.

»Na ja, zumindest musst du dir dann später keinen Kopf drum machen«, bemerkt Alice, zieht sich den Seidenschal von den Haaren und streicht sich mit den Fingern durch die Zöpfe. »Macht Maggie eigentlich auch noch ihre Spiegelzeit?«

»Äh, ja?« Ich versuche, nicht die Augen zu verdrehen. »Du bist grad mal seit zwei Monaten weg. Seitdem hat sich nicht viel verändert.«

»Hmm.« Ihre Lider senken sich, während sie ihr Spiegelbild prüfend betrachtet. »Heute mag ich meine Augen. Sie sehen haselnussbraun aus.«

»Deine Augen sind dunkelbraun.«

»Ich habe gesagt, sie sehen haselnussbraun aus«, entgegnet Alice und schüttelt ihren Kopf. Meine Augenfarbe kann aussehen, wie immer ich will.«

Keine Ahnung, ob sie das ernst meint oder nicht. Alice macht aus allem einen Witz.

Ich ziehe mich für Thanksgiving an (mein heißgeliebtes orangerotes Blumenkleid) und mache mich auf den Weg nach unten.

Mom scheucht Dad, Maggie und sogar Cash mit einem Holzlöffel durch die Küche. Ich mache einen Satz zurück, aber schon wirbelt die Löffelspitze in meine Richtung. Mist. Sie hat mich gesehen.

»Warum bist du schon fertig angezogen?« Sie kneift missbilligend die Augen zusammen. »Ich brauche hier noch deine Hilfe.«

»Aber es ist schon spät.« Ich werfe einen Blick auf die tickende Küchenuhr. Es ist elf. »In einer Stunde ist hier volles Haus. Du kennst doch Tante Denise.«

Dad schnaubt. Moms Blick schießt in seine Richtung und er wendet sich wieder dem Truthahn zu. Denise und ihr neuer Ehemann, ein Typ, dessen Namen ich mir noch nicht merken wollte, kreuzen sogar noch früher als erwartet auf. Sie klingeln gleich dreimal hintereinander. Mom wirft mir einen ihrer vielsagenden Blicke zu. Maggie deckt gerade den Tisch. Cash hilft ihr, meine Eltern sind noch mit Kochen beschäftigt, und wann Alice sich bequemt, wieder nach unten zu kommen, weiß der Himmel. Was bedeutet: Ich bin diejenige, die jetzt für das Unterhaltungsprogramm zuständig ist. Die Anwesenheit der beiden bringt meine Ängste aufs Parkett, selbst wenn ich weiß, dass es keinen rationalen Grund dafür gibt.

»Josie.« Tante Denise zieht mich an ihre Brust. »Oh, schau dich nur an. Wie groß du bist!«

Ich zucke zusammen. Dass Tante Denise so dünn ist wie mein kleiner Finger, hilft nicht wirklich. Sie macht einen Schritt zurück und taxiert meinen Körper. Ihr Blick gleitet von oben nach unten wie ein Scanner. Ich fixiere den Fleck auf ihrer Brust, der heller ist als der Rest ihrer Haut. Vielleicht ist es ein Muttermal.

»Wie läuft’s mit der College-Bewerbung?«

»Gut.« Ich zucke mit den Achseln. »Ich hab mich frühzeitig bei Spelman beworben und jetzt warte ich auf ihre Antwort.«

»Uuuuh.« Denise tätschelt meine Wange. »Steigst in die Fußstapfen deiner Schwester Alice, was?«

»Also eigentlich wollte ich schon vor ihr auf dieses College«, werfe ich schnaubend ein. »Sie ist in meine Fußstapfen getreten.«

»Genau.« Tante Denise lächelt über mich, als wäre ich ein Kindergartenkind. »Natürlich, meine Süße.«

Mit ihrem Ehemann im Schlepptau wuselt sie an mir vorbei. Ich linse in die Küche, wo sie Moms und Dads Aufmerksamkeit schon auf sich gezogen hat. Das gibt mir ein paar Augenblicke Zeit, um mich zurückzuziehen. Ehe sich die anderen fragen, wo ich stecke, sprinte ich die Treppen hoch. Jetzt wo Alice zu Hause ist, teilen wir uns wieder das Zimmer. Ihr Gepäck liegt noch immer so dicht vor der Tür, dass ich den Bauch einziehen muss, um mich ins Zimmer zu schieben. Ich kicke einen ihrer Koffer aus dem Weg, was eigentlich auch die Tür hätte erledigen können.

Ich ziehe das Handy vom Ladekabel. Mom hasst es, wenn unsere Handys während des Familienessens auf dem Tisch liegen, aber selbst an Thanksgiving kommt es selten vor, dass wir wirklich alle zusammen sind. Früher oder später sitzen wir eh in kleinen Grüppchen im Haus verteilt. Und solange ich alle begrüße, wird Mom mein Handy nicht bemerken.

Ich lese einen Artikel über die Entstehung von Boys in the Hood. Während ich über die Zeilen fliege, halte ich die Zimmertür geschlossen, selbst als ich höre, wie unten die Haustür aufgeht und das Lachen und Reden der anderen zu mir hochdringt. Beinahe hätten die Geräusche den Ton der eingehenden E-Mails übertönt.

Es sind die üblichen Verdächtigen – Spammails mit dem Betreff Stalke deinen Ex-Mann, College-Werbung … Aber.

Aber.

Dazwischen ist eine von der Zeitschrift Deep Focus. Ich öffne sie und gebe alles, um nicht laut loszukreischen.

Liebe Josephine,

herzlichen Glückwunsch. Sie wurden zur Gewinnerin der Deep Focus-Talentsuche gewählt. Als Jury über die diesjährigen Beiträge entschied ein Team aus 15 Journalist*innen und Redakteur*innen. Unsere Ankündigung kommt verspätet, weil unsere Jurymitglieder sich nur schwer auf eine der 400 Finalist*innen einigen konnten, aber zu guter Letzt fiel die Wahl auf Sie.

Sie können stolz auf sich sein.

O.

Mein.

Gott.

Ich stoße einen Schrei aus.

Von unten ertönt ein lautes Rumsen. Mein Blick schnellt zurück auf das Handy.

Wie Sie sicher wissen, ist der Hauptpreis die Teilnahme an der Pressetour für den neuen Film Incident on 57th Street, in dem unter anderem der Academy-Award-Kandidat Art Springfield, Grace Gibbs und der Schauspiel-Newcomer Marius Canet mitwirken.

Da Deep Focus mit Spotlight Pictures kooperiert, erhalten Sie den direkten Zugang zu Cast und Crew. Der Schwerpunkt wird auf dem Verfassen eines Porträts über Marius liegen, der für seine Performance hymnische Kritiken geerntet hat.

Für den Zeitraum von zwei Wochen werden Sie die Presse-events unserer Redaktionen in Los Angeles, Austin, Chicago, Atlanta und New York begleiten. Sämtliche Reise- und Unterkunftskosten trägt Deep Focus. Darüber hinaus erhalten Sie ein Preisgeld von 500 Dollar in bar.

Es freut mich wirklich sehr, Sie als Teil des Deep Focus Teams begrüßen zu dürfen. Ich verantworte die Leitung Ihres Aufgabenbereiches, was bedeutet, dass ich die Interviews und Events organisiere sowie Ihre Reisen im Rahmen der Pressetour. Außerdem werde ich als Erste Ihren Abschlussartikel prüfen, bevor wir ihn dann beim Redaktionsteam einreichen. Sollten Sie irgendwelche Fragen haben, kontaktieren Sie mich jederzeit gerne.

Im Anhang der E-Mail finden Sie darüber hinaus einen Vertrag. Bitte prüfen Sie den Vertrag gründlich und unterzeichnen Sie ihn zusammen mit einem Elternteil. Anschließend schicken Sie ihn mir am besten so bald wie möglich zurück, da wir mit der Planung erst fortfahren können, wenn wir den unterschriebenen Vertrag vorliegen haben.

Per Post lassen wir Ihnen außerdem einen offiziellen Deep Focus-Presseausweis zukommen, den Sie während Ihrer Tour tragen müssen. Sobald der Vertrag unterzeichnet ist, lassen wir Sie nach Los Angeles einfliegen, wo nächstes Wochenende ein Screening mit anschließender Pressekonferenz stattfinden wird. Wenn Sie mit allem einverstanden sind, versorge ich Sie schon bald mit detaillierten Informationen. Wir freuen uns darauf, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.

Mit herzlichen Grüßen

Laureen Jacobson, Publicity Managerin bei Deep Focus

Meine Hände zittern.

Ich. Ich habe den Wettbewerb gewonnen. Ich.

Als sie mich in der ersten E-Mail darüber informierten, dass ich in der Endrunde war, schrieben sie, dass sie aus den 2000 Einsendungen 400 ausgesucht hatten. Und aus vierhundert Menschen wählten sie mich. Es ist unfassbar. Es fühlt sich komplett surreal an. Die Pressefrau meiner Lieblingszeitschrift hat mir gerade eine E-Mail geschickt. Ich werde einen Text für Deep Focus schreiben. Ich, ich, ich.

Ich kann mir nicht mal ausmalen, in wie vieler Hinsicht sich das hier auf meine Karriere auswirken könnte. Seit über vierzig Jahren ist Deep Focus das schlagende Herz populärer Kultur. Alle, die irgendwie berühmt sind, waren schon mal auf dem Titelblatt. Dazu zählen unter vielen anderen:

•klassische Musikstars wie die Beatles, Michael Jackson und David Bowie

•jüngere Musikstars wie Adele, Kendrick Lamar und Lorde

•die Queen (Beyoncé)

•Filmstars wie Heath Ledger, Denzel Washington, Cate Blanchett, Natalie Portman, Keira Kneightly, Andrew Garfield, Issa Rae …

Allein bei dem Gedanken wird mir schwindelig.

Schon immer habe ich die Porträts über all die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Regisseurinnen und Regisseure, Schauspielerinnen und Schauspieler verschlungen, auch wenn ich sicher bin, dass die meisten eine inszenierte Lebensgeschichte erzählen. Aber jetzt erhalte ich endlich die Chance, selbst zu erleben, wie so was läuft. Wie in aller Welt soll man so etwas überhaupt in seinen Lebenslauf integrieren? In einem speziellen Kästchen mit Leuchtbuchstaben und Glitzerstaub?

Der Wettbewerb könnte mir natürlich auch helfen, mehr freie Jobs als Journalistin zu bekommen. Das hier könnte zu größeren Aufträgen führen. Denn das hier – meine Damen und Herren – ist Deep Focus! Hiernach kann ich eigentlich tun und lassen, was ich will.

Ich halte mir die Hand vor den Mund. In mein hysterisches Gekicher mischt sich ein weiterer Schrei und lässt mich wie ein nervöses Pferd klingen. Was mir nicht das Geringste ausmacht. Klar, ich habe meinen Eltern noch nicht erzählt, dass der Hauptgewinn beinhaltet, mit einer Gruppe von Schauspielerinnen, Schauspielern, einem Regisseur und anderen Filmleuten durch fünf verschiedene Großstädte zu reisen. Klar, ich leide unter einer Angststörung und hasse es, von vielen Menschen umgeben zu sein, die ich nicht kenne.

Aber, mein Gott, die Pluspunkte wiegen so viel mehr als die Nachteile. Das hier ist meine Chance, endlich einmal etwas Aufregendes zu erleben. Das hier ist meine Chance, das, was ich liebe, auf einer höheren Ebene zu tun. Das hier ist meine Chance, als Journalistin ernst genommen zu werden.

Ich öffne zwei verschiedene Tabs, gebe den Namen des Schauspielers in den einen und den Titel des Films in den anderen ein. Ich öffne eine weitere E-Mail, um Ms. Jacobson zu antworten. Aber was soll ich bloß schreiben?

»Josephine?«

Moms Stimme tönt zu mir herauf. »Komm sofort runter!«

Oh, alles klar. Immer schön der Reihe nach: Als Erstes muss ich Mom und Dad um Erlaubnis bitten.

@JosieTheJournalist: Meine Eltern sind wirklich Weltklasse, don’t@me

Den ganzen Abend darauf zu warten, bis alle gegangen sind, ist die reinste Folter. Und wenn ich vom ganzen Abend rede, ist das tatsächlich wortwörtlich gemeint. Als Onkel Eddie sich verabschiedet, ist es bereits 23 Uhr. Mom muss ihm ein Taxi rufen. Als sie ihm von der Haustür aus nachschaut, schleiche ich mich von hinten an sie heran.

»Mommy?«

Sie zieht eine Augenbraue hoch. »Was willst du?«

Ich bugsiere sie zurück in die Küche. Hier sieht’s aus wie auf einem Schlachtfeld: halb volle Schüsseln und Flaschen, schmutziges Geschirr und Besteck … und mittendrin steht Dad, der schon dabei ist, die Essensreste umzufüllen. Die werden wir die gesamte nächste Woche essen, mindestens.

»Tja also«, setze ich an und falte meine Hände. »Mir wurde eine Chance gegeben, die man wohl nur einmal im Leben bekommt.«

»Was?« Dad schaut hoch. »Ein Stipendium?«

»Ähm, nein«, entgegne ich. »Nichts Derartiges. Aber es ist sogar noch besser.«

Mom verschränkt ihre Arme vor der Brust. Jetzt hat sie beide Augenbrauen erwartungsvoll in die Höhe gezogen.

»Okay.« Ich hole tief Atem. »Wisst ihr noch, dieser Wettbewerb, an dem ich vor ein paar Monaten teilgenommen habe? Die Deep Focus-Talentsuche? Sie war für jugendliche Journalistinnen und Journalisten ausgeschrieben.«

»Ja«, sagt Mom. »Natürlich erinnern wir uns. Haben sie geantwortet?«

»Ja, haben sie«, erwidere ich. »Und es sind wirklich unglaubliche Neuigkeiten – ich habe gewonnen. Unter insgesamt zweitausend Menschen haben sie mich ausgesucht.«

»Du meine Güte, Josie!« Dad richtet sich kerzengerade auf. »Das ist ja unfassbar. Komm her!«

Er zieht mich in seine Arme und quetscht mich fast zu Tode. Ich lache in seine Schulter hinein.

»Deep Focus«, er rüttelt an meinen Schultern. »Josie! Wir sind so stolz auf dich.«

»Das sind wir«, sagt Mom. »Aber was ist die Kehrseite der Medaille?«

»Es gibt tatsächlich keine Kehrseite, wenn man genau drüber nachdenkt«, ich befeuchte meine Lippen. »Der Hauptpreis ist die Chance, eine Titelstory für die Zeitschrift zu verfassen.«

»Stimmt, ich erinnere mich. Das hast du uns erzählt.« Dads Augen weiten sich. »Unsere Tochter schreibt eine Titelstory für Deep Focus. Dir ist bewusst, dass sogar Obama schon auf dem Titelbild war, oder?«

»Das Cover hängt über dem Fernseher. Du selbst hast es dort angebracht.«

Ich gebe echt mein Bestes, nicht die Augen zu verdrehen. »Meine Titelstory wird sich jedenfalls um diesen neuen Spielfilm drehen, mit Art Springfield in der Hauptrolle.«

»Art Springfield«, wiederholt Dad. Er wirft Mom einen Seitenblick zu. »Na, diesen Film werden wir uns wohl anschauen müssen.«

»Natürlich, Schatz«, sagt Mom, aber ihr Blick bleibt auf mir haften. »Komm zur Sache, Josie.«

»Okay.« Ich atme durch die Nase ein, so tief ich kann. »Um die Titelstory authentisch wiederzugeben, muss ich zusammen mit der gesamten Besetzung und Filmcrew auf eine Pressetour, die zwei Wochen dauert und durch fünf Städte in den USA führt. Diese erste Presseveranstaltung startet nächstes Wochenende in Los Angeles.«

Es herrscht erst mal tiefes Schweigen, während Mom und Dad Blicke wechseln.

»O.« Dad wirft den Stofflappen über seine Schulter. »Na, wenn das alles ist.«

Mir schießt das Blut ins Gesicht.

»Auf gar keinen Fall lasse ich dich alleine quer durch das Land reisen.« Mom schüttelt den Kopf. »Durch wie viele verschiedene Städte? Und woher soll ich deiner Meinung nach das ganze Geld dafür zusammenkriegen?«

Gut. Sie rechtfertigt ihre Haltung. Wenn Mom wirklich Nein meint, dann erstickt sie die Diskussion im Keim. Sich zu rechtfertigen, ist ihre Art, mich zum Kampf herauszufordern.

»Sie zahlen Unterkunft und Reisekosten«, lege ich nach. »Und ich bekomme 500 Dollar in bar.«

»500 Dollar«, wiederholt Dad. »Die sind aber ganz schön spendabel, oder?«

»Den Rest würde ich mir zu Weihnachten wünschen. Oder ich nehme mein Gehalt von Cora zum Aufstocken.«

»Das Geld ist für die Schule«, erinnert mich Mom.

»Stimmt«, erwidere ich. »Aber eine Pressetour macht bei Weitem mehr Eindruck als die kleinen Artikel, die ich als freie Journalistin schreibe. Und Monique kann nach wie vor meine Mentorin bleiben.«

Ich hab Monique von dieser ganzen Sache zwar noch nichts erzählt, aber ich bin mir sicher, dass sie mehr als einverstanden sein wird. Diese Gelegenheit ist für ein Abschlussprojekt ja wohl wie gemacht. Wenn die anderen aus meiner Schule auf fremde Kontinente fliegen, um dort ihre Mission zu erfüllen oder Häuser zu bauen, dann kann ich auch auf eine Pressetour gehen, die meine Karriere fördern wird.

»Es ist nur –«, presse ich überfordert heraus. Es ist echt schwierig, dieses ganze Gewirr an Gefühlen auf einmal in Worte zu fassen. »Ich mache alles, was ihr wollt. Aber das ist wirklich, wirklich wichtig für mich!«

»Also ich weiß nicht.« Dad schaut kurz zu Mom rüber. »Es klingt aber auch wirklich nach einer ganzen Menge Verantwortung.«

»Ich kann Verantwortung übernehmen«, sage ich, strecke meine Hand aus und zähle an den Fingern ab: »Ich passe auf Cash auf, wann immer es nötig ist. Ich gehe jedes Wochenende einkaufen. Ich habe einen Job. Ich hab quasi den gesamten College-Kram allein gemeistert. Ich schaffe das.«

Dad nickt. Mom wirft ihm einen Blick zu.

»Ich verstehe«, sagt sie langsam. »Aber ich fühle mich einfach nicht gut damit, dich ganz allein auf diese Reise zu schicken, und ich kann mir nicht so lange freinehmen.«

»Keiner von uns könnte das«, bekräftigt Dad. »Und sosehr ich mir diese Chance auch für dich wünsche –«

»Maggie kann mich begleiten.« Die Worte purzeln aus meinem Mund. »Sie kann mit mir kommen.«

»Bist du sicher?« Mom schaut mich vielsagend an. »Auch Maggie kann sich nicht einfach von der Arbeit freinehmen und ich bezweifle, dass du Cash mit im Gepäck haben willst.«

»Tja, wie wäre es dann mit Alice?«

Ehe meine Worte überhaupt bei meinen Eltern eingesickert sind, kommt Alice ins Zimmer gerauscht. Ich wusste, dass sie lauscht!

»Nein«, faucht sie. »Für den Job als Babysitterin lasse ich mich ganz bestimmt nicht vom College beurlauben.«

»Es ist kein Babysitten«, sage ich. »Ich bin zwei Jahre jünger als du. Und du brauchst dich auch nicht beurlauben zu lassen. Deine Winterferien starten nächste Woche.«

»Ferienzeit ist meine Zeit«, erwidert sie und verschränkt ihre Arme vor der Brust. »Ich brauche sie, um mit meinen Leuten abzuhängen.«

»Das kannst du jeder zeit tun. Komm schon, Alice. Ich hab dich noch nie um etwas gebeten.«

»Das ist gelogen.« Alice verdreht die Augen. »Wie viele Male musste ich dich durch die Gegend kutschieren, bevor du endlich deinen Führerschein bestanden hast?«

»Das ist was anderes.«

Mein Gesicht brennt. Ich bin nur deshalb zweimal durchgefallen, weil meine Ängste mit am Steuer saßen. Ich wurde angehupt, der Fahrlehrer musste mich daran erinnern, dies oder jenes zu tun, und dann verschlug es mir komplett den Atem.

»Du glaubst wohl, nur weil du fragst, muss ich springen«, wirft Alice ein, als hätte ich überhaupt nichts gesagt. »Was soll ich denn deiner Meinung nach die ganze Zeit dort tun? Dir hinterherdackeln und stricken?«

»Ich brauche doch nur –«

»Also wenn ihr zwei so weitermacht, landet ihr nirgendwo«, bringt Mom uns gereizt zum Schweigen. »Ich kann mich ja nicht mal mehr selber denken hören.«

Alices Lippen verziehen sich zu einer Flunsch. Ich wette, sie will nur deshalb nicht mit, weil die Frage von mir kam.

Hätten Mom oder Dad sie gebeten, hätte sie zwar widersprochen, aber wäre letztendlich doch einverstanden gewesen. Schließlich bitte ich sie gerade nicht darum, sich die Augen auszustechen. Ich bitte sie, mich auf eine Reise zu begleiten. Und die ist wirklich nicht von der übelsten Sorte!

»Wenn du dich weiter auf deine Schularbeiten konzentrierst.« Dad wählt seine Worte mit Bedacht, in ständigem Blickkontakt mit unserer Mutter. »Und wenn du Alice überzeugen kannst, mit dir zu kommen … dann sehe ich keinen Grund, warum wir diese Reise nicht ermöglichen können.«

Ich drehe mich wieder zu meiner Schwester. Sie schmollt noch immer.

»Alice«, ich überwinde mich und strecke meine Unterlippe vor. »Bitte? Wir werden nach New York gehen und nach L. A. und ich verspreche dir, wir besuchen dort jeden Ort, den du willst. Ich übernehme für ein Jahr deine Aufgaben hier im Haushalt.«

»Ich bin die meiste Zeit des Jahres überhaupt nicht hier.«

Ich stöhne auf und werfe den Kopf zurück.

»Alice«, sagt Mom. »Niemand wird dich dazu zwingen. Aber es wäre wirklich schön, wenn du deiner Schwester diesen Gefallen tun könntest.«

Alice beißt sich auf die Lippe. Ich widerstehe dem Drang, meine Faust in die Luft zu strecken. Moms Unterstützung wiegt mehr als alles, was ich je versprechen könnte.

»Tja«, erwidert Alice schließlich, nach einem tiefen, erschöpften Seufzer. »Ich wollte schon immer mal nach Los Angeles. Und die Chance auf ein Treffen mit –«

Ich kreische auf und umschlinge sie. Ihre schlaff an der Hüfte herunterhängenden Arme beweisen, dass Alice kein großer Knuddelfan ist. Aber ich bin einfach so überglücklich, dass ich nicht anders kann. Dad muss lachen, doch Mom knallt mit der flachen Hand auf den Tisch, um unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

»Aber sobald ihr zurückkommt, wirst du dich aufs College konzentrieren.« Mom erhebt den Zeigefinger. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen. Nichts, was sie jetzt noch sagen könnte, wird mir meine Freude kaputt machen.

»Und ich will Anrufe. Anrufe. Keine Textnachrichten. Und zwar stündlich. Haben wir uns verstanden?«

Der Rest ihrer Worte geht unter, weil ich zu beschäftigt damit bin, so richtig loszukreischen und Mom in meine Arme zu ziehen.

@JosieTheJournalist: Shoutout an die Läden: Führt endlich Klamotten in Übergröße – die auch wirklich Übergrößen und keine Durchschnittsgrößen sind

Als ich acht war, sind wir zu einem großen Familientreffen nach Disneyland geflogen, aber öfter als dieses eine Mal bin ich tatsächlich nicht aus unserem Staat herausgekommen. Wie ich mich für eine Tour durch fünf Staaten ausrüsten soll, ist mir daher ein Rätsel.

Während Alice die nächsten paar Tage mit ihren Abschlussarbeiten und dem Abwickeln ihres ersten College-Semesters verbringt, versuche ich, alles, was ich für eine zweiwöchige Tour brauchen könnte, in meinen Koffer zu packen. Am Dienstag steckt Maggie ihren Kopf durch die Tür. Sie runzelt die Stirn und starrt auf meinen Koffer, als wäre er ein verwaister Welpe.

»Was?« Ich schaue auf mein Gepäck, das ausreichen wird, auch wenn ich noch nicht alles zusammengefaltet habe. »So schlimm ist es nicht. Ich werde nicht nackt rumlaufen müssen.«

»Aber das ist eine große Sache. Du wirst Filmstars interviewen.« Sie fasst mich bei den Schultern und schüttelt mich. »Josie, begreifst du überhaupt, was das bedeutet?«

»Komm schon, der größte Star in diesem Film ist Art Springfield und den himmeln im Grunde doch nur Oldies wie Mom und Dad an«, sage ich. »Ich werde den Newcomer interviewen. Er ist nicht wirklich das, was du als –«

»Hör auf, es mir kaputt zu machen«, erwidert sie. »Ich werde es durch dich erleben.«

»Ich wünschte, du könntest es mit mir erleben«, entgegne ich. Alice ist nicht da, also kann ich offen zeigen, wer meine Lieblingsschwester ist. »Wir würden so viel Spaß haben.«