Fünf Kinder und fünfundzwanzig Babysitter - Paola Amadei - E-Book

Fünf Kinder und fünfundzwanzig Babysitter E-Book

Paola Amadei

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Beschreibung

Die wahre Geschichte einer fünffachen Mutter, die verzweifelt versucht, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Nach ihrem Abschluss in Wirtschaftswissenschaften ist Paola auf dem Weg zu einer Karriere in einem großen multinationalen Unternehmen in Deutschland. Bald merkt sie jedoch, dass diese hyperkompetitive Welt nichts für sie ist und reist mit einem Ticket ohne Rückreisedatum nach Indien. Die Zulassung zum Master in Umweltmanagement überzeugt sie jedoch zur Rückkehr. Auf der Universität lernt sie Luigi kennen. Sie gründen eine Familie mit der Idee, mindestens drei Kinder zur Welt zu bringen. Sie ist überzeugt, dass es möglich ist, mit der notwendigen Hilfe weiter arbeiten zu können und gleichzeitig Freude an ihren Kindern zu haben. So beginnt eine Reihe von Abenteuern und Missgeschicken, in denen es um Babysitter, Nannys, Au Pairs und Kindermädchen aller Art geht. Die Geschichte erzählt die Ereignisse im Leben dieser Mutter, zwischen beruflichem Verzicht, Existenz- und Paarkrisen und dem Umbruch der Geburt des fünften Kindes, wenn die anderen Geschwister schon fast erwachsen sind.

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Inhaltsverzeichnis

Frische Ananas zum Frühstück

Ein Schritt in die richtige Richtung

Der Mitstudent

Liiert oder nicht?

Jetzt wird es ernst

Ehe ja oder nein?

Erstes Kind und erster Babysitter

Lieber Babysitter oder Kindergarten?

Schmerz und Freude

Bei jeder Neugeburt ein neues Kindermädchen

Ein Babysitter für jede Situation

Vergrößern wir die Familie noch?

Wie eine Sternschnuppe

Unerklärliche Symptome

Vierter positiver Test

Babysitter, Kindermädchen oder Nanny?

Handbuch einer perfekten Nanny

Eine Geburt ohne Vorwarnung

Au Pair

Die perfekte Nanny… für Papa

Familienmuster

Endlich die perfekte Nanny

Ich schaffe das! … Schaffe ich das?

Ich schaffe es auch allein

Eine unerwartete Flucht

Ein neues Leben als Einsiedlerin

Das Haus anpassen

Abnehmende Wirkung

Immer noch besorgniserregende Symptome

Änderungen

Unaufhaltsame Zermürbung

Ein Leben beginnt und eines endet

Ein ruhiges Silvester zu Hause

Vier Babysitter für ein Baby

Bleiben oder fortgehen?

Widerstandsversuche

Eine neue Herausforderung

Schlusswort

Danksagung

Impressum

Paola Amadei

Fünf Kinder

und fünfundzwaNzig Babysitter

Frische Ananas zum Frühstück

Ich muss mein Leben ändern, ich mag diesen Job nicht. Es ist nichts für mich, und ich muss hier weg. Sogar mein Körper gibt mir in letzter Zeit starke Anzeichen, dass er dieses Leben nicht mehr ertragen kann, die Schilddrüse kopfüber, heftige Herzrasen.

Wie seltsam, zum ersten Mal wurde mir das alles in einer Situation bewusst, die jeder andere für beneidenswert gehalten hätte. Ich war zusammen mit meinem Team von KPMG Köln in einem der besten Hotels in Freiburg. Wir waren mit der Bilanzprüfung einer großen Versicherungsgesellschaft beschäftigt. An jenem Morgen war ich enttäuscht, weil es keine frische Ananas zum Frühstück gab. Um mich zu trösten, stürzte ich mich über die köstlichen frischen französischen Buttercroissants. In einem Anfall von Appetit und Gereiztheit verschlang ich fünf davon. Natürlich war ich früh aufgestanden und war schon meine morgendliche Joggingrunde gelaufen. Ich war bereit für einen langen Tag über Konten und Bilanzen. Die Arbeit erforderte viel Konzentration, aber dieser Gedanke schwirrte mir ab und zu durch den Kopf, auch abends nach dem Essen, als ich mit meinen Kollegen durch das Zentrum schlenderte und zum Turm des Freiburger Münsters blickte, der sich in das Kobaltblau eines wunderbaren Frühlingsabends abzeichnete.

Als ich am Ende der Woche zurück nach Köln kam, wusste ich, was ich tun musste: Ich brauchte etwas radikal Anderes in meinem Leben, zumindest für eine Weile. In fast drei Jahren hatte ich mit meinem Job in Deutschland so viel Geld angespart, dass ich es mir leisten konnte, für einige Monate meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, während ich über meine Zukunft nachdachte. Ich wollte mehr von der Welt sehen, andere Erfahrungen machen. Ehrenamtlich zu arbeiten, ja, mich für eine gewisse Zeit Anderen zu widmen, hätte mir geholfen zu verstehen nicht nur welchen Job ich machen wollte, sondern auch welchen Lebensstil am besten zu mir passte . Mein Job beschäftigte mich mehr als fünfzig Stunden pro Woche, führte mich sechs Monate im Jahr weg von der Stadt in der ich lebte, nämlich Köln. Ich war in Luxushotels untergebracht, wo ich so bedient und verehrt wurde, dass sich meine Stimmung änderte, wenn es keine frische Ananas zum Frühstück gab. So etwas wollte ich ganz und gar nicht.

Natürlich gab es angenehme Aspekte. Ich war mehr oder weniger durch ganz Nordeuropa gereist, das Leben in Köln war durchaus anregend, ich hatte viele Freunde, mit denen ich das Wochenende in Paris, Brüssel, Amsterdam verbringen konnte, sogar London war weniger als eine Stunde Flugzeug entfernt. Und wenn ich zu Hause blieb, gingen wir zu Ausstellungen moderner und zeitgenössischer Kunst, von denen Köln zu den wichtigsten Zentren Europas zählt, oder verbrachten die Abende in den Biergärten. Aber, genau, es gab ein Aber, ich wollte Anderes vom Leben sehen.

Und so begann ich, mit Organisationen die in der Entwicklungshilfe tätig waren, Kontakt aufzunehmen. Ich erkannte jedoch bald, dass es kein gangbarer Weg war, zumindest nicht um eine Erfahrung von wenigen Monaten zu machen. Alle verlangten eine Ausbildungszeit von sechs Monaten vor der Abreise. Aber ich wollte sofort weg, so schnell wie möglich. So bin ich eben: Wenn ich einen Impuls empfinde, der mich zu einer existenziellen Entscheidung führt, muss ich ihn sofort umsetzen, ich kann nicht lange erwarten.

Ich schrieb an die Missionarsschwestern von Kalkutta. Die Verantwortliche der Entwicklungshelfer antwortete: Komm, wir warten auf dich in A. J. Chandra Bose Road 54. Ich kündigte und im Juni 1993 verreiste ich nach Kalkutta. Wenn meine Tochter heute so etwas tun würde, würde ich in Panik geraten. Meine Eltern hingegen nahmen meine Entscheidung mit der gewohnten Ruhe an, die von einem grenzenlosen Vertrauen in mich und in meine Fähigkeit, mein Dasein erfolgreich zu führen, diktiert war. Andererseits war ich 26 Jahre alt, hatte mein BWL-Studium an der Bocconi1 schon seit drei Jahren erfolgreich abgeschlossen und lebte fünfzehnhundert Kilometer von ihnen entfernt. Sie hatten damals nämlich ihren Wohnsitz von unserer Heimatstadt Bozen in die Toskanische Maremma verlegt, dort einen Bauernhof gekauft und verbrachten immer mehr Zeit dort, wo sie Wein und Oliven anbauten.

Für ein alleinstehendes Mädchen ist es wirklich keine gute Idee, um elf Uhr abends in Kalkutta anzukommen. Das war mir klar, deswegen hatte ich alle Absicht, die Nacht am Flughafen zu verbringen und dann am nächsten Tag die Stadt zu erreichen. Ich wurde aber sofort von illegalen Taxifahrern umzingelt, die mir eine Mitfahrgelegenheit anboten. Zum Glück kamen mir zwei Engel zu Hilfe, zwei stämmige italienische Jungs, in deren Gesellschaft ich meine ersten Tage in Indien sicherer meistern konnte.

Keiner von uns drei hatte die Absicht, sich sofort kopfüber in die Erfahrung des Freiwilligendienstes zu stürzen, und so verbrachten wir die ersten Tage damit, die Stadt kennenzulernen. Wir wohnten in einer sauberen, jedoch von großen Kakerlaken bewohnten Jugendherberge. Als wir uns schließlich entschlossen, ins Mutterhaus zu gehen (Mutterhaus hieß das Hauptquartier, in dem auch Mutter Teresa wohnte), wies uns Schwester Shanti, die Leiterin der freiwilligen Mitarbeiter, sofort in die Schranken: morgens um sechs Uhr die Heilige Messe, dann gemeinsames Frühstück mit Tee, einem richtig leckeren Toastbrot und Bananen. Dann alle zur Arbeit, in der ambulanten Versorgung oder im Waisenhaus, im Seniorenheim oder im Leprakrankenhaus. Um sechs Uhr abends versammelten sich alle wieder im Mutterhaus zum Rosenkranz und gleich nach dem Abendessen alle ins Bett. Ich fand eine Unterkunft mit anderen Mädchen und obwohl ich anfangs nicht sehr daran interessiert war, den Gebetsverpflichtungen nachzukommen, wurde mir bald klar, dass dies die notwendige geistige Nahrung war, um den Kontakt mit einer so harten Realität zu bewältigen.

Andererseits hatten alle die größte Freiheit, die spirituelle Erfahrung nach eigener Sensibilität zu erleben. Es gab Menschen aller Glaubensrichtungen, Buddhisten, die im Lotussitz meditierten, japanische Shintoisten, lokale Hindus. Alle saßen dort zusammen, vereint vom Gefühl des Mitleids, das alle zu dieser Erfahrung bewegt hatte. Und die Anwesenheit von Mutter Teresa, die ermutigenden Worte, die sie jeden Morgen an uns richtete, bevor sich alle ihrer Verpflichtungen stellten, waren der Schussfaden, der alles zusammenhielt.

Keine zwei Wochen vergingen, da riskierte ich, meiner Erfahrung abrupt ein Ende setzen zu müssen: Mir wurde mein Rucksack mit meiner Brieftasche, mein Geld, aber vor allem mein Pass gestohlen. Ich machte mir erstmals nicht allzu viele Sorgen, denn zum Glück hatte ich meine Reiseschecks in meinem Zimmer.

Ich ging zur Botschaft in der Hoffnung, sie könnten mir einen Ersatzpass besorgen oder zumindest ein Dokument oder irgendein Papier, der meine Identität bestätigen konnte und es mir ermöglichte, am Ende nach Italien zurückzukehren. Die Botschafterin war sehr hart zu mir, sagte mir, sie könne mir keine Ersatzpapiere aushändigen. Wenn ich ohne Pass angehalten würde, hätte man mich festgenommen und im Gefängnis vergewaltigt. Das Einzige was sie für mich tun konnte war, mich in den ersten Flieger zu setzen und mich wieder heimzuschicken. Ich lehnte das freundliche Angebot ab und ging trostlos zur Jugendherberge zurück. Was tun? Ich konnte eine solche Niederlage nicht akzeptieren und vor allem hatte ich keinen Plan B. Ich benötigte Zeit, um über mein Leben nachzudenken und zu entscheiden, was ich mit meiner Zukunft anfangen sollte. Ich konnte nicht nach nur zwei Wochen zurück!

Am nächsten Tag tat ich so, als wäre nichts passiert. Ich ging ins Waisenhaus. Mich um die Kinder zu kümmern, mit ihnen zu spielen, singen, entspannte und fröhliche Momente zu erleben, vertrieb zumindest für eine Weile meine traurigen Gedanken.

An jenem Tag bereiteten wir Shaila auf die Abreise vor. Fünf Jahre und große Augen, dunkelfarbig aber leuchtend wie zwei Sterne. Die Adoptiveltern waren aus Belgien gekommen, um sie mitzunehmen, und sie war außer sich vor Freude. Sie wusste, dass sie wie eine kleine Prinzessin gekleidet sein würde und eine Abschiedsparty auf sie wartete, bei der sie im Mittelpunkt stehen würde, und sie war glücklich wie nie davor. Ich umarmte sie fest, so sehr, dass ich ihren knochigen und zerbrechlichen Körper spürte, ihre zarten Schulterblätter. Sie war schon eine kleine Frau, in ihrem jungen Alter kümmerte sie sich schon um die Kleineren. Sie hatte ihre Lieblinge unter den Krabbelkindern. Sie war etwas gerührt, als sie sich von allen verabschiedete, dann ging sie aber fröhlich und zuversichtlich ihr neues Leben entgegen.

Am Nachmittag holte man mich dringend ins Mutterhaus. Oh nein, der Konsul wollte mich abholen und mich nach Italien zurückschicken? Als ich ankam, traf ich gleich Schwester Shanti: Komm schnell, the Mother wants to talk to you. Sie führte mich nach oben. Mutter Teresa stand mitten in dem langen Korridor zwischen der Kapelle und ihrem Zimmer und blickte mich schmunzelnd an. Sie hielt meinen Pass in der Hand, reichte ihn mir mit einem Lächeln. Jemand hatte es in den Briefkasten des Mutterhauses geworfen. "Give it to Her!". Was meint sie, wem soll ich es geben, jetzt da ich es wiedergefunden habe?!? "Bring es zu Unserer Lieben Frau, sie hat es dir zurückgebracht". Ah ok, verstanden. Ich zog mich einige Minuten vor der Muttergottesstatue im Gebet zurück. Hurra! Ich konnte bleiben. Wie lange noch? Ich hatte das Rückflugdatum nicht festgelegt.

Ich nahm meine Aktivität als Kooperantin wieder auf und stellte fest, dass mir die Arbeit in der mobilen Klinik sehr gut gefiel. Es war eine Art Straßenklinik, wo die Leute kamen, um ihre Wunden behandeln zu lassen, ihre Schnitte von Würmern zu reinigen, um eine erste Bewertung von allen möglichen Symptomen dieser Welt vornehmen zu lassen. Dort freundete ich mich mit Carolina an, einer Altersgenossin von mir aus Madrid, die etwas mehr Wissen in der Krankenpflege hatte als ich und mir einiges beibrachte.

Eines Tages bot uns Schwester Shanti an, uns nach Shanti Nagar zu schicken, einem von den Missionarinnen geführten Leprakrankenhaus, der sich mitten im Urwald befand. Um dorthin zu gelangen, musste man den Zug nach Asansol nehmen, dann eine Strecke mit dem Bus zurücklegen und schließlich einem Pfad durch die Bäume folgen.

Es war wirklich ein Ort von großem Frieden, ein fast vollständig autarkes Zentrum mit Gemüse- und Obstgärten, Getreideanbau und Hühner- und Schweinezucht. Es gab Leprakranke jeden Alters, ganze Familien, Eltern und Kinder in verschiedenen Stadien der Krankheit. Die versteiften Gliedmaßen wurden in flüssiges Wachs getaucht, damit sie für eine Weile ihre Beweglichkeit wiedererlangten und ein wenig Physiotherapie durchgeführt werden konnte. Diese Behandlung bringt den Kranken große Vorteile, während sie auf die Auswirkungen der Behandlung warten. Dennoch war es nötig, ihre Wunden zu behandeln.

Am Nachmittag machten wir mit den Kindern lange Spaziergänge zu den großen Seen am Fuße des Himalayas oder halfen in den Gemüsegärten mit.

Wie weit entfernt war mein bisheriges Leben, in jeder Hinsicht, materiell, geistig, gedanklich.

Die Università Commerciale Luigi Bocconi ist eine private Wirtschaftsuniversität in Mailand. Nach Ranking der Financial Times eine der zehn besten Business Schools Europas.↩

Ein Schritt in die richtige Richtung

Ein paar Tage nach meiner Rückkehr nach Kalkutta sprach mich Schwester Shanti eines Morgens sehr ernst an: Du sollst sofort bei dir zu Hause in Italien anrufen, dein Vater hat gestern spät abends telefoniert. Er hat Mutter Teresa geweckt, weil nach acht Uhr abends das Telefon auf ihrem persönlichen Apparat in ihrem Zimmer umgeleitet wird.

Ich dachte an etwas Ernsthaftes und ging sofort zu einer Telefonzentrale für Auslandsgespräche. Mein Vater antwortete mit sehr fröhlicher Stimme. Er hatte eine gute Nachricht für mich: Ich war zum Masterstudiengang Umweltmanagement zugelassen worden, für den ich mich kurz vor meiner Abreise beworben hatte.

Es war ein sehr innovatives, multidisziplinäres Programm, das Wirtschaftswissenschaftlern, Ingenieuren, Juristen, Ärzten und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen offenstand und an dem 15 Universitäten in ganz Europa teilnahmen. Vorgesehen war ein gemeinsames Modul zur Wahl zwischen vier verschiedenen Universitäten und ein Vertiefungssemester, um zukünftige Experten in Umweltschutz auszubilden.

Ich hatte mich angemeldet, weil mich die Umweltfragen sehr interessierten und faszinierten, aber in diesem Programm war ein Minimum an Erfahrung auf diesem Gebiet erforderlich, und ich hatte keine. Ich hätte nie gedacht, dass ich aufgenommen werden könnte. Es war wirklich eine erfreuliche Neuheit, der Anfang einer anderen beruflichen Zukunft und eines anderen Lebens. Kein Karrierismus mehr, kein Yuppie1-Leben mehr, die Möglichkeit, in einem alternativen Umfeld von Menschen zu arbeiten, denen die Zukunft des Planeten am Herzen liegt.

Ich hatte einen Monat Zeit, um aus Indien zurückzukehren, zu entscheiden, wo ich das erste Modul besuchen wollte, und eine Unterkunft zu finden. Brüssel war der einzige Ort, wo das Studium auf Französisch statt auf Englisch war, und ich kenne Deutsch, Englisch und Spanisch, aber kein Französisch. Trier? Nein, nicht wieder Deutschland. Athen? Wäre nicht schlecht, für eine Weile in die hellenistische Kultur einzutauchen, aber das Polytechnikum von Turin inspiriert mich mehr mit seiner Aura der Wissenschaftlichkeit. Wieder treibt mich mein Ehrgeiz dazu, ein Umfeld zu wählen, das ich für angesehen halte. Ich habe mich entschieden, nach Turin zu gehen, so werde ich noch ein paar Monate in Italien verbringen, bevor ich mich auf neue Abenteuer begebe. Ja, ich denke nämlich, dass ich danach sicherlich nicht aufhören werde, vielleicht gehe ich nach Amerika oder wer weiß wohin ...

Sobald ich wieder in Italien bin, rufe ich meine Cousins in Turin an, um ihnen zu sagen, dass ich sie bald besuchen werde. Sie sind ursprünglich aus Mantua, wie die gesamte Herkunftsfamilie meines Vaters, aber mein Cousin wurde für einige Zeit zum Arbeiten nach Turin verlegt. Sie haben einen 18-jährigen Sohn, ein großes und sehr schönes Haus mit Garten. Sie sind liebenswürdige Leute, nett und gastfreundlich. Sie bieten mir sofort an, bei ihnen zu bleiben, sie haben ein unabhängiges Zimmer. Ich akzeptiere gerne.

Es ist Freitag, der 15. Oktober. Ich gehe zum Politecnico, um meine Masterklasse kennenzulernen. Wir sind 25 Studenten verschiedener Nationalitäten, von Norwegen bis Spanien, von Griechenland bis Irland. Wir haben einen etwas mürrischen serbischen Tutor, aber es stellt sich sofort eine fröhliche und angenehme Atmosphäre zwischen uns ein, von Menschen, die sich kennenlernen, eine Lernerfahrung und eine gemeinsame Leidenschaft teilen möchten. Der Kurs beginnt in der folgenden Woche. Wir erhalten das Programm. Jede Woche werden wir verschiedene Professoren von Universitäten aus ganz Europa haben. Die Aussicht ist elektrisierend.

Nur vier Studenten sind Italiener, aber meine fremdenfreundliche Berufung führt mich dazu, die Gesellschaft von Ausländern zu bevorzugen.

Außerdem ist dieser Ingenieur aus Mailand, der in Anzug und Krawatte, mit Aktentasche und Besserwisser-Brille auftaucht, wirklich unerträglich! Besser davon wegbleiben. Für wen hält er sich. Schade, denn er ist ein netter Kerl. Und übrigens, er hat schon ein Auge auf Tone, die Norwegerin geworfen.

Ich schließe bald Freundschaft mit Laura aus Madrid und mit Franceska, einer sehr blonden und sehr intellektuellen Engländerin. Sie wohnen zusammen und laden mich oft zum Essen ein. Sie retten mich mit viel Humor und ebenso vielen Bieren vor den Fallstricken von Charles und Michael.

Yuppie (Abkürzung für Young Urban Professional), ein englischer Begriff, der sich seit den 1980er Jahren international verbreitet hat und einen jungen „strebenden“ Berufstätigen bezeichnet, der die kapitalistische Wirtschaftsgemeinschaft umarmt und darin seine Erfüllung findet.↩

Der Mitstudent

Am Wochenende besuche ich oft meine Eltern in der Toskana und genieße das ruhige Landleben. Ich möchte ihnen nahe sein, ich bin sehr an meine Familie gebunden, wir haben immer jedes einzelne Ereignis aller geteilt. In dieser Zeit sind auch meine Brüder da, einer in einer Lebenskrise und der andere, der sein Klavierstudium in den USA fortsetzen will. Noch mehr vereint fühlen wir uns, wenn wir gemeinsam in unsere Zukunft blicken.

Auf diese Weise beteilige ich mich jedoch wenig an den Aktivitäten, die meine Mitschüler am Wochenende organisieren. Besonders Luigi, der Mailänder Ingenieur, ist sehr aktiv. Er ist ein Bergliebhaber und organisiert oft Ausflüge in die schöne Bergwelt des Piemont und des Aosta-Tals. Meine Freundinnen erzählen mir mit großer Begeisterung von den Orten, an die er sie führt. Sie schätzen ihn sehr, im Gegensatz zu mir, da ich immer noch sehr misstrauisch bin. Nun, die Leidenschaft für die Berge könnte ihn zumindest teilweise erlösen. Vielleicht ist er nicht ganz so ein Angeber. Und zwischenzeitlich hat er von der Norwegerin einen Korb bekommen. Sie ist bereits liiert. Und wenn ich so nachdenke, könnte ich ihm „erlauben“, morgens mal gemeinsam einen Cappuccino zu trinken.

Ich fange an zu denken, dass er besser ist, als ich dachte. Er ist nett, umgänglich. Er fasst Mut und lädt mich zum Essen bei ihm zu Hause ein. Er teilt sich eine Wohnung mit dem Holländer Ernst und dem Deutschen Michael. Ich würde gerne hingehen, sie sind ein tolles und lockeres Dreiergespann, der Abend wird bestimmt angenehm, sicherlich mit mediterranen Häppchen und gutem Prosecco begleitet. Eine beachtliche Aussicht. Aber hier kommt das Unerwartete: Ich hatte den achtzehnten Geburtstag des Sohnes meiner Cousins völlig vergessen. Sie wollen, dass ich auch an der Feier teilnehme, ich kann es nicht verpassen. Ich muss Luigi Bescheid sagen, ich muss ihn anrufen, aber er geht mir voraus und ruft mich an, um mir eine Terminänderung mitzuteilen. Ich sage ihm etwas unbeholfen, dass ich nicht gehen kann, ohne mich richtig zu entschuldigen, ohne die Situation gut zu erklären und vor allem ohne ihm klarzumachen, wie gerne ich einen Abend mit ihm verbringen möchte. Kurzum, er nimmt es übel, ist zu Recht beleidigt und behandelt mich kalt.

Es sind noch ein paar Tage bis zu den Weihnachtsferien und ich versuche es wieder gut zu machen. Ich bemühe mich nochmals die Situation zu klären, aber er scheint nicht sehr überzeugt zu sein. Wie auch immer, wenn wir uns verabschieden, glaube ich nicht, dass er einen Groll hegt. Zumindest hoffe ich, denn inzwischen habe ich mir einige Vorstellungen über ihn gemacht. Okay, ich werde mir über Luigi, über uns, während der Ferien noch in Ruhe Gedanken machen. Auch weil diese Weihnachtsfeiertage voraussichtlich intensiv werden: Wir sind alle von der Freundin meines Bruders Giuseppe in Pescara eingeladen.

Seltsames Weihnachtsfest, geteilt mit Leuten, die wir sehr wenig kennen, freundlich, aber sehr förmlich. Wir müssen auf unsere Familienriten verzichten: Papa und Mama, die am Vorabend im Wohnzimmer die Geschenke vorbereiteten und am Morgen des fünfundzwanzigsten Dezember versammelten wir Kinder uns vor der Tür, der Kleinste durfte öffnen und wir rannten alle hinein, um auszupacken. Diesen Brauch hatten wir uns auch nach Ende unserer Kindheit bewahrt.

Kurz vor dem feierlichen Weihnachtsessen nimmt mich Giuse beiseite: "Cristina und ich haben beschlossen zu heiraten, das wollen wir beim Weihnachtsessen bekannt geben." Ihr habt euch entschieden zu heiraten? Aber ihr seid nur seit etwas mehr als einem Jahr verlobt, du bist noch sehr jung, studierst noch, hast weder einen Job noch ein Zuhause. Außerdem stehst du kurz davor für den Master in die USA zu gehen. „Genau, somit kommt sie mit mir. Was denkst du werden die Eltern sagen?" Ah, sie werden begeistert sein, zweifellos, sie werden eure Ehe und euer Zusammenleben für mindestens ein paar Jahre finanzieren müssen. Ja, wirklich die besten Voraussetzungen zum Heiraten! Die beiden haben jedoch nicht die Absicht, es noch einmal zu überdenken, und so wird zwischen den Pilz-Crepes und dem Truthahn-Rollé die glückliche Nachricht überbracht. Meine Mutter hat ein starres Lächeln im Gesicht und sagt nichts. Meinem Vater bleibt der Parrozzo1 in der Kehle stecken, sagt aber sehr diplomatisch nur: Okay, mal sehen.

Die Familie der Fiancée hingegen hat die Artillerie schon parat, wurden offenbar nicht wie wir überrascht und schießen souverän Termine und Details los, sogar vom Brautkleid ist die Rede. Glücklicherweise kehren wir bereits am nächsten Tag in die Toskana zurück und entkommen der peinlichen Situation.

Kaum in Turin angekommen, rede ich gleich mit Luigi in einer Kaffeepause darüber. Wir sind jetzt mehr vertraut. Er ist überhaupt nicht überrascht, sein Bruder hat auch jung geheiratet und hat bereits einen kleinen Sohn. Aber er hat einen Job, leitet die Firma seines Vaters, eine der vielen Furnierfirmen in der Brianza2, und seine Frau ist Bioingenieurin. Außerdem haben sie ein Zuhause. Das sind die Voraussetzungen für die Familiengründung: Arbeit und Zuhause, wie man früher sagte, die guten alten Prinzipien.

Doch die Liaison zwischen Giuse und Cristina wird kurz darauf zerrissen, er wird allein seinen Studiengang in den USA angehen, und bei seiner Rückkehr, während einer Konzerttour in Polen, wird er Ela kennenlernen, meine entzückende und geliebte Schwägerin, und mit ihr vier Kinder bekommen.

Typisches Dessert mit Mandeln und Schokolade↩

Hügellandschaft zwischen Mailand und dem Como-See↩

Liiert oder nicht?

Luigi und ich kommen uns immer näher, mittlerweile sind wir sowohl in der Kaffeepause als auch in der Mittagspause ein festes Paar, und in der Klasse kursieren schon Gerüchte. Wir gehen gemeinsam im Parco del Valentino joggen. Ich unterwerfe ihn einer sorgfältigen Beobachtung: er ist zu dünn, auch wenn der Körper von der intensiven Bergaktivität gut geformt ist. Aber ich habe eine sehr rationale Herangehensweise: Er muss zahlreiche Tests bestehen, um mich zu überzeugen. Dann überwiegen jedoch die Gefühle.

Eines Abends wagt er es wieder, mich zum Essen einzuladen, die Angst vor dem Korb hat er inzwischen überwunden. Pasta mit Pesto und Salat, sehr einfaches Menü, aber lecker. Zumindest besitzt er die Grundlagen für das Überleben. Nach dem Essen lassen uns seine Mitbewohner im Wohnzimmer allein und wir geben uns den ersten Kuss vor dem Fenster mit Blick auf den romantischen Winterhimmel von Turin. Ja, ok, ich weiß, es gibt Besseres als Szenario für den ersten Kuss....

Das Semesterende naht bereits. Das erste Modul endet nach der ersten Februarwoche und das zweite beginnt Anfang März. Bis zu jener Zeit werde ich nach Tilburg, Holland, ziehen. Luigi hingegen wird auch im zweiten Semester in Italien bleiben, und zwar am EU Joint Research Center am Lago Maggiore. Wir werden 1000 km auseinander sein.

Er ist ein großer Opernliebhaber und bietet mir einen Abend an der Mailänder Scala an. Ich bevorzuge symphonische Musik, aber das Programm ist interessant und erstreckt sich über das ganze Wochenende: Nach dem Konzert werden wir in seinem Haus in Mariano Comense übernachten und am Sonntag einen Ausflug in die Berge machen. Ein Abend an der Mailänder Scala ist ein wichtiges Geschenk. Wir sitzen in einer Loge, um „Cinderella“ zu sehen. Er dachte mit einem Ballett meinen Wunsch zu erfüllen. Er weiß, dass ich ein Ballettenthusiast bin. Ich erzählte ihm, dass ich als junges Mädchen viele Jahre intensiv eine Tanzschule besucht habe. Ich freue mich, dass er dies für mich tut. Das beweist mir, dass ich langsam für ihn wichtig werde, und das macht mich glücklich.

Nach der Show bin ich gespannt, diese berühmte Brianza zu sehen. Trotz der Jahre, die ich in Mailand an der Universität verbracht habe, war ich noch nie dort. Ich habe gehört es sei eine wunderbare Landschaft: Hügel, Parks, Seen, historische Residenzen und Villen, in denen sich die Mailänder Adligen in den Ferien zurückzogen.

Nachdem wir die Lichter von Mailand hinter uns gelassen haben, dringen wir immer tiefer in die Dunkelheit. Hilfe, wohin führt er mich? Ich bin etwas besorgt, aber er lenkt mich ab, indem er über seine Leidenschaft für die Oper spricht, die er während des langen Arbeitsaufenthalts in Los Angeles gepflegt hat. In den USA ist die Oper nämlich auch für karge Brieftaschen mehr zugänglich.

Schließlich kommen wir vor dem Tor einer Villa an. Es muss ein Vorort sein, denn ich sehe nicht viele Lichter wie in dicht besiedelten Stadtzentren. Direkt gegenüber das Firmenschild. Hier wuchs er auf und spielte auf den Feldern hinter dem Haus, die jetzt durch die Zunahme von Bauten reduziert wurden. Wir treten ein und schlüpfen lautlos die Marmortreppe hinauf, die in die obere Etage führt, in der sich die Schlafzimmer befinden. Seine Eltern schlafen offensichtlich schon, ich werde sie am nächsten Tag treffen. Seine Mutter hat mich das Zimmer einer seiner vier Schwestern vorbereitet. Wir sagen gute Nacht und als ich eintrete, überfällt mich wieder dieses Angstgefühl, so sehr, dass ich die Jalousien hochziehen und das Fenster öffnen muss. Ich weiß nicht warum, aber dieser Ort macht mir Angst, obwohl das Haus wunderschön ist. Den Grund werde ich in den nächsten Jahren herausfinden.

Am nächsten Morgen weckt er mich frühzeitig. Zum Bergwandern bricht man immer rechtzeitig auf. Seine Mutter hat uns das Frühstück vorbereitet. Sie ist eine entzückende, immer noch schöne Frau. Wir unterhalten uns angenehm, sie hat einen leichten venezianischen Akzent und die typische Umgänglichkeit jener Gegend. Luigis Eltern sind nämlich ursprünglich aus Vicenza im Veneto.

Und dann ab in die Berge des Lariano-Dreiecks1. Wir gehen zügig den Weg hinauf, wir sind beide erfahrene Bergsteiger. Die Berge sind unsere große Leidenschaft, die uns immer verbinden wird.

Am Gipfel sitzen wir auf der Wiese, um die Aussicht zu bewundern. Der Como See sieht von hier oben wie eine Postkarte aus, das intensiv blaue Wasser und die schneebedeckten Gipfeln im Hintergrund, ein wunderbarer Anblick, der meine Angst löscht. "Schade, dass du bald nach Holland musst". Punkt. Nun, du könntest mir sagen: Meine Liebe, ich werde auf mein weißes Pferd steigen und Europa durchqueren, um dich zu besuchen. Vielleicht ist er immer noch nicht von mir überzeugt, oder er ist nicht wirklich an mich interessiert.

Inzwischen ist das Semesterende nah und wir versuchen, mit unseren Kommilitonen mehr Möglichkeiten zu schaffen, zusammen zu sein bevor wir uns trennen und jeder seinen Weg geht. Eines Abends gehen wir alle zum Abendessen in Porta Palazzo, dem Stadtteil von Turin, der den größten Open-Air Markt Europas beherbergt und abends auch ein Ort der Movida ist. Luigi trägt einen edlen senffarbenen Pullover und hat sich die Haare nach hinten gekämmt und mit viel Haargel fixiert. Er will mich unbedingt beeindrucken. Leider ist sein Haar ziemlich rebellisch und hebt sich bald nach hinten, was einen sehr sexy Querruder- oder Haifischflossen-Effekt erzeugt. Sehr verführerisch. Nach dem Abendessen gehen wir zu den Murazzi, das Nightlife Viertel am Fluss Po. Wir haben viel Spaß, es ist ein wunderschöner Abend, aber wir sind in Gesellschaft, es gibt keine Intimität, nur einen Kuss, wenn er mich nach Hause bringt.

Meine Cousine Antonietta macht mir einen begeisternden Vorschlag: die ganze Klasse zur Abschiedsfeier in ihr Haus einzuladen. Sie kümmert sich um die Zubereitung und richtet ein unvergessliches Schmankerl-Bankett mit allen Verkostungen und Vorspeisenbuffet ein. Sie werden zum Essen ausgehen, aber zuerst begrüßen sie die Gäste. Sie wollen meine Klassenkameraden kennenlernen, vor allem aber wollen sie Luigi sehen. Er ist höflich, warmherzig und umgänglich, macht durch seine Manieren einen guten Eindruck, und ist zudem ein attraktiver Kerl. Der Abend ist ein Erfolg, alle sind begeistert. Für Luigi habe ich auch ein kleines Geschenk vorbereitet, denn unter anderem hat er Geburtstag. Am 3. Februar 1994 wird er 33 Jahre alt.

Die Zeit des Abschieds naht und Luigi schlägt vor, noch einmal einen gemeinsamen Kurzurlaub, drei Tage auf Skiern in den Dolomiten, im Gadertal zu verbringen. Wir werden fünf oder sechs sein. Aber zuerst möchte ich noch ein paar Tage zu meinen Eltern in die Toskana. Inzwischen ziehen sich die anderen jedoch zurück, beschließen, den Urlaub aufzugeben, um im Hinblick auf die nächste Studienzeit mehr Zeit zu haben, sich zu organisieren. Und so verreisen nur wir beide.

Zurück aus der Toskana treffen wir uns in Bozen, wo ich die Ski abhole und dann ab in die Berge. Die Bedingungen sind hervorragend: viel Schnee und herrliches Wetter. Wir übernachten in einer kleinen Pension in der Nähe der Pisten von Stern, das zentrale Dorf im Gadertal. Wir kommen am späten Nachmittag an, beziehen das Zimmer und gehen zum Abendessen aus. Ich bestelle und dann gehe ich kurz auf die Toilette. Ein plötzlicher Gedanke überfällt mich: Stell dir vor, du gehst jetzt wieder an den Tisch und er sagt dir, dass er seine Meinung geändert hat, dass er nicht überzeugt ist, dass er sich nicht liieren will. Es ist ein erstaunlicher sechster Sinn – genau das passiert. Das trifft mich wie eine Tür ins Gesicht. Aber ich bin nicht der Typ für Dramen. Gut, was machen wir jetzt? „Wenn du willst, können wir trotzdem hierbleiben, wir fahren Ski, wir haben Spaß, wie gute Freunde“. In Ordnung.

Am nächsten Tag fahren wir den ganzen Tag Ski, wir beschließen die Sella Ronda2 zu machen. Abends beim Essen ist die Stimmung jedoch schwer, es ist nicht so, wenn man über alles reden möchte, um sich besser kennenzulernen. Wir beschließen, am nächsten Tag abzureisen. Ich werde in Bozen in den Zug einsteigen und die Gelegenheit nutzen, einen Zwischenstopp in Köln zu machen, bevor ich nach Tilburg fahre. Tschüss.

Tilburg. Der Kurs beginnt Anfang März, aber ich komme eine Woche früher an. Ich möchte genug Zeit haben, mich einzuleben. Unsere Tutoren an der Universität sind sehr organisiert und sehr effizient. Bei unserer Ankunft haben sie für uns alle bereits eine Unterkunft organisiert. Ich werde einer indonesischen Familie zugeteilt, die in einem dreistöckigen Haus lebt. Der dritte Stock, ein riesiges Dachzimmer, ist ganz für mich. Wunderbar. Sie schlagen mir vor, ein gebrauchtes Fahrrad zu kaufen. Hier in den Niederlanden ist es unerlässlich. Auch weil die Universität nicht ganz in der Nähe ist; ich muss etwa zwanzig Minuten die Kanäle entlang radeln. Es ist sehr beeindruckend, auch wenn der Winter noch sehr kalt ist. Am frühen Morgen schwebt ein leichter eisiger Nebel über den Kanälen. Wir sind noch weit von der Jahreszeit entfernt, in der die Felder mit tausend Blumenfarben bedeckt sind.

Der Campus der Universität ist hochmodern. Zum ersten Mal in meinem Leben bekomme ich eine E-Mail-Adresse. Ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll, weil ich niemanden kenne, der auch eine hat und mit dem ich kommunizieren könnte, aber ich fühle mich am Beginn einer neuen Ära.

Das Paar, das mich beherbergt, ist sehr nett und gastfreundlich. Ihre Kinder sind schon erwachsen und leben allein. Es sind nur wir drei im Haus. Wenn ich nach dem Unterricht nach Hause komme, laden sie mich oft um fünf Uhr nachmittags zum Essen ein. Sie teilen mit mir einen sehr guten hausgemachten Satay. Es ist ein typisch indonesisches Gericht: Hühnerspieße mit Erdnusssauce. Ich liebe es, obwohl ich eigentlich nie Fleisch mochte, und es ist so angenehm, mit Edmond und Linda zu plaudern. Sie sind sehr neugierig, stellen mir tausend Fragen über Italien und auch über mein Leben. Sie sind bezaubernd, ich vertraue ihnen gerne. Und so erzähle ich ihnen auch etwas traurig die Geschichte mit Luigi.

Eines Tages empfängt mich Linda bewegt: Ein Paket ist für mich angekommen. Es ist von Luigi. Es enthält ein schönes bordeauxrotes Hardcover-Notizbuch, eine Audiokassette, wie man sie damals zum Musikhören benutzte, und einen Brief, in dem er mir in liebevoller Freundschaft mitteilt, dass er für mich eine Einleitung in die Oper geschrieben hat, die Geschichte, die Komponisten, die Inszenierung usw. Er hat eigenhändig eine Beschreibung aller berühmtesten Opern geführt und die Worte der berühmtesten Arien aufgeschrieben, die ich auf der Kassette hören kann. Ich bin berührt und erstaunt, dass er sich so viel Zeit genommen hat, etwas so Schönes für mich zu tun, dass er auf diese Weise seine große Leidenschaft für die Oper mit mir teilen will. Ich leihe mir von Linda ein Tonbandgerät aus und tauche in diese verzauberte Welt ein.

Ich rufe ihn erst an, nachdem ich mir alle Arien gut angehört habe, um nicht unvorbereitet zu wirken und meine Begeisterung besser ausdrucken zu können. Wir unterhalten uns angenehm. Ich erzähle ihm von meinem holländischen Leben, er erzählt, wie wunderbar die Erfahrung in Ispra am Lago Maggiore ist. Das EU-Forschungsinstitut ist der wichtigste wissenschaftliche Dienst der Europäischen Union. Es gibt Forscher aus allen europäischen Ländern und es ist ein bezaubernder Ort, umgeben von Grün am Ostufer des Sees.

Er wohnt in Angera, dem Dorf der berühmten Rocca, die mittelalterliche Burg, die auf einem Felsvorsprung über dem Wasser steht. Er teilt sich eine Wohnung mit Anne-Marie, unserer sehr netten irischen Mitstudentin in Turin, der jüngsten von allen. Sie war so etwas wie das Maskottchen der Gruppe. Ich bin nicht eifersüchtig. Anne-Marie ist reizend, aber ich bezweifle, dass sie ihn interessieren würde.

Er erkundigt sich nach meinen Plänen und ich erzähle ihm, dass ich zu Ostern zu meinen Eltern in die Toskana fahren werde. „Ich rufe dich an, wenn du da bist“. In Ordnung.

Als ich Anfang April endlich bei meinen Eltern ankomme, erscheint mir die toskanische Landschaft noch schöner im Vergleich zur noch spätwinterlichen Landschaft Hollands. Ich kann es nicht glauben, dass ich lange Spaziergänge zwischen den Feldern machen kann, die in dieser Jahreszeit grün sind, nicht ockerfarbig wie im Sommer, der tiefblaue Himmel und das Meer in der Ferne. Mit Mama, Papa und meinen Brüdern nehmen wir wieder unsere unvergesslichen, endlosen Gespräche auf, während wir entlang der Wälder von Steineichen und Erdbeerbäumen wandern, bergauf und bergab am Fuße von Massa Marittima3.

Luigi ruft mich wie versprochen an und schlägt vor, uns in Portofino zu treffen und dort einen gemeinsamen Tag zu verbringen: "Ich habe es auf der Karte gesehen, es ist mehr oder weniger auf halbem Weg." In Wirklichkeit ist es für mich etwas weiter entfernt als für ihn, aber es lohnt sich auf jeden Fall, ich meine … Portofino4 zu sehen. Außerdem bin ich gespannt auf seine nächsten Schritte. Eigentlich, ja, ich fühle mich zu ihm hingezogen, aber mittlerweile halte ich ihn für eher unzuverlässig, ich mache mir lieber keine Illusionen.

Ich fahre frühmorgens los, die Fahrt dauert ungefähr drei Stunden und ich muss ein gutes Stück der tyrrhenischen Küste zurücklegen. Ich freue mich, ihn wiederzusehen. Wir umarmen uns freundschaftlich. Er hat bereits das Tagesprogramm ausgearbeitet: die Wanderung zur Abtei San Fruttuoso, einem bezaubernden Ort, der nur vom Meer oder von einem Pfad aus zugänglich ist, der die mediterrane Macchia mit atemberaubender Aussicht durchquert. Wir sind beide nicht in der Stimmung für Romantik, vielleicht auch, weil wir nach einer Trennung gerade dabei sind, uns wieder anzunähern. Ich bin vorsichtig und er achtet darauf, keine weitere gewagte Flucht nach vorn zu riskieren. Im Übrigen ein fast perfekter Tag: das milde Klima, der Spaziergang auf dem Pfad, der Horizont des Meeres, nackte Füße im Sand, ein Aperitif auf der Terrasse einer Bar und die angenehme Unterhaltung. Im Moment des Abschieds sagt er zu mir: „Vielleicht komme ich dich in Holland besuchen. Ich verspreche dir nichts, aber es gibt die Idee, eine Gruppenreise zu organisieren, um uns mit den Mitstudenten aus Turin zu treffen.

Ich kehre zurück nach Tilburg und nehme den Unterricht wieder auf. Noch eineinhalb Monate und das Semester ist zu Ende. Dann muss ich ein Praktikum machen und eine Abschlussarbeit schreiben. Als ich noch in Turin war, hatte uns ein Professor aus der Universität Bocconi einige Tage unterrichtet, mit dem ich einen interessanten Gedankenaustausch hatte. Er hatte mich eingeladen, ihn zu kontaktieren, wenn es Zeit war, mich für die Abschlussaktivitäten des Kurses zu organisieren, mit der Aussicht auf die Teilnahme an einem Forschungsprojekt an seinem Institut, dem IEFE (Institut für Energiewirtschaft, das später " Institut für Energiewirtschaft und Umwelt“ wurde, als die Forschungsaktivitäten im Bereich der Umweltökonomie erweitert wurden). Die Idee, mich der Forschung zu widmen, reizt mich sehr. Kurz nach meiner Rückkehr nach Tilburg entschloss ich mich, ihm eine E-Mail zu schicken.

Nach ein paar Tagen überprüfe ich, ob er mir geantwortet hat und finde zwei E-Mails: eine von dem Professor, der die Möglichkeit bestätigt, das Praktikum am Institut zu absolvieren und mit ihm auch die Masterarbeit zu schreiben. Hurra, ich darf wieder nach Mailand! Ich habe diese Stadt immer geliebt und freue mich sehr, dass ich zurückkehren kann, auch wenn ich den Gedanken an weitere berufliche Erfahrungen im Ausland nicht beiseitegelegt habe.

Bevor ich antworte, möchte ich jedoch sehen, von wem die andere E-Mail stammt. Es ist eine sehr seltsame Adresse, eine unleserliche Buchstabenfolge. Wenn ich sie öffne, sehe ich jedoch, dass der Text auf Italienisch geschrieben ist: sie ist von Luigi. Er sagt mir, dass sie alles organisiert haben: Sie kommen mit zwei Autos aus Ispra. Ich bin glücklich, aber ich rede nicht mit den anderen darüber, ich warte darauf, dass sie es von unseren Studienkollegen erfahren.

---ENDE DER LESEPROBE---