Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Reent Reents, Haven-Detektiv mit Online-Diplom, hasst Hunde, steht aber auf seine knackige polnische Nachbarin Marita. Deshalb nimmt er auch ihren aufsässigen Terrier in Pflege, als sie verreist. Problem: Marita kehrt nie zurück. So hat Reent nicht nur den Hund, sondern auch seinen ersten großen Fall am Haken. Dieser führt ihn von Wilhelmshaven bis nach Polen. Völlig überfordert, aber mit tierischer Hilfe und einer mysteriösen inneren Stimme bleibt Reent auf Maritas Spur.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 453
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Olaf Büttner lebt nach verschiedenen Stationen heute wieder an der Küste nahe seiner Geburtsstadt Wilhelmshaven. Seine Romane wurden mehrfach ausgezeichnet. Neben dem Schreiben arbeitet er als Sozialpädagoge in einer Wohngruppe mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Wilhelmshaven.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und die meisten Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Wenige namentlich genannte, real existierende Personen sind mit ihrer Erwähnung ausdrücklich einverstanden.
Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur Brauer, München.
© 2017 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Stephan Giesers Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Lothar Strüh eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-208-3 Küsten Krimi Originalausgabe
Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons: Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de
Gewidmet dem einzig wahren Ricky…und denen, die ihn lieben
1
Prinzipiell muss ich keine Hunde in meiner Nähe haben.
Vor allem keine kleinen, denn neben allem anderen, was mir an Hunden nicht gefällt(Geruch, Gebell, Gekacke), verfügen diese über eine gehörige Portion Minderwertigkeitskomplexe, was keiner Persönlichkeit guttut, auch nicht der eines Hundes.
Dafür stehe ich total auf die Nähe von Marietta Weinzierl, die mit ihrem schneeweißen Jack-Russell-Terrier Ricky vor drei Monaten und achtundzwanzig Tagen in die Wohnung auf der gegenüberliegenden Seite des Flures eingezogen ist. Mein Name ist Reents. Reent Reents. Was meine Eltern sich bei dem Vornamen gedacht haben, weiß ich auch nicht. Ich bin zweiundvierzig Jahre alt und seit sieben Monaten und zwei Tagen Privatdetektiv sowie einziger Angestellter der Haven-Detektei effektiv!, nebenberuflich Kriminalschriftsteller. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ausgerechnet ein Hund nicht nur mein Leben komplett auf den Kopf stellen, sondern mich auch in meinen ersten großen Fall hineinziehen sollte. Dass dies durch eine Frau passieren würde, hatte ich schon eher erwartet.
Marietta Weinzierl war zu Beginn der Ereignisse neununddreißig Jahre, sieben Monate und vier Tage alt(wie meine Recherchen in sozialen Netzwerken ergeben hatten) und ein echter Kracher. Ihre körperlichen Reize waren bemerkenswert, und sie hatte keinerlei falsche Hemmungen, diese durch Kleidungsstil und Bewegungsabläufe ins rechte Licht zu rücken.
Schnell hatte ich ihr verziehen, dass ihr Köter mich bei unserer ersten Begegnung im Treppenhaus ohne Vorwarnung ins frisch gebügelte Hosenbein gebissen hatte, woraufhin sie das Tierchen mit folgenden Worten zurechtwies: »Aber Rieckylein, was machst denn du da?«
Nach Art der Osteuropäer rollte sie dasR leicht, lebte jedoch bereits lange genug an unserer Küste, dass ein weniger geschultes Ohr als das meine den feinen Unterschied zum friesisch rollendenR ganz sicher nicht bemerkt hätte.
Durch Internetrecherchen war mir ebenfalls bekannt, dass sie aus dem polnischen Bydgoszcz(gesprochen Büdgoschtsch, deutsch: Bromberg) stammte, Partnerstadt meines persönlichen Heimathafens Wilhelmshaven, in dem ich nicht nur geboren und aufgewachsen bin, sondern auch heute noch mit der Leidenschaft eines Mannes lebe, dem seine Wurzeln über alles gehen. Zu Beginn der Ereignisse war ich stolz, sagen zu können, dass ich Wilhelmshaven noch nie weiter als zweihundertzehn Kilometer und nie länger als einen Tag verlassen hatte.(Meine Eltern hatten mich als Zehnjährigen für einen Tag in den großen Ferien nach Münster geschleift, was sie danach nie wieder versucht haben, da sie aufgrund meines anhaltenden Protestgeschreis weder auf der Autofahrt noch beim Aufenthalt in der fremd-kalten Stadt auch nur eine einzige ruhige Minute bekamen, was sie nicht anders verdient hatten, da Ortsveränderungen für mich einen Akt der Gewalt darstellten, vor allem, wenn diese an einem sich überdeutlich wehrenden Kind vorgenommen wurden.) Seither hielt ich Wilhelmshaven die absolute Treue, jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt.
Das Rauschen des Meeres am Südstrand entspricht dem Rauschen in meinem Innern, wenn es mir gelingt, in tiefster Entspannung meine Gedanken auszuschalten. Das sanfte Plätschern des Wassers im Großen Hafen unweit meines Balkons spiegelt die Melodie meines Lebens wider, und peitscht der Sturm im Herbst die schaumbekränzten Wellen der Nordsee gegen die Küste, dann ist es, als würde das Minsener Seewiefken nicht nur an meiner Tür, sondern direkt an meinem Herzen klopfen.
Nachdem Rickylein seinem Frauchen auf deren alberne Frage nicht geantwortet hatte, da es sich bei dem Tier um einen Hund handelte, säuselte diese: »Das darfst du aber niecht, du kleiner Schlawiener! Pfui, pfui, pfui! Da iest das Frauchen aber ganz, ganz traurieg, wenn du so ein ungezogenes Huhndili biest.« Bei längeren Aussagen trat ihr osteuropäischer Akzent etwas deutlicher hervor und machte ihn unverwechselbar mit unserem Küstenakzent, was mich beruhigte, da Unklarheiten nicht meinem Charakter entsprechen. Falls es möglich war, nahm mich diese Veränderung ein weiteres Stück für Marietta ein.
Für sie war die Sache damit erledigt. Ricky hob gleich am Treppengeländer das Bein, um seinen Triumph mit kräftigem Strahl hochnäsig zu manifestieren. Ich rief Marietta Weinzierl zu, sie solle nur schon hinausgehen mit dem Tierchen, das kleine Malheur würde ich schnell beseitigen. Sie lächelte herzerwärmend, ich holte Eimer und Wischer.
Schon damals wurde deutlich, dass Ricky der eifersüchtigste Kläffer ist, den man sich vorstellen kann. Ein Eindruck, der sich bei jeder weiteren Begegnung bestätigen sollte: Sobald er mich nur sah, begann er zu knurren. Näherte ich mich Frauchen auf weniger als fünf Meter, bebellte er mich mit der unangenehm hohen Fistelstimme eines kaninchenhetzenden Jagdhundes. Positiv blieb, dass er nach diesem ersten Mal nicht wieder zubiss.
Leider zeigte Marietta sich jedoch auch weiterhin außerstande, das Tier in meiner Gegenwart zu bändigen, sodass es mir unmöglich war, mehr als ein, zwei Sätze mit ihr zu wechseln. Die sehnsüchtigen Blicke ihrer dunkelgrünen Augen sagten mir, dass ihr dieser Umstand ebenso missfiel wie mir. Auf ihren Stöckelschuhen stöckelte sie dahin. Mir blieb nur, ihr hinterherzublicken…
Ich fasste den Entschluss, den Hund zu bestechen. Durch eine TV-Sendung war ich im Bilde, dass bei den gierigen Vierbeinern mit Leckerlis alles zu erreichen war. Zum ersten Mal in meinem Leben betrat ich eine Tierhandlung. Ich erkundigte mich nach der Sorte Leckerlis, auf die jeder Leckerli-Fresser abfuhr. Nach halbstündiger Beratung stapfte ich bestens gelaunt mit einer Riesentüte des mir als unverzichtbar für jeden Hundefreund angepriesenen Knabberspaßes nach Hause. Dass ich kein Hundefreund war, hatte ich unerwähnt gelassen.
Während ich voller Vorfreude unserer nächsten Begegnung entgegenfieberte, machte Ricky mir, als es endlich so weit war, einen Strich durch die Rechnung. Leidenschaftslos schnupperte er an der ihm von meiner Hand(!) dargebotenen Köstlichkeit, unterbrach dafür sein Kläffen für die Dauer dieser Zehn-Sekunden-Tätigkeit. Dann schubste er den Hundekeks angewidert mit seiner feuchten Nase von meiner trockenen Hand auf das Pflaster des Gehwegs am Bontekai des Großen Hafens. Den Keks würdigte er keines weiteren Blickes. Das Bein jedoch hob er und urinierte auf die kostspielige Feinkostnahrung. Sein Kläffen gegen meine Person setzte er schon währenddessen fort.
Marietta entschuldigte sich, mich wegen des lauten Bellens mit ihrem sanft rollendenR notgedrungen anschreiend: »Sorry! Ich weiß auch niecht, was mit Tierchen los iest!«
Mit peinlich berührten Blicken ihrer grünen Augen, die mich wie stets an die unergründliche Tiefe der Nordsee denken ließen, zerrte sie den winzigen Diktator weiter. Der Schwung ihrer schwebenden Hüften betörte mich.
Nachdem ich die sündhaft teuren Leckerlis wie Giftmüll im Müllschlucker entsorgt hatte, stieß ich bei Internetrecherchen auf eine Backanleitung für Hundekekse(zubereitet mit Schnitt- und Hüttenkäse sowie Eiern), die nicht einfach umzusetzen war, dafür aber garantierte Begeisterung bei »wirklich jedem Ihrer geliebten Vierbeiner« versprach. Meine Rechnung war simpel: Wer frisst, der kläfft nicht.
Nachdem ich mit der aufwendigen Anfertigung durch war, glich meine Küche einem Schlachtfeld, mein Backofen einem Chemielabor nach gescheitertem Experiment. Ich brauchte drei Stunden, um die Küche wieder in ihren ursprünglichen Zustand zu versetzen. Ich hasse Unordnung. Die Küche benötigte ich anderntags für ein großes von mir geplantes Schollenbraten. Ich liebe Fisch, egal, ob Rotbarsch oder Knurrhahn, aber nichts geht über eine von meiner Hand in meiner Küche zubereitete Scholle, welche ich in aller Einsamkeit auf meinem Balkon mit Wasserblick und Salzkartoffeln verdrückte.
Der Himmel belohnte meine Mühe, ein Wunder geschah: Der Hund fraß die übel riechenden Teigklumpen, als habe er seit Beginn der Welt darauf gewartet. Ich staunte nicht schlecht.
Der Nachteil dieser Fressattacke bestand darin, dass der Terrier keine zwei Minuten benötigte, um inklusive des letzten Krümels alles in seinem schlanken, aber trotzdem wurstförmigen Körper verschwinden zu lassen. Deshalb kam ich trotz meines Teilerfolges auch an diesem Tag nicht zu einem ernsthaften Gespräch mit Marietta.
Nach Hause zurückgekehrt, verfiel ich in einen Hundeleckerli-Backwahn. Ich befüllte alle drei Weihnachtsgebäck-Blecheimer, die Luna bei unserer Trennung vor drei Jahren nicht mitgenommen hatte, randvoll mit Hundekuchen. Damals hatten wir noch in einer vergleichsweise schlichten Drei-Zimmer-Wohnung im Stadtteil Altengroden gelebt, in welchem ein nicht unwesentlicher Teil meines blutenden Herzens weiterhin begraben lag, da die einstmals von mir angebetete Luna noch immer dort lebte und inzwischen auch einen Hund(namens Alan) hatte. Meine hundetechnische Rechnung ergänzte ich wie folgt: Wer lange frisst, kläfft lange nicht. Während der Fresszeit des Hundes hätten Marietta und ich Gelegenheit, zu reden und vielsagende Blicke auszutauschen.
Am nächsten Tag, es war ein Samstag, füllte ich eine Tüte mit Hundebackwerk und lauerte ab neun Uhr hinter meiner Tür. Um diese Zeit verließ Marietta stets ihre Wohnung, um die erste Bontekai-Runde mit ihrem Hund zu drehen. Aber sie erschien nicht. Bis zehn Uhr dreißig wartete ich hinter meinem Türspion, dann gab ich es auf.
Ich war enttäuscht, frustriert und irritiert: Seit Marietta in diesem Haus wohnte(siebenunddreißig Samstage), war sie immer um diese Zeit aus ihrer Wohnung gekommen, um ihrem Hund einen circa dreißigminütigen Auslauf zu verschaffen. Ich hatte noch einmal in meinen Unterlagen nachgeschaut. Es gab keine Zweifel.
Mit einer billigen Erklärung versuchte ich mich selbst abzuspeisen: Vielleicht hatte sie zu lange gefeiert. Dass sie an den Wochenenden dem Alkoholgenuss nicht ganz abgeneigt war, hatte ich bereits an entsprechenden Ausdünstungen(Fahne) bei unseren samstäglichen Begegnungen festgestellt. Allerdings hielt sie dies normalerweise nicht davon ab, ihr morgendliches »Gassi mit Huhndchen« zu gehen.
Ich hatte beobachtet, dass Marietta Freitagnacht regelmäßig spät nach Hause kam. Vier Uhr war da keine Seltenheit. Für die letzte Nacht musste ich allerdings zu meiner Schande gestehen, dass ich gegen ein Uhr dreißig auf dem Sofa bei der Lektüre des Buches »Wie gewinne ich das Herz meines Hundes?« eingeschlafen und erst um fünf Uhr achtzehn wieder aufgewacht war. Eine Zeit also, zu der Marietta normalerweise bereits wieder zu Hause war.
Nachdem ich meinen Pyjama angezogen, das Buch in den Müll geworfen, mir die Zähne geputzt und mich noch einmal gründlich gewaschen hatte, war ich ins Bett gefallen wie ein Stein. Auf das Duschen und abendliche Rasieren hatte ich wegen großer Müdigkeit ausnahmsweise und mit dem festen Versprechen an mich selbst verzichtet, es nach dem Aufstehen um sieben Uhr dreißig prompt nachzuholen. Sträflicherweise, ohne bei alldem auch nur eine Sekunde an Marietta gedacht zu haben.
Manchmal hasse ich meine eigene Nachlässigkeit. Immer, wenn ich eine begehe, bereue ich es irgendwann. Das war schon als Kind so, und es zieht sich wie ein roter Faden durch mein Dasein. Ordnung und Verlässlichkeit stellen die wichtigsten Faktoren in meinem Leben dar.
Um elf Uhr dreißig, ich hatte mir eine große Kanne Kaffee gekocht und versuchte, ein wenig an dem Detektivroman zu arbeiten, an dem ich seit viereinhalb Monaten schrieb, bei dem ich aber über zweieinhalb Seiten noch nicht hinausgekommen war, hatte ich noch immer nichts von Marietta gehört. Allmählich begann ich, mir ernsthafte Sorgen zu machen. Auch neununddreißigjährige Damen konnten einem Herzkasper erliegen. Mit dem Schreiben klappte es auch heute nicht. Die ganze Zeit dachte ich darüber nach, ob ich irgendetwas tun konnte oder musste und, falls ja, was dies sein könnte. Auch wenn ich mit meinen Überlegungen nicht von der Stelle kam, war es mir doch unmöglich, länger amPC sitzen zu bleiben.
Ich ging in die Küche. Dort schnappte ich mir kurz entschlossen die kaum befüllte Mülltüte aus dem Mülleimer, um diese im Müllschlucker, der sich im Hausflur befand, zu entsorgen. Ich tat dies nicht ohne Hintergedanken, denn es bedurfte nur eines kurzen Umwegs, um an Mariettas Tür lauschen zu können, was ich nutzte. Aus ihrer Wohnung war nicht das leiseste Geräusch zu hören. War sie nicht nach Hause gekommen?
Das wäre sehr ungewöhnlich gewesen. Dann hätte der Hund seit gestern Abend, achtzehn Uhr zwölf(da hatte sie Wohnung und Haus verlassen, war von einem gut und nach viel Geld aussehenden Mann mit gepflegtem, dunklem Vollbart abgeholt worden), bis jetzt, elf Uhr siebenunddreißig, allein in der Wohnung ausharren müssen. Eine Zeitspanne also von siebzehn Stunden und fünfundzwanzig Minuten der Einsamkeit für ihren Liebling, was sie nie im Leben über ihr gutmütiges Herz gebracht hätte, welches sich hinter ihrem prachtvollen Busen verbarg. Auch war der Hund auf jeden Fall nicht dabei gewesen, als Marietta Weinzierl sich neben diesen Kerl in dessen dunkelgrünen Alfa Romeo mit Bremer Kennzeichen gesetzt hatte.
Ich hatte Schwierigkeiten, meine Beobachtungen zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen. Nach der Müllentsorgung kehrte ich in meine Wohnung zurück, um in Ruhe meine Gedanken ordnen zu können. Ein klarer Kopf ist stets die halbe Miete. Ich setzte mich auf den Balkon.
Es war einer der ersten warmen Julitage. Den Geruch des Hafenwassers assoziierte ich wie stets mit Begriffen wie Freiheit und große weite Welt. Zum Sonnetanken kam ich nicht lange, da ich zum Nachdenken keine halbe Minute benötigte. Bei näherer Betrachtung erwies die Sachlage sich als viel weniger kompliziert als zunächst von mir vermutet. Es gab nur zwei Möglichkeiten, entweder
a) der Hund war allein in der Wohnung, oder
b) Marietta und er hielten sich gemeinsam darin auf.
Die Möglichkeit c)– Marietta hatte ihn während der Nacht abgeholt, um gemeinsam mit ihm sofort wieder zu verschwinden– schloss ich mangels Wahrscheinlichkeit aus.
Bei der analytischen Auswertung der Fakten kam mir meine Ausbildung zum Privatdetektiv zugute. Diese hatte ich in Form mehrerer Online-Kurse per Fernstudium, der Lektüre zahlreicher Lehrbücher sowie einiger weniger Seminare an Volkshochschulen und ähnlichen Institutionen überaus erfolgreich absolviert.
Auch für den notwendigen Selbstverteidigungskurs hatte ich meinen Arbeitsplatz im häuslichen Büro verlassen müssen. Einen potenziellen Angreifer per Mausklick auf die Matte zu befördern ist unmöglich. Nichtsdestotrotz hatte ich auch den an einer Aikido-Schule belegten Selbstverteidigungskurs mit Auszeichnung bestanden, obwohl mir die häufige und extreme körperliche Nähe zu fremden Menschen(nach bitterem Schweiß riechenden Männern) zu schaffen machte. Aber ich hatte mich durchgekämpft und fühlte mich seither unbesiegbar.
Im Falle der(von mir) vermissten Marietta Weinzierl und des(von mir nicht wirklich) vermissten Vierbeiners blieb die Frage, warum weder von der einen noch vom anderen irgendetwas zu hören war. Der Kläffer hatte nicht mal gekläfft, als ich vor der Wohnungstür gestanden hatte, was mehr als ungewöhnlich war.
War jemand in ihre Wohnung eingedrungen und hatte beide betäubt? Lebten sie überhaupt noch? Wilde Panik ergriff mich und ließ mich nicht wieder los. Es war mir unmöglich, auch nur eine weitere Sekunde untätig in meiner Wohnung auszuharren. Handeln war das Gebot der Stunde. Ich musste an Mariettas Tür klingeln und so ihr Leben retten. Notgedrungen vielleicht auch das des Hundes.
Ich stürmte aus meiner Wohnung und tat, was getan werden musste: Ich drückte auf Marietta Weinzierls Klingelknopf. Etwas, was ich zuvor noch nie getan hatte. Unsere bisherigen Begegnungen beschränkten sich auf Treppenhaus, Straße, Gehweg vorm Haus an der Weserstraße oder am Bontekai, der fraglos hübscheren dieser beiden Möglichkeiten, da die Weserstraße an vielen Ecken doch deutlich sichtbar in die Jahre gekommen war.
Trotz gut funktionierender Klimaanlage in Wohnung und Treppenhaus trat mir der Schweiß dickperlig auf die Stirn. Deutlich hörte ich das Klingeln in der Wohnung: Ding-dong! Wie ein endloses Echo hallte es in meinem Kopf nach: Ding-dong, ding-dong, ding-dong!
Dieses Geräusch, das die Welt nicht in Unordnung brachte, hatte etwas Wohltuendes. Dann jedoch brach das Chaos in mir erneut aus, denn auch das Türläuten führte nicht zum Hundebellen. Dies konnte nur bedeuten, dass der Hund entweder betäubt oder tot war. Die theoretische Möglichkeit, dass er sich gar nicht in der Wohnung befand, hatte ich ja bereits vorher ausgeschlossen, weshalb sie für mich nicht relevant war.
Der Hund war mir zwar nicht vollständig egal, aber die Frage seines Wohlergehens ging mir auch nicht besonders nahe, nur hätte sein Ableben mich für sein ihn liebendes Frauchen traurig gestimmt. Die nun noch in Frage kommende Möglichkeit(Frauchen und er waren beide zu Hause) bedrohte mich mit Herzstillstand. Hielt Marietta sich in der Wohnung auf, dann musste zwangsläufig, da sie ebenfalls nicht auf mein mehrmaliges Klingeln reagiert hatte, auch ihr etwas ihr Wohlbefinden Betreffendes zugestoßen sein.
Ein erster Impuls veranlasste mich dazu, die Tür einzutreten. Ein Versuch, welcher schmerzhaft scheiterte. Die neuen hellgrauen Türen in den Luxuswohnungen unseres Hauses(mit Blick über den Deich auch auf den unweit liegenden Südstrand, der den Jadebusen hier begrenzte und ein weiteres Juwel Wilhelmshavens darstellte– welche andere Stadt verfügte schon über einen Nordsee-Süd-Strand?) waren so stabil, dass man sich bei einem Tritt gegen diese eher einen gebrochenen Fuß einhandelte als ein offenes Schloss. Nachdem die um meinen Kopf kreisenden Sterne, welche der stechende Schmerz im Fuß spontan ausgelöst hatte, sich erneut im Nichts aufgelöst hatten, besann ich mich eines Klügeren.
Wozu schließlich hatte ich den(nur bedingt legalen) Kurs »Wie öffne ich eine Wohnungstür ohne Schlüssel?« belegt? Ich eilte in meine Wohnung, um meine Kreditkarte zu holen beziehungsweise eine davon. Um es einem potenziellen Einbrecher so schwer wie möglich zu machen, hatte ich verschiedene Exemplare diverser Anbieter überall in der Wohnung versteckt. Leider machte ich es damit auch mir selbst schwer, denn in der Aufregung des Augenblicks hatte ich sämtliche Verstecke vergessen. So dauerte es über zwölf Minuten, bis ich endlich meine goldene Kreditkarte hinter dem Spülkasten der Toilette hervorzog. Ein Zeitraum, der in einem solchen Fall unter Umständen Menschen- und/oder Hundeleben kosten konnte.
Ich schämte mich zutiefst und war plötzlich sicher, den falschen Beruf gewählt zu haben. Derartige Zweifel befielen mich selten, aber regelmäßig. Stets jedoch wurden sie abgelöst von Phasen höchster Euphorie, in denen ich wusste, dass ich zum Detektiv geboren war.
Die negativen Gedanken verflogen schlagartig, als ich es mit Hilfe der Karte schaffte, Mariettas Tür in sieben Sekunden zu öffnen. Die besondere Drei-Sterne-Auszeichnung auf der Urkunde dieses Online-Seminars hatte ich mir wirklich verdient, das musste ich bei aller Bescheidenheit zugeben.
»Hallo!«
Mein vorsichtiger Ruf in die Wohnung verhallte unbeantwortet. Noch vorsichtiger setzte ich einen Fuß auf den hellen, weichen Teppichboden in Mariettas Wohnung, aus der mir ein abgestandener Geruch entgegendrang, der mich die Nase zuhalten ließ. In dem Detektivseminar »Was sagen uns extreme Gerüche in Wohnungen?« hatte ich gelernt, dass es für extreme Gerüche in Wohnungen vor allem zwei häufig auftretende Erklärungsmodelle gab:
a) Entweder bei dem Bewohner/der Bewohnerin handelte es sich um einen Müll-Messie, oder
b) er/sie war tot, und die Leiche verbreitete den Geruch.
Bei einer adretten Person wie Marietta Weinzierl, die bis auf die gelegentliche samstägliche Alkoholfahne stets einen gepflegten Eindruck auf mich gemacht hatte, schloss ich Möglichkeit a) kategorisch aus. Die Vorstellung b) stellte jedoch Öl im Feuer meiner Panik dar. Mein Herz schlug so wild und laut, dass es das zweite von mir in die Wohnung gerufene »Hallo!« locker übertönte.
Obwohl alle Zimmertüren geöffnet waren, fiel kaum Licht in den Flur. Die hinter den Türen liegenden Zimmer waren verdunkelt. Mit konzentrierter Präzision setzte ich einen Fuß vor den anderen. Nach einer sich unglaublich lang anfühlenden Zeitspanne erreichte ich schließlich die erste Tür auf der rechten Flurseite, hinter welcher sich die menschen- wie hundeleere Küche befand.
Sofort war jedoch erkennbar, dass sie normalerweise von Hund und Mensch gleichermaßen genutzt wurde. Auf dem Boden befanden sich zwei Näpfe, oben auf der Spüle stand sorgsam zusammengestelltes Geschirr, dem Verkrustungszustand der Speisereste nach zu urteilen vom Vorabend. Damit war klar, dass hier nicht gefrühstückt worden war. Der Fressnapf war sauber wie geleckt, während der Saufnapf, in welchem mehrere weiße Hundehaare schwammen, halb mit Wasser gefüllt war.
Typisch für Mariettas übertrieben liebevolle Haltung zu dem Vierbeiner schien mir, dass sie ihm nicht nur beschriftete Näpfe gekauft hatte, sondern solche(als könne der Banause lesen), auf denen die vermenschlichten Begriffe »Essen« und »Trinken« standen statt der unter Tieren üblichen Bezeichnungen »Fressen« und »Saufen«. Ich schob die Erkenntnisse beiseite wie einen alten Wischmopp und machte mich auf den Weg zur nächsten offen stehenden Tür. Mittlerweile ging ich davon aus, dass der mir anfangs so penetrant in die Nase gestiegene Geruch weder von einer Leiche noch von Messie-Müll stammte, sondern durch eine zu lange nicht mehr gelüftete Wohnung verursacht wurde.
Im Flur stand nichts außer einer weißen, schlicht-eleganten Kommode, auf welcher eine mittelgroße chinesische Porzellanvase thronte(für mich undefinierbar, ob es sich um eine Vase der Ming- beziehungsweise Sui- und Tang-Dynastie oder vielmehr um ein Kaufhausimitat handelte), in der sich keine Blumen befanden. Direkt daneben stand eine Telefonstation mit schick hellem Telefon. Zwischen Telefon und Vase lag eine Visitenkarte, die ich, einem unbestimmten Instinkt folgend, einsteckte und deren Existenz blitzschnell wieder vergaß. Der Text darauf:
Ubbo Dose
Hunde-Coaching und Mee(h)r
Hooksiel
2
Ich erwachte durch etwas Feuchtes und Raues, das durch mein Gesicht fuhr, wischte und wedelte wie ein verkrusteter Schwamm, begleitet von einer Wolke üblen Geruchs. Als mir klar wurde, dass der Schwamm eine Zunge war und dass es sich bei dem Gestank um Mundgeruch handelte, schreckte ich auf.
Hatte ich in meinem Dämmerzustand noch für einen Sekundenbruchteil geglaubt, es könnte sich möglicherweise um Marietta Weinzierl handeln, die mir das Gesicht abschlabberte(zumal ich mir fast sicher war, dass eine Stimme erleichtert »Er lebt!« ausgestoßen hatte), so wurde doch schnell deutlich, dass ich falschliegen musste. Unverkennbar war es die Zunge eines Tieres. Eines Hundes. Eines bestimmten Hundes. Als die bittere Wahrheit mein Bewusstsein erreichte, schoss ich so ruckartig in die Senkrechte, dass ein dröhnender Schmerz meinen Schädel durchfuhr und mich augenblicklich in die Waagerechte zurückschmetterte.
Ich lag auf einem Sofa, zwei warme Kissen liebevoll unterm Kopf und einen eiskalten Eisbeutel neben mir. Ricky, das Erschrecken nun auf seiner Seite, knurrte mich an und bellte dreimal, bevor er aus dem Zimmer raste und mich allein zurückließ.
Aufmerksam ließ ich meine Blicke durch das von orangen Vorhängen dezent verdunkelte Zimmer gleiten. Die schlicht-elegante Ausstattung des Raumes in modern italienischem Design ließ mich ebenso wenig wie die Anwesenheit des Köters daran zweifeln, dass ich mich weiterhin in Mariettas Wohnung befand.
Mein zweiter Versuch, mich aufzurichten, funktionierte. Ich schnappte mir den Eisbeutel und presste ihn zentral auf meinen Kopf, denn genau hier war die Vase zerschellt. Wie ich unter dem Beutel schmerzhaft ertastete, befand sich dort eine dicke Beule. Noch während meiner Selbstuntersuchung betrat Marietta den Raum, einen Schritt voraus der wie immer schwanzwedelnde Hund. Offenbar hatte er sein Frauchen geholt, um dieses auf mein Erwachen aufmerksam zu machen. Ein zugegebenermaßen kluges Tier.
»Was machen Sie ien meiner Wohnung?«, fragte Marietta, nicht wütend, aber doch mit dem unverkennbaren Unterton aufrichtiger Empörung. Dass ich meine Gedanken noch nicht wieder vollständig beisammenhatte, wurde mir daran bewusst, dass bereits diese einfache Frage mich überforderte.
»Ich sitze auf dem Sofa«, antwortete ich schwachsinnigerweise, wenn auch wahrheitsgetreu, »und ertaste die Beule auf meinem Kopf.«
Beinahe glaubte ich, den winzigen Hauch eines furchtbar kleinen Lächelns über Mariettas Gesicht huschen zu sehen. Dann jedoch sagte sie ernst: »Warum Sie ien meine Wohnung eingdruhngen siend, wiell iech wiessen. Siend Sie ein Einbrecher? Muss iech policja rufen?«
In diesem Moment wurde mir klar, dass sie es war, die mir die Vase über den Schädel gezogen hatte. Der Hund kläffte einmal kurz. Wie bei einem polizeilichen Verhör starrte er mich an, ohne sein Schwanzwedeln einzustellen. Ich fühlte mich in die Ecke gedrängt und suchte nach den richtigen Worten für eine einleuchtende Erklärung. Ich stammelte etwas von »Privatdetektiv«.
»Das weiß iech.« Endlich nahm Marietta Platz auf dem großen, mit türkisfarbenem Brokat bezogenen Sessel, der auf der anderen Seite des Tisches stand, und entspannte so die Situation deutlich. Ich war nicht in der Lage, auszublenden, dass ihr ohnehin schon kurzes gelbes Sommerkleid noch ein gutes Stück höher rutschte und so weite Teile ihrer wohlgeformten Oberschenkel preisgab. Leider war ich auch nicht in der Stimmung, es zu genießen.
Der Köter fing nun an, wie aufgezogen durchs Zimmer hin und her zu laufen, ohne sein vollständig unangebrachtes Schwanzwedeln auch nur eine Sekunde zu unterbrechen. Unübersehbar hatte er sein Vergnügen an meiner misslichen Lage gefunden. Über diese Gedanken hätte ich beinahe Marietta vergessen, die jetzt sagte: Privatdetektiv! Dass ich nicht gröle! Ein Depp bist du, sonst nichts!
Über den seltsamen und vollständig akzentfreien Klang ihrer Stimme wunderte ich mich ebenso wie über den aggressiven Inhalt ihrer Aussage. Dann jedoch fügte sie, nach einem kurzen Räuspern wieder mit gewohnter Stimme, beschwichtigend hinzu:
»Steht ja groß genug an Iehrer Tür. Haven-Detektiev effektiev!«
Ein plötzlicher Schwindel befiel mich. Ich hörte Marietta weiterreden, aber einzelne Worte konnte ich nicht mehr verstehen. Mir wurde schwarz vor Augen. »Darf ich mich wieder hinlegen?« Ich war über mich selbst erstaunt. Ohne eine Antwort abzuwarten, bettete ich mich zurück aufs Sofa, wohin ich weiter gehörte. Einen Moment lang befürchtete ich, erneut das Bewusstsein zu verlieren, was jedoch nicht eintrat. Der Hund drapierte sich unmittelbar vor Mariettas Sessel und starrte mich wieder an wie ein Folterknecht.
»Nun sagen Sie schon«, forderte Marietta mich auf. »Was haben Sie ien meiner Wohnung gesucht?«– Spuck es aus, fügte eine mir unbekannte Stimme hinzu.
»Ich hab mir Sorgen gemacht!«, rief ich fast.
Der Hund bellte. Marietta sah mich verblüfft an.
»Sorgen? Wieso denn Sorgen? Sorgen um wen?«
Umständlicher als nötig richtete ich mich erneut auf.
»Um Ihren Hund«, stieß ich hervor. »Um Ihren Hund habe ich mir Sorgen gemacht.« In ihrer Ungläubigkeit einträchtig starrten Frauchen und Hund mich an und stellten sich mir als unzertrennliche Einheit dar.
Um wen?, fragte Marietta verblüfft. Ihre Stimme war wieder merkwürdig belegt.
Hatte ich mich so unklar ausgedrückt? Langsam begann ich, an meinem Verstand zu zweifeln, wenn auch nur in leichten Ansätzen. Dann aber erlöste Marietta mich, indem sie nach erneutem Räuspern sagte: »Weshalb haben Sie siech denn um Riecky Sorgen gemacht?«
»Er hat nicht gebellt«, sagte ich.
Hund und Frauchen ließen mich nicht aus den Augen.
»Er bellt sonst immer, wenn ich den Hausflur auch nur betrete.« Ich war nicht unzufrieden mit meiner Erklärung. Marietta jedoch ließ sich nicht so leicht abspeisen.
»Wenn er niecht ien Wohnung iest«, meinte sie, »kann er auch dann niecht bellen, wenn Sie den Hausflur betreten.«
Eine zwar einfache, aber logische Beobachtung, welcher der Hund sich durch verwundertes Schieflegen des Kopfes anzuschließen schien. Wieder wedelte er mit dem Schwanz und zwinkerte mir zu. Wahrscheinlich hatte er ein Staubkorn ins Auge bekommen.
Ein ebenso überraschender wie oberflächlicher Anflug von Sympathie für ihn erschöpfte sich schnell. Das unterschwellige Wissen, dass er es war, der mich in meinen Erklärungsnotstand geführt hatte, ließ keine Gefühlsduseleien zu. Ich benötigte einen verbalen Befreiungsschlag. Meine Gedanken liefen auf Hochtouren. Dem Hund wurde es derweil langweilig. Er streckte sich auf dem Boden aus und gähnte mit weit aufgerissenem Maul, ohne mich aus den Augen zu lassen.
Ich stand unmittelbar davor, eine erneute bohrende Kopfschmerzattacke vorzutäuschen, um den bohrenden Fragen auszuweichen, als mir doch noch eine bessere Lösung einfiel.
»Warum haben Sie mich niedergeschlagen?«
»Na, hören Sie mal«, verteidigte sich Marietta empört. »Iech hielt Sie für einen Einbrecher. Und wenn iech es genau betrachte, waren Sie ja auch einer.«
»Aber einer mit edelsten Absichten!«, konterte ich gezielt. »So jemandem zieht man doch nicht einfach eine Vase über den Schädel.« Der Hund steigerte sich weiter in sein obsessives Gähnen. »Sie müssen mich doch erkannt haben.«
»Von hienten? Bei der schwachen Beleuchtung? Ien meine Paniek? Das kann jetzt aber niecht Iehr Ernst sein!«
Wir waren an einem Punkt des Gesprächs angelangt, an dem ich nur die Möglichkeit sah, entweder die Diskussion weiter zu vertiefen oder diese abrupt abzubrechen. Da die erste Möglichkeit Gefahr lief, mich weiter von Marietta zu entfernen, entschied ich mich für die zweite.
»Ich bin in Ihre Wohnung eingedrungen«, erklärte ich, »weil ich instinktiv davon ausging, dass Gefahr im Verzug war. Und auf meine Instinkte kann ich mich stets verlassen.«
»Iehre Ienstinkte waren also wieder einmal ien Ordnung«, erwiderte Marietta todernst. »Gefahr war ja tatsächliech iem Verzug. Und zwar ien Form einer Vase.«
»Ming- oder Sui- und Tang-Dynastie?«, fragte ich.
»Weiß niecht«, meinte sie trocken. »Iech hab sie aus einem Kaufhaus ien Bremen.«
Ich musste lachen. Der Hund sah mich verständnislos an und verließ unter stillem Protest den Raum, während Marietta meinen staubtrockenen Humor teilte. Jedenfalls lachte sie herzhaft mit. Minutenlang kriegten wir uns nicht wieder ein. Je mehr sie lachte, umso hübscher wurde sie.
Irgendwann aber ist auch das schönste und längste Lachen der Welt vorbei, weshalb es unserem Lachen nicht anders erging. Nachdem wir uns beruhigt hatten, war unsere Stimmung so beklommen, als hätten wir etwas Verbotenes getan. Für dieses Gefühl machte ich das affige Verhalten des Hundes verantwortlich, dessen Namen Marietta nun rief.
»Wo biest du denn, meine kleine Scheißer?«
Aber der kleine Scheißer kam nicht.
»So lieb er auch iest«, sagte sie erklärend, »wenn man iehn ruft, dann kommt er einfach niecht.« Es folgte mütterlicher Stolz. »Er hat einen sehr starken eigene Wiellen und setzt iehn auch durch. Das mag iech bei Männern… äh, iech meine natürlich, bei Huhnden.«
»Vielleicht mag er seinen Namen nicht?«
»Meinen Sie wierkliech?«
Das Tier schielte um die Ecke und betrachtete mich mit einem gewissen Erstaunen.
»Kleiner Scherz«, sagte ich locker. »Ich glaub, dafür ist er einfach zu bl… Ich meine, dafür fehlt ihm schlicht die Intelligenz.«
Leise knurrend zog Ricky von dannen.
»Mögen Sie keine Huhnde?« Marietta Weinzierls Enttäuschung war nicht gespielt.
Doch, am liebsten gegrillt. Ich verkniff mir den Scherz aus taktischen Gründen.
»Das ist aber schade. Ich war mier siecher, dass Sie ein Tierfreund siend. Schon wegen Leckerlie.«
»Natürlich bin ich ein Tierfreund«, log ich, dass sich die Balken bogen. »Vor allem ein Hundefreund. Je kleiner, umso besser.«
»Iech wusste es!«, rief Marietta begeistert. »Deshalb hab iech auch sofort an Sie gedacht.« Sie richtete den Eisbeutel auf meinem Kopf neu aus. Sie roch nach… nach… sagen wir, nach einer Sommerwiese mit herrlichsten Blumen. Der Duft benebelte mich. Mit einer Hand berührte sie meine Schulter, mit der anderen meinen Kopf. Heiße und kalte Wellen durchrieselten mich. Den Eisbeutel spürte ich dagegen gar nicht mehr, möglicherweise war das Eis geschmolzen.
»Iech mag gar niecht fragen«, zierte sie sich. »Es iest vielleicht ein biesschen unverschämt. Wier kennen uns ja kaum. Noch…«
Das letzte Wort klang verheißungsvoll.
»Fragen Sie!«
»Würden Sie siech eine Weile um Riecky kümmern?«
Mein Herz drohte mir aus dem Hals zu springen wie ein Tischtennisball. Marietta liebte ihren Hund abgöttisch! Das bedeutete, dass sie mich in ihr Leben einbezog! Vor Begeisterung verpasste ich eine Antwort. Marietta Weinzierl, die empfindliche Seele, deutete dies falsch und glaubte, mich noch überreden zu müssen.
»Natürliech iest er niecht iemmer ganz einfach, aber er iest eine so liebe Kerlchen. Sie werden siech gar niecht wieder trennen wollen, Sie…« Einen Moment lang glaubte ich, sie würde zu weinen beginnen, während ich auf Wolke sieben schwebte. »…Das iest sehr enttäuschend für miech. Iech war mir fast siecher, dass du, dass Sie…«
»Natürlich nehme ich das Kerlchen!«, stieß ich schnell hervor. »Machen Sie sich keine Sorgen. Es ist mir eine riesige Freude, Ihnen unter die Arme greifen zu können.« Mit Hilfe meiner Multitasking-Fähigkeiten hatte ich bereits während des Gesprächs beschlossen, einen ausgeprägten Spaziergang mit dem Köter zu machen, um ihn mal so richtig an die Kandare zu nehmen.
Dann passierte etwas, das vielleicht nie hätte passieren dürfen: Marietta Weinzierl sprang vor Begeisterung auf, drückte mir einen feuchten Kuss auf die Wange und einen weniger feuchten auf den Mund. Ich zuckte zusammen. Sicher gab es kaum etwas, mit dem sich Viren, Bazillen und Ähnliches besser übertragen ließen als durch Speichel, der von einem Mund in einen anderen floss. Als ich Marietta Weinzierls Erdbeermund jedoch zärtlich auf meinen Lippen und ihr wohlgeformtes Gesäß auf meinen Oberschenkeln spürte, vergaß ich meine gesundheitlichen Bedenken und verlor erneut das Bewusstsein.
Da hatte ich also den Salat! Oder, besser gesagt, den Hund. Und zwar an den Hacken. Eins meiner größten Probleme war schon immer, dass ich zu großzügig wurde, wenn eine mir gefallende Frau sich mir zuneigte. Ich bin dann nicht mehr Herr meiner Sinne, verliere die Kontrolle über Willen und Entscheidungskraft, die ansonsten bei mir extrem stark ausgeprägt sind, weshalb ihr Verlust besonders schmerzlich ist. Ich hatte mich getäuscht. Marietta drückte mir ihren Terrier nicht für ein paar Stunden auf, auch nicht für einen Tag, sondern für eine Woche.
Schon bevor ich das begriffen hatte, hatte ich zugesagt, und für eine Rücknahme meiner Einverständniserklärung war es nach Eintritt meiner Ohnmacht zu spät. Zu allem Überfluss war ich nicht indiskret genug, um nach Ziel und Gründen ihrer Reise zu fragen. Ein Umstand, den ich später noch bereuen sollte.
Als ich mich schließlich zum Verlassen der Wohnung vom Sofa erhob, hatte Marietta mich bereits so in ihren Bann gezogen, dass ich sie fragte, ob ich das Hundchen vielleicht gleich mitnehmen sollte. Sie lehnte ab, drückte mir aber Körbchen sowie Näpfe in die Hand und begann, im Schlafzimmer eilig einen riesigen Koffer zu packen.
»Iech brieng Riecky dann gleich zu Iehnen!«, rief sie hektisch.
Ich verzog mich mit den Hunde-Utensilien in meine Wohnung. Eine halbe Stunde später stand Marietta mit Hund vor der Tür. Zwei weitere Minuten später stand dann ich mit Hund sowie ausführlichen Hinweisen, welches »Fresserchen« ich ihm zu kaufen hatte und welches er konsequent verschmähte, allein in meiner Wohnung. Das Geld für das Gefressene würde sie mir später zurückerstatten.
Zuletzt hatte Marietta mir erklärt, das putzige Kerlchen könne nachts nur im Schlafzimmer zur Ruhe kommen. Zum Abschied hatte sie ihn geküsst und mich nicht. Aufgrund ihrer plötzlichen Eile hatte sie vergessen, mir ihre Handynummer zurückzulassen, was mich sehr betrübte. Zwar hatte ich ihr meine gegeben, aber zum von mir angestrebten Austausch war es nicht mehr gekommen. Jedoch ging ich davon aus, dass sie ihrer Ankündigung gemäß regelmäßig bei mir anrufen würde, um das Befinden ihres Lieblings abzufragen.
Nach den geschilderten Ereignissen versuchte ich, mein Leben so normal weiterzuleben wie möglich. Die ersten Tage meiner neuen Zwangsgemeinschaft lief das auch wie am Schnürchen. Der Hund war zwar exzentrisch und launisch, bemühte sich jedoch nach seinen bescheidenen Möglichkeiten um Anpassung.
So bellte er nicht über ein für einen Kläffer wie ihn unumgängliches Maß hinaus, kackte nicht in Innenräumen und hob während der ersten drei Tage nur schlappe sieben Mal das Bein an verschiedenen Türpfosten meiner Wohnung.
»Dat tut der bloß, um sein Revier zu markieren, und dat is ja nu neu«, erklärte der von mir konsultierte Hooksieler Hundecoach Ubbo Dose, dessen Karte ich in meiner Tasche wiedergefunden hatte. Der Mann entpuppte sich als etwa dreiundvierzigjähriger Sonderling mit uraltem Bulli, feuerrotem zotteligem Haar und ebensolchem Vollbart, welcher sich meinem geübten Ohr durch Slang und Aussprache leicht als Ostfriese verriet– ich tippte auf die Westrhauderfehner Gegend–, wozu ich erklären muss, dass weder Wilhelmshaven noch das umliegende Jever- oder Wangerland zu Ostfriesland gehören, was fälschlicherweise von Nicht-Insidern oft vermutet wird und wogegen jeder Friese sich mit Händen und Füßen wehrt. Ein Friese ist kein Ostfriese, und Jever ist nicht Wittmund. Peng!
Dies, und hiermit zurück zum aus Ostfriesland eingewanderten Dose und dem Terrier, sei jedoch »total normal«, sogar »doll, jedenfalls nich unbedingt verkehrt. Der weiß, wat der will, aber dat geiht fix wieder vorbei, dat glöv mi man.«
Falls aber nicht, so bot er mir an, könne ich ihn(Dose) natürlich gern noch einmal konsultieren(gegen das gleiche Spotthonorar von fünfzig Euro), was ich aus folgenden Gründen von vornherein strikt ablehnte:
a) wirkte der selbst ernannte Hundefachmann aus Ostfriesland(Potshausen?) auf mich inkompetent bis hilflos,
b) stellte die wandelnde Weißwurst noch am selben Tag seine nassen Schweinereien im Innenbereich ohne weitere Ermahnungen ein, und
c) war Dose mir nicht nur zu teuer, sondern auch unsympathisch.
Zu sagen, er habe einen verschlagenen Eindruck auf mich gemacht, wäre zwar übertrieben, aber tendenziell stimmte die Richtung. Hätte ich nach einem Freund gesucht(was ich noch nie im Leben getan habe), dann nicht bei ihm. Es wunderte mich nicht, dass der aus Ostfriesland Zugereiste auf dem halb verfallenen Hof beim zum Wangerland gehörenden Hooksiel offenbar allein lebte. Eine Frau jedenfalls sah man hier weit und breit nicht.
Er war der Typ leicht bis mittelschwer muffelnder Einsiedler im selbst gestrickten Schafwollpullover, um den jedes weibliche Wesen einen Bogen schlug, welcher sie so weit wie möglich von ihm fernhielt.
Für Rickys Freundlichkeit des Nicht-mehr-in-die-Wohnung-Urinierens revanchierte ich mich, indem ich die Zahl täglicher Gassigänge von fünf auf sieben hochschraubte.
All diese gemeinsamen Ausflüge gingen an den Bontekai vor der Tür, die längeren weiter um das gesamte Becken des Großen Hafens herum, was einen attraktiven Marsch darstellte. Obwohl das regelmäßige Aufeinandertreffen mit anderen Hundebesitzern, die stets ein Schwätzchen anstrebten, mir auf die Nerven ging. Den meisten dieser aufdringlichen Zeitgenossen machte ich jedoch schnell klar, dass ich an dem oberflächlichen Austausch von Belanglosigkeiten keineswegs interessiert war.
Ricky kackte morgens und abends. Neben dieser Regelmäßigkeit, die mir zusagte, möchte ich positiv anmerken, dass er sich hierfür stets ins Gebüsch zurückzog. Die braunen Tütchen, die ich immer griffbereit in der Tasche mitführte, waren überflüssig.
Wer kackt, muss fressen, was Ricky ausgiebig tat und dabei keinerlei Anzeichen von Heimweh nach Frauchen zeigte, was ich nicht verstehen konnte. Warum verweigerte er nicht vor Gram das Fressen? Nicht nur verweigerte er strikt eine solche Verweigerung, vielmehr fraß er, was das Zeug hielt. Wenn er so weitermachte, drohte sein Aufenthalt kostspielig zu werden. Trotzdem verliefen die ersten Tage im Vergleich zu den Nächten erträglich.
Schnell wurde mir klar, weshalb das von Marietta mitgegebene Schlafkörbchen unbenutzt aussah: Es war genau dies! Der Hund bevorzugte den Schlaf im menschlichen Bett. Nicht an einer x-beliebigen Bettstelle, sondern konkret neben dem menschlichen Kopf. Als ich ihm mein zweites Kissen verweigerte, wurde er ungemütlich, was seinem Ansehen bei mir schadete.
Nacheinander verfrachtete ich ihn mit Körbchen in Badezimmer, Küche, Wohnzimmer, stets kehrte er zurück.
Einmal riss er mir das Kissen unterm Kopf weg, was meine Toleranzgrenze überschritt. Trotzdem knurrte ich ihn nicht an, obwohl ich dies kurz in Erwägung zog, damit wir die gleiche Sprache sprachen. Mariettas Aussage, er könne nur im Schlafzimmer nächtigen, betrachtete ich seither mit anderen Augen. Als ich die Tür schloss, kratzte der Hund auf der anderen Seite und jaulte zum Steinerweichen.
Einmal wäre ich aus Versehen trotzdem fast eingeschlafen. Dann aber hörte ich im Traum den Ruf: Aufmachen, aber sofort!Sonst kracht’s! Die Stimme kam mir bekannt vor, da sie der Stimme Mariettas glich, die ich am Rande meiner ersten Ohnmacht in ihrer Wohnung vernommen hatte. Ich verfrachtete die bellende Weißwurst ins Wohnzimmer, dessen Tür ich jetzt schloss, damit ich das Kratzen nicht mehr hörte.
Danach kläffte er im Wohnzimmer so laut, dass ich ihm in Form des Fußendes einen Kompromiss anbot. Er jedoch gab sich nicht zufrieden und verlangte das zweite Kopfkissen als Zugabe. Dass ich ihm dieses erfolgreich verweigerte, sah ich als Triumph des Intellekts gegenüber der triebgesteuerten Kreatur an. Dass die Wurst schnarchte, nahm ich kaum noch wahr, da ich vor Erschöpfung schon bald einschlief.
3
Es war der erste Klient seit zweiundzwanzig Tagen. Der letzte war ein alter Mann gewesen, der Hilfe bei der Suche nach seinem entflogenen Wellensittich Hansi gesucht hatte. Er hatte das Büro am Ende unseres kurzen Gesprächs jedoch ohne Erteilung eines detektivischen Auftrags wieder verlassen. Der Grund seines überhasteten Aufbruchs lag darin, dass ich angeblich nicht genügend Anteilnahme an Hansis Schicksal zeigte. Versehentlich hatte ich den Sittich als Geflügel bezeichnet und in einem Nebensatz darauf hingewiesen, dass ich soeben Chickenwings verspeist hätte und diese(gleich hinter Schollen und Miesmuscheln) meine Lieblingsspeise darstellten. Dabei hatte ich seinen meine Fähigkeiten beleidigenden Auftrag nicht von vornherein abgelehnt, was sehr freundlich von mir gewesen war.
Der jetzige Hilfesuchende jedoch hatte ein ganz anderes, in meinen Augen weit ernsthafteres Problem: Seine Frau ging fremd.
So jedenfalls seine Befürchtung. Der Mann hatte etwas seltsam Neutrales in Aussehen und Ausstrahlung. Sein Name war Janßen. Würde per Computer ein Bild des Wilhelmshavener Durchschnittsmannes um die fünfzig erstellt, käme ein Porträt meines Klienten heraus. Kurz geschnittenes, leicht schütteres, mittelmäßig angegrautes Haar, etwas zu langer Schnurrbart, circa eins achtzig groß, geschätzte achtundneunzig Kilo schwer, unauffälliger Kleidungsstil.
Er roch nach Frittenfett und Grillbratwurst, was mich zunächst erstaunte, sich jedoch schnell aufklärte: Herr Janßen war Betreiber eines kleinen Imbisswagens mit dem(von mir aus Diskretionsgründen geänderten) Namen »Pommes-Schranke«, in welchem er laut eigener Aussage täglich zwölf Stunden zubrachte, teilweise an verschiedenen Standorten Wilhelmshavens, wofür ein Wagen sich ausgesprochen gut eignete. Trotz seines typischen Wilhelmshavener Namens war er dem Ruhrpott entsprungen. »Recklinghausen«, kicherte er unmotiviert und freudlos. »Bin hier hängen geblieben nach ein paarmal Urlaub aufm Schilliger Campingplatz.« Das war auch nichts Neues: Nordrhein-Vandalen campen in Schillig und bleiben an Landstrich und Nordsee hängen. »Bei mir wegen de Weibers schon damals«, erklärte Janßen schwermütig.
Der von mir ausgesperrte Hund kratzte aufdringlich an der Tür. Außerdem war da ein Geräusch, als versuche er, an dieser hochzuspringen wie zuvor an Herrn Janßen. Ich bemühte mich, dies zu überhören. Als Herr Janßen mir ein Foto seiner Gattin im Bikini zeigte, begriff ich sofort, warum er entweder
a) krankhaft eifersüchtig oder
b) ein gehörnter Ehemann beziehungsweise
c) beides gleichzeitig war.
Die Frau war ein echter Kracher. Bestimmt fünfzehn Jahre jünger als Janßen und eine Figur, die meine langsam in den Hintergrund getretenen Gedanken an Marietta neu belebte. Zu indiskreten Detailbeschreibungen lasse ich mich jedoch nicht hinreißen.
Mitleidig reichte ich Herrn Janßen das Foto von Frau Janßen zurück. Wäre ich ehrlich gewesen, hätte ich ihm gesagt, dass er die Sache, vor allem aber Frau Janßen, vergessen solle. Und zwar so schnell wie möglich.
»Wie lange sind Sie bereits verheiratet?«, fragte ich professionell und notierte die Antwort: »Noch kein halbes Jahr.«
»Wo haben Sie Frau Janßen kennengelernt?« Die Frage war reine Formsache, da ich die Antwort bereits ahnte.
»In Bromberg«, bestätigte er, »dem heutigen Bydgoszcz. Polen.«
Natürlich hatte ich die Stadt nicht wissen können, aber ihr Herkunftsland wunderte mich nicht besonders. Wie bereits erwähnt, war Bydgoszcz Wilhelmshavens polnische Partnerstadt.
»Über eine Agentur?«
»Das geht Sie nichts an.«
»Dann kann ich Ihnen nicht helfen«, sagte ich– nach außen sachlich, nach innen beleidigt.
»Polski Tenderness«, nuschelte er.
»Wie bitte?«
»Polski Tenderness!«, brüllte er mich an. »Sind Sie schwerhörig?«
»Polnische Zärtlichkeit«, übersetzte ich unbeteiligt. »Hübscher Name. Zeigen Sie mir doch noch einmal das Foto.«
Herr Janßen gehorchte. Ich warf einen kurzen Blick auf die Frau und reichte ihm das Foto schweren Herzens zurück.
»Vergessen Sie Frau Janßen!«, sagte ich. »Und zwar so schnell wie möglich.«
Herr Janßen sah mich an, als würde ich nicht richtig ticken. »Wie bitte?«
Über den zwischen uns stehenden Schreibtisch hinweg beugte ich mich Janßen entgegen, um ihm bei meiner Erklärung etwas näher zu sein. Menschliches Einfühlungsvermögen stellt einen großen Teil meiner beruflichen Anforderungen dar.
Die Tür sprang auf, schwanzwedelnd trat der Hund ein. Er war auf die Klinke gesprungen und platzierte sich nun zentral unter dem Schreibtisch. Kurz schnupperte er an Janßens Bein herum, ohne sein eigenes an diesem zu heben.
»Schauen Sie«, sagte ich, »lieber Herr Janßen. Dass Sie sich an meinem Ihnen gegenüber anfangs etwas distanzlos aufgetretenen Gasthund vorbei allen Widerständen zum Trotz…«
»Das ist wenigstens noch ein Hund«, unterbrach mich Janßen. »Ilonka hat so einen winzigen mit Schleife auf dem Kopf. Sie ist ganz närrisch mit der Fußhupe. Hildburg heißt die, peinlich genug.«
»Also«, nahm ich den Faden wieder auf, »dass Sie sich trotz aller Widrigkeiten zu mir an diesen Schreibtisch gesetzt, mir Ihr Anliegen vorgetragen und ein so offenherziges Foto Ihrer extrem attraktiven Gattin gezeigt haben…«
»Sogar zweimal«, unterbrach er mich.
»Sogar zweimal, absolut richtig. Das alles beweist mir die vollständige Ernsthaftigkeit Ihres Anliegens.«
»Hätten Sie andernfalls daran gezweifelt?« Kurzfristig schien er selbst zu zweifeln. Und zwar daran, bei mir richtig zu sein.
»Aber nein.« Mir wurde bewusst, dass ich mich zu kompliziert ausgedrückt hatte. Der Imbissfritze war ein schlichter Kerl mit einfachem Gemüt und leicht unterdurchschnittlichem Verstand.
Ich neigte schon immer dazu, mich in komplizierten Situationen noch komplizierter auszudrücken, womit die komplizierten Situationen dann häufig noch komplizierter werden. Dabei handelt es sich um eine Art Mechanismus, gegen den ich mich nicht wehren kann, was mir ein Psychotherapeut bescheinigt hat, von dem später noch die Rede sein wird.
»Ich wollte nur zum Ausdruck bringen«, versuchte ich zu retten, was zu retten war, »dass es vermutlich auch künftig schwer sein wird, andere Männer dazu zu bewegen, ihre Hände von Ihrer Gattin zu lassen.«
»Was soll das denn heißen?« Janßen konnte das Gehörte nicht glauben, machte ein verstörtes Gesicht. »Sie sollen doch…«
»Ich weiß, lieber Herr Janßen, ich weiß. Ich soll nur herausfinden, ob Frau Janßen Sie betrügt.«
»Genau!«, rief er erleichtert. »Und wenn ja, dann, mit wem. Damit ich den Kerl eigenhändig kaltmachen kann.« Der letzte Satz war mit so erschreckend wenig Überzeugung gesprochen, dass ich eine ernsthafte Gefahr für den Liebhaber der Frau Janßen nicht erkennen konnte, was es mir erlaubte, trotz der eigentlich kolossalen Drohung ruhig sitzen zu bleiben und den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen. Meiner Einschätzung nach bestand kein konkreter Handlungsbedarf.
»Das Problem ist«, sagte ich sensibel, »dass ich Ihnen den ersten Teil Ihrer Frage auch so beantworten kann.«
»Ob Ilonka fremdgeht?«
»Genau. Dafür brauchen Sie mir keinen Auftrag zu erteilen. Die Antwort ist so leicht herauszufinden, dass ich dafür kein Geld von Ihnen nehmen kann. Die Sache liegt auf der Hand. Zeigen Sie mir noch einmal das Foto… Ja, die Sache ist kostenlos.«
Staunend, wenn nicht bewundernd, blickte Janßen mich an.
Idiot!, sagte dagegen eine innere Stimme so deutlich, als käme sie unter dem Tisch hervor. Irritiert sah ich nach, aber dort befand sich keine innere Stimme, sondern nur der Hund, der sich erstaunlich ruhig verhielt. Anscheinend hatte er sich an den Eindringling gewöhnt.
»Frau Janßen«, erklärte ich selbstbewusst, »betrügt Sie, Herr Janßen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. So leid es mir für Sie tut, ist es doch die Wahrheit.«
Herr Janßen war eine grundsätzlich blasse Person mit fahlem Teint. Jetzt jedoch wurde er noch blasser, und die Fahlheit seines Teints verschärfte sich bedrohlich.
»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte ich empathisch. Meine Sorge war echt, da ich keinen Schimmer hatte, was im Fall einer möglichen Herzattacke zu tun war. Beim Erste-Hilfe-Kurs speziell für Privatdetektive war ich zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, von denen ich jetzt nicht mehr wusste, um was es sich gehandelt hatte.
Auch der Hund war aufmerksam geworden, kam nervös unter dem Tisch hervorgeschossen, blieb dann jedoch sofort sitzen und betrachtete Janßen aufmerksam, wobei er kurzfristig den Kopf schief legte, als mein angehender Klient ein zackig quietschendes Stöhnen von sich gab. Dass er(der Hund) dann sofort wieder mit dem Schwanz wedelte, beruhigte mich.
»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte der sich langsam wieder berappelnde Imbisskönig. »Sie kennen meine Frau doch gar nicht.« Er zückte ein Taschentuch, mit dem er sich vergeblich um die Beseitigung eines Schweißfilms bemühte, welcher sich auf seiner Stirn gebildet hatte.
»Ich kann eins und eins zusammenzählen«, sagte ich unterkühlt. Dabei diente mir Humphrey Bogart in der Rolle des Philip Marlowe als Vorbild. Innerlich hatte ich die beschuhten Füße auf den Tisch gelegt, einen Hut auf dem Kopf und rauchte lässig eine Zigarette, obwohl ich seit über zehn Jahren überzeugter Nichtraucher war, in mir drinnen jedoch hin und wieder eine qualmte. »Gucken Sie sich Ihre Frau doch nur an, Mann«, grummelte ich. »Eine echte Femme fatale.«
Tatsächlich betrachtete der Gehörnte noch einmal das Foto, welches sich in seinen feuchten Händen allmählich wellte.
»Da juckt es doch jeden normalen Kerl in den Fingern«, sagte ich schnell, bevor er irgendeinen Blödsinn von sich geben konnte.
Hast du sie noch alle?, fragte meine neu entdeckte innere Stimme, von der ich nicht hoffte, dass sie sich zur Dauereinrichtung entwickelte.
»Wieso?«, fragte ich versehentlich zurück, sah meinen Fehler aber sofort ein und tat, als hätte ich nichts gesagt.
Das muss ich dir jetzt nicht echt erklären, oder?, antwortete die Stimme trotzdem. Ich ignorierte sie gekonnt.
Janßen betrachtete noch immer das Foto seiner praktisch nackten Gattin. Ein gewisser Stolz umspielte seine spröden Lippen. Ich verstand ihn.
»Sie haben recht«, gab er schließlich von sich wie in Trance. Dann entschlossener: »Aber allein der Wunsch berechtigt doch nicht zum Zugriff.« Wieder schwand die Sicherheit. »Oder?«
Oh Mann, stöhnte meine innere Stimme. Der ist genauso blöd.
»Schnauze!«, zischte ich.
»Wie bitte?«, fragte Janßen.
»Ach nichts«, gab ich zurück.
Langsam fing diese innere Stimme wirklich an, mir auf die Nerven zu gehen. »Zurück zu Ihrer Frage, Herr Janßen: Das liegt natürlich im Auge des Betrachters.«
»Was?«, fragte Janßen, der den Faden verloren hatte. »Was liegt im Auge des Betrachters?«
»Ob ihn der Anblick einer solchen Frau zum Zugriff verführt.« Marlowemäßig ließ ich keinen Zweifel daran aufkommen, dass mein Standpunkt bei einem eventuellen Aufeinandertreffen klar wäre.
Bekloppter Angeber!
Herr Janßen sah aus, als würde er versuchen, seine durcheinandergeratenen Gedanken zu ordnen. Eine Übung, die ich von mir selbst nur allzu gut kannte. Dann sagte er: »Womit wir bei der zweiten Frage sind.«
»Die da wäre?« Jetzt hatte ich den Faden verloren.
Auweia!
»Mit wem betrügt Ilonka mich?«, erklärte Herr Janßen. »Wie soll ich ihn umbringen, wenn ich nicht weiß, wer er ist?«
Jetzt aber! Oder willst du wieder leer ausgehen, Trottel?
»Und das soll ich für Sie herausfinden?«
»Ja natürlich«, sagte Janßen skeptisch. »Deshalb bin ich ja hier. Sie sind doch Detektiv, oder?«
Weiter oben habe ich behauptet, nach Janßens Besuch ein Problem gehabt zu haben. Das jedoch ist nur die halbe Wahrheit, denn ich hatte zwei:
a) einen Beschattungsauftrag und
b) eine immer lautere und aufmüpfigere innere Stimme.
Das Problem an Problem a) war, dass ich es im Grunde meines Herzens verabscheue, andere Personen zu überwachen und im Erfolgsfall ans Messer zu liefern. Vor allem, wenn es sich hierbei um eine attraktive Dame handelt. Ein solches Verhalten liegt mir nicht.
In all meinen bisherigen drei Fällen habe ich aus diesem Grund meine Auftraggeber am Ende belogen und als Warnung an künftige Auftraggeber ein Schild mit dem von mir formulierten Leitspruch über meinen Schreibtisch gehängt:
»MANCHMALSINDLÜGENDIEBESSEREWAHRHEIT!«
Nun aber zum Problem meiner inneren Stimme: Sie quatschte mir nicht nur in einer Tour dazwischen und störte damit meinen harmonischen Gedankenablauf, sie beunruhigte mich auch in einem Ausmaß, welches meine Alarmglocken schrill läuten ließ. Eine innere Stimme laut und deutlich zu hören konnte sich schnell zum pathologischen Symptom entwickeln.
Für alle Fälle suchte ich die Nummer von Klaus Maria Deuter heraus, seines Zeichens Psychotherapeut. Vor zwei Jahren, drei Monaten und sechs Tagen, einige Zeit nach dem mein Leben komplett verändernden Lottogewinn in Höhe von siebzehn Millionen, hatte ich mich in dessen Behandlung begeben.
Keine zwei Stunden nach Überweisung des Geldes auf mein Konto hatte ich kurzerhand meine Beamtenstellung in der gehobenen nicht technischen Verwaltungslaufbahn im Einwohnermeldeamt der Stadt Wilhelmshaven aufgegeben, meiner Vorgesetzten Annette Kurbel noch mal ordentlich die Meinung gegeigt und mich um ein Haar auf eine Weltreise begeben, die ich letztlich jedoch aufgrund eines vorweg empfundenen Heimwehs nach Wilhelmshaven nicht antrat. Stattdessen fuhr ich nach Hause, wo ich unerwartet in ein tiefes Loch der Langeweile, des Trübsinns und der Sinnlosigkeit fiel. Mein Leben in der gehobenen Verwaltungslaufbahn hatte nicht vor Sinnerfüllung gestrotzt, aber ich hatte morgens aufstehen müssen. Man erwartete mich im Einwohnermeldeamt, und am Abend war ich mit dem Gefühl nach Hause zurückgekehrt, mein Tagwerk vollbracht und meinen Feierabend irgendwie verdient zu haben. Nun aber vermisste mich keiner, nur weil ich nicht im Büro auftauchte, und ich wurde nicht kritisiert, wenn ich etwas verbockt hatte. Ein Gefühl der Überflüssigkeit nagte damals in mir, und der Tag blieb aus, an dem es besser wurde.
In diesem Zustand wies ein Bekannter mich auf den Psychofuzzi Klaus Maria Deuter hin und auf dessen angeblich exquisite Fähigkeiten im Bereich Jemanden-aus-einem-tiefen-schwarzen-Loch-holen-aus-dem-er-allein-nicht-mehr-rauskommt.
Schnell und intuitiv hab ich damals erfasst, dass mein Bekannter keine Ahnung hatte. Andernfalls hätte er mir jeden x-beliebigen Quacksalber empfohlen, aber ganz sicher nicht Deuter. Der Mann war eine Null. Ironischerweise half er mir auf vertracktem Umweg trotzdem, da die Wege des Herrn unergründlich sind. Mit seinen saublöden Ratschlägen(»Legen Sie sich doch ein Hobby zu! Gehen Sie regelmäßig schwimmen oder reisen Sie, gehen Sie ins Fitnessstudio, treten Sie einem Boßelverein bei– die gibt’s hier ja überall in Stadt und Land–, joggen Sie, fahren Sie Rad, hier gibt’s so schöne Touren, zum Beispiel um den Jadebusen rum bis auf die andere Seite nach Dangast, von da können Sie dann nach einem schönen Stück selbst gebackenem Rhabarberkuchen im Kurhaus mit der ›Etta von Dangast‹ übers Wasser zurück und müssen sich nicht mehr abstrampeln. Schaffen Sie sich einen Hund an, die gibt’s günstig im Tierheim in der Ladestraße!«) machte er mich so stinksauer, dass meine Selbstheilungskräfte erwachten und mich zu dem Entschluss führten, mir meine Kindheitsträume Nummer eins und zwei zu erfüllen, was bedeutete, dass ich endlich Privatdetektiv(Marlowe) und Schriftsteller(Chandler) werden würde.
Nun, so mein Gedankengang, könnte es bei der Bekämpfung meiner inneren Stimme ähnlich laufen. Durch Widerstand gegen den Therapeuten angestachelte Selbstheilungskräfte. Aus diesem Grund legte ich die Telefonnummer des Psychos ganz oben auf meinen Muss-eventuell-erledigt-werden-Stapel.
Tag sechs der Abwesenheit Marietta Weinzierls war Tag eins meiner Ermittlungen im Fall Janßen. Um mir ein erstes Bild zu machen, plante ich eine kleine Tour mit meinem Pkw, einem funkelnagelneuen pechschwarzen VWTouran, mit dem ich erst am Vortag durch die Waschstraße am Banter Weg gefahren war und dessen Lack in der Sonne blitzte wie schwarzer Goldstaub, zu Janßens Domizil im Händelweg. Dieser befindet sich in unmittelbarer Nähe des Rüstringer Stadtparks, einem weiteren Glanzpunkt meiner Heimatstadt, die mir in all ihrer Zerrissenheit so nahe ist, da ihre Zerrissenheit einen Teil meiner eigenen Zerrissenheit widerspiegelt. Oder umgekehrt.
Der mir seit Kindertagen vertraute Stadtpark ist nicht nur schön, sondern auch groß. Neben ihm zu wohnen kann gleich mehrere Stadtteile betreffen.
Da ich mich zum ersten Mal, seit der Jack-Russell-Terrier bei mir lebte, länger als eine Viertelstunde außer Haus begeben würde(mit Ausnahme der Gassigänge), hatte ich zuerst die Frage zu klären, ob ich die Töle mitnehmen sollte oder nicht. Die Antwort war einfach: Ich würde sie zu Hause lassen.