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Nach Arthur Janovs Überzeugung hat die frühkindliche Entwicklung dauerhafte, allenfalls durch die Primärtherapie zu modifizierende Auswirkungen auf unser Leben. Die Zeit im Mutterleib, vor allem die entscheidenden Stunden vor der Geburt und das Geburtserlebnis selbst können nach Janovs Ansicht die psychischen Prozesse negativ beeinflussen, sie sogar zum Scheitern bringen und Traumata zur Folge haben, die sich als »frühe Prägungen« dauerhaft im noch ungeschützten Nervensystem des Neugeborenen niederschlagen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 617
Arthur Janov
Frühe Prägungen
Aus dem Amerikanischen von Joachim A. Frank
FISCHER Digital
Für Rich – meinen Kameraden,
meinen Freund, meinen Sohn
Bei diesem Buch haben mir einige Menschen Beistand geleistet. E. Michael Holden, mein wissenschaftlicher Kollege seit Jahren, half mir, verschiedene Kapitel zu revidieren, und fügte wertvolle Informationen hinzu – vor allem in dem Abschnitt über die Kaiserschnitt-Geburt. Nick Barton half bei der Bearbeitung und Klärung mehrerer Abschnitte des Buches.
Besonders danken möchte ich meiner Redaktionsassistentin, Margaret Ryan, für die vielen, vielen Stunden, die sie mit der Gliederung des Stoffes verbrachte, und für ihr redaktionelles Geschick. Sie recherchierte, revidierte, bearbeitete und korrigierte, wo immer es nötig war. Ich danke ihr.
Schließlich gilt mein Dank den Patienten, die ausdauernd und hartnäckig genug auf ihrer Ansicht über Geburts-Primals beharrten, bis ich mich, meinen eigenen Vorurteilen zum Trotz, überzeugen ließ. Sie eröffneten mir und meinen künftigen Patienten eine neue Welt.
A.J.
Angesichts der Flut von in letzter Zeit erschienenen Büchern über Kindererziehung muß die Aufgabe, ein gesundes Kind großzuziehen, den Eltern beinahe unmöglich erscheinen. Es gibt so viele Dinge, die mißglücken können, so viele Dinge, die man wissen muß. Als wäre das nicht genug, haben wir nun auch noch ein Buch, das sagt, »Kinder«-Erziehung beginne in Wirklichkeit im Mutterschoß, schon acht Wochen nach der Empfängnis, und diese Zeit sei die entscheidende für die Bildung der Persönlichkeit, für die Festlegung der Krankheiten, an denen man später im Leben leiden wird, ja sogar für die Bestimmung der Lebensdauer.
Das Schwierige an dieser Vorstellung ist, daß sie so ungreifbar ist. Schließlich sind die Ereignisse, die ein Kind in utero betreffen, verborgen, und ebenso verborgen sind seine Reaktionen auf diese Ereignisse. Wir können wirklich nicht sehen, was für das Kind schädlich sein mag; wir können nicht wissen, wie das Kind auf das reagiert, was in diesem besonderen flüssigen Milieu vor sich geht. Alles scheint so geheimnisvoll zu sein, und die Eltern können sich angesichts dieses Geheimnisses mit Recht hilflos fühlen. Als ob ihre Schuldgefühle darüber, wie sie ihr Kind erzogen, als es sechs, zehn oder fünfzehn Jahre alt war, noch nicht genügten, müssen sie nun noch eine zusätzliche Schuld an dem auf sich nehmen, was sie ihrem Kind beinahe vom Augenblick der Empfängnis an angetan haben.
Lassen Sie mich rasch sagen, daß es nicht der Zweck dieses Buches ist, Eltern das Leben noch komplizierter zu machen, sondern ihnen zu helfen, sich dieser pränatalen und natalen Faktoren bewußt zu werden, die für ihr Kind schädlich sind. Vor allem soll den Eltern geholfen werden, ihren Kindern die bestmögliche Chance für ein gesundes Leben zu geben. Ich habe außerdem die Hoffnung, erklären zu können, wie wir wurden, was wir sind; zu zeigen, wie diese frühesten Ereignisse unsere Einstellungen, Interessen und Ideen – ebenso wie unsere Zwangsvorstellungen und unsere Symptome – formten.
Ein neues Wissen wird in zunehmendem Maße verfügbar, die Fehler, die wir alle mit unseren Kindern gemacht haben, werden immer klarer. Aber wir dürfen nicht in der Vergangenheit verweilen und in Schuldgefühlen versinken. Wir können nur mit einem neuen Verständnis und einer festeren Entschlossenheit, diese Fehler nicht weiterzugeben, in die Zukunft blicken.
Arthur Janov
Januar 1982
Eine Primärtherapie oder ein Rebirthing[1] durch Laien kann gefährlich sein. Auskünfte über die Qualifikationen von Personen, die Primärtherapie oder Rebirthing ausüben oder behaupten, am Primal Institute ausgebildet worden zu sein, fordern Sie bitte an bei: The Primal Institute, 2215 Colby Avenue, Los Angeles, California 90064 (Tel. 2 13–4 78-01 67) oder The Primal Institute of Europe, Champs Élysées, Paris 75008 (Tel. 1–7 23 78 20).
Viele von uns glauben, daß ein neugeborenes Kind wenig mehr ist als ein Protoplasmaklümpchen, das sehr wenig fühlt, noch weniger versteht und kaum auf seine Umgebung reagiert. Wahr ist jedoch das Gegenteil. Das Neugeborene fühlt stärker, als es vielleicht jemals wieder fühlen wird; es hat ein weit offenes »sensorisches Fenster«, das es ihm gestattet, so voll und ganz zu reagieren wie vielleicht niemals wieder; und es wird geboren und erlebt sein neues Leben ohne einen trügerischen Schleier von Ideen, was beinahe ohne jeden Zweifel nie wieder der Fall sein wird.
Die meisten Erwachsenen können die Agonie nicht begreifen, in der sich ein Neugeborenes befindet, selbst wenn es weint und sich die Lunge herausschreit. Weil es nicht sprechen kann, tun wir so, als hätte es nichts »gesagt«. Weil es sich nicht verständlich machen kann, tun wir seinen Schmerz als harmlos ab. Wir erwarten eben von Neugeborenen, daß sie sich krümmen und schreien. Ich glaube, wenn Kinder gleich nach der Geburt über Worte verfügten, würden uns die meisten von dem qualvollen Erlebnis berichten, das sie eben durchgemacht haben.
Da das Geburtstrauma erst in jüngster Zeit erkannt wurde, hat beinahe jeder (einige Glückliche ausgenommen, die auf »primitive« Weise zur Welt kamen) den gleichen Urschmerz[2] und die gleiche Unbewußtheit erlitten. Wir erlebten die Traumata unserer eigenen Geburt, beobachteten die Geburt unserer Kinder, sahen sie voll Schrecken schreien und wußten nicht, was sie litten oder daß wir vor ihnen gelitten hatten. In einer Art von ironischem, sich selbst fortsetzendem Zyklus verursacht der unbewußte Urschmerz unserer eigenen Geburt noch mehr Schmerz, mehr Neurose und mehr Unbewußtheit. Da das Geburtstrauma unzugänglich ist, sind wir alle – Eltern, Ärzte, Schwestern und Krankenhausverwalter – blind für die schädlichen Verfahren, die angewandt werden, um Kinder zur Welt zu bringen. Eben weil ein wichtiges Segment unserer eigenen Wirklichkeit gegen das Bewußtsein abgeblockt ist, sind wir uns der vollen Wirklichkeit eines Säuglings nicht bewußt. Deshalb sehen wir, aber wir nehmen nicht wahr, wir beobachten, aber wir fühlen nicht, wir sehen zu, aber wir können nicht mitempfinden.
Die Bedeutung des Geburtstraumas hervorzuheben, mag vielen Erwachsenen als übertrieben melodramatisch erscheinen. Es ist schwer, sich den damit verbundenen Schmerz vorzustellen. Um das Leiden eines Neugeborenen wirklich zu erleben, müssen wir unserem eigenen Leiden näherkommen – und das kann zu nahe, das heißt unbehaglich, für uns sein. Deshalb kann man sich das Geburtstrauma nicht recht vorstellen; es kann nur wiedererlebt werden. Man kann sich nicht vorstellen, was es heißt, stundenlang durch heftige Kontraktionen gequetscht zu werden, in einem unnachgiebigen Geburtskanal steckenzubleiben oder von der Hand einer Schwester wieder in den Kanal hinaufgeschoben zu werden, durch die Überdosis eines Anästhetikums beinahe zu ersticken, in einer dicken Flüssigkeit fast ertränkt zu werden, nach Luft zu ringen, von der Metallzange eines Arztes kräftig am Kopf gepackt und unsanft herausgerissen zu werden – und dann in einem kalten Zimmer mit dem Kopf nach unten zu hängen, von einem Fremden kräftige Klapse zu bekommen und von dem einzigen Menschen entfernt zu werden, den das Neugeborene kennt. Was für ein Gefühl muß das sein, sich in einer neuen Welt zu befinden, in einem metallischen Gestell, von jedem menschlichen Kontakt abgeschnitten, nachdem man beinahe gestorben ist, in einer Welt, wo jeder Anblick und Laut vollkommen neu und oft bedrohlich ist, wo blendende Lichter einen daran hindern, diese neue und seltsame Umgebung wahrzunehmen? Tatsächlich werden diese frühen Erlebnisse zu den denkwürdigsten – oder sollte ich sagen undenkwürdigsten – unseres Lebens, denn kein Säugling kann den traumatischen Urschmerz integrieren und im Bewußtsein bewahren. Deshalb kann der gesamte Geburtsvorgang, von der Empfängnis und Schwangerschaft bis zur Entbindung und der Zeit unmittelbar danach den Ursprung späterer psychischer und physischer Krankheiten bilden.
Wie geht das vor sich? Durch welche Mechanismen? Wir wissen nun, daß die Traumata vor, während und nach der Geburt, das heißt die perinatalen Traumata, als Einprägungen oder Prägungen[3] in das sich entwickelnde Nervensystem des Fetus und des Neugeborenen eingegraben werden. Die Geburtseinprägung bestimmt somit physiologische und neurologische Reaktionstendenzen, sie formt die spätere Persönlichkeit und den physiologischen Typus und ist bestimmend für die Art von Pathologie, die wir schließlich entwickeln. Ob wir unstete Reisende, zwanghafte Arbeiter, starke Raucher, unmäßige Esser, Alkoholiker oder Asthmatiker sein werden, ob wir aggressive und ehrgeizige, optimistische oder deprimierte, pessimistische und niedergeschlagene Typen sein werden, ob wir zu Krebs, Epilepsie, Psychosen oder gar Selbstmord neigen werden – all das kann durch diese ersten kostbaren Stunden der Geburt vorausbestimmt werden. Schwangerschafts- und Geburtserlebnis können diktieren (und diktieren), wie wir in unserem übrigen Leben agieren und reagieren.
Ich betone das Geburtstrauma nicht, weil es das einzige Trauma ist, das Neurosen verursacht, sondern weil es so oft für den Beginn von Neurosen verantwortlich ist. Ich hebe es auch hervor, weil wir uns im allgemeinen der ungeheuren Wirkung der pränatalen und Geburtserlebnisse auf unser Leben nicht bewußt sind. Wenn es einen einzelnen Schmerz gibt, der eine Neurose auslöst, ist es gewiß der Kampf um Leben und Tod des Geburtsvorgangs. Dieser erste Schmerz kann die neurotische Spaltung einleiten – und leitet sie ein –, denn er zwingt das kaum entwickelte Verdrängungssystem des Neugeborenen, aktiv zu werden, um ihm entgegenzuwirken: dem neuen Ich wird der Zugang zu den tief begrabenen, von der Geburt herrührenden Gefühlen verwehrt, die zu bedrohlich sind, um integriert zu werden. Diese Spaltung nennen wir Neurose, und diese frühen Kräfte des Urschmerzes sind es, die der neurotischen Persönlichkeit Fortbestand verleihen.
Ich stehe mit meiner Einschätzung der Bedeutung des Geburtserlebnisses nicht allein da. Das Folgende schrieb ein Wissenschaftler im Journal of the American Medical Association[4]:
»Die Gefahren, die dem Fetus drohen, erreichen einen Höhepunkt während der Stunden der Wehen. Die Geburt ist das gefährlichste Erlebnis, dem die meisten Individuen jemals ausgesetzt sind. Der Geburtsvorgang ist selbst unter optimalen, kontrollierten Bedingungen ein traumatisches, potentiell verstümmelndes Ereignis für den Fetus.« (Kursivschreibung durch den Autor.)
Alle Geburtserlebnisse sind nichtverbal. Es gibt keine Worte, mit deren Hilfe man sich solcher Erlebnisse erinnern könnte, denn der Teil des Gehirns, der benötigt wird, um Erlebnisse zu beschreiben, entwickelt sich im Individuum erst lange, nachdem die Erlebnisse eingeprägt worden sind. Daher kann keine Erklärung, Ermahnung oder Konditionierungstechnik das ursprüngliche Erlebnis ändern. Der Urschmerz ist in jeden Teil des physiologischen Systems eingeschrieben, und nach ebendieser Einschreibung müssen wir suchen, um »Rettung« zu finden. Es wäre ebenso schwierig, sich durch Erklärungen von frühem Schmerz zu befreien, wie es schwierig wäre, sich auf Wunsch von der Sprache zu befreien. Beide werden früh im Leben eingeprägt und werden zu einem integralen Teil unserer Physiologie.
Wie werden die schmerzhaften perinatalen Erlebnisse in das verwandelt, was wir ein »Unbewußtes« nennen? Entweder durch die neurochemischen Prozesse oder durch Verdrängung. Die meisten von uns können sich aus gutem Grund nicht daran erinnern, welcher Art ihre Geburt war. Das Gehirn enthält chemische Stoffe, die durch Schmerz dazu angeregt werden, die Erinnerung an das Trauma zu löschen. Man beachte aber, daß uns diese Stoffe nicht vom Trauma selbst befreien, sondern nur von unserer Erinnerung und der bewußten Wahrnehmung. Nichts kann die tatsächliche Einprägung des Traumas ändern.
Wenn es kein System von Repressoren im Nervensystem gäbe, wären die meisten von uns entweder bei der Geburt gestorben, oder wir würden beinahe ununterbrochen von Schmerz überflutet werden. Wir wären überwältigt von einer Masse von Input, der unsere Fähigkeit zu denken, uns zu konzentrieren, das Relevante auszuwählen – kurz, mit der Welt um uns her fertig zu werden – auslöschen würde. Es gibt eine kollektive Unbewußtheit des Geburtsschmerzes, weil uns diese Unbewußtheit zu überleben hilft. Das ist die wahre Bedeutung unseres »kollektiven« Unbewußten. Ich glaube, daß man in dem Unbewußten, das heute von Theoretikern und Forschern auf dem Gebiet der Psychologie postuliert wird, nichts anderes erkennen wird als den gemeinsamen, verdrängten Urschmerz sehr frühen Erlebens. Freud meinte, das Unbewußte sei permanent und unveränderlich, weil er Erwachsene beobachtete, die auf etwas Zwingendes, Unaufhörliches und offenbar Unzugängliches reagierten. Da er keine Instrumente (keine Technologie) besaß, um festzustellen und zu messen, was es war, mußte er eine ätherische Kraft (das Es) anstelle einer konkreten Kraft (Schmerz) postulieren. Tatsächlich ist das Unbewußte ohne Zugang zu den Traumata des Lebensbeginns unveränderlich, ätherisch und zeitlos. Der Urschmerz ist endlos. Er bringt etwas hervor, was einem »Perpetuum mobile« beim Menschen am nächsten kommt: die »Maschine« unseres Körpers wird durch die Traumata, welche die Geburt umgeben, in ständige Bewegung versetzt.
Die Verschlüsselung der mit der Geburt verbundenen Traumata hat aus mehreren Gründen eine besondere Bedeutung. Erstens ist das Nervensystem des Neugeborenen »naiv«: die Abwehrmechanismen arbeiten noch nicht mit voller Wirksamkeit, um es für das, was auf es eindringt, abzustumpfen und unempfindlich zu machen. Zweitens haben perinatale Traumata einen übermäßig hohen Belastungswert, weil es beinahe immer um Leben oder Tod geht. Der Belastungswert des Traumas ist Teil der Einprägung und bleibt eine unveränderliche Kraft. Bei einer traumatischen Geburt ist das System des Kindes in großer Gefahr, und jede geringste Anstrengung dient dem Kampf ums Überleben. Die hochgeladene Prägung dieses Kampfes ist buchstäblich ein elektrischer Sturm, der das ganze Leben lang als Restspannung im Körpersystem zurückbleibt. Drittens ist die Geburtsprägung besonders wichtig, weil sie tief und zentral im Gehirn und im Nervensystem kodiert und bald vom sich entwickelnden Kortex und durch spätere Erlebnisse übergeleitet wird.
Wir wissen, daß Geburtstraumata signifikant sind, wenn sie auftreten, aber woher wissen wir wirklich, daß sie auftreten? Was für Beweise haben wir, um das Geburtstrauma als gültiges Phänomen darzustellen? Es gibt viele Arten von Beweisen subjektiver und objektiver Natur, und ein großer Teil dieses Buches wird sich mit ihnen beschäftigen. Aber eine Frage ist vor allem von zentraler Bedeutung für die Feststellung der Gültigkeit des Geburtstraumas, und zwar die Frage der neurologischen Adäquatheit. Besitzen der Fetus und das Neugeborene ein adäquat entwickeltes neurologisches System, um Traumata zu registrieren, zu kodieren und zu speichern? Viele Fachleute glauben noch, sie besäßen es nicht. Neurologische Beweise deuten nun jedoch darauf hin, daß die Schmerz vermittelnden Strukturen tiefer im Gehirn gelagert sind und sich schon vor der Geburt entwickeln. Es wurde nachgewiesen, daß Kinder, die ohne Kortex geboren wurden, auf schmerzhafte Reize reagieren. Wir brauchen keine Gedanken und keinen Kortex, um zu leiden.
Der bekannte Neurophysiologe Dr. Paul Yakovlev schrieb ausführlich über den Reifungsprozeß des menschlichen Gehirns und Nervensystems. Er erklärt den Myelinisierungsprozeß, das heißt den Prozeß, durch den Nervenfasern reifen. Der Verlauf oder das Schema der Myelinisierung ist ein zuverlässiger Index für die Gehirnreifung, und das innere Gehirn des Fetus ist in den späteren Stadien der Schwangerschaft bereits ausreichend myelinisiert (gereift), um Reaktionen zu vermitteln und Information zu kodieren. In der späteren Schwangerschaft ist das innere Gehirn auch reif genug, um viszerale Reaktionen zu vermitteln.[5]
Kurz, das neugeborene Kind ist ein menschliches Wesen mit einem hoch reaktiven und hoch sensibilisierten Nervensystem. Manche Bereiche seines Nervensystems sind bei der Geburt voll entwickelt und funktionsbereit, andere kaum oder gar nicht. Das Neugeborene reagiert auf Traumata mit den adäquatesten Teilen seines Nervensystems. Da bei der Geburt noch kein voll entwickelter Kortex vorhanden ist, nehmen diese Reaktionen nicht die Form von Worten oder Ideen an. Was aber sehr wohl geschehen kann, ist, daß die auftretenden Traumata und frühen Funktionsstörungen im Kortex nach seiner vollen Entwicklung vertreten sind. Das Entscheidende ist: während das System des Neugeborenen ausreichend entwickelt ist, um Schmerz zu registrieren, zu speichern und zu verdrängen, ist es noch nicht weit genug entwickelt, um ihn zu verarbeiten und zu integrieren.
Daß der Fetus und das Neugeborene auf Schmerzreize voll reagieren können und reagieren, ist ein elementarer Überlebensfaktor. Es ist auch sinnvoll, daß der Fetus und das Neugeborene die Verdrängungsfähigkeit besitzen, lebensbedrohenden Schmerz zu blockieren, bis ihre Systeme reif genug sind, um ihn zu integrieren. (Tatsächlich ist, wie später noch gezeigt werden soll, die Plazenta selbst eine chemische Fabrik, die schmerzbetäubende Mittel herstellt.) Die Integration des Schmerzes muß auf das Erscheinen der höheren Gehirnzentren warten, aber die Reaktion auf Schmerz geht schon von den ersten Lebenswochen in utero an vor sich. Schmerzintegration erfordert Bewußtsein, Wahrnehmung und komplexe neurologische Funktionen; die Reaktion auf Schmerz ist ohne Bewußtsein, ohne Wahrnehmung und mit nur den primitivsten neurologischen Strukturen möglich.
Ist das Geburtstrauma eine Wahrheit – eine Wirklichkeit –, oder ist es nur eine Theorie? Offen gesagt, ich wehrte mich tatsächlich gegen die Vorstellung des Geburtstraumas, als meine Patienten anfangs behaupteten, ihre Geburt wiederzuerleben. Ich hatte zwei Jahre lang Patienten beobachtet, die ihr Geburtserlebnis nachvollzogen, und auch nachdem sie mir erklärt hatten, was sie ihrer Ansicht nach durchmachten, zögerte ich noch, ihnen zu glauben. Ich wurde in meinem Zögern bestärkt durch die neuropathologische Abteilung eines lokalen neuropsychiatrischen Instituts, wo man mir erklärte, daß so etwas unmöglich sei: das Nervensystem eines Fetus, hieß es, sei nicht reif genug, um auf seine eigene Geburt zu reagieren, sie zu kodieren und zu speichern. Ich diskutierte daher mit meinen Patienten und gab ihnen zu verstehen, daß ihre Erlebnisse wahrscheinlich eher symbolisch als buchstäblich aufzufassen seien.
In den späten sechziger Jahren war von keiner Theorie die Rede, derzufolge man seine eigene Geburt wiedererleben könne, daher konnte der Gedanke diesen Patienten auch nicht »suggeriert« worden sein. Und meine »Suggestionen« versuchten ja gerade, ihnen ihre Erlebnisse auszureden. Aber die Geburts-Primals gingen weiter. Zu viele Patienten hatten sie zu oft, als daß man sie hätte ignorieren oder bagatellisieren können. Schließlich trat unserem Stab ein Neurologe bei, ein Schüler Dr. Yakovlevs, der wußte, daß das Nervensystem des Fetus imstande ist, Traumata zu kodieren und zu speichern. Wir begannen zunehmende und überzeugende Beweise dafür in unserer eigenen Forschungsarbeit zu sehen. Die Veränderungen, die mit den Patienten nach Geburts-Primals vor sich gingen, waren dramatisch und quantifizierbar. Patienten, die Geburts-Primals durchmachten – im Gegensatz zu solchen, die andere, weniger lebensbedrohende Ereignisse betreffende Primals hatten –, wurden an komplizierte elektronische Instrumente angeschlossen. Die Messungen ergaben eine signifikante Erhöhung aller vitalen Funktionen während des Geburts-Primals – die Körpertemperatur stieg um drei Grad (Fahrenheit), die Pulsfrequenz und der Blutdruck erreichten doppelte Werte, und die Hirnwellen-Amplituden zeigten einen heftigen Ausschlag – und eine signifikante Verminderung dieser Funktionen nach dem Primal.
Durch das Geburts-Primal wurden wir allmählich gewahr, daß das, was wir beobachteten, eine direkte Beziehung zwischen der Symptomatologie des Erwachsenen und dem Geburtstrauma darstellte. Die Patienten zeigen zunächst ein bestimmtes Symptom – eine Migräne, einen Kolitisanfall, sogar die Anfänge eines epileptischen Anfalls –, aber mit der geschickten Hilfe eines Therapeuten stellt der Patient die Verknüpfung zum ursprünglichen motivierenden Trauma und dem Feeling[6], das es begleitete, her. Dabei geschieht das Erstaunliche, daß die Symptome mit dem Erlebnis des verknüpften Feelings verschwinden. Wenn sich die Person nur abreagierte (d.h. die Emotion fühlte, ohne sie mit dem ursprünglichen Erlebnis zu verknüpfen), wäre das nicht der Fall.
Wir fanden noch weitere Beweise für die Gültigkeit des Geburts-Primals. Während des Wiedererlebens der Geburt machten die Patienten keine heftigen Bewegungen und weinten nicht. Sie waren dazu nicht imstande. Ebensowenig konnten sie sprechen, schreien oder sich in der Art von Säuglingen bewegen. Wir konnten aus ihren salamanderartigen Schwimmbewegungen nur folgern, daß ihr ganzer Körper vom primitiven Nervensystem eines Neugeborenen gelenkt wurde – einem System, das noch nicht für die Laute, die koordinierten Bewegungen und das Weinen eingerichtet ist, wie sie für einen sechs Monate alten Säugling typisch sind. Neugeborene weinen nicht auf die gleiche Art wie Säuglinge. Dieses erste Luftholen und Jammern um Leben ist höchst einzigartig und bleibt höchst einzigartig, wenn es wiedererlebt wird.
Bei der Beobachtung dieser Geburtserlebnisse sahen wir (oft mit großer Bestürzung), wie Anoxie (Sauerstoffmangel) die unversehrt auf dem Boden liegenden Patienten überwältigte, wie sie nach Luft rangen und rot und blau im Gesicht wurden, während die frühe Einprägung von ihnen Besitz ergriff – und genau dasselbe Trauma reproduzierte, das vor Jahrzehnten aufgetreten war. Manche Patienten konnten solche Primals wochen- und monatelang haben, bevor sie erkannten, was geschah. Erst nach einer merklichen Auflösung des Geburtsschmerzes, nach einer nahezu vollständigen bewußten Verknüpfung damit, wußten sie mit Sicherheit, was sie wiedererlebt hatten. Und dann strömten ihnen die tiefsten Einsichten zu, mit einer Mühelosigkeit und Stärke, die nicht vorgespiegelt sein konnten.
Wir können nicht ignorieren, was die Patienten selbst über ihre Geburtserlebnisse berichten. Hunderte von ihnen beschrieben das gleiche allgemeine Erlebnis so, daß an seiner Gültigkeit kaum gezweifelt werden kann. Wir haben von Geburts-Primals Filme gedreht und Videoaufzeichnungen gemacht und sie in Zeitlupe abgespielt, damit sie von Gynäkologen betrachtet und auf ihre Echtheit geprüft werden konnten. Die Gynäkologen kamen übereinstimmend zu dem Schluß, daß die Bewegungen, Gesichtsausdrücke, Atmungsschemata und Laute alle die eines Neugeborenen waren. Während er einen dieser Filme sah, sprang Frédéric Leboyer, der berühmte französische Gynäkologe und Pionier der Bewegung für nichttraumatische Entbindungsmethoden, erregt auf und erklärte: »Ich bin gerechtfertigt! Hier ist endlich der Beweis!«
Wir wollen das Geburtserlebnis im Hinblick auf seine physischen, emotionalen, psychischen und geistigen Wirkungen auf uns untersuchen. Wir werden von den Patienten selbst hören, was das Wiedererleben eines frühen Traumas für das eigene Leben bedeuten kann. Es wird zweifellos überraschend sein zu sehen, daß das, was mit einem winzigen Baby vor Jahrzehnten während seiner ersten Lebensstunden geschah, lebenslange Folgen haben kann – daß der größte Teil des Lebens eine Wiederholung dieses Geburtsereignisses sein kann, entwickelt und erweitert durch die höheren Bewußtseinsebenen, aber nichtsdestoweniger eine Wiederholung. Und es wird ebenso überraschend sein zu sehen, wie das Wiedererleben dieses Ereignisses das menschliche System befreit, wie es durch nichts anderes befreit werden kann.
Das Folgende ist die Geschichte einer Frau namens Laura, die gefilmt wurde, während sie Geburts-Primals hatte. Sie begann die Sequenz nach einer Therapie von beinahe einem Jahr:
»Mein Vater nahm mich oft zum Angeln mit. Das Fangen des Fisches erregte mich, aber wenn ich dann tatsächlich sah, wie der Fisch um sich schlug und kämpfte und starb, wurde mir übel. Mir war deshalb so unbehaglich, daß ich nicht mehr angeln gehen mochte. Neulich fing ich wieder an, an das Angeln zu denken, und wurde von dem Zappeln und Kämpfen des Fisches verfolgt. Das löste mein erstes Geburts-Primal aus, aus dem ich viele Erkenntnisse über mein Leben gewann.
Zorn ist mein Leben lang meine Abwehr gewesen. Er begann im Mutterschoß als ein Mittel, am Leben zu bleiben. Tatsächlich war diese Aggressivität das einzige, was mich am Leben erhielt. Ich kämpfte und rang darum, mich bei der Geburt verständlich zu machen – zu verstehen zu geben, daß ich starb. Später begann ich zu denken, daß meine Mutter sehr dumm ist. Aber immer, wenn irgendwer etwas tut, was mir dumm vorkommt, werde ich einfach verrückt. Ich werde wütend, wenn mich jemand nicht auf der Stelle versteht. Auch wenn sie mich nur mißverstehen, denke ich immer, sie sind dumm. Ich muß verstanden werden mit der gleichen Dringlichkeit, mit der es nötig war, daß meine Mutter meine Notlage bei der Geburt verstand.
Ich konnte nie etwas über mir ertragen – etwas, was mich überwältigte. Mein Körper scheint sich an etwas zu erinnern, was ich nicht wirklich erklären kann. Es kommt mir vor wie ein elementares Überleben. Ich weiß, daß ich ohne zu atmen und beinahe tot geboren wurde. Meine Mutter sagte, ich atmete überhaupt nicht und war blau. Auch die Schläge des Arztes halfen nichts; man mußte mir eine Spritze geben. Davon muß mir übel geworden sein, denn Übelkeit scheint mir meine erste Reaktion auf beinahe alles zu sein. Bei jeder Katastrophe bekomme ich so einen komischen Geschmack im Mund. Das scheint das Aufputschmittel zu sein, das sie mir bei der Geburt gaben. Ich rieche es eigentlich eher, als daß ich es schmecke. Sobald ich diesen Geruch spüre, werde ich ganz wirr im Kopf und konfus.
Es scheint so, als hätte ich alles getan, was ich tun konnte, um meiner Mutter zu sagen, daß ich bereit war, geboren zu werden; ich wußte nicht, was ich sonst noch hätte tun sollen. Und jetzt scheine ich in gewissen Situationen nie zu wissen, was ich tun soll. Ich glaube, ich bin aus zwei Gründen verwirrt: erstens, weil offenbar nichts, was ich bei der Geburt tat, funktionierte, und zweitens, weil die Spritze, die ich bekam, jede Fähigkeit zu denken, so primitiv sie auch gewesen sein mag, auslöschte. Sie benebelte meinen Geist oder was ich eben davon hatte, so daß ich mich nicht konzentrieren oder einen Sinn erkennen konnte. Ich war immer sehr leicht verwirrt. Es braucht nicht viel, um mich aus der Fassung zu bringen.
Ich nehme an, ich war bei der Geburt verwirrt, weil ich nicht die Verstandeskraft hatte zu begreifen, was vorging. Verwirrung hat bei mir immer zu Untätigkeit geführt. Ich bin leicht überwältigt und dann verwirrt. Eine lange Einkaufsliste verwirrt mich, und wenn ich zwei Befehle auf einmal bekomme, drehe ich durch. Am Morgen aufstehen, das bedeutet, den ganzen Tag meine Leiche herumschleppen. Ich habe einfach keine Lust, etwas zu tun. Mein Körper sagt mir immer: ›Du hast schon eine Menge Arbeit getan, und jetzt brauchst du Ruhe!‹ Aber wenn ich nichts tue und die Zeit vergeude, habe ich das Gefühl, ich vergeude mein Leben, und dann werde ich erregt und nervös. Ich werde immer in zwei Richtungen gezerrt. Ich habe von Anfang an nie gewußt, was ich tun soll. Mein Zyklus ist: nichts tun – mir Sorgen machen – mich schuldig fühlen – versuchen, etwas zu tun. Ich habe mein ganzes Leben lang nach jemandem gesucht, der für mich Entschlüsse faßt. Ich will, daß andere meine Entscheidungen treffen, weil ich mit meinen eigenen Entscheidungen ursprünglich nichts erreicht habe.
Ich habe mich viel mit Wahrsagerei, Tarot-Karten, Astrologie und übernatürlichen Erscheinungen beschäftigt. Das hing alles mit einem Gefühl von ›ich weiß nicht, was ich tun soll‹ zusammen. Ich konnte mich wenigstens auf die Karten verlassen, daß sie es mir sagen. Ich wartete auf ein göttliches Zeichen vom Himmel. Es scheint, je mehr Schmerz ich fühle, desto mehr Magie suche ich. Ich brauche etwas Einfaches, nicht Verwirrendes von außen. Wenn ich elend und allein bin – wenn ich mit niemandem zurechtkomme und niemanden in meinem Leben habe und einfach sterben möchte –, fange ich an, die Karten anzusehen und auf ein Zeichen zu hoffen. Ich brauche das I-ching oder die Tarot-Karten, um von diesem Pessimismus loszukommen. Es ist der schlimmste Grad von Pessimismus, denn in diesen Augenblicken ist alles öde und finster. Ich habe keine Interessen, keine Ziele und keinen Ehrgeiz. Ich möchte einfach verfaulen. Ich war immer abergläubisch und habe mich darauf verlassen, daß mystische Dinge mein Leben leiten. Jetzt sehe ich das ganze Schema so klar. Ich konnte Menschen vom Beginn meines Lebens an nicht vertrauen, deshalb mußte ich Dingen vertrauen.
Ich weiß, ich habe mein Leben lang das Gefühl gehabt: ›Nichts, was ich tue, ist gut genug‹ – seit der Geburt, als nichts, was ich tat, gut genug war. Dann verstärkte es meine Mutter noch dadurch, daß ihr nichts recht war, was ich tat – von der Art, wie ich mein Bett machte, bis zu der Art, wie ich mich kleidete.
Nachdem ich bei der Geburt beinahe getötet worden war, als ich versuchte, aus meiner Mutter herauszukommen, wollte ich dann nicht mehr, daß sie mich berührte. Ich hatte Angst vor ihr, ich traute ihr nicht. Seit damals habe ich Frauen nicht annähernd so viel getraut wie Männern. Ich lasse mich nie von jemandem berühren, den ich nicht gut kenne. Ich war im Grunde mißtrauisch und paranoid seit meiner Geburt, glaube ich. Berührung hat mich immer nervös gemacht, aber jetzt weiß ich endlich, warum. Ich möchte nicht in der Gewalt eines anderen sein.
Es ist sonderbar, beinahe tot geboren zu werden. Ich habe dieses Totsein während des größten Teils meines Lebens ausagiert. Dann brachte ich andere dazu, mich ›wiederzubeleben‹. Ich lebe durch ihr Lebendigsein, ihre Lebhaftigkeit, ihre Fröhlichkeit in der Hoffnung, daß sie mich aus meinem Totsein herausbringen werden. Aber in der Minute, in der sie gegangen sind, ist wieder alles völlig sinnlos, und ich bin tot. Ich habe mein Leben lang agiert, tot zu sein und durch andere Menschen wieder lebendig zu werden.
Bevor ich zur Therapie kam, hatte ich immerzu das Gefühl, daß ich verrückt werde oder daß ich mich umbringen werde. Ich wußte nie, woher diese Todesgedanken kamen. Auch wenn mein Leben gut ging, hatte ich diese Gedanken – eigentlich besonders, wenn mein Leben gut ging. Es scheint jetzt das gute Gefühl kurz vor der Hölle des Herauskommens (Geborenwerdens) zu sein. Deshalb bekomme ich dieses Gefühl des Unheils, sooft ich mich gut fühle. Ich kann das Leben nicht gut zu mir sein lassen. Ich glaube, viele meiner Depressionen kamen daher, daß ich eine Menge Gefühle aufgestaut hatte, die ich nie herausließ; und ich ließ sie nicht heraus, weil ich nie wußte, was sie waren. Sie hatten keine Worte, damit fing es an. Es ist sehr schwer, sich auszudrücken, wenn die Gefühle, um die es geht, keine Worte haben.
Ich bin in meinem ganzen Leben, wenn ich nicht tun durfte, was ich wollte, einfach verrückt geworden. Eingeengt und eingeschlossen zu sein, das war eine Lebensweise für mich. In der Schule wickelte mich meine Mutter immer in dicke Mäntel ein. Weil ihr kalt war, mußte ich dick vermummt sein. Sie hielt mich immer eingeschlossen; die Mäntel waren nur eine Verlängerung meiner Geburt.
Ich denke, mein Stil war immer: kämpfen, aufgeben, anfangen zu sterben, wieder kämpfen. Bei der Geburt fing ich an, das Bewußtsein zu verlieren, sobald ich aufgab, so wie jetzt in meinem täglichen Leben. Wenn es mir zuviel wird, verzweifle ich, und dann lasse ich alles zusammenkommen, bis ich nicht mehr kämpfen kann. Ich möchte einfach sterben. Dieser Wunsch zu sterben wird zu meinem Ausweg. Dann ist es so, als ob ich in letzter Minute wieder in Schwung käme und weiterkämpfte. Es kann etwas ganz Triviales sein, was den Wunsch zu sterben auslöst. Jetzt sehe ich, warum etwas Triviales das alte Feeling auslösen kann.
Ich frage mich oft, wie man ›beweisen‹ sollte, was ich durchgemacht habe, aber ich bin nicht sicher, daß das überhaupt jemand kann. Das ursprüngliche Ereignis ist ein Erlebnis und das Wiedererleben auch – mit Denken hat beides nichts zu tun. Der ›Beweis‹ kommt für mich aus den Feelings und den Veränderungen, die eintreten, nachdem ich gefühlt habe. Zum Beispiel, immer wenn ich vor einer Theaterkasse Schlange stand, hatte ich ein Gefühl von überwältigender Ungeduld – ich hätte den vor mir am liebsten geschlagen. Das habe ich jetzt nicht mehr, und ich weiß, daß sich das auflöste durch das Wiedererleben meines ursprünglichen Bedürfnisses, herauszukommen und zu atmen. Sie können sich vorstellen, was es für mich heißt, aus einem Flugzeug auszusteigen. Ich weiß, das Feeling war immer: ›Ich muß hier raus, und wenn sich meine Mutter nicht beeilt, sterbe ich.‹ Meine Mutter konnte sich nicht dazu entschließen, mich zu gebären, und so blieb ich mit diesem Feeling einfach stecken. In letzter Zeit hatte ich tiefere Einsichten. Ein Grund dafür, daß ich nicht rechtzeitig herauskam, war, daß sie mich nicht haben wollte – und das wurde durch ihr Verhalten während meiner ganzen Kindheit bestätigt.
Ich fühle mich jetzt wohler. Das mag nicht sehr dramatisch erscheinen, aber wenn man sich sein ganzes Leben lang nicht wohl gefühlt hat in seiner Haut und nie gewußt hat, warum, ist es eine große Erleichterung, glauben Sie mir. Ich bin auch anderen Menschen gegenüber offener und mitteilsamer. Ich sehe jetzt, daß es nichts zu befürchten gibt. Ich war beherrscht von dieser frühen Angst, die ich auf andere Menschen projizierte. Ich hatte mich einfach immer gefürchtet. Jetzt, wo ich diese Furcht in ihrem tiefsten Ausmaß gefühlt habe, scheint sie verschwunden zu sein. Es ist wie ein riesiges Puzzle, und die Angst ist nun an der richtigen Stelle eingesetzt worden.
Ich scheine so völlig die Beherrschung zu verlieren bei diesen Erlebnissen in der Therapie. Ich lasse einfach meinen Körper gehen, und er scheint zu wissen, was er tut. In dem Augenblick, wo ich es zu verstehen oder zu beherrschen versuche, hört das Erlebnis auf. Das Fühlen dieses ganzen Schmerzes hat ihn mir erträglicher gemacht. Als ich zuerst in der Therapie mit dem Fühlen anfing, wurde mir übel, und ich wollte mich erbrechen. Das kommt jetzt nicht mehr vor. Die Übelkeit war eine Art von ursprünglicher Reaktion auf jedes Feeling. Ich begann mein Leben mit diesem Gefühl, und ich behielt es bis vor kurzem bei. Endlich ist es weg. Es war kein Spaß, diesen ganzen frühen Schmerz durchzumachen, aber es ist bestimmt schön, nicht mehr verrückt zu sein.«
Viele Wochen später bekamen wir den folgenden Bericht:
»Heute hatte ich das Gefühl, daß ich plötzlich herauskam. Etwas völlig Neues ist geschehen. Beim Beginn der Sitzung war mir kalt. Ich weiß, es war warm im Therapiezimmer, aber ich fror. Ich atmete auch nicht. Ich zitterte und war, wie der Therapeut sagte, blau im Gesicht. Danach hatte ich ständig das Gefühl: ›Ich bin geboren, ich bin geboren!‹ Ich lachte, weil ich dieses Gefühl hatte, während mir bewußt war, daß ich erwachsen war.
Sobald ich draußen war, verstand ich mehr über mich selbst. Wie ich schon sagte, war alles in meinem Leben immer eine zu große Anstrengung gewesen. In meinen Zwanzigern konnte ich nicht einmal das Geschirr spülen. Ich saß nur so herum und wartete – worauf, wußte ich nicht recht. Aber jetzt weiß ich es: Ich wartete darauf, daß meine Mutter etwas tat, um mir herauszuhelfen. Ich konnte selbst nichts tun; ich meine, ich tat, was ich konnte, und es half nichts. Deshalb gab ich auf.
Das hatte mich zum Teil von anderen abhängig gemacht – es war eine Art von Unselbständigkeit. Gleichgültig, was ich zunächst einmal tat, ich bekam nicht, was ich wollte. Ich mußte darauf warten, daß ›sie‹ für mich bereit waren. Da ich keine Gewalt über mein Leben hatte, hörte ich zu kämpfen auf und wartete einfach. Ich gab es auf, es selbst zu versuchen. Ich wußte nicht, was ich sonst tun sollte. Ich atmete so wenig wie möglich, weil nicht genug Luft da war – und die Schmerzen in meiner Brust sind die direkte Folge davon, daß ich nicht atmete. Endlich war meine Zeit da: blau geboren, ohne zu atmen, mehr tot als lebendig. Aber ich hatte doch einen Augenblick des Triumphes: ich war draußen. Ich hatte es geschafft!
Ich erinnere mich, wie ich einen Streit mit meinem Freund hatte. Ich schlug ihn gegen die Brust, und er packte meine Handgelenke und hielt sie fest. Also, ich wurde völlig verrückt. Ich hatte eine Panik und wurde hysterisch. Ich fühlte mich wieder niedergehalten wie bei der Geburt, und das bedeutet für mich Hysterie.
Was mir immer geholfen hat, ist, daß ich immer wütend wurde, wenn ich völlig fertig war, und das rettete mich. Ich habe immer gewußt, daß ich im Elend lebte, aber ich wußte nie, warum. Ich erinnere mich, wie sich meine Leute stritten, als ich klein war. Ich hielt dann immer den Atem an, bis ich blau wurde und das Bewußtsein verlor. Das brachte sie dazu, mit dem Streiten aufzuhören! Ich sehe jetzt, wie prototypisch diese Reaktion war.
Ich konnte mich beim Sex nie gehenlassen, und deshalb ging ich selten mit jemandem ins Bett. Ich hatte nichts davon. Er war blockiert, aber ich wußte es nicht. Für mich war Sex einfach unangenehm. Jetzt weiß ich, was es war: ich fühlte mich nicht wohl in einer verwundbaren oder gefühlsbetonten Situation. Jetzt, wo ich mich für mich selbst, für mein tiefstes Selbst, geöffnet habe, kann ich Sex in mich aufnehmen, und das angenehme Gefühl, das ich dabei habe, sagt mir, wie sehr ich mich vorher nicht automatisch gehenlassen konnte. Sex war mit der Geburt verwandt – tun, was ich nicht tun wollte; in die Richtung eines anderen gehen. Geschlechtsverkehr haben, wenn ich nicht wollte, brachte immer das ganze alte Geburts-Feeling wieder herauf.«
Der Mutterschoß ist eine der großartigsten Schöpfungen der Natur. Er stellt eine Umwelt von komplizierten und schwierigen Prozessen dar, die sich auf wunderbare Weise zu Leben verbinden. Unsere Zeit im Schoß sollte die sanfteste, gedeihlichste und am besten behütete Zeit unseres Lebens sein. Sie sollte idyllisch sein. Sie sollte lebensschützend sein, denn jede Faser und Zelle des Schoßes ist dafür eingerichtet, Leben zu fördern, zu formen und zu erhalten.
Otto Rank glaubte, dies sei auch so, und seine Vorstellung fand weite Verbreitung. Er glaubte, das, wodurch wir traumatisiert werden, sei die Geburt: dieses plötzliche Hinausgestoßenwerden in eine grausame Welt, in der wir alle uns heimlich danach sehnen, an den sicheren Ort, fern den Härten des Lebens, zurückzukehren, zu der Behaglichkeit, zu diesem flüssigen Kissen, das uns einst gegen jedes Leid abschirmte. Was Rank als traumatisch empfand, war der Gegensatz zwischen dem Leben im Schoß und dem Leben in der Welt. Heute wissen wir, daß dieses Trauma im Schoß beginnt und daß die Schwierigkeit in der entgegengesetzten Richtung liegen könnte: wenn wir endlich zur Welt kommen, lassen wir oft Qualen hinter uns, gegen die wir hilflos waren. In vielen Fällen wird das »Kissen« des Schoßes zu einem »Gefängnis« lebenslangen Traumas. Das Ausgetragenwerden kann für viele Kinder ein neun Monate währender Alptraum sein; und tatsächlich wird der Stoff für spätere Alpträume unerschöpflich und endlos von dieser frühesten Zeit geliefert.
Wie kommt es dazu? Es gibt viele Arten von intrauterinem Streß, viele Arten, dem sich entwickelnden Embryo und Fetus Schaden zuzufügen. Einige davon sind Unfälle. Die Mutter kann sich unwissentlich die Röteln oder ähnliche Krankheiten zuziehen. Oder sie kann während der Schwangerschaft gezwungen sein, sich mit einer Art von Naturkatastrophe auseinanderzusetzen – einer Überschwemmung, einem Brand oder einem Erdbeben. Das alles sind Situationen, die ihrem Wesen nach streßhaft sind und über die die Mutter keine Gewalt hat. Unfallbedingte Stresse haben ihre Wirkung auf das Kind im Schoß, aber es gibt keine Möglichkeit, sie vorauszusehen oder zu verhindern.
Es gibt aber Formen intrauterinen Stresses, auf die eine Mutter Einfluß haben kann und die sie auch tatsächlich beeinflussen muß. Was sie ißt und trinkt, was für Medikamente sie nimmt oder nicht nimmt, ihr eigener, persönlicher Streß – das sind Faktoren, die bis zu verschiedenen Graden reguliert werden können. Essen, Trinken und Medikamente können vollständig reguliert werden (selbstverständlich unter der Voraussetzung, daß die Mutter die Mittel hat, nahrhafte Speisen zu sich zu nehmen). Persönlicher Streß läßt sich schwerer beherrschen. Ein Ehemann kann seiner Frau plötzlich im fünften Monat ihrer Schwangerschaft mitteilen, daß er sie verlassen will, und sie damit zwingen, den enormen Streß des persönlichen Verlustes und der Zurückweisung zu bewältigen und dazu noch den Streß, für das Leben in ihr allein verantwortlich zu sein. Geliebte Menschen können sterben oder lebensgefährlich erkranken, geschäftliche Fehlschläge können sich einstellen, heranwachsende Kinder können mehr verlangen, als die schwangere Mutter zu geben imstande ist.
Die Formen des persönlichen Stresses sind unbegrenzt, aber wie die Mutter diese Stresse bewältigt, wird von einem grundlegenden Faktor bestimmt, nämlich davon, ob sie neurotisch ist oder nicht. Eine neurotische Mutter (das heißt eine unter Urschmerz leidende Mutter) bedeutet einen schmerzerfüllten Schoß, denn gespeicherter Urschmerz breitet sich ebenso sicher und vollständig im ganzen Körpersystem aus wie Drogen, Alkohol oder Nikotin. Die Neurose der Mutter prädisponiert den ganzen Prozeß des Eintritts in das Leben in Richtung eines lebensbedrohenden, anstatt eines lebensfördernden Übergangs.
Ein großer Teil dieses Kapitels handelt davon, wie weit die Wissenschaft die Beziehung zwischen Schwangerschaftserlebnis und späterer Entwicklung entdeckt hat. Und wir haben sehr viel entdeckt durch die Beobachtung des Wiedererlebens von Geburtstraumata. Ein großer Teil der wissenschaftlichen Forschung bestätigt, was bei diesen Geburts-Primals beobachtet wird. Unglücklicherweise müssen wir uns auf eine solche Forschung stützen, um bestätigt zu finden, was uns der gesunde Menschenverstand und der Instinkt sagen sollten: daß der Fetus auf seine Erlebnisse anspricht und reagiert und sich an sie »erinnert«.
Erst als eine Methode gefunden worden war, die den Zugang zum Labyrinth des tiefen Unbewußten gestattete, konnten wir beginnen, die Realitäten des Lebens im Mutterschoß zu bestätigen. Die Wissenschaft ist letzten Endes nur eine Fußnote zum Erleben. Harte, nüchterne Tatsachen sind kein Ersatz für das Erleben, wenn wir unserem tiefen inneren Ich so sehr entfremdet sind, daß wir selbst nicht mehr fühlen können, was die Wahrheit ist.
Es ist durchaus sinnvoll, unser Studium des Primärschmerzes dort zu beginnen, wo das Leben selbst beginnt: mit der Mutter, denn die Natur der Mutter bestimmt die Natur der Mutterschaft. Aber die Last kann nicht der Mutter allein aufgebürdet werden, sie muß auch vom Vater, von der Familie, von der Gesellschaft getragen werden. Wenn wir, als Gesellschaft, unsere Zeit, unsere Anstrengungen und unsere Mittel darauf verwendeten, so günstige Bedingungen wie nur möglich für alle Schwangeren zu schaffen, würden wir, dessen bin ich sicher, weit weniger Lösungen für eine bessere Welt suchen müssen und sie als weit gesündere Menschen suchen.
Die Strukturen, die Schmerz und Leiden vermitteln, gehören zu den ältesten des Nervensystems. Sie existierten schon, bevor sich andere Strukturen entwickelten, um sie zu verstehen oder begrifflich zu erfassen. Nach nur wenigen Lebenswochen im Schoß kann der Fetus auf Input reagieren und ihn speichern. Daher besteht die Möglichkeit, daß wir im Schoß neurotisch werden, und daher denkt man in falschen Begriffen, wenn man an Neurose im Sinne von Verhalten denkt. Wir müssen offensichtlich beginnen, die Neurose als physiologische Krankheit zu sehen. An die Schmerzen, die im Schoß gespeichert werden, kann man sich »erinnern«, aber nicht im Sinne der kognitiven Gedächtnismechanismen, mit denen wir vertraut sind. Fetale Erinnerung ist eine Körpererinnerung. Der Körper erinnert sich auf seine eigene Weise, und dieses gespeicherte »Wissen« ist nicht weniger gültig als die intellektuelle Rückerinnerung.
Die Verdrängung ist ein physiologischer Prozeß, der schon vor sich geht, während sich der Fetus noch im Schoß befindet. Körpereigene schmerzstillende Substanzen, sogenannte Endorphine, wurden in der Plazenta gefunden, was darauf hinweist, daß ein Trauma, das der Fetus während der Schwangerschaft erleidet, verdrängt und unbewußt gemacht werden kann. Der Fetus besitzt somit die neurochemischen Mittel, Schmerz zu blockieren. Der Schmerz wird im Nervensystem niedergehalten und bildet einen Teil des Unbewußten, und so entsteht die Barriere zwischen Bewußt und Unbewußt schon im Schoß.
Schließlich ist es die allgemeine Verfassung der Mutter, die Art von Mensch, die sie körperlich und seelisch ist, die das Wachstum ihres Kindes formt. Es geht dabei nicht nur um das spätere offene Verhalten der Mutter gegenüber ihrem Kind. Wie wir noch sehen werden, können Veränderungen der Körperchemie der Mutter dem sich entwickelnden Fetus eingeprägt werden, und auf diese Weise wird die Neurose (oder Nicht-Neurose) der Mutter an das Kind weitergegeben.
Wenn das Kind geboren wird, hat es viele Merkmale, die wir früher der Vererbung zugeschrieben hätten, aber es zeigt sich nun, daß viele dieser Züge, Persönlichkeitsmerkmale und physiologischen Prädispositionen viel mehr mit dem intrauterinen Milieu zu tun haben als mit der genetischen Anlage. Selbst wenn erbliche Prädispositionen für, beispielsweise, Schilddrüsenüberfunktion, Stottern oder Allergien vorhanden sind, kann immer noch die Beschaffenheit des intrauterinen Milieus dafür ausschlaggebend sein, ob sie sich manifestieren oder nicht. Solange wir keinen Zugang zum Leben im Schoß und zum Geburtserlebnis hatten, konnten wir annehmen, daß Vererbung der einzige oder der wesentlichste Faktor sei, der bestimmt, in was für einer Verfassung das Kind geboren wird. Heute haben wir zusätzlich zum wissenschaftlichen Befund noch eine andere Art von Beweis, der uns hilft, die Wirkungen von Schwangerschaft und Geburt zu verstehen – und das ist der Beweis von Menschen, die ihre frühesten Lebenserfahrungen wiedererleben.
Diese Erfahrungen lehren uns, daß die Neurose in einem ganz realen Sinn schon beginnen kann, bevor das Kind empfangen wird. Die »Genetik« der Neurose – die Mechanismen, durch die sie von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird – beginnt mit den verborgenen Gründen für den Wunsch der Eltern, ein Kind zu haben. Aber was bei den Eltern verborgen ist, wird beim Kind leider nur allzu sichtbar: wenn neurotische Motivationen zu Fleisch und Blut werden, sind ihre Folgen ebenso sichtbar und katastrophal wie jede Krankheit oder jedes Unglück.
Spielt es eine Rolle, warum Menschen Kinder haben wollen? Haben unsere bewußten oder unbewußten Motivationen eine Wirkung auf das winzige Stückchen Leben, das im Mutterschoß wächst? Ich glaube, ja. Die Forschungsergebnisse deuten darauf hin, daß Mütter, die aus gleich welchen Gründen unglücklich über ihre Schwangerschaft sind, Kinder zur Welt bringen, die übererregbar und unruhig sind, übermäßig viel weinen, wenig essen und sich oft erbrechen. Es ist zwar gut und schön, daß derlei Dinge nun quantifizierbar werden, aber ich glaube nicht, daß wir Archive voll Statistiken brauchen, um uns von etwas so Offenkundigem zu überzeugen. Jede Zelle im Körper des Kindes wird, obwohl sie aus der Vereinigung von männlichen und weiblichen Zellen entstanden ist, durch den Körper der Mutter ernährt. Das bedeutet, daß beinahe alles, was die Mutter beeinflußt, Auswirkungen auf das Leben in ihr hat. Unsere Motivationen für die Zeugung werden buchstäblich durch die Gewebe gefiltert, die das Kind selbst und seine erste Umgebung bilden.
Wir neigen dazu, Motivationen für eine Art von abstrakten, psychologischen Gegebenheiten zu halten – für einen Bereich des Geistes und nicht des Körpers. Aber Motivationen haben präzise physische und emotionale Korrelate zusätzlich zu jeder begrifflichen Erfassung. Tatsächlich sind Motivationen zunächst körperlicher Natur. Der Intellekt spielt erst zuletzt eine Rolle. Er artikuliert nur, was unsere Empfindungen, Gefühle und Bedürfnisse uns zu tun heißen. Die Motivation ist ein Ergebnis von Empfindungen und körperlichen Zuständen. Eben deshalb sind neurotische Motivationen schädlich für den sich entwickelnden Fetus. Was immer an Ängsten, Ressentiments, Zwängen, Wünschen und Egoismen an der Entscheidung, ein Kind zu haben, beteiligt ist, ist auch in den Geweben vorhanden, die Frucht dieser Entscheidung sind.
Ein Kind, das von neurotischen Eltern gezeugt wird, wird nicht um seiner selbst willen gezeugt. Vom Augenblick der Empfängnis an wird es im Dienst der Bedürfnisse der Eltern verwendet – eine Art von erzwungener pränataler Prostitution. Es gibt unzählige neurotische Gründe dafür, Kinder zu haben, und keiner davon hat etwas damit zu tun, einen gesunden neuen Menschen zu schaffen. Für Neurotiker ist das Kinderhaben allzu oft nur eine weitere Art, verleugnete Bedürfnisse und verleugneten Urschmerz auszuagieren.
Einer der häufigsten Gründe dafür, daß Neurotiker Kinder haben, ist, daß sie jemanden brauchen, der Liebe gibt, jemanden, den die Eltern ganz für sich haben können, jemanden, auf den sie stolz sein können, jemanden, der sie braucht. Der Wert des Kindes liegt darin, daß es seinen Eltern das Gefühl gibt, geliebt zu werden. Das klingt vielleicht nicht so neurotisch, weil es so allgemein üblich ist. Aber das aus diesen Gründen gezeugte Kind hat eine ungeheure – eine vielleicht zu große – Verantwortung vor sich, bevor es noch den ersten Atemzug tut: es soll seinen Eltern die Welt sein, zwei komplexe, unbewußte Menschen glücklich machen, ihre Bedürfnisse in einer Welt erfüllen, in der es schon schwer genug ist, seine eigenen Bedürfnisse erfüllt zu bekommen. Neugeborene bestehen jedoch selbst ganz und gar aus Bedürfnissen, und deshalb heißt es, Unheil herausfordern, wenn man sie aus eigenen unerfüllten Bedürfnissen heraus zeugt oder empfängt.
Eine andere übliche Motivation für eine Schwangerschaft ist die, eine schon zerbröckelnde Ehe zusammenzuhalten. Auch hier wieder wird das Kind unter einem ungeheuren Druck gezeugt, und man teilt ihm eine Herkulesarbeit zu, bevor es noch imstande ist, auch nur einen seiner Muskeln zu bewegen. Die Aufgabe dieses ungeborenen Kindes ist es, zu lösen, was zwei »intelligente« Erwachsene nicht zu lösen vermochten: ihr eigenes emotionales Durcheinander. Was die Eltern nicht sehen, ist, daß sie versuchen, ihr ungeborenes Kind in eine Lösung zu ihrer eigenen Rettung zu verwandeln. Ein Ehepaar kann in aller Unschuld sagen: »Wir hatten in letzter Zeit Probleme und haben das Gefühl, daß uns ein Kind näher zusammenbringen wird.« Aber näher zusammen wozu? Sie können nur zu dem näher zusammenkommen, was schon da ist: zu ihren eigenen unbefriedigten Bedürfnissen, zu ihrem Urschmerz, zu ihren eigenen Neurosen.
Eine Frau, die empfängt, um einen Mann »festzuhalten«, oder ein Mann, der unbewußte Zweifel an seiner Männlichkeit hat und seine Frau schwängert, um sich zu beweisen – beide tragen zu dem Lebensbeginn ihres Kindes neurotische Motivationen bei. Der Fetus ist ein Produkt dieser Motivationen, dieser kombinierten Physiologien. Die Motivation ist ihrerseits das Produkt eines Systems, das überaktiviert ist – mit einem veränderten Hormonausstoß, zu schnellem Puls und hohem Blutdruck –, denn ein völlig normales System, eines, das sich in Harmonie befindet, wird im großen und ganzen nicht von neurotischen Motivationen beherrscht. Der »Druck« der Mutter ist nicht nur eine psychologische Metapher, er ist eine biologische Realität.
Eine »unbeabsichtigte« Schwangerschaft stellt das gleiche Problem umgekehrt dar: die Motivation dafür, nicht schwanger zu werden, wird zur Reaktion auf die unerwünschte Schwangerschaft. Wir schaffen aus Versehen einen neuen Menschen und fühlen dann nichts als Groll gegen ihn. Unbeabsichtigte Kinder werden gewöhnlich vom Augenblick der Entdeckung der Schwangerschaft an als Belästigung betrachtet. Kann sich ein Kind im Schoß wirklich wertlos fühlen? Ja und nein. Ein Kind kann sich wertlos fühlen, ohne Wertlosigkeit als Begriff zu kennen. Wenn der winzige, drei Wochen alte Embryo auf neutrale (das heißt nichtbedrohliche) Veränderungen des Lichts und der Geräusche in der äußeren Umgebung reagieren kann – und wir wissen, daß er es kann –, so reagiert er sicherlich auf bedrohliche emotionale Fluktuationen in seiner inneren Umwelt – die ihn immerhin umschließt und zusammensetzt.
Was während der neun Schwangerschaftsmonate vorgeht, sagt oft die Art der Beziehung voraus, die Mutter und Kind später haben werden. Das Ignoriert- oder Abgelehntwerden im Schoß wird durch eine ungünstige biochemische Umwelt mitgeteilt. Die Primärkraft wird dann in voll entwickelte Feelings der Ablehnung, Demütigung und Wertlosigkeit umgeformt. Die Etiketten für die Verletzung werden viel später im Leben angehängt und sind letzten Endes nicht wirklich wichtig. Was zählt, ist die Verletzung selbst. Urschmerz ist derselbe, gleich, wie man ihn nennt. Er wird auf dieselbe Weise verarbeitet. Beinahe alle Urschmerzen (und Schmerzen) werden biologisch auf dieselbe Weise und durch dieselben physiologischen Mechanismen verarbeitet. Tatsächlich gibt es, wie unsere Forschungen gezeigt haben, charakteristische biologische und biochemische Veränderungen, wenn frühe Urschmerzen erlebt werden – ohne Rücksicht darauf, wie der Urschmerz etikettiert oder genannt wird und ob sich jemand wertlos oder abgelehnt oder kritisiert fühlt. Der Fetus fühlt wirklich Schmerz, und schon auf einer primitiven zellularen Ebene reagiert er darauf, unerwünscht zu sein.
Ein erschütterndes Beispiel für all das fällt mir ein. In einem Buch mit dem Titel Dibs: In Search of Self[7] schildert Virginia M. Axline ihre therapeutische Arbeit mit einem Jungen, der unterschiedlich als autistisch, als schizophren und als geistig zurückgeblieben diagnostiziert worden war. Niemand wußte wirklich, was ihm fehlte, außer, daß sein Verhalten schwer gestört war. Die Geschichte von Dibs ist eine einzige klare, eindeutige und in Buchform festgehaltene Antwort auf unsere Frage, ob ein Kind im Mutterschoß leiden kann. Ich bin sicher, daß es zahllose ähnliche Geschichten gibt, die Kinder erzählen könnten, wenn sie die Worte dafür hätten.
Als Axline mit dem sechsjährigen Dibs zu arbeiten begann, hatte er beinahe zwei Jahre lang eine private Schule besucht. Sein Verhalten war bestenfalls unberechenbar und im schlimmsten Fall völlig unbeherrschbar. Er sprach beinahe überhaupt nicht, saß manchmal stumm und regungslos da und hatte dann wieder wilde Wutanfälle. Axline schreibt:
»Sein Verhalten war so ungleichmäßig. Das eine Mal schien er geistig extrem zurückgeblieben zu sein. Das andere Mal wieder tat er rasch und still etwas, was darauf hinwies, daß er sogar eine überdurchschnittliche Intelligenz besitzen könnte. Wenn er glaubte, daß ihn jemand beobachtete, zog er sich rasch in seine Schale zurück. Die meiste Zeit kroch er an der Wand entlang im Zimmer herum, versteckte sich unter Tischen, wiegte sich vor und zurück, kaute auf seiner Handkante, lutschte am Daumen, lag auf dem Bauch starr auf dem Boden, wenn eine der Lehrerinnen oder eines der Kinder versuchte, ihn an einer Beschäftigung teilnehmen zu lassen« (S. 15).
Es war noch nicht einmal eine klare Diagnose gestellt worden, aber beide Eltern waren fest davon überzeugt, daß Dibs geistig zurückgeblieben war, und das trotz der Tatsache, daß er sich stundenlang in Bücher vertiefen konnte – solange niemand anwesend war. Axline erzählt:
»(Die Lehrerinnen) boten ihm Bücher, Spielsachen, Puzzles, alle Arten von Dingen an, die ihn hätten interessieren können. Er nahm niemals etwas direkt von jemandem an. Wenn der Gegenstand auf einen Tisch oder in seiner Nähe auf den Boden gelegt wurde, nahm er ihn später in die Hand und untersuchte ihn aufmerksam. Ein Buch ließ er nie unberührt. Er brütete stundenlang über den gedruckten Seiten, ›als ob er lesen könnte‹, wie Hedda (eine Lehrerin) oft sagte.
Manchmal setzte sich eine Lehrerin zu ihm und las eine Geschichte vor oder sprach über etwas, während Dibs mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag und nie wegkroch – aber auch nie aufblickte oder offenes Interesse zu erkennen gab. Miß Jane (eine andere Lehrerin) hatte oft ihre Zeit mit Dibs auf diese Weise verbracht. Sie sprach über viele Dinge, während sie die Gegenstände in der Hand hielt und zeigte, was sie erklärte … Sie sprach über alles, wovon sie hoffte, daß es einen Funken von Interesse wecken könnte. Sie sagte, sie komme sich oft vor wie eine Närrin – so als säße sie da und redete mit sich selbst, aber etwas an seiner liegenden Stellung erweckte den Eindruck, daß er zuhörte. Oft fragte sie sich auch, was sie schon zu verlieren hatte« (S. 15f.).
Für die Lehrerinnen, den Psychologen und den Kinderarzt war Dibs ein Rätsel. Bei dem Versuch, ihn zu beurteilen, hatte der Kinderarzt eines Tages verzweifelt die Hände in die Luft geworfen und gesagt: »Er ist ein ganz Sonderbarer. Wer weiß, was? Geistig zurückgeblieben? Psychotisch? Gehirngeschädigt? Wer kann nahe genug an ihn herankommen, um herauszukriegen, was mit ihm los ist?«
Dibs’ Mutter hatte Axline von Anfang an gesagt, daß weder sie noch ihr Mann etwas mit der Therapie ihres Kindes zu tun haben wolle. Axline erkannte bald, daß die Mutter das nicht aus Härte oder Gleichgültigkeit sagte, sondern wegen ihrer eigenen großen Angst und Verwirrung und ihrer eigenen Hemmungen. Axline war einverstanden, weil sie fürchtete, daß jeder noch so geringe Druck die beiden veranlassen würde, Dibs’ Therapie zu beenden. Nachdem sie mehrere Monate mit Dibs gearbeitet hatte, wurde Axline von der Mutter unerwartet um eine Unterredung gebeten. Das Folgende sind Auszüge aus dieser Unterredung, in der die Mutter zum erstenmal ihre wahren Gefühle gegenüber dem Kind verriet, das sie empfangen hatte. Es zeigte sich, daß sie bei diesem Gespräch das einzige Mal imstande war, so persönliche und schmerzliche Dinge mitzuteilen:
»Ich mache mir solche Sorgen um Dibs … In letzter Zeit scheint er so unglücklich zu sein. Er steht herum, sieht mich an, immer so still. Er kommt jetzt öfter aus seinem Zimmer heraus. Aber er steht nur so herum, am Rand der Dinge, wie ein geisternder Schatten. Und sowie ich mit ihm spreche, läuft er davon. Und kommt dann zurück und sieht mich mit einem so tragischen Kummer in seinen Augen an … Mir ist sehr unbehaglich zumute, wenn er das tut. Es ist, als wollte er um etwas bitten – um etwas, was ich ihm nicht geben kann. Er ist ein sehr schwer zu verstehendes Kind. Ich habe es versucht. Wirklich, ich habe es versucht. Aber es ist mir nicht gelungen. Von Anfang an, als er noch ein Säugling war, konnte ich ihn nicht verstehen. Ich hatte vor Dibs keine Kinder wirklich kennengelernt. Ich hatte keine richtige Erfahrung als Frau mit Kindern oder Babys. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie sind, ich meine, wirklich als Menschen. Ich wußte biologisch und medizinisch alles über sie. Aber ich konnte Dibs nie verstehen. Er war ein solcher Kummer – eine solche Enttäuschung vom Augenblick seiner Geburt an. Wir hatten kein Kind haben wollen. Ich habe ihn aus Versehen empfangen.
Er durchkreuzte alle unsere Pläne. Ich hatte ebenfalls meine berufliche Karriere. Mein Mann war stolz auf meine Leistungen. Mein Mann und ich waren sehr glücklich, bevor Dibs geboren wurde. Und als er geboren wurde, war er so anders. So groß und häßlich. So ein großer, formloser Brocken! Überhaupt nicht zutraulich. Tatsächlich lehnte er mich von dem Augenblick an, in dem er geboren wurde, ab. Er wurde steif und weinte jedesmal, wenn ich ihn aufnahm!
… Meine Schwangerschaft war sehr schwierig. Ich war die meiste Zeit krank. Und mein Mann ärgerte sich über meine Schwangerschaft. Er dachte, ich hätte sie vermeiden können. Oh, ich mache ihm keinen Vorwurf. Ich ärgerte mich auch. Wir konnten nichts mehr von dem tun, was wir vorher unternommen hatten, konnten nirgends mehr hingehen. Ich nehme an, ich sollte sagen, wir taten es nicht, und nicht: wir konnten es nicht. Mein Mann blieb immer mehr weg, vergrub sich in seine Arbeit. Er ist Wissenschaftler, wissen Sie. Ein hochbegabter Mann! Aber unnahbar.