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Die bewährten Hamburger Lesehefte + Königs Materialien in einem Band. Das zeichnet die neue Reihe aus: - Die preisgünstigste Reihe im deutschsprachigen Raum! - Großes Format (DIN A5) in moderner Aufmachung - Lesefreundlicher, sorgfältig edierter Originaltext - Seiten- und zeilengleich mit der entsprechenden Ausgabe der Hamburger Lesehefte - Breite Randspalte mit kurzen Worterklärungen - Platz für eigene Notizen - Navigationsleiste zur besseren Orientierung - Biografie des Autors (kompakt zusammengefasst) - Ausführlicher Wort- und Sacherklärungsteil - Umfangreiche Materialien, nach Themenbereichen gebündelt In Frank Wedekinds "Frühlingserwachen" entdecken Jugendliche ihre Sexualität und stoßen dabei auf die strengen moralischen und gesellschaftlichen Normen ihrer Zeit. Die daraus resultierenden Konflikte, Unwissenheit und Unterdrückung führen zu tragischen Schicksalen, darunter Tod und Verzweiflung.
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Seitenzahl: 201
Text und Materialien
FRANK WEDEKIND
Frühlings Erwachen
Ein Kindertragödie
Dem vermummten Herren
der Verfasser
HAMBURGER LESEHEFTE PLUSKÖNIGS MATERIALIEN521. HEFT
Zur Textgestaltung Als Vorlage diente der Text des von Hansgeorg Maier herausgegebenen Bands 1 der Ausgabe Prosa. Dramen. Verse von Frank Wedekind (München: Albert Langen – Georg Müller, 2. Auflage 1960), welche wiederum auf der Grundlage der Gesammelten Werke Wedekinds in neun Bänden (1924) von Artur Kutscher und Joachim Friedenthal entstanden ist. Der Text wurde den amtlichen Rechtschreibregeln behutsam angepasst.
Analysiert und interpretiert mit Textverweisen auf dieses Heft wird Frühlings Erwachen in Königs Erläuterungen, Band 406, C. Bange Verlag.
1. Auflage 2021
Alle Drucke dieser Ausgabe und die der Hamburger Lesehefte sind untereinander unverändert und können im Unterricht nebeneinander genutzt werden.
Heftbearbeitung Text: Elke und Uwe Lehmann Heftbearbeitung Materialien: Dr. Oliver Pfohlmann Umschlaggestaltung und Layout: Petra Michel Umschlagzeichnung: Dietrich Bieber
ISBN: 978-3-8044-2579-8PDF: 978-3-8044-6579-4EPUB: 978-3-8044-7579-3 © 2021 by C. Bange Verlag GmbH, Marienplatz 12, 96142 [email protected] – www.bange-verlag.de
ISBN: 978-3-87291-520-7PDF: 978-3-87291-720-1EPUB: 978-3-87291-670-9 © 2021 by Hamburger Lesehefte Verlag, Nordbahnhofstraße 2, 25813 [email protected] – www.hamburger-lesehefte.de
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Versdramen weisen zusätzlich zur Seitenzählung eine Versnummerierung in entsprechender Höhe auf dem Rand aus.
Text
PERSONEN
ERSTER AKT
ZWEITER AKT
DRITTER AKT
Biografie
Wort- und Sacherklärungen
Materialien
Zugänge
Dichter, Bänkelsänger und Bürgerschreck
Ilse
Wendla
An Elka
Schule und Sexualaufklärung um 1900 und heute
Die Schule im vorigen Jahrhundert
Schülerselbstmorde um 1900
Eros Matutinus
Selbstbeherrschung statt Selbstbefleckung
Zur sexuellen Aufklärung der Kinder
Über Erotik
Generation Porno?
Literarische Kontexte
Meine Ruh ist hin
Trüber Tag. Feld
Zwei Welten
Das Gefährlichste auf der Welt?
Zur Entstehung
Der Fall Frank Oberlin
Eine Theorie über den Egoismus
Zur Hälfte fertig
Mein einziger Trost
Die Erscheinungen der Pubertät
Den Humor zur Geltung bringen
Über die Entstehung des Stücks
Zu Form und Deutung
Kinder im Mittelpunkt einer Tragödie
Tragikomödie in der Tradition des Sturm und Drang
Das dramatische Modell
Zur Rezeption
Eine „Schande“ für Wedekinds Mutter
„Fortpflanzung“ statt „Beischlaf“
Eine lyrische Tragödie
Über Literaturkritik – aus der Vorrede zu dem Drama Oaha
Das Gericht hebt das Aufführungsverbot wieder auf
Claus Peymann glaubt mit Wedekind an den Storch
Sexistische Sprache: Ärger um Frühlings Erwachen an NRW-Gymnasium
Catharina May entlockt dem alten Stoff zeitlose Fragen
MELCHIOR GABOR
HERR GABOR, sein Vater
FRAU GABOR, seine Mutter
WENDLA BERGMANN
FRAU BERGMANN, ihre Mutter
INA MÜLLER, Wendlas Schwester
MORITZ STIEFEL
RENTIER STIEFEL, sein Vater
OTTO
ROBERT
GEORG ZIRSCHNITZ
ERNST RÖBEL
HÄNSCHEN RILOW
LÄMMERMEIER
Gymnasiasten
MARTHA BESSEL
THEA
Schülerinnen
ILSE, ein Modell
REKTOR SONNENSTICH
HUNGERGURT
KNOCHENBRUCH
AFFENSCHMALZ
KNÜPPELDICK
ZUNGENSCHLAG
FLIEGENTOD
Gymnasialprofessoren
HABEBALD, Pedell
PASTOR KAHLBAUCH
ZIEGENMELKER, Freund Rentier Stiefels
ONKEL PROBST
DIETHELM
REINHOLD
RUPRECHT
HELMUTH
Zöglinge der Korrektionsanstalt
GASTON
DR. PROKRUSTES
EIN SCHLOSSERMEISTER
DR. VON BRAUSEPULVER, Medizinalrat
DER VERMUMMTE HERR
Gymnasiasten, Winzer, Winzerinnen.
Wohnzimmer.
WENDLA.
Warum hast du mir das Kleid so lang gemacht, Mutter?
FRAU BERGMANN.
Du wirst vierzehn Jahr heute!
WENDLA.
Hätt ich gewusst, dass du mir das Kleid so lang machen werdest, ich wäre lieber nicht vierzehn geworden.
FRAU BERGMANN.
Das Kleid ist nicht zu lang, Wendla. Was willst du denn! Kann ich dafür, dass mein Kind mit jedem Frühling wieder zwei Zoll größer ist? Du darfst doch als ausgewachsenes Mädchen nicht in Prinzesskleidchen einhergehen.
WENDLA.
Jedenfalls steht mir mein Prinzesskleidchen besser als diese Nachtschlumpe. – Lass mich’s noch einmal tragen, Mutter! Nur noch den Sommer lang. Ob ich nun vierzehn zähle oder fünfzehn, dies Bußgewand wird mir immer noch recht sein. – Heben wir’s auf bis zu meinem nächsten Geburtstag; jetzt würd ich doch nur die Litze heruntertreten.
FRAU BERGMANN.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich würde dich ja gerne so behalten, Kind, wie du gerade bist. Andere Mädchen sind stakig und plump in deinem Alter. Du bist das Gegenteil. – Wer weiß, wie du sein wirst, wenn sich die andern entwickelt haben.
WENDLA.
Wer weiß – vielleicht werde ich nicht mehr sein.
FRAU BERGMANN.
Kind, Kind, wie kommst du auf die Gedanken!
WENDLA.
Nicht, liebe Mutter; nicht traurig sein!
FRAU BERGMANN
(sie küssend). Mein einziges Herzblatt!
WENDLA.
Sie kommen mir so des Abends, wenn ich nicht einschlafe. Mir ist gar nicht traurig dabei, und ich weiß, dass ich dann umso besser schlafe. – Ist es sündhaft, Mutter, über derlei zu sinnen?
FRAU BERGMANN.
Geh denn und häng das Bußgewand in den Schrank! Zieh in Gottes Namen dein Prinzesskleidchen wieder an! – Ich werde dir gelegentlich eine Handbreit Volants unten ansetzen.
WENDLA
(das Kleid in den Schrank hängend). Nein, da möcht ich schon lieber gleich vollends zwanzig sein …!
FRAU BERGMANN.
Wenn du nur nicht zu kalt hast! – Das Kleidchen war dir ja seinerzeit reichlich lang; aber …
[6]WENDLA.
Jetzt, wo der Sommer kommt? – O Mutter, in den Kniekehlen bekommt man auch als Kind keine Diphtheritis! Wer wird so kleinmütig sein. In meinen Jahren friert man noch nicht – am wenigsten an die Beine. Wär’s etwa besser, wenn ich zu heiß hätte, Mutter? – Dank es dem lieben Gott, wenn sich dein Herzblatt nicht eines Morgens die Ärmel wegstutzt und dir so zwischen Licht abends ohne Schuhe und Strümpfe entgegentritt! – Wenn ich mein Bußgewand trage, kleide ich mich darunter wie eine Elfenkönigin … Nicht schelten, Mütterchen! Es sieht’s dann ja niemand mehr.
Sonntagabend.
MELCHIOR.
Das ist mir zu langweilig. Ich mache nicht mehr mit.
OTTO.
Dann können wir andern nur auch aufhören! – Hast du die Arbeiten, Melchior?
MELCHIOR.
Spielt ihr nur weiter!
MORITZ.
Wohin gehst du?
MELCHIOR.
Spazieren.
GEORG.
Es wird ja dunkel!
ROBERT.
Hast du die Arbeiten schon?
MELCHIOR.
Warum soll ich denn nicht im Dunkeln spazieren gehn?
ERNST.
Zentralamerika! – Ludwig der Fünfzehnte! Sechzig Verse Homer! – Sieben Gleichungen!
MELCHIOR.
Verdammte Arbeiten!
GEORG.
Wenn nur wenigstens der lateinische Aufsatz nicht auf morgen wäre!
MORITZ.
An nichts kann man denken, ohne dass einem Arbeiten dazwischenkommen!
OTTO.
Ich gehe nach Hause.
GEORG.
Ich auch, Arbeiten machen.
ERNST.
Ich auch, ich auch.
ROBERT.
Gute Nacht, Melchior.
MELCHIOR.
Schlaft wohl!
(Alle entfernen sich bis auf Moritz und Melchior.)
MELCHIOR.
Möchte doch wissen, wozu wir eigentlich auf der Welt sind!
MORITZ.
Lieber wollt ich ein Droschkengaul sein um der Schule [7]willen! – Wozu gehen wir in die Schule? – Wir gehen in die Schule, damit man uns examinieren kann! – Und wozu examiniert man uns? – Damit wir durchfallen. – Sieben müssen ja durchfallen, schon weil das Klassenzimmer oben nur sechzig fasst. – Mir ist so eigentümlich seit Weihnachten … hol mich der Teufel, wäre Papa nicht, heut noch schnürt ich mein Bündel und ginge nach Altona!
MELCHIOR.
Reden wir von etwas anderem. –
(Sie gehen spazieren.)
MORITZ.
Siehst du die schwarze Katze dort mit dem emporgereckten Schweif?
MELCHIOR.
Glaubst du an Vorbedeutungen?
MORITZ.
Ich weiß nicht recht. – – Sie kam von drüben her. Es hat nichts zu sagen.
MELCHIOR.
Ich glaube, das ist eine Charybdis, in die jeder stürzt, der sich aus der Skylla religiösen Irrwahns emporgerungen. – – Lass uns hier unter der Buche Platz nehmen. Der Tauwind fegt über die Berge. Jetzt möchte ich droben im Wald eine junge Dryade sein, die sich die ganze lange Nacht in den höchsten Wipfeln wiegen und schaukeln lässt …
MORITZ.
Knöpf dir die Weste auf, Melchior!
MELCHIOR.
Ha – wie das einem die Kleider bläht!
MORITZ.
Es wird weiß Gott so stockfinster, dass man die Hand nicht vor den Augen sieht. Wo bist du eigentlich? – – Glaubst du nicht auch, Melchior, dass das Schamgefühl im Menschen nur ein Produkt seiner Erziehung ist?
MELCHIOR.
Darüber habe ich erst vorgestern noch nachgedacht. Es scheint mir immerhin tief eingewurzelt in der menschlichen Natur. Denke dir, du sollst dich vollständig entkleiden vor deinem besten Freund. Du wirst es nicht tun, wenn er es nicht zugleich auch tut. – Es ist eben auch mehr oder weniger Modesache.
MORITZ.
Ich habe mir schon gedacht, wenn ich Kinder habe, Knaben und Mädchen, so lasse ich sie von früh auf im nämlichen Gemach, wenn möglich auf ein und demselben Lager, zusammen schlafen, lasse ich sie morgens und abends beim Anund Auskleiden einander behilflich sein und in der heißen Jahreszeit, die Knaben sowohl wie die Mädchen, tagsüber nichts als eine kurze, mit einem Lederriemen gegürtete Tunika aus weißem Wollstoff tragen. – Mir ist, sie müssten, wenn sie so heranwachsen, später ruhiger sein, als wir es in der Regel sind.
MELCHIOR.
Das glaube ich entschieden, Moritz! – Die Frage ist nur, wenn die Mädchen Kinder bekommen, was dann?
[8]MORITZ.
Wieso Kinder bekommen?
MELCHIOR.
Ich glaube in dieser Hinsicht nämlich an einen gewissen Instinkt. Ich glaube, wenn man einen Kater zum Beispiel mit einer Katze von Jugend auf zusammensperrt und beide von jedem Verkehr mit der Außenwelt fern hält, d. h. sie ganz nur ihren eigenen Trieben überlässt – dass die Katze früher oder später doch einmal trächtig wird, obgleich sie sowohl wie der Kater niemand hatten, dessen Beispiel ihnen hätte die Augen öffnen können.
MORITZ.
Bei Tieren muss sich das ja schließlich von selbst ergeben.
MELCHIOR.
Bei Menschen glaube ich erst recht! Ich bitte dich, Moritz, wenn deine Knaben mit den Mädchen auf ein und demselben Lager schlafen und es kommen ihnen nun unversehens die ersten männlichen Regungen – ich möchte mit jedermann eine Wette eingehen …
MORITZ.
Darin magst du ja Recht haben. – Aber immerhin …
MELCHIOR.
Und bei deinen Mädchen wäre es im entsprechenden Alter vollkommen das Nämliche! Nicht, dass das Mädchen gerade … man kann das ja freilich so genau nicht beurteilen … jedenfalls wäre vorauszusetzen … und die Neugierde würde das Ihrige zu tun auch nicht verabsäumen!
MORITZ.
Eine Frage beiläufig –
MELCHIOR.
Nun?
MORITZ.
Aber du antwortest?
MELCHIOR.
Natürlich!
MORITZ.
Wahr?!
MELCHIOR.
Meine Hand darauf. – – Nun, Moritz?
MORITZ.
Hast du den Aufsatz schon??
MELCHIOR.
So sprich doch frisch von der Leber weg! – Hier hört und sieht uns ja niemand.
MORITZ.
Selbstverständlich müssten meine Kinder nämlich tagsüber arbeiten, in Hof und Garten, oder sich durch Spiele zerstreuen, die mit körperlicher Anstrengung verbunden sind. Sie müssten reiten, turnen, klettern und vor allen Dingen nachts nicht so weich schlafen wie wir. Wir sind schrecklich verweichlicht. – Ich glaube, man träumt gar nicht, wenn man hart schläft.
MELCHIOR.
Ich schlafe von jetzt bis nach der Weinlese überhaupt nur in meiner Hängematte. Ich habe mein Bett hinter den Ofen gestellt. Es ist zum Zusammenklappen. – Vergangenen Winter träumte mir einmal, ich hätte unsern Lolo so lange gepeitscht, bis er kein Glied mehr rührte. Das war das [9]Grauenhafteste, was ich je geträumt habe. – Was siehst du mich so sonderbar an?
MORITZ.
Hast du sie schon empfunden?
MELCHIOR.
Was?
MORITZ.
Wie sagtest du?
MELCHIOR.
Männliche Regungen?
MORITZ.
M-hm.
MELCHIOR.
– Allerdings!
MORITZ.
Ich auch. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
MELCHIOR.
Ich kenne das nämlich schon lange! – Schon bald ein Jahr.
MORITZ.
Ich war wie vom Blitz gerührt.
MELCHIOR.
Du hattest geträumt?
MORITZ.
Aber nur ganz kurz … von Beinen im himmelblauen Trikot, die über das Katheder steigen – um aufrichtig zu sein, ich dachte, sie wollten hinüber. – Ich habe sie nur flüchtig gesehen.
MELCHIOR.
Georg Zirschnitz träumte von seiner Mutter.
MORITZ.
Hat er dir das erzählt?
MELCHIOR.
Draußen am Galgensteg!
MORITZ.
Wenn du wüsstest, was ich ausgestanden seit jener Nacht!
MELCHIOR.
Gewissensbisse?
MORITZ.
Gewissensbisse?? – – –
Todesangst!
MELCHIOR.
Herrgott …
MORITZ.
Ich hielt mich für unheilbar. Ich glaubte, ich litte an einem inneren Schaden. – Schließlich wurde ich nur dadurch wieder ruhiger, dass ich meine Lebenserinnerungen aufzuzeichnen begann. Ja, ja, lieber Melchior, die letzten drei Wochen waren ein Gethsemane für mich.
MELCHIOR.
Ich war seinerzeit mehr oder weniger darauf gefasst gewesen. Ich schämte mich ein wenig. – Das war aber auch alles.
MORITZ.
Und dabei bist du noch fast um ein ganzes Jahr jünger als ich!
MELCHIOR.
Darüber, Moritz, würd ich mir keine Gedanken machen. All meinen Erfahrungen nach besteht für das erste Auftauchen dieser Phantome keine bestimmte Altersstufe. Kennst du den großen Lämmermeier mit dem strohgelben Haar und der Adlernase? Drei Jahre ist der älter als ich. Hänschen Rilow sagt, der träume noch bis heute von nichts als Sandtorten und Aprikosengelee.
[10]MORITZ.
Ich bitte dich, wie kann Hänschen Rilow darüber urteilen!
MELCHIOR.
Er hat ihn gefragt.
MORITZ.
Er hat ihn gefragt? – Ich hätte mich nicht getraut, jemanden zu fragen.
MELCHIOR.
Du hast mich doch auch gefragt.
MORITZ.
Weiß Gott ja! – Möglicherweise hatte Hänschen auch schon sein Testament gemacht. – Wahrlich ein sonderbares Spiel, das man mit uns treibt. Und dafür sollen wir uns dankbar erweisen! Ich erinnere mich nicht, je eine Sehnsucht nach dieser Art Aufregung verspürt zu haben. Warum hat man mich nicht ruhig schlafen lassen, bis alles wieder still gewesen wäre. Meine lieben Eltern hätten hundert bessere Kinder haben können. So bin ich nun hergekommen, ich weiß nicht wie, und soll mich dafür verantworten, dass ich nicht weggeblieben bin. – Hast du nicht auch schon darüber nachgedacht, Melchior, auf welche Art und Weise wir eigentlich in diesen Strudel hineingeraten?
MELCHIOR.
Du weißt das also noch nicht, Moritz?
MORITZ.
Wie sollt ich es wissen? – Ich sehe, wie die Hühner Eier legen, und höre, dass mich Mama unter dem Herzen getragen haben will. Aber genügt denn das? – Ich erinnere mich auch, als fünfjähriges Kind schon befangen worden zu sein, wenn einer die dekolletierte Cœurdame aufschlug. Dieses Gefühl hat sich verloren. Indessen kann ich heute kaum mehr mit irgendeinem Mädchen sprechen, ohne etwas Verabscheuungswürdiges dabei zu denken, und – ich schwöre dir, Melchior – ich weiß nicht was.
MELCHIOR.
Ich sage dir alles. – Ich habe es teils aus Büchern, teils aus Illustrationen, teils aus Beobachtungen in der Natur. Du wirst überrascht sein; ich wurde seinerzeit Atheist. Ich habe es auch Georg Zirschnitz gesagt! Georg Zirschnitz wollte es Hänschen Rilow sagen, aber Hänschen Rilow hatte als Kind schon alles von seiner Gouvernante erfahren.
MORITZ.
Ich habe den Kleinen Meyer von A bis Z durchgenommen. Worte – nichts als Worte und Worte! Nicht eine einzige schlichte Erklärung. O dieses Schamgefühl! – Was soll mir ein Konversationslexikon, das auf die nächstliegende Lebensfrage nicht antwortet.
MELCHIOR.
Hast du schon einmal zwei Hunde über die Straße laufen sehen?
MORITZ.
Nein! – – Sag mir lieber heute noch nichts, Melchior. Ich habe noch Mittelamerika und Ludwig den Fünfzehnten vor [11]mir. Dazu die sechzig Verse Homer, die sieben Gleichungen, der lateinische Aufsatz – ich würde morgen wieder überall abblitzen. Um mit Erfolg büffeln zu können, muss ich stumpfsinnig wie ein Ochse sein.
MELCHIOR.
Komm doch mit auf mein Zimmer. In dreiviertel Stunden habe ich den Homer, die Gleichungen und zwei Aufsätze. Ich korrigiere dir einige harmlose Schnitzer hinein, so ist die Sache im Blei. Mama braut uns wieder eine Limonade, und wir plaudern gemütlich über die Fortpflanzung.
MORITZ.
Ich kann nicht. – Ich kann nicht gemütlich über die Fortpflanzung plaudern! Wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann gib mir deine Unterweisungen schriftlich. Schreib mir auf, was du weißt. Schreib es möglichst kurz und klar und steck es mir morgen während der Turnstunde zwischen die Bücher. Ich werde es nach Hause tragen, ohne zu wissen, dass ich es habe. Ich werde es unverhofft einmal wieder finden. Ich werde nicht umhin können, es müden Auges zu durchfliegen … falls es unumgänglich notwendig ist, magst du ja auch einzelne Randzeichnungen anbringen.
MELCHIOR.
Du bist wie ein Mädchen. – Übrigens wie du willst! Es ist mir das eine ganz interessante Arbeit. – – Eine Frage, Moritz.
MORITZ.
Hm?
MELCHIOR.
Hast du schon einmal ein Mädchen gesehen?
MORITZ.
Ja!
MELCHIOR.
Aber ganz?!
MORITZ.
Vollständig!
MELCHIOR.
Ich nämlich auch! – Dann werden keine Illustrationen nötig sein.
MORITZ.
Während des Schützenfestes, in Leilichs anatomischem Museum! Wenn es aufgekommen wäre, hätte man mich aus der Schule gejagt. – Schön wie der lichte Tag, und – o so naturgetreu!
MELCHIOR.
Ich war letzten Sommer mit Mama in Frankfurt – – Du willst schon gehen, Moritz?
MORITZ.
Arbeiten machen. – Gute Nacht.
MELCHIOR.
Auf Wiedersehen.
Thea, Wendla und Martha kommen Arm in Arm die Straße herauf.
MARTHA.
Wie einem das Wasser ins Schuhwerk dringt!
WENDLA.
Wie einem der Wind um die Wangen saust!
THEA.
Wie einem das Herz hämmert!
WENDLA.
Gehn wir zur Brücke hinaus! Ilse sagte, der Fluss führe Sträucher und Bäume. Die Jungens haben ein Floß auf dem Wasser. Melchi Gabor soll gestern Abend beinah ertrunken sein.
THEA.
O der kann schwimmen!
MARTHA.
Das will ich meinen, Kind!
WENDLA.
Wenn der nicht hätte schwimmen können, wäre er wohl sicher ertrunken!
THEA.
Dein Zopf geht auf, Martha; dein Zopf geht auf!
MARTHA.
Puh – lass ihn aufgehn! Er ärgert mich so Tag und Nacht. Kurze Haare tragen wie du darf ich nicht, das Haar offen tragen wie Wendla darf ich nicht, Ponyhaare tragen darf ich nicht, und zu Hause muss ich mir gar die Frisur machen – alles der Tanten wegen!
WENDLA.
Ich bringe morgen eine Schere mit in die Religionsstunde. Während du „Wohl dem, der nicht wandelt“ rezitierst, werd ich ihn abschneiden.
MARTHA.
Um Gottes willen, Wendla! Papa schlägt mich krumm, und Mama sperrt mich drei Nächte ins Kohlenloch.
WENDLA.
Womit schlägt er dich, Martha?
MARTHA.
Manchmal ist es mir, es müsste ihnen doch etwas abgehen, wenn sie keinen so schlecht gearteten Balg hätten wie ich.
THEA.
Aber Mädchen!
MARTHA.
Hast du dir nicht auch ein himmelblaues Band durch die Hemdpasse ziehen dürfen?
THEA.
Rosa Atlas! Mama behauptet, Rosa stehe mir bei meinen pechschwarzen Augen.
MARTHA.
Mir stand Blau reizend! – Mama riss mich am Zopf zum Bett heraus. So – fiel ich mit den Händen vorauf auf die Diele. – Mama betet nämlich Abend für Abend mit uns …
WENDLA.
Ich an deiner Stelle wäre ihnen längst in die Welt hinausgelaufen.
MARTHA.
… Da habe man’s, worauf ich ausgehe! – Da habe [13]man’s ja! – Aber sie wolle schon sehen – o sie wolle noch sehen! – Meiner Mutter wenigstens solle ich einmal keine Vorwürfe machen können …
THEA.
Hu – Hu –
MARTHA.
Kannst du dir denken, Thea, was Mama damit meinte?
THEA.
Ich nicht. – Du, Wendla?
WENDLA.
Ich hätte sie einfach gefragt.
MARTHA.
Ich lag auf der Erde und schrie und heulte. Da kommt Papa. Ritsch – das Hemd herunter. Ich zur Türe hinaus. Da habe man’s! Ich wolle nun wohl so auf die Straße hinunter …
WENDLA.
Das ist doch gar nicht wahr, Martha.
MARTHA.
Ich fror. Ich schloss auf. Ich habe die ganze Nacht im Sack schlafen müssen.
THEA.
Ich könnte meiner Lebtag in keinem Sack schlafen!
WENDLA.
Ich möchte ganz gern mal für dich in deinem Sack schlafen.
MARTHA.
Wenn man nur nicht geschlagen wird.
THEA.
Aber man erstickt doch darin!
MARTHA.
Der Kopf bleibt frei. Unter dem Kinn wird zugebunden.
THEA.
Und dann schlagen sie dich?
MARTHA.
Nein. Nur wenn etwas Besonderes vorliegt.
WENDLA.
Womit schlägt man dich, Martha?
MARTHA.
Ach was – mit allerhand. – Hält es deine Mutter auch für unanständig, im Bett ein Stück Brot zu essen?
WENDLA.
Nein, nein.
MARTHA.
Ich glaube immer, sie haben doch ihre Freude – wenn sie auch nichts davon sagen. – Wenn ich einmal Kinder habe, ich lasse sie aufwachsen wie das Unkraut in unserem Blumengarten. Um das kümmert sich niemand, und es steht so hoch, so dicht – während die Rosen in den Beeten an ihren Stöcken mit jedem Sommer kümmerlicher blühn.
THEA.
Wenn ich Kinder habe, kleid ich sie ganz in Rosa, Rosahüte, Rosakleidchen, Rosaschuhe. Nur die Strümpfe – die Strümpfe schwarz wie die Nacht! Wenn ich dann spazieren gehe, lass ich sie vor mir hermarschieren. – Und du, Wendla?
WENDLA.
Wisst ihr denn, ob ihr welche bekommt?
THEA.
Warum sollten wir keine bekommen?
MARTHA.
Tante Euphemia hat allerdings auch keine.
THEA.
Gänschen! – weil sie nicht verheiratet ist.
[14]WENDLA.
Tante Bauer war dreimal verheiratet und hat nicht ein einziges.
MARTHA.
Wenn du welche bekommst, Wendla, was möchtest du lieber, Knaben oder Mädchen?
WENDLA.
Jungens! Jungens!
THEA.
Ich auch Jungens!
MARTHA.
Ich auch. Lieber zwanzig Jungens als drei Mädchen.
THEA.
Mädchen sind langweilig!
MARTHA.
Wenn ich nicht schon ein Mädchen geworden wäre, ich würde es heute gewiss nicht mehr.
WENDLA.
Das ist, glaube ich, Geschmacksache, Martha! Ich freue mich jeden Tag, dass ich ein Mädchen bin. Glaub mir, ich wollte mit keinem Königssohn tauschen. – Darum möchte ich aber doch nur Buben!
THEA.
Das ist doch Unsinn, lauter Unsinn, Wendla!
WENDLA.
Aber ich bitte dich, Kind, es muss doch tausendmal erhebender sein, von einem Manne geliebt zu werden als von einem Mädchen!
THEA.
Du wirst doch nicht behaupten wollen, Forstreferendar Pfälle liebe Melitta mehr als sie ihn!
WENDLA.
Das will ich wohl, Thea! – Pfälle ist stolz. Pfälle ist stolz darauf, dass er Forstreferendar ist – denn Pfälle hat nichts. – Melitta ist selig, weil sie zehntausendmal mehr bekommt, als sie ist.
MARTHA.
Bist du nicht stolz auf dich, Wendla?
WENDLA.
Das wäre doch einfältig.
MARTHA.
Wie wollt ich stolz sein an deiner Stelle!
THEA.
Sieh doch nur, wie sie die Füße setzt – wie sie geradeaus schaut – wie sie sich hält, Martha! – Wenn das nicht Stolz ist!
WENDLA.
Wozu nur? Ich bin so glücklich, ein Mädchen zu sein; wenn ich kein Mädchen wär, brächt ich mich um, um das nächste Mal …
MELCHIOR
(geht vorüber und grüßt).
THEA.
Er hat einen wundervollen Kopf.
MARTHA.
So denke ich mir den jungen Alexander, als er zu Aristoteles in die Schule ging.
THEA.
Du lieber Gott, die griechische Geschichte! Ich weiß nur noch, wie Sokrates in der Tonne lag, als ihm Alexander den Eselsschatten verkaufte.
WENDLA.
Er soll der Drittbeste in seiner Klasse sein.
THEA.
Professor Knochenbruch sagt, wenn er wollte, könnte er Primus sein.
[15]MARTHA.
Er hat eine schöne Stirn, aber sein Freund hat einen seelenvolleren Blick.
THEA.
Moritz Stiefel? – Ist das eine Schlafmütze!
MARTHA.
Ich habe mich immer ganz gut mit ihm unterhalten.
THEA.
Er blamiert einen, wo man ihn trifft. Auf dem Kinderball bei Rilows bot er mir Pralinés an. Denke dir, Wendla, die waren weich und warm. Ist das nicht …? – Er sagte, er habe sie zu lang in der Hosentasche gehabt.
WENDLA.
Denke dir, Melchi Gabor sagte mir damals, er glaube an nichts – nicht an Gott, nicht an ein Jenseits – an gar nichts mehr in dieser Welt.
Parkanlagen vor dem Gymnasium. – Melchior, Otto, Georg, Robert, Hänschen Rilow, Lämmermeier.
MELCHIOR.
Kann mir einer von euch sagen, wo Moritz Stiefel steckt?
GEORG.
Dem kann’s schlecht gehn! O dem kann’s schlecht gehn!
OTTO.
Der treibt’s so lange, bis er noch mal ganz gehörig reinfliegt!
LÄMMERMEIER.
Weiß der Kuckuck, ich möchte in diesem Moment nicht in seiner Haut stecken!
ROBERT.
Eine Frechheit! – Eine Unverschämtheit!
MELCHIOR.
Wa – wa – was wisst ihr denn!
GEORG.
Was wir wissen? – Na, ich sage dir …!
LÄMMERMEIER.
Ich möchte nichts gesagt haben!
OTTO.
Ich auch nicht – weiß Gott nicht!
MELCHIOR.
Wenn ihr jetzt nicht sofort …
ROBERT.
Kurz und gut, Moritz Stiefel ist ins Konferenzzimmer gedrungen.
MELCHIOR.
Ins Konferenzzimmer …?
OTTO.
Ins Konferenzzimmer! – Gleich nach Schluss der Lateinstunde.
GEORG.
Er war der Letzte; er blieb absichtlich zurück.
LÄMMERMEIER.
Als ich um die Korridorecke bog, sah ich ihn die Tür öffnen.
MELCHIOR.
Hol dich der …!
LÄMMERMEIER.
Wenn nur ihn nicht der Teufel holt!
[16]GEORG.
Vermutlich hatte das Rektorat den Schlüssel nicht abgezogen.
ROBERT.
Oder Moritz Stiefel führt einen Dietrich.
OTTO.
Ihm wäre das zuzutrauen.
LÄMMERMEIER.
Wenn’s gut geht, bekommt er einen Sonntagnachmittag.
ROBERT.
Nebst einer Bemerkung ins Zeugnis!
OTTO.
Wenn er bei dieser Zensur nicht ohnehin an die Luft fliegt.
HÄNSCHEN RILOW.
Da ist er!
MELCHIOR.
Blass wie ein Handtuch.
(Moritz kommt in äußerster Aufregung.)
LÄMMERMEIER.