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Ein Trip nach England, ein Konzert am letzten Abend und nur eine Nacht, um die große Liebe zu erkennen »Die schönsten Liebesgeschichten schreibt das Leben, heißt es. Mit ›Für eine Nacht sind wir unendlich‹ widerlegt Lea Coplin diese Aussage - denn besser hätte es das Leben auch nicht hinbekommen.« Anne Freytag Als Jonah und Liv bei einem Festival in England aufeinandertreffen, könnte das, was sie wollen, nicht unterschiedlicher sein. Doch dann beginnt es zu knistern. Und obwohl Liv von vornherein klarstellt, dass nichts laufen wird zwischen ihnen, und obwohl Jonah sich einredet, dass das ganz in seinem Sinne ist, kommen sich die beiden immer näher. Nur wird Jonah am nächsten Tag mit seinen Freunden zurück nach Deutschland fahren. Ihm und Liv bleibt nur diese eine Nacht, um herauszufinden, was da zwischen ihnen ist. Doch wie nah kann man sich kommen, wenn am nächsten Morgen alles vorbei ist? Folgende weitere tolle Romance-Titel sind von Lea Coplin bei dtv erschienen: Aus der »Nichts ist gut«-Serie: Band 1: »Nichts ist gut. Ohne dich.« Band 2: »Nichts zu verlieren. Außer uns.« Weitere Einzelbände: »Mit dir leuchtet der Ozean«
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Seitenzahl: 335
Jonah hat ein entwaffnendes Lächeln und mehr Charme, als die meisten Mädchen verkraften können. Doch in seinem Inneren sieht es weniger sonnig aus. Es fällt ihm schwer, andere an sich ranzulassen. Dann trifft er Liv. Und sie löst etwas in ihm aus, von dem er bislang nicht einmal wusste, dass es da war.
Liv ist fröhlich und überschäumend. Aber auch äußerst misstrauisch. Denn sie trägt körperliche und seelische Narben mit sich herum, die sie niemandem offenbart. Dass ein Typ wie Jonah sie mögen könnte, ist für sie schwer zu glauben. Als Jonah Liv bei einem Open-Air-Konzert in England anspricht, sind beide überrascht davon, wie schnell sie sich vertrauen. Sie teilen Geheimnisse, die wehtun, und auf einmal fühlt sich das alles überhaupt nicht mehr unverbindlich an. Doch mehr als eine Nacht werden sie nicht zusammen haben, denn schon am nächsten Morgen trennen sich ihre Wege wieder …
Für blö
Ich hatte schon bessere Tage, so viel ist sicher. Und die Tatsache, dass ich das denke, bevor ich richtig wach bin, spricht vermutlich für sich. Ich blinzle ins Halbdunkel des Zelts, das nicht meins ist. Versuche, mich zu bewegen, doch der Klassiker hält mich davon ab: ein zierlicher Arm, der meinen Oberkörper umschlingt wie ein Schraubstock; ein Bein, lang und schlank, zwischen meine geschoben.
Ich wünschte, ich könnte sagen, ich erinnere mich an nichts, doch das ist leider nicht wahr. Ich erinnere mich umfassend. An den gestrigen Tag, der vierte auf dem Glastonbury Festival, ein weiterer voll von unerträglicher Gereiztheit zwischen Annika und mir, durchdrungen von bösen Blicken, enttäuschten Blicken, verletzten Blicken, unausgesprochenen und sehr deutlich formulierten Vorwürfen, Spannungen im fatalsten Sinn. Ich erinnere mich an das Schweigen der anderen – Dejan, Vanessa, Simon, Michelle –, die sich diesen Kurztrip nach England sicher anders vorgestellt hatten. Wessen Idee es war, uns beide mitzunehmen, Annika und mich, frisch getrennt und offensichtlich alles andere als klar, Freunde, wie meine Ex behauptete, ich habe ehrlich keine Ahnung. Aber ich mache die Person mitverantwortlich für das andauernde Drama und auch dafür, dass ich jetzt hier liege. Dafür ganz besonders.
Ihr Name ist Sally. Auch daran erinnere ich mich. So gesehen kann ich immerhin von mir behaupten, keiner von den Typen zu sein, die nicht einmal den Namen der Frau kennen, mit der sie die vergangene Nacht verbracht haben. Ohne den Kopf zu heben, schiele ich auf die blonden Haare, aufgefächert wie ein Skatblatt auf meiner Brust. Sie sind gefärbt, garantiert. Aus dieser Perspektive lassen sich die dunklen Ansätze erkennen, doch selbst, wenn nicht – die strohige Struktur war fast das Erste, das mir an Sally aufgefallen ist, in dem Augenblick, in dem sie sich auf meinen Schoß setzte und mir ihre knisternde Mähne ins Gesicht schüttelte.
Der Gedanke daran löst ein höchst unangenehmes Gefühl in mir aus. Das Lagerfeuer, Sally und ihre amerikanischen Freundinnen, Simons blödes Gelaber darüber, dass ich uns allen einen Gefallen tun und ein bisschen runterkommen sollte. Oder überhaupt mal kommen. Simons Humor, immer vom Feinsten. Ich bin derzeit nicht gut auf Annika zu sprechen und trotzdem froh, dass sie zu diesem Zeitpunkt schon in ihrem Zelt war. Sage ich zumindest jetzt. Gestern … Gestern, da wollte ich ihr wehtun. Dafür, dass sie alles verkompliziert, dass sie den anderen den Spaß verdirbt, dass sie mich wütend macht und aggressiv. Ich würde ja gern behaupten, dass ich mich so nicht kenne, so … mies und kalt und zerstörungswütig, aber auch das ist leider nicht wahr. Ich fürchte, es steckt mehr von meiner Familie in mir, als mir lieb ist. Auf meine Art bin ich womöglich genauso schlimm wie sie.
Vorsichtig versuche ich, mich unter dem Körper des Mädchens herauszudrehen. Noch schläft sie tief und fest, wie es aussieht – sie hat noch keinen Mucks von sich gegeben. Ich habe mich beinah von ihr befreit, als sie es doch tut.
»Whereyougoing?«, nuschelt sie undeutlich in diesem breiten, texanischen, nicht gerade liebreizenden Akzent.
Ich nutze die Gunst des Augenblicks und ziehe mein Bein unter ihrem hervor. »Toilet«, erwidere ich ebenso leise, um sie nicht noch mehr zu wecken.
»Mmmmmmmh.« Mit geschlossenen Augen hebt sie den Kopf, drückt einen Kuss auf meinen Oberarm und dreht sich dann mit dem Rücken zu mir. Für eine Sekunde starre ich auf ihren Hinterkopf. Für fünf. Dann schüttle ich mich aus meiner Starre, suche in dem Berg verstreuter Klamotten nach meinen, schlüpfe hinein und dann aus dem Zelt.
Es ist noch früh. Sehr, sehr früh. Ich krame mein Handy hervor und versichere mich: fünf Uhr vierzig. Es ist hell, aber die Sonne döst irgendwie noch. Und ich habe keine Ahnung, wo ich mich befinde. Vor mir erstreckt sich ein Meer aus Zelten; unzählige blaue, rote, grüne, runde, eckige, windschiefe Stoffiglus, und darüber hinaus kein Orientierungspunkt. Es könnte der Zeltplatz sein, auf dem Annika, Simon, Michelle und ich eingecheckt haben, doch irgendwie kommt mir hier nichts bekannt vor. Da drüben parken die Wohnmobile, aber es sind niemals so viele wie dort, wo Dejan und Vanessa ihres abgestellt haben. Ich werfe einen Blick auf Sallys Zelt, und als wäre mir jetzt erst klar geworden, wie riskant es ist, hier länger herumzustehen, setze ich mich endlich in Bewegung.
Erst mal raus aus dem Zeltlager, hin zu den Sanitärbaracken. Und von dort sehe ich etwas, das mir vage bekannt vorkommt: dieser seltsame Turm mit den bunten Fransen, an dem ich schon mehrfach vorbeigekommen bin, bloß aus einer anderen Richtung, nehme ich an. Ich steuere darauf zu, an den letzten Zelten vorbei, und stoße plötzlich auf etwas, das aussieht wie ein Autokino – riesige Leinwand, etliche alte Rostlauben –, und das quasi mitten auf dem Campingplatz. Einige Minuten lang bleibe ich am Zaun stehen und wundere mich. Dieses Festival ist schräg, und das fällt mir hier und heute Morgen nicht zum ersten Mal auf. Zum einen ist es riesig, weitläufig wie ein kleines Bundesland. Man braucht Stunden, um von A nach B zu kommen. Und man muss dauernd von A nach B, denn es gibt zig Bühnen, die auf dem Areal verteilt sind, Dutzende Konzerte, Stand-up-Comedy, Kunst-Performances, Indianerzelte, Stände, Bars, Foodtrucks, sogar ein Stückchen Wald. Und ein Kino, offensichtlich. Ich starre auf die Autos, ausgedient und lässig, einige davon bemalt und eins sogar in die Wiese eingelassen, ein BMW-Cabrio-Swimmingpool quasi, ohne das Wasser darin. Ich frage mich, was passiert, wenn es regnet.
Bizarr. Absolut strange. Und genau das Richtige für einen Typen wie mich, nehme ich an. Einen Typen, dessen Leben im Grunde dieselben Adjektive zuzuschreiben sind, im weniger positiven Sinn allerdings. So sieht’s aus.
Ich bin schon beinahe aufgestanden, als die Bettfedern unter mir doch noch ein Quietschen von sich geben. Ein klagendes, nörgelndes Wimmern, das von Laurent höchstpersönlich stammen könnte. Halb sitzend, halb im Stehen werfe ich einen Blick auf ihn. Da liegt er, viel zu groß für das schmale, abgenutzte Bett, den Rücken dicht an die Wand gepresst, und schläft ruhig und fest wie ein Baby. Denke ich. Hoffe ich.
Auf Zehenspitzen schleiche ich durchs Zimmer, schnappe mir meinen Kulturbeutel und öffne so lautlos wie möglich die Tür. Sie knarzt, natürlich tut sie das. So gut wie alles in Mafaldas steinaltem, vermutlich verhexten Häuschen gibt Geräusche von sich. Ich bin seit einer Woche hier und nein, daran werde ich mich nie gewöhnen. Ebenso wenig wie an den Anblick meiner Tante selbst, die sich wie üblich im Schneidersitz vor ihren Yoga-Altar gefaltet hat, die Augen geschlossen, die Hände vor den Körper gepresst, während ein gruseliger Brummton ihre Lippen verlässt und das Kerzenlicht orangefarbene Punkte auf ihre nackten Brüste flackert. O ja, meine Tante pflegt unbekleidet zu meditieren. Und sie ist selbst dann nicht geneigt, ihre Gewohnheiten zu ändern, wenn sich Besuch angekündigt hat.
»Was, wenn nicht ich, sondern Laurent hier vorbeigekommen wäre?«, zische ich ihr anstelle einer Begrüßung entgegen. Ich flüstere es. Die Wände sind dünn, und es ist noch viel zu früh, um die halbe Stadt aufzuwecken.
»Wie meinst du, Liebes?«, singt sie in ihrem fantastisch akzentuierten Englisch.
Ich verdrehe die Augen. Mafalda hält ihre geschlossen. Jemand wie sie kommt womöglich gar nicht auf die Idee, was falsch daran sein könnte, gleich nach dem Aufwachen über eine nackte Person zu stolpern, die man schon angezogen kaum kennt. Zumal das mit dem Stolpern wortwörtlich gemeint ist, denn der Weg zu Mafaldas Gästezimmer führt nun mal durchs Wohnzimmer, unmittelbar an ihrem kleinen Altar vorbei.
Sagt euch los von dem, was euch Fesseln anlegt, würde sie vermutlich ausrufen. Wenn es die Klamotten sind, umso besser. Hoffen wir einfach, dass Laurent lange genug schläft, bis meine Tante mit ihrer Morgenmeditation fertig ist.
Ich putze mir die Zähne unter der Dusche und sinniere darüber, ob es gut oder schlecht war, dass Laurent mich an diesem Wochenende besucht hat. Ich habe den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da wird das Wasser kalt. Schnell stelle ich es ab, unterdrücke das Schaudern, das die aufheulende Leitung mir jedes Mal verursacht (tatsächlich klingt sie wie die Maulende Myrte), hüpfe aus der Wanne und trockne mich ab. Dafür, dass Laurent und ich nur diese zwei Tage miteinander hatten, haben wir sie reichlich schlecht genutzt, fürchte ich. Was hauptsächlich meine Schuld war. Und ein bisschen auch seine. Ich meine, er wusste, ich würde keine Zeit haben, weil ich nun mal extra nach Glastonbury gekommen bin, um Mafalda während des Festivals mit dem Foodtruck zu helfen. Er wusste das, ich habe es ihm mehrmals gesagt. Ganz abgesehen davon, dass ich insgesamt nur zwei Wochen hier bin. Kann man nicht zwei Wochen voneinander getrennt sein, ohne gleich in den nächsten Flieger zu steigen?
Ich wickle mich in das Handtuch ein, stöhnend wie die Bettfedern und Myrte zusammen. Ich hätte mir erst die Haare abtrocknen sollen, sie tropfen alles wieder voll. Zu viele Haare. Viel zu viele Haare. Aus dem schmalen Badschrank hinter der Tür ziehe ich eines der kleineren Handtücher hervor und drehe meine wirre Mähne darin ein. Dann hebe ich den Kopf und mein Blick bleibt an meinem Spiegelbild hängen.
Oh, Liv.
Liv!
Was tust du?
Als ich aus dem Bad komme, singt Mafalda in der Küche. Nein, sie dröhnt. Ich bin mir sicher, nicht nur Laurent ist jetzt wach, sondern auch der Rest der Straße. Zu ihrer Stimme pfeift der altmodische Wasserkessel, den sie für die Zubereitung ihres Tees verwendet. Sie singt, es pfeift, dann erfüllt der Duft von starkem, schwarzem English Breakfast die Wohnung.
Die Wanduhr im Wohnzimmer zeigt fünf Uhr vierzig. Um sechs Uhr brechen Mafalda und ich auf, zunächst zum Großmarkt einige Kilometer außerhalb von Glastonbury, dann zum Festivalgelände, wo wir im Foodtruck Salate, Soßen und die Falafel vorbereiten, jeden Tag frisch. Mafalda ist keine große Köchin, doch gemeinsam setzen wir Jacksons Rezepte einigermaßen ordentlich um. Um neun Uhr beginnen wir mit dem Verkauf. Es gibt Kaffee, aber auch schon die ersten Falafel. Wer sich fragt, wie man um diese Uhrzeit bereits frittierte Linsenbällchen mit Knoblauchsoße verschlingen kann, hat offensichtlich noch nie auf einem der größten Musikfestivals Europas die Nacht durchgemacht.
So wie ich. Das mit dem Durchmachen, meine ich. Ich stehe seit Mittwoch von früh bis spät in dem Foodtruck, heute ist Sonntag – der letzte Festivaltag – und ich habe von dem sagenumwobenen Spektakel kaum mehr als die Fritteuse von hinten gesehen.
»Wolltest du verschwinden, ohne dich von mir zu verabschieden?«
Die Zimmertür ist noch nicht ins Schloss gefallen, da klattern Laurents Vorwürfe bereits wie Pfeilspitzen dagegen. Ich unterdrücke ein Seufzen. Seit Freitag geht das so, seit er aus dem Bus gestiegen ist. Unterstellungen und Misstrauen und Schuldzuweisungen und … ich weiß nicht. Das heißt, ich weiß es, aber ich fühle mich so machtlos. Ich hätte liebend gern, dass alles gut ist zwischen uns beiden, aber ich habe keine Ahnung, wie ich das anstellen soll.
Ich betrachte ihn einige Sekunden lang – das ernste Gesicht, die Enttäuschung in den Augen, die Stoppeln um den Mund, die vielen Haare auf der Brust – und beschließe, wenigstens für den Moment so zu tun, als spürte ich nicht die Abwärtsspirale, in der sich diese Beziehung befindet.
»Was, so?«, frage ich also, betont unbekümmert. »Du denkst, ich spaziere im Handtuch aus der Wohnung?«
Laurent verzieht keine Miene. Das sei ihm verziehen, so gut war der Witz nicht.
»Ich wollte dich schlafen lassen. Es ist noch nicht mal sechs.« Ich knie mich neben das Bett auf den Boden und beginne, in dem Koffer zu wühlen, aus dem ich seit einer Woche lebe. »Und ich dachte, du kommst später beim Foodtruck vorbei? Bevor du zurückfährst nach London?«
»So war’s geplant, ja«, murmelt er.
»Ich meine, wo du die Karte schon mal hast. Die schweineteuer war, richtig? Du solltest noch ein bisschen was vom Festival mitbekommen, bevor du zurück nach Hamburg fliegst. Gut, viel Zeit bleibt dir nicht mehr, denn dein Bus … Wann fährt der Bus gleich wieder? So gegen elf? Am besten nimmst du deinen Rucksack mit, wenn du …«
»Liv.«
»… aufs Festivalgelände kommst, es liegt doch auf dem Weg nach London, oder? Klar, die Schlangen sind ewig, wenn man auch noch Taschen kontrollieren lassen muss, aber letztlich ist es besser, als …«
»Liv!«
»… hinzufahren und dann wieder zurück nach Glastonbury, um den Rucksack zu holen.« Mit frischer Unterwäsche in der einen, Hose und Shirt in der anderen Hand stehe ich auf. »Ja?«
Wortlos starrt Laurent mich an. »Ich hätte echt nicht herkommen sollen«, sagt er, während er ebenfalls aufsteht, nach seiner Jeans greift und hineinschlüpft, dann in sein Hemd.
OGott,duhastrecht, denke ich. Undhabeichesdirnicht gesagt, mindestens zwei Dutzend Mal? Ich hasse mich ein bisschen für diese Gedanken, aber wie soll ich sie verhindern? Ich habe es ihm gesagt. Ich werde keine Zeit für dich haben. Ich muss meiner Tante im Foodtruck helfen, dafür fahre ich schließlich hin.
Oh, das macht mir nichts. Das Festival an sich ist doch schon mega. Und ein bisschen Zeit werden wir wohl zusammen verbringen können, oder nicht?
Oder nicht.
»Hör mal, du musst nicht aufstehen. Es ist noch nicht mal sechs.«
»Wieso hast du mir nicht gesagt, dass ich dich keine fünf Minuten für mich habe, wenn ich herkomme? Du musst deiner Tante helfen, schön und gut. Aber muss sie darüber hinaus dauernd um uns herumschwirren?«
»Nun ja … Sie wohnt hier!«
»Ja, das ist mir auch schon aufgefallen.« Er schmeißt sich zurück aufs Bett, Federn protestieren, Laurent verschränkt die Arme und streckt die Beine aus. Er hat keine schönen Füße.
Himmel, Liv, wieso musst du dauernd solche Sachen denken?
»Ich bin von diesem fürchterlichen Brummen aufgewacht. Ich dachte, irgendwo in der Wohnung ist irgendwas kaputtgegangen, das jeden Moment explodiert – aber rate, was ich gesehen habe, als ich die Tür aufgemacht habe?«
Oh, nein. Ich verziehe das Gesicht.
»Sie war nackt, Liv!«
»Es tut mir leid.«
»Sie saß nackt im Schneidersitz und gab entsetzliche Laute von sich!«
»Ich weiß! Und es tut mir wirklich leid, ich hätte dich warnen sollen. Mafalda meditiert immer gleich als Erstes am Morgen, und … ja. Bevorzugt unbekleidet.«
Laurent sieht mich an, als hätte ich ihm gerade lateinische Prosa vorgelesen. Dann blinzelt er, so betont, wie es jemand tut, der einem seine Missachtung zwar ausdrücken, aber nicht erklären möchte. Und dann sagt er: »Na, wenigstens habe ich an diesem Wochenende irgendjemanden nackt gesehen.«
Ich klappe den Mund auf. Und wieder zu. Dann wird mir bewusst, dass Laurent vollständig angezogen ist, bis auf seine nackten Füße, und dass ich lediglich im Handtuch vor ihm stehe, die frischen Klamotten nach wie vor gegen meinen Körper gepresst. Meine Hand zittert. Weil ich jetzt wirklich allmählich wütend werde.
»Ich ziehe mich im Bad an.«
»Ja, genau.«
»Ja. Genau.«
»Liv.«
Meine Finger berühren bereits den Türknauf, als Laurent seine darüberlegt. »Komm schon, so hab ich es nicht gemeint. Es tut mir leid.«
»Wie hast du es nicht gemeint?«
»Das weißt du genau. Nicht so, wie es geklungen hat.«
»Du meinst, du bist nicht hergekommen, um mit mir zu schlafen, und nun enttäuscht, dass das Haus meiner Tante so hellhörig ist, dass wir es auch gleich in ihrem Zimmer hätten tun können?«
»Ich frage mich echt, welchen Grund du jetzt hast, sauer zu sein.« Laurent zieht seine Hand weg und stützt sich stattdessen damit an der Wand ab. Einen kurzen Moment kommt mir der Gedanke, wie dämlich ich diese Pose finde, bevor mich gleich danach die Erkenntnis trifft, dass Laurent mir im Augenblick offensichtlich gar nichts recht machen kann. Und wie unfair das ist.
»Ich bin extra wegen dir hierhergeflogen«, fährt er fort. »Und ich hatte irgendwie gehofft, dass du dich ein bisschen freuen würdest, mich zu sehen.«
»Das habe ich«, rufe ich nachdrücklich. »Wirklich. Aber ich habe dir auch gesagt, ich bin wegen meiner Tante hier und ich werde nicht viel Zeit für dich haben, und dass es womöglich besser wäre, wir sehen uns, wenn ich wieder zu Hause bin.«
»Aber das sind Monate!«
»Ich bin doch nur zwei Wochen weg! Kann man nicht mal zwei Wochen …« Ich beiße mir auf die Lippen.
Laurent atmet sehr tief ein. Dann nimmt er die Hand von der Wand, schlüpft in seine Schuhe, schiebt mich ein Stück zur Seite und öffnet die Tür, um selbst hinauszugehen. Doch bevor er das tut, sagt er ruhig: »Ich bin ab nächster Woche Montag in Berlin, falls du das vergessen haben solltest.« Er lacht. »Oh, falls, klar. Ich bin echt ein Idiot, oder? Viel Spaß noch in England, Liv.«
Die Zimmertür rummst ins Schloss. Dann die der Wohnung. Ich schließe die Augen. Meine Tante ruft: »Fertig, Liv? Los geht’s! Dieser Tag wird metamorphorisch, ich fühle es!«
O ja.
Ich fühle es auch.
Shit.
Ich brauche ewig, um Vanessas Bus zu finden, mehr als eine Stunde. Verrückt, wie plötzlich alles anders aussieht, bloß weil man es aus einem neuen Blickwinkel betrachtet. Und ist nicht ein kleiner Philosoph an dir verloren gegangen, Jonah?
Obwohl ich so lange brauche, um den Bus und somit Dejan zu finden, ist es immer noch höllisch früh, als ich dort ankomme. Und alles, was ich jetzt will, ist Kaffee. Ich ducke mich unter das Vorzelt, öffne die Schiebetür zu dem alten VW und spähe hinein. Im hinteren Teil, links von mir, zeichnen sich unter einem Haufen Decken und Kleidungsstücke die Silhouetten der beiden ab, und ich sehe nicht genauer hin. Stattdessen halte ich Ausschau nach der Kiste, von der ich weiß, dass sie Campingutensilien beinhaltet, und als ich sie finde, steige ich so lautlos wie möglich ein, um Gaskocher, einen Wasserkanister und die Dose mit dem Espressopulver herauszuholen.
Nicht leise genug, wie es scheint.
»Jonah?« Dejans Stimme klingt rau, noch tiefer als ohnehin schon und nicht sonderlich begeistert.
»Sorry, ich wollte dich nicht wecken. Bin wieder draußen.«
»Wie spät ist es?«
»Zu früh. Schlaf weiter.«
Ich klettere aus dem Bus, ziehe die Tür hinter mir zu und lasse mich mit meiner Beute auf einen niedrigen Campinghocker fallen. Unter dieses Vordach hätte locker noch eines der drei Zelte gepasst, die wir Übrigen ein paar Hundert Meter von den Wohnwagen entfernt aufgestellt haben, aber irgendwie wollte niemand die Privatsphäre des anderen stören. Und auf keinen Fall die von Dejan und Vanessa, die die ganze Strecke gefahren sind, mehr als zwölf Stunden lang inklusive Stau und allem, die Fährzeit gar nicht mitgerechnet. Im Grunde ist es ihre Reise. Und ich, ich wollte zunächst überhaupt nicht mitkommen. Ich meine, England ist teuer. Und ich bin kein Fan von diesen Menschenmassen. Doch letztlich hat Dejan mich überredet, und bis gestern Abend war ich noch ganz froh darüber, denn Glastonbury Festival, das ist in jedem Fall und im besten Sinne krank.
Allerdings, nach heute Nacht … Der Gedanke an Sally auf meinem Schoß und ich mit Sally im Zelt und Sallys Zunge in meinem Mund, es schüttelt mich beinah. Ich stelle Gaskocher, Espresso und den Wasserkanister auf dem Boden ab, lasse den Kopf in den Nacken fallen und schließe für einen Moment die Augen. Ich brauche dringend eine Dusche. Aber erst mal Kaffee.
Die Tür zum Bus wird aufgeschoben und dann steht Dejan neben mir, in Jeans, ohne T-Shirt, barfuß.
»Hast du überhaupt eine Ahnung, wie die Kanne funktioniert?«, fragt er und gähnt.
»Ich hab schon Espresso gekocht, vielen Dank auch.«
»Das ist eine Cezve, für türkischen Mocca.«
Ich blinzle ihn an, dann sehe ich auf die Kanne vor mir auf dem Boden und wieder zu Dejan.
»Und das ist türkischer Mocca, kein Espresso.« Er nickt in Richtung des Kaffeepulvers.
»Heißt das, wir haben die letzten Tage türkischenMocca getrunken?«
»Dass du das nicht gemerkt hast, spricht für sich.«
Er klettert zurück in den Bus, kommt mit zwei Tassen wieder heraus (offensichtlich Moccatassen), kniet sich auf den Boden, stellt die Kanne auf den Gaskocher, misst Kaffee und Wasser ab, schaufelt Zucker hinein, entzündet mit einem Feuerzeug die Flamme. Dann rührt er. Und rührt.
»Ich habe drei Tage lang Kaffee mit Zucker getrunken?«, frage ich schließlich. Ich hasse Zucker im Kaffee.
»Mocca.«
Dejan rührt nach wie vor mit sagenhafter Geduld in dem schwarzen Gebräu herum. Sorgfältig. Hoch konzentriert. Ich habe mir noch nie wirklich Gedanken darüber gemacht, aber jetzt, wo ich hier sitze und ihn dabei beobachte, wie er türkischen Mocca zubereitet, wird mir klar, dass das eine der Eigenschaften ist, die ich am meisten an ihm schätze. Diese Intensität, mit der er sich auf genau die Sache konzentriert, die er gerade tut. Egal, was es ist. Auto fahren, einen Apfel schälen. Mocca kochen. Sex vermutlich. Wenn ich eine Frau wäre, würde ich das unbedingt ausprobieren wollen, denke ich, und dann muss ich über mich selbst lachen.
Dejan sieht zu mir. »Was?«
Ich grinse. »Nichts.«
Er zuckt die Schultern und rührt weiter.
Und das ist genau das, was einen guten Freund ausmacht, richtig? Die Fähigkeit, sich zu hundert Prozent dem zu widmen, was in diesem Augenblick seine Aufmerksamkeit erfordert. Oft bin ich das – oder ich war es, vor Vanessa – hauptsächlich, weil ich Dejan schon ewig kenne, länger als sonst irgendwen, seit dem Kindergarten, und weil er nun mal der beste Freund ist, den ich habe. Ich liebe ihn, so einfach ist das. Ich würde ihm alles anvertrauen, mein Leben, das Leben jedes anderen, es ist bloß … Manchmal sind Geheimnisse so groß, dass man nicht auch noch einen anderen darunter begraben möchte. Und ich bin ein guter Lügner. Nicht einmal Dejan weiß über die Dinge Bescheid, die ich niemandem zumuten möchte.
Er ist offenbar fertig mit Rühren, lässt schwarzen Brei in eine der beiden Tassen fließen und reicht sie mir, bevor er sich selbst eingießt. Dann setzt er sich auf den zweiten Campinghocker und starrt mich nieder. Sekunden vergehen. Minuten. Dejan nippt an seinem Mocca und wirft mir über den Rand der Tasse Blicke zu, die einen Henker in die Knie zwingen würden. Manchmal, denke ich mir, wäre es interessant, Dejan nicht zu kennen. Nicht zu wissen, dass er zwar aussieht, als könnte er Drahtzieher eines Drogenkartells sein, aber einer der anständigsten Menschen ist, die da draußen rumlaufen. Ich meine, er studiert Medizin. Will schon währenddessen bei den Ärzten ohne Grenzen mitmachen. Seine Erscheinung – dunkelblonde, nach hinten gequälte Haare, kühle graue Augen, Muttermal am Kinn, Himmel noch mal – und seine unnahbare Art können nicht darüber hinwegtäuschen, was für ein fantastischer Kerl Dejan ist. Oder vielleicht können sie es doch. Ganz sicher bin ich derjenige, der das am schlechtesten beurteilen kann. Und ganz sicher wird man mich neben ihm dreimal mehr für den Loser halten, der ich schließlich auch bin. Ich verziehe das Gesicht.
»Ist der Mocca so schlecht, wie du aussiehst?«
»Ein bisschen besser ist er, denke ich.«
»Das ist keine große Leistung.«
Er streckt sich auf dem niedrigen Hocker aus, so gut es geht, und … nichts. Noch eine bemerkenswerte Eigenschaft von Dejan? Er stellt keine Fragen. Er vermittelt dir nur so lange das Gefühl, dich erklären zu müssen, dass es beinahe an Folter grenzt.
»Warum hab ich den Eindruck, dass ich mich rechtfertigen muss?«, frage ich schließlich. »Ich habe nichts getan, was du nicht schon tausendmal gemacht hast. Und bloß, weil du auf einmal monogam geworden bist, heißt das nicht, dass du mir Vorträge halten kannst. Ich meine, habt ihr euch nicht immer darüber lustig gemacht, dass ich ständig in Beziehungen stecke, anstatt wild rumzuvögeln, wie Simon und du es jahrelang praktiziert habt? Und was, jetzt seid ihr plötzlich Beziehungsmenschen? Und ich sehe scheiße aus, weil ich mich hab abschleppen lassen?«
Dejan, gerade dabei, seine Tasse anzusetzen, verschluckt sich beinah. Dann sagt er trocken: »Du hast dich abschleppen lassen, alles klar.«
»Ich sage nur, es war nicht geplant. Und es ist nicht mein Ding.«
»Was genau ist nicht dein Ding?«
Aus schmalen Augen funkle ich ihn an, denn allmählich geht er mir auf die Nerven. Ich weiß genau, worauf er hinauswill, aber dann soll er es ansprechen, verdammt noch mal. Ich sage stattdessen: »Der Austausch von Körperflüssigkeiten egal welcher Form mit wildfremden Wasserstoffblondierten ist nicht mein Fall.«
Dejan grinst, ganz kurz nur, gegen seinen Willen vermutlich. Dann blickt er auf die Tasse in seiner Hand, als wollte er den Satz lesen, stellt sie auf dem Boden ab und … nichts.
Ich stöhne auf. »Und Annika hat es nicht mitbekommen.«
»Wenn sie es jetzt noch nicht weiß, weiß sie es spätestens eine Minute, nachdem sie die Augen aufgeschlagen hat.«
»Und? Wir sind nicht mehr zusammen. Vielleicht an der Zeit, dass das auch in ihrem Hirn ankommt.«
»Schätzungsweise hat sie das jetzt begriffen.«
Ich sehe erst Dejan an, dann auf den Boden. Ich reibe mir die Stirn, denke, ich hätte wirklich gern einen Kaffee und kein schlechtes Gewissen und eine Dusche, ganz dringend eine Dusche.
»Was interessiert es dich? Du magst Annika nicht mal. Sie ist hier, weil sie mit Michelle befreundet ist, richtig? All die Monate, die ich mit ihr zusammen war, hast du die Augen verdreht, sobald sie nur den Mund aufgemacht hat.«
»Annika ist mir egal«, sagt Dejan. »Ich dachte, du erzählst mir früher oder später, weshalb du drei Tage lang nicht merkst, dass Zucker in dem Mocca ist, den du für Kaffee hältst.«
Ich starre Dejan an, als hätte ich keine Ahnung, wovon er spricht, während sich mein Pulsschlag beschleunigt und mir heiß wird, richtig heiß. Es dauert eine Ewigkeit, bis ich die Bilder vor meinem inneren Auge wieder dorthin verbannt habe, wo sie hingehören – weg, weit weg –, dann räuspere ich mich. »Ich gehe duschen, okay? Wir sehen uns später?«
»Klar.«
»Bis dann.«
Bin ich ein guter Lügner? Ich bin ein fantastischer Lügner.
Ich spüre Dejans Blick in meinem Rücken und ignoriere den Rest.
Ich sehe ihn schon von Weitem, über die Köpfe der Wartenden hinweg, erkenne ihn an seinem betont aufrechten Gang, dem ordentlich gescheitelten Kurzhaarschnitt, den wachsamen Augen, mit denen er seine Umgebung anvisiert. Er blickt grimmig drein, äußerst schlecht gelaunt, und obwohl ich weiß, dass dieses Festival möglicherweise der letzte Ort ist, den er freiwillig besuchen würde, ist mir klar, wem diese Übellaunigkeit vor allem gilt. Mir. Er ist also gekommen, aber verziehen hat er mir nicht. Okay. Ich bin trotzdem erleichtert. Was mich selbst überrascht.
Laurent und ich sind seit sechs Monaten ein Paar, doch ziemlich sicher hat sich jeder von uns schon einmal gefragt, ob das hier das Richtige ist. Ich jedenfalls habe mich das gefragt, mehr als einmal. Doch vorhin, als er mir einfach so die Tür vor der Nase zuschlug, als ich das Gefühl hatte, es endgültig und für alle Zeiten vermasselt zu haben, da kam mir auf einmal der Gedanke, dass ich das womöglich doch nicht möchte. Bei allem, was mir falsch daran vorkommt, mit Laurent zusammen zu sein, war das Gefühl, dass nun Schluss sein könnte, es war … beängstigend geradezu.
»Mafalda«, beginne ich, doch meine Tante, den Blick von ihrem Kaffeemonster weg über die Schulter gerichtet, hat Laurent ebenfalls gesehen.
»Geh nur«, sagt sie. »Talk to the lovely boy.«
Ich gebe einen grummelnden Laut von mir. Laurent ist liebenswert, auch wenn er das Mafalda nicht überschwänglich gezeigt hat in den zwei Tagen, die er hier war. Was wiederum viel mehr mit mir zu tun hat als mit ihm, fürchte ich.
Ich streife die schlammfarbene Schürze ab sowie die hellgrünen Einmal-Handschuhe, mit denen ich gerade noch Linsenbällchen geformt habe, und schiebe mich in dem schmalen Gang des Trucks an ihr vorbei zur Tür. Als ich sie aufreiße, steht Laurent bereits davor.
»Hi.« Ich springe die Stufen nach unten, und Laurent schiebt die Hände in die Taschen seiner Hose, was meine Absicht, ihn umarmen zu wollen, ad absurdum führt. Ich versuche es trotzdem.
»Es tut mir leid«, erkläre ich, während ich beide Arme um seinen Hals schlinge und mich auf die Zehenspitzen stelle, um ihm einen Kuss zu geben. Den er nicht erwidert. Er nimmt auch die Hände nicht aus den Taschen. Ein Blick in seine kühlen Augen genügt, um festzustellen, dass es mit einer lumpigen Entschuldigung nicht getan ist.
Ich trete einen Schritt zurück, verschränke die Arme hinter dem Rücken und wippe einige Male auf den Fußballen. Manchmal ist es besser, das Drama nicht noch zu dramatisieren, denke ich, setze ein sonniges Lächeln auf und sage, so optimistisch wie möglich: »Ich habe natürlich nicht vergessen, dass du für das Praktikum nach Berlin gehst, ich habe nur … ich denke, ich habe eventuell das Datum verwechselt. Ich meine, ich weiß nicht, England, die Zeitverschiebung …«
»England? Die Zeitverschiebung? Das ist deine Entschuldigung?«
»Natürlich nicht. Meine Entschuldigung ist … Es tut mir leid, Laurent. Ich habe es nicht böse gemeint. Und du hattest recht herzukommen, wir hätten uns überhaupt nicht mehr gesehen, bevor du nach Berlin gehst. Ich meine, klar, Berlin ist nicht sooo weit weg von zu Hause und sicher sehen wir uns da auch öfter mal an den Wochenenden, aber trotzdem, es ist eben ein ganz schön aufregender Schritt für dich, und …«
Laurent hebt die Hand und zupft damit an meinem Haarnetz herum, das ich unglücklicherweise tragen muss. Zu viele Haare, ich sagte es bereits.
»Du hast da was. Teig, wie es aussieht.« Er hält mir seinen beschmierten Finger vors Gesicht.
»Ähm, okay …«
»Und da an der Wange …« Er wischt mit seinem Daumen darüber. Allmählich komme ich mir gemaßregelt vor, obwohl Laurent noch kaum ein Wort gesagt hat. Das tut er erst, nachdem er einen Schritt zur Seite getreten ist, um seine besudelten Finger an einem Büschel Gras abzuwischen.
»Liv, hör zu«, sagt er, als er wieder vor mir steht.
»Ja?« Ich sehe es ihm an. Dieser Satz wird nicht gut enden. Weshalb ich mich zu einem überbordenden Lächeln zwinge, das ich absolut nicht fühle.
»Vielleicht wäre es ganz gut, wenn wir meine Zeit in Berlin nutzen, um uns klar zu werden. Über uns. Du weißt schon, was uns angeht. Unsere Beziehung.«
Ich blinzle. Diese Betonung. Gott, das hört sich schlimm an, ich wusste es. Aus Mangel an Worten taste ich mit den Fingerspitzen in meinem Gesicht herum auf der Suche nach noch mehr Falafelspuren, wie ein nervöses Model, das Make-up auftupft. Was ein wahrlich grotesker Vergleich ist. Ich. Ein Model. Aus dem Augenwinkel bemerke ich einen Typen, der mir stirnrunzelnd zusieht, und lasse die Hände sinken. Klar werden. Über uns. Unsere Beziehung.
»Laurent.« Ich sehe zu ihm auf. Sein Blick ist nun nicht mehr genervt und verärgert, er sieht traurig aus. Traurig und … trotzig irgendwie. Ich lege eine Hand an seine Wange, und dann versuche ich es noch mal mit dem Kuss, und diesmal schlingt er einen Arm um meine Taille und drückt mich an sich. Kurz. Dann schiebt er sich erneut ein Stück von mir weg.
»Ich habe einfach das Gefühl, es war ein Fehler herzukommen. Und es sollte kein Fehler sein, wenn man seine Freundin sehen will.«
»Natürlich nicht.« Ich schüttle den Kopf. Ich komme mir hilflos vor und in meinem Inneren tobt ein Krieg. Ich weiß nicht, ob er recht hat. War es ein Fehler? Sollten wir nachdenken? Sollten wir es gleich lassen? Unsere fürchterlich betonte Beziehung beenden? Auf der anderen Seite, das Gefühl heute Morgen, dieses Gefühl des Verlassenseins und …
»Du tendierst im Augenblick wirklich dazu, das Falsche zu sagen, weißt du das?«
»Was? Wieso …«
»Natürlich nicht.« Er schüttelt den Kopf. »Wie wäre es mit: Es war kein Fehler? Ich liebe dich, Laurent?«
Ich starre ihn an. »Ich …«
»Ah, Liv. Lass uns das hier beenden, okay?«
»Beenden?« Ich verschlucke mich fast an dem Wort. »Sagtest du nicht, wir sollten …«
»Das Gespräch.« Nachdenklich betrachtet er mich. Sehr, sehr nachdenklich. Er macht mich so nervös mit seinem Blick, dass ich automatisch wieder in hibbeliges Wippen verfalle. Erneut schüttelt er den Kopf. »Ich bin genauso schuld wie du.«
»Woran schuld?«
»Na, an der ganzen Situation. Ich hab schon ewig gemerkt, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist, aber ich dachte, mit dir, in England, wenn wir erst mal ein bisschen Abstand haben … Ich dachte, dann legt sich der Stress zwischen uns, und wir fangen vielleicht sogar an, einander zu vermissen. Ichhab dich jedenfalls vermisst.«
Bevor ich überhaupt den Mund öffnen kann, um womöglich wieder etwas Falsches zu sagen, fährt Laurent fort: »Anscheinend ist das aber ziemlich einseitig.«
»Laurent …«
»Weshalb ich vorschlagen würde, wir denken beide mal gründlich nach, und da drängt sich die Zeit, die ich in Berlin bin, ja wohl geradezu auf.«
»Okay, also, wir nutzen die Zeit, um uns klar zu werden, wie du vorhin …«
»Oder wir machen eine Pause.«
»Eine Pause?«
»Eine Pause. Trennen uns vorübergehend. Fragen uns, was wir wirklich wollen. Vermissen einander. Oder auch nicht. Du überlegst dir am besten, was du wirklich willst, Liv.«
»Weißt du, ich …«
»Nein, ich meine es ernst. Ich hab keine Lust, mich meine gesamte Praktikumszeit zu fragen, ob du mich liebst oder eher doch nicht.«
»Wirklich, ich …«
»So, wie es jetzt ist, ist es einfach nicht mehr gut.«
Ich klappe den Mund zu. Er hat recht, ich weiß, dass er recht hat. Doch dafür, dass er extra hergeflogen ist, dass er mir solche Vorwürfe macht und nun eine solche Szene, dafür sieht er nicht halb so erschüttert aus, wie ich mich fühle.
Ein Blick auf seine Armbanduhr. »Ich muss los.«
Ich starre ihn an. »Heißt das, du machst Schluss mit mir?«
»Wenn du es nicht schon vor Monaten getan hast …«
»Was soll das wieder heißen?«
»Denk doch mal darüber nach. Du hast genau eine Woche und zwei Monate Zeit dafür. Bis bald, Liv.«
Er greift nach dem dicken, geflochtenen Zopf, der seitlich aus meinem Haarnetz herausquillt, und lässt ihn wieder los. »Was ist das überhaupt für ein Teig?«
»Laurent.« Ich nehme seine Hand, dann lege ich seinen Arm um meine Taille und schmiege mich dicht an ihn, mit meinem ganzen Körper, die Stirn an seiner Brust. »Ich werde dich vermissen«, murmle ich. Doch die Wahrheit ist, ich bin nicht sicher, ob das stimmt. Die Wahrheit ist, ich bin aus den falschen Gründen mit dem falschen Jungen zusammen, und die Tatsache, dass ich aufgeflogen bin, sollte dem ein Ende bereiten.
Ich fühle den Kuss, den Laurent mir ins Haarnetz drückt, und dann die Leere, als er mich stehen lässt.
Ich blicke ihm nach.
Er dreht sich nicht noch mal um.
Das frühmorgendliche Gespräch mit Dejan hat mir Folgendes offenbart.
Erstens: Ich bin scheinbar mehr neben der Spur, als ich dachte, denn Dejan hat sich merkwürdig benommen und er hat meinVerhalten infrage gestellt, und das tut er nur selten.
Zweitens: Heute ist der letzte Tag des Festivals, und da sollte es kein Drama geben. Nicht den Hauch. Also werde ich mich von Annika fernhalten, um jeden Preis. Und von allen anderen Frauen auch.
Drittens: Ich werde mich nicht bei Annika entschuldigen, denn dazu besteht absolut kein Grund.
Viertens: Mocca ist definitiv nicht mein Ding.
Weshalb ich in der durchaus beachtlichen Schlange eines der wenigen Foodtrucks stehe, die um kurz nach neun schon geöffnet haben und Kaffee ausschenken. Es sind noch gefühlt 250 Leute vor mir dran, aber es ist ja nicht so, als hätten wir keine Zeit. Die ersten Konzerte beginnen wann, elf Uhr? Und ob ich hier stehe oder auf irgendeinem Hügel herumfläze und in den Himmel starre …
»Sorry.«
Von hinten rempelt mich jemand an, ist aber so schnell an mir vorbei- und durch die Schlange der Wartenden gerauscht, dass ich gar nicht dazu komme, etwas zu erwidern. Er schleift eine Fahne Aftershave hinter sich her, die einen Komapatienten aufwecken könnte. Und warum auch immer ich meinen Blick auf seine Schuhe richte (ich habe ehrlich keine Ahnung), aber er trägt Loafer. Loafer! Und ich weiß nur deshalb, wie diese grauenvollen Dinger heißen, weil sie so hässlich sind, dass ich sie gegoogelt habe. Hässliche Halbschuhe. Ergebnis: Loafer. Und er trägt sie ohne Socken.
Dann schiebt er sich an mir vorbei und ganz nach vorn, und ich will ihm schon hinterherrufen, dass das Ende der Schlange hinten ist, am Ende, als er auf den Seiteneingang des Foodtrucks zusteuert.
Ah, okay.
Auch gut.
Ich sehe von ihm zu dem hellgrünen Wagen und über die Köpfe der Wartenden hinweg zu den Picknicktischen und -bänken, die sich in der Mitte dieser Fressgasse aneinanderquetschen. Normalerweise biegen sie sich unter der Last der viel zu vielen Menschen (Bierflasche in der einen, Burger in der anderen Hand), jetzt klammern sich nur vereinzelt Nachtgestalten daran fest oder Frühaufsteher wie ich, freiwillige und unfreiwillige, während sich das Festival aus seinem Schlaf schält.
Das größte Problem daran, bereits derart früh auf zu sein bei einer Veranstaltung wie dieser? Es liegt ein schier grenzenloser Tag vor dir, von dem ich persönlich noch keine Ahnung habe, wie ich ihn umbringen soll. Umbringen. Ist das das richtige Wort? Lässt sich ein Tag umbringen? Egal. Zeit ist ohnehin etwas höchst Problematisches, finde ich. Das mit Sally beispielsweise, es liegt erst wenige Stunden zurück und schon jetzt kommt mir die Begegnung vor wie eine schlecht sitzende Erinnerung, die sich nicht mehr lange halten wird. Andere Dinge dagegen vergisst man nie.
Wie funktioniert das?
Ich bewege mich in der Schlange ein weiteres Stück nach vorn, als mein Blick an dem Typen von vorhin hängen bleibt (der mit den grässlichen Schuhen) und mir auffällt, dass er inzwischen nicht mehr allein neben dem Foodtruck steht, sondern mit einem Mädchen. Für den Bruchteil einer Sekunde richte ich meine Aufmerksamkeit auf sie, sehe weg, dann doch genauer hin. In den vergangenen Tagen sind mir etliche kuriose Erscheinungen über den Weg gelaufen, und normalerweise interessiert es mich nicht, aber in diesem Fall … ich weiß nicht. Könnte daran liegen, dass sie sozusagen das Gegenteil von ihm darstellt. Ich meine, er in scheußlichen Schuhen, zu sauberen Klamotten und Seitenscheitel, sie in, wie nennt man das? Haremshose? Labbrigem Top und kurzen, geblümten Gummistiefeln. Was allerdings vor allem auffällt, und davon kann nicht mal das lächerliche Haarnetz auf ihrem Kopf ablenken, ist ihr Lächeln. Es ist breit, blendend, und eine Spur drüber. Es ist garantiert aufgesetzt, und dennoch denke ich, sie könnte damit einen wirklich dunklen Raum ein ganzes Stück heller machen.
Ich sehe woandershin.
Und weil nirgendwo sonst etwas Bemerkenswertes passiert, wieder zu ihr.
Ich kann nicht verstehen, was gesprochen wird, doch egal, was sie dem Kerl erzählt, es scheint ihn nicht sonderlich zu beeindrucken. Sie wirkt nervös, zappelt rum, setzt dieses Lächeln auf, bis es ihr wieder vom Gesicht fällt, während er, die Hände in den Hosentaschen, sich kaum rührt. Ich kann nur einen Ausschnitt seines Gesichts sehen, doch auch der bleibt unbewegt. Und als das Mädchen in meine Richtung sieht und sich unsere Blicke treffen, bemerke ich die Panik in ihrem.
Sie tut mir leid. Und ich runzle die Stirn über diesen Gedanken. Ich meine, ich kenne das Mädchen überhaupt nicht, aber irgendetwas an ihren Gesten und ihrer Mimik rührt mich an und es ärgert mich, dass der Typ vor ihr so gar nicht darauf reagiert. Ich meine, er könnte es ihr ein bisschen weniger schwer machen, oder? Wer ist der überhaupt? Ihr Freund vermutlich. Dann tut sie mir gleich noch mehr leid. Oder hat er mit dem Foodtruck zu tun? Jemand aus ihrer Familie?
Jonah, geht’s noch?
Sie streiten jetzt. Sieht so aus, als würde er ihr Dinge erklären, die nun wiederum ihr nicht gefallen oder die sie nicht versteht, jedenfalls ist jegliches Lächeln – echt oder falsch – verschwunden, stattdessen blinzelt sie aus großen Augen zu ihm auf.
Er sieht auf seine Armbanduhr. Wer, frage ich mich, trägt in Zeiten von Smartphone und Tralala noch eine Armbanduhr?
Beim nächsten Wimpernschlag hat sie sich an ihn geschmiegt, der Länge nach, ihren ganzen Körper. Und wieder reagiert er nicht, bleibt steif, eine Statue. Drückt einen flüchtigen Kuss auf ihr Haarnetz, schiebt sie von sich, dreht sich um und geht. Für eine Millisekunde blickt er mich an. Er wirkt absolut unbewegt, entschlossen und kühl.