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Unsagbar intensiv, ergreifend echt: Lea Coplin Sechs Jahre lang haben sich Jana und Leander nicht gesehen. Als Kinder waren sie unzertrennlich – bis zu diesem einen, verhängnisvollen Abend im August, als Janas Bruder Tim bei einem Autounfall ums Leben kam. Leander fuhr den Wagen. Und verschwand danach aus Janas Leben. Kein Wort haben sie seitdem gewechselt, wissen nichts mehr voneinander. Und jetzt steht er plötzlich vor ihr. Mit seinen hellblauen Augen. Und die Anziehungskraft ist so viel größer als Jana wahrhaben will. Sechs Jahre hat sie versucht, ihn zu hassen. Und nun ist er da, aus einem wirklich guten Grund: Er ist hier, damit sie ihn rettet. Nur weiß er das selbst noch nicht. Folgende weitere tolle Romance-Titel sind von Lea Coplin bei dtv erschienen: Aus der »Nichts ist gut«-Serie: Band 2: »Nichts zu verlieren. Außer uns.« Weitere Einzelbände: »Für eine Nacht sind wir unendlich« »Mit dir leuchtet der Ozean«
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Seitenzahl: 396
Lea Coplin
Nichts ist gut.Ohne dich.
Roman
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Für Mogli, Momo, Bär und Cooper.Ihr werdet ewig einen Platz in meinem Herzen haben.Und für Penny und Mr. Hobbs –ihr bekommt den Platz auf meinem Schreibtisch.Wie alle meine Romane wurde auch dieses Buch unter strenger Katzenaufsicht geschrieben.Das sollte einmal gesagt werden, finde ich.
Er betritt den Laden und ich erkenne ihn nicht gleich, und das ist alles, worüber ich später nachdenken kann: Wieso habe ich ihn nicht erkannt? Wie konnte ich ihn nicht erkennen? Junger Typ, ziemlich düster, ziemlich abgerissen – das sind die Gedanken, die mir durch den Kopf schießen, als die Türglocke einen neuen Kunden ankündigt. Wird sicher nichts kaufen, denke ich noch. Bis er schließlich auf die Kasse zusteuert, habe ich ihn bereits vergessen.
Ich widme mich den neu angekommenen Büchern, um sie in unser Computersystem aufzunehmen. Es sind einige in diesem Sommer, obwohl es für einen kleinen Laden wie Kates Bücherkiste von Jahr zu Jahr schwieriger wird, sich zu halten, aus den bekannten amazonischen Gründen. Ich kann nur hoffen, dass Kate weiterhin durchhält. Ich wüsste nichts mit meinen Nachmittagen anzufangen, dürfte ich sie nicht hier zwischen diesen Bücherregalen verbringen. Ich bücke mich gerade nach einer Kiste, als jemand etwas auf dem Tresen ablegt.
Um ehrlich zu sein: Ich spüre die Bewegung mehr, als dass ich sie höre, und womöglich hätte mich das aufmerksam werden lassen sollen, aber irgendein inneres Warnsystem scheint in diesem Augenblick zu versagen. Und, wie ich schon erwähnte, den Typen von vorhin habe ich längst vergessen. Bis ich mich ahnungslos aufrichte und ihm in die Augen blicke.
Sie sind blau. Oder sie waren es, bevor jemand dahinter das Licht ausgeknipst hat.
Ich weiß sehr genau, wann das war.
Ich weiß ganz genau, wann Leanders strahlendes Leben in tiefe Schatten versank. Und weshalb.
Ich weiß das. Auf den Tag genau.
»Jana, möchtest du den jungen Mann nicht abkassieren?« Aus dem Augenwinkel sehe ich Kate die eiserne Wendeltreppe hinaufsteigen, die vom Lagerraum direkt in den Laden führt. Sie wischt sich die Hände an den Seiten ihrer Jeans ab und kommt auf uns zu, einen verwirrten Ausdruck auf dem Gesicht. Keine Ahnung, wie lange Leander und ich hier schon unseren kleinen Starr-Contest veranstalten, irgendwie ist mir die Zeit abhandengekommen. Sollte ich allerdings nur halb so schockiert aussehen wie er, dürfte sich Kate schon jetzt ernsthafte Sorgen um mich machen.
»Dieses hier?« Sie nimmt das Buch, das Leander auf den Tresen gelegt hat, und schiebt sich an mir vorbei, um den Betrag in die Kasse einzutippen.
Leanders Blick huscht zu ihr, ganz kurz nur, dann sieht er wieder mich an.
Er wirkt furchtbar, furchtbar verändert. Seine blonden Haare sind länger als früher, einige Strähnen reichen fast bis zum Kinn, und sie hängen da irgendwie wirr durcheinander, als würde es ihn überhaupt nicht kümmern. Genauso wenig wie die Stoppeln auf seiner blassen Haut oder die dunklen Ringe unter seinen Augen. Seine Augen – mit ihrem verwaschenen Blau sind sie am Ende das einzig Farbige an ihm. Er steht da, schwarzes Shirt, schwarze Jeans, mit zwei hellblauen Tupfen im Gesicht, und obwohl er keinen Ton von sich gibt, fühle ich mich von den unausgesprochenen Worten wie erstickt.
Einen Wimpernschlag später ist er verschwunden.
»Jana«, sagt Kate und legt mir eine Hand auf die Schulter.
Ich starre auf die Tür, durch die Leander davongestürmt ist, bevor ich wieder zu atmen beginne.
»Wer war das?«
Leander.
Mein …
»Jemand, den ich mal kannte«, murmele ich, bevor ich den Satz zu Ende denken kann. Ich drehe mich zu Kate und ich weiß, dass sie weiß, dass das die Verharmlosung des Jahrhunderts ist, doch nach einem scharfen Blick bohrt sie nicht weiter nach.
»Bist du mit den Büchern hier fertig?«, fragt sie. »Es sind noch jede Menge Kisten unten.«
Es ist nicht einfach mit mir. Ich weiß das. Und Kate weiß das, seit sie mir vor knapp zwei Jahren diesen Job gegeben hat. Seit ich ohne eine einzige Unterbrechung drei Nachmittage die Woche und jeden zweiten Samstag in ihrem Laden verbringe. Weil ich gewissenhaft bin. Oder eher besessen. Weil mein Leben so unaufgeregt durchstrukturiert ist, dass für Fehlzeiten einfach keine Zeit bleibt.
Kate weiß viel über mich. Zum Beispiel, dass ich lieber mit ihr Inventur mache, als mich um mögliche Unis zu kümmern. Dass ich viele Stunden im Boxclub verbringe, um nicht nach Hause zu müssen. Dass ich keinen Freund habe, aber Henrik, der streng genommen gar nicht mir gehört, sondern einer anderen. Kate wäre die absolut richtige Person, um über Tim zu sprechen und über Leander, und dennoch habe ich es nie getan. So ist das in meiner Familie eben – je weniger wir darüber reden, desto weniger ist es geschehen. Mein Bruder Tim ist nie gestorben. Sein bester Freund Leander hat nie das Auto gefahren, in dem er starb.
Den ganzen Nachmittag über springt mein Herz in meinem Brustkorb Trampolin. Ich versuche, mich mit hirnlosen Tätigkeiten abzulenken, sortiere Bücher um und verschiebe Bildbände in ihrem Regal. Böser Fehler. Lieber sollte ich mir etwas suchen, das meine Gedanken im Zaum hält, stattdessen rattert es in meinem Kopf.
Wie bereits angedeutet, lautet die große Frage, weshalb ich ihn nicht gleich erkannt habe. Auf den ersten Blick. In dem Moment, in dem er den Laden betrat. Mein Pulsschlag hätte aussetzen müssen. Oder davongaloppieren. Ich hätte es spüren sollen, auf die eine oder andere Art. Der Junge, der mir die größten Schmerzen meines Daseins bereitet hat, darf nicht einfach unbemerkt zurück in mein Leben spazieren. Nicht einfach so.
»Jana, legst du das hier wieder an seinen Platz?« Kate hält das Buch in der Hand, das Leander hatte kaufen wollen. Wenn überhaupt möglich, hopst mein Herz noch ein Stück höher. »Und dann mach Feierabend, bei dieser Hitze setzt doch kaum ein Hund den Fuß vor die Tür.« Sie rauscht an mir vorbei auf die kleine Küche zu, in der unsere Taschen hängen, und drückt mir auf dem Weg das Buch in die Hand. Es ist eine Sonderausgabe von Jane Eyre, in hellgraues Leinen gebunden.
Ich habe keine Ahnung, was Leander dieses Buch bedeutet. Ich habe ihn seit sechs Jahren nicht gesehen, ich kenne ihn nicht mehr. Aber ich stecke es in meinen Rucksack und lege mit zitternden Fingern das Geld in die Kasse, ohne zu wissen, warum.
Ich laufe vor meiner eigenen Dummheit davon. Durch die Tür, über die Brücke, runter an die Isar, nach Süden in Richtung Heizkraftwerk. Ich renne wie ein Wahnsinniger, obwohl es viel zu heiß ist, das T-Shirt, die Jeans, alles klebt an mir, die schweren Stiefel ziehen mich zusätzlich runter, ganz abgesehen davon, dass ich kaum geschlafen habe und auf gar keinen Fall hier herumrasen sollte wie ein Irrer.
Wie kann man nur so blöd sein?
Verdammt noch mal.
Ich schließe die Augen, während ich schneller werde, doch das Bild von Jana will nicht aus meinem Kopf. Wie sie mich angesehen hat. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einem so leeren Blick begegnet zu sein. Absolut leblos. In den zähen Minuten, die wir uns da vorhin gegenüberstanden, hatte ich einen Geistesblitz: Ich hab sie beide umgebracht. Nicht nur Tim. Jana auch.
Ich laufe weiter am Wasser entlang, unter den Bögen der Wittelsbacher hindurch, in Richtung Eisenbahnbrücke. Ich hätte nicht hingehen sollen. Ich hätte etwas sagen müssen. Ich hätte mir vorher überlegen sollen, was ich am besten sage, oder einfach nicht hingehen sollen. Ich weiß nicht, warum ich es überhaupt getan habe. Okay, ich weiß es, aber …
Das Handy vibriert in meiner Hosentasche und ich greife danach, ehrlich dankbar für die Pause in meinem Hirn.
»Was?«, keuche ich. Ich bekomme kaum Luft, schwitze wie ein Eiswürfel und fühle mich wie ein Vollidiot, aber ich höre nicht auf zu rennen.
»Scheiße, wobei störe ich dich gerade?« Max lacht ins Telefon.
»Witzig«, japse ich.
»Kommt auf die Perspektive an«, antwortet Max. »Also, wo steckst du? In deinem Bett warst du jedenfalls noch nicht, wie es aussieht. Musst du nicht arbeiten heute Nacht? Wie soll das gehen ohne deinen Schönheitsschlaf?«
Max ist mein Mitbewohner und nicht meine Mutter, und ich bin kurz davor, ihm das zu sagen, als mir einfällt, dass ich jetzt nicht auch noch über meine Mutter nachdenken will. Was zum Teufel ist denn das für ein Scheißtag?
»Ich ruf zurück«, bringe ich heraus, drücke das Gespräch weg und schiebe das Telefon wieder in die Gesäßtasche. Ich weiß auf einmal, wo ich hinwill. Zu der Stelle nach der Eisenbahnbrücke, an der die Isar einen Bogen schlägt, wo einem der Fluss plötzlich ursprünglicher vorkommt und das Ufer viel weniger belebt, und wo ich darauf warten kann, dass die Geschäfte schließen, um mein verdammtes Motorrad abzuholen, das ich neben dem verdammten Buchladen abgestellt habe.
Verdammter Idiot.
Janas große braune Augen spuken vor mir her, während ich weiterjogge, unter der Brücke hindurch, den Isarstrand entlang. Nach ein paar Hundert Metern lasse ich mich in den Kies fallen. Ich kann es nicht rückgängig machen. Aber ich kann dafür sorgen, dass es nicht noch einmal geschieht.
Ich lehne mich gegen einen Baumstamm und lasse die Blicke über das Wasser schweifen, während sich mein Atem beruhigt. Fast hatte ich vergessen, wie schön es hier ist. Nicht nur der Fluss, die ganze Stadt, Heizkraftwerk und alles. Nach beinahe sechs Jahren Berlin weiß man die Reize Münchens wieder zu schätzen. Nach sechs Sekunden Jana weiß ich allerdings auch, weshalb ich damals nach Berlin gegangen bin. So wie es aussieht, kann ich nicht in der gleichen Stadt leben wie sie und die gleiche Luft atmen wie sie und wissen, wo sie wohnt und wo sie arbeitet, und das alles einfach ignorieren, aber ich muss es versuchen. Es war nicht richtig, sie wiedersehen zu wollen. Nach all dem, was geschehen ist – was ich ihr angetan habe –, war es dumm und egoistisch, in ihr Leben zu platzen und zu glauben, es sei nicht viel zu spät, um irgendwo anzuknüpfen.
Es ist nur … je mehr um mich herum zerfällt, desto stärker wird mein Bedürfnis, ihr nah zu sein. Was wirklich absurd ist. Immerhin war ich derjenige, der vor einer halben Ewigkeit aus ihrem Leben verschwand, aus vielen guten Gründen, wohingegen es offenbar überhaupt keinen Grund gibt, diese Entscheidung wieder rückgängig machen zu wollen.
Es ist zum Verrücktwerden. Ich höre mich an wie ein Stalker.
Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und rufe Max an.
»Okay, was gibt es so Wichtiges?«, frage ich, lehne den Kopf nach hinten und starre finster in den strahlend schönen Nachmittagshimmel.
»Hast du eine Ahnung, wo Bela steckt?«
Bela, der andere Mitbewohner.
»Wieso telefonierst du neuerdings den Leuten hinterher?«, frage ich zurück. »Der Kerl ist über achtzehn und kann seine Nachmittage wo und wie auch immer verbringen.«
»Klar, kann er, auch die Nacht davor und den Tag vor der Nacht davor und – warte … Was haben wir heute? Mittwoch. Das heißt, ich hab Bela Montagabend das letzte Mal gesehen, und schon da wusste er seinen Namen nicht mehr.«
Ich stöhne, während ich mich aufrapple und mir den Schmutz von der Hose klopfe. »Wieso hast du ihn losziehen lassen, wenn er schon so voll war?«
»Weil ich nicht sein Kindermädchen bin.« Ich höre, wie Max sich eine Zigarette anzündet und Rauch ausatmet. »Sein Chef ist auf dem Anrufbeantworter. Er war seit drei Tagen nicht in der Schreinerei, sie machen sich Sorgen und brauchen ganz nebenbei eine Krankmeldung.«
»Verdammt, Max.«
»Ich bin unschuldig.«
»Klar.« Ich löse meinen Blick vom Wasser und gehe in die Richtung zurück, aus der ich gekommen bin. »Komplett unschuldig.«
»Hey, ich kann nichts dafür, dass sie sich in mein Bett gelegt hat, sie war schon drin, als ich nach Hause kam.«
»Lass es einfach.« Jetzt ist nicht die Zeit, über Max’ und Belas Frauengeschichten zu diskutieren.
Er seufzt. »Wann beginnt deine Schicht?«
»Wann sie immer beginnt«, sage ich. »Mitternacht.«
»Willst du noch schlafen?«
Ich sollte. Aber im Augenblick wüsste ich ehrlich nicht, wie. »Schon okay.«
»Gut. Dann treffen wir uns in der Sonne. Wenn er da nicht abhängt, können wir zusammen weitersuchen.«
»Okay. Bis gleich.«
»Warte – Lean?« Max zögert und ich bleibe stehen.
»Was?«
»Geht es deiner Mutter gut?«
Ich atme tief ein. Meiner Mutter geht es alles andere als gut, und Max weiß das, aber mir ist klar, weshalb er fragt, deshalb spare ich mir eine zynische Antwort. »Ich musste was erledigen«, sage ich also, »darum war ich heute nicht zu Hause. Es hatte nichts mit ihr zu tun.«
»Okay.«
»Okay«, stimme ich zu und lege auf.
Ich muss einmal um den Häuserblock laufen, um an mein Motorrad zu kommen, ohne an den Schaufenstern der Buchhandlung vorbeizuschleichen, und als ich schließlich davorstehe, habe ich einen Entschluss gefasst. Ich öffne den Gepäckkoffer, krame Notizbuch und Stift aus meiner Umhängetasche und schreibe eine Nachricht. Dann falte ich den herausgerissenen Zettel, kritzle Janas Namen darauf, setze mir den Motorradhelm auf den Kopf und schlendere so beiläufig wie möglich auf die Eingangstür der Buchhandlung zu, um nach einem Briefkasten zu sehen.
Ich kann nicht rückgängig machen, dass ich Jana heute noch einmal durch die Hölle gejagt habe. Aber ich kann dafür sorgen, dass es nicht wieder geschieht.
Kate hatte recht: Es ist zwar schon fast fünf, aber immer noch so heiß, dass ich den glühenden Asphalt durch die dünnen Sohlen meiner Flipflops spüren kann. Kaum jemand ist unterwegs, und die wenigen, die sich doch aus dem Haus gewagt haben, sitzen unten am Isarufer und lassen ihre Füße in den Fluss baumeln. Ich schiebe mein Fahrrad über die Brücke und sehe ihnen zu. Freundinnen, die miteinander tuscheln, Pärchen, die in die Sonne blinzeln, Mütter, die ihren Kindern vorlesen.
Manchmal frage ich mich, wie es wäre, in einer anderen Haut zu stecken, jemand anderer zu sein. Jemand mit funktionstüchtiger Familie, glücklicher Beziehung, intelligenter Lebensplanung. Stabiler Persönlichkeit. Ich denke oft in diese Richtung, heute aber nicht. Wenn ich heute auch nur ein bisschen weiter nachdenke, wird mir mein Hirn wegschmelzen.
Diese unerträglichen Sommer hat es in München nicht oft gegeben. 2003 soll es zuletzt so gewesen sein, heiß und trocken und nachts noch so warm, dass an Schlaf nicht zu denken war.
Jetzt ist es wieder so, seit zwei Wochen schon. Die Menschen schleppen sich durch die Stadt, ausgelaugt und träge, tun nur das Nötigste, bewegen nur das Mindeste, lechzen nach Abkühlung. Von dem anfänglichen Spaß daran ist zu diesem Zeitpunkt nicht viel übrig geblieben. Wie bei meinem Leben eigentlich.
Ach.
Jana.
Ich steige auf mein Rad, fahre über die Brücke und nach links, dann nach rechts und hole Schwung für den Berg, der auf meinem Heimweg liegt. Er ist nicht besonders lang, aber steil, und ich sollte ihn bei diesen Temperaturen womöglich nicht in diesem Tempo nehmen, aber egal. Die Anstrengung, die Endorphine, mein eigener Atem lenken mich ab von dem, was mich eigentlich beschäftigt.
Leander.
Seit ein paar Stunden nur noch er. Wie viele Buchhandlungen gibt es in dieser Stadt? Wie kann es sein, dass er zufällig ausgerechnet an dem Nachmittag, an dem ich arbeite, in Kates Bücherkiste auftaucht?
Kates unerwartetes Geschenk eines frühen Feierabends hat sicherlich weniger mit der Hitze zu tun als mit Leander. Und es bringt mich in die Bredouille. Ich möchte keine freie Zeit, nicht heute. Ich möchte die Stunden hinauszögern, in denen ich meiner Schwester gegenübertreten, womöglich meine Mutter anrufen muss, ich möchte nicht weiter nachdenken, mich nicht weiter erinnern.
Fürs Boxen ist es viel zu heiß. Henrik – nein. Nicht an einem Mittwoch. Ich könnte runter an den Eisbach, ein bisschen surfen, aber die Vorstellung erscheint mir gerade grässlich anstrengend. Ein Buch lesen? Jane Eyre. Ich kneife die Augen zusammen, als ich den Berg hinter mir habe, japse nach Luft und beschließe, nach Hause zu fahren. Mit etwas Glück ist Marie noch nicht da, und bis sie kommt, kann ich mir überlegen, ob ich ihr von Leander erzähle oder nicht. Ob ich einen ihrer stummen Nervenzusammenbrüche in Kauf nehme – oder nicht.
»Hey, du!« In dem Augenblick, in dem ich die Wohnungstür aufschließe, zwängt unsere Katze Mouse ihren schwarzen Kopf durch den Spalt. Ich hebe sie hoch, während ich die Tür weiter aufstoße, und küsse sie hinter die Ohren. »Neugierige Bestie«, werfe ich ihr vor, »wo willst du hin? Es ist viel zu heiß da draußen.« Mouse sagt nichts und versucht stattdessen, einen letzten Blick in den sagenumwobenen Hausflur zu werfen. Sie darf da nicht raus, also interessiert es sie umso mehr. Obwohl sie jedes Mal, wenn ich sie lasse und sie sich einen Meter in Richtung Treppe vorwagt, Angst bekommt und zurück in die Wohnung flitzt.
Es ist ein Drei-Zimmer-Altbau, den Marie und ich uns teilen, mit großer Wohnküche und einem kleinen Balkon. Die Miete ist üppig hier in Haidhausen, aber Marie verdient nicht schlecht. Das und – ich denke, sie hält Kontakt zu unserem Vater. Ich weiß es nicht sicher und ich frage nicht nach. Noch ein paar Geheimnisse mehr und unsere Familie macht den Medici Konkurrenz.
»Jana? Bist du das?«
Shit.
»Du bist schon zu Hause?«, frage ich überflüssigerweise, während Marie mir aus der Küche entgegenkommt und Mouse von meinem Arm hüpft.
»Und du? Die Bücherkiste schließt erst in zwei Stunden.«
»Ich …« Habe Leander gesehen. »Kate hat mir freigegeben. Es war so gut wie nichts los im Laden.«
»Aha.« Sie zuckt die Schultern. »Hilfst du mir mit dem Salat?«
Ich schlüpfe aus meinen Schuhen und folge Marie barfuß in die Küche. »Was ist mit dir?«, frage ich. »Hatte das Monster nichts mehr, womit er dich beschäftigen konnte?«
»Nenn ihn nicht so«, sagt Marie und ich bewege stumm die Lippen dazu. Sie beschwert sich jedes Mal, wenn ich ihren Chef Monster nenne, aber er ist nun mal eins: ein kühles, kalkulierendes, machthungriges Monster, das sich Anwalt nennt und meine Schwester wie eine Leibeigene behandelt.
»Er ist auf dem Weg in die USA«, sagt Marie.
Ich öffne den Kühlschrank, nehme Gurke und Paprika aus dem Gemüsefach und trage sie zum Waschbecken. »Ohne seine allzeit bereite, persönliche Skla… Verzeihung, Assistentin?«, frage ich.
»Mit seiner Frau«, ist die Antwort.
Ich wasche das Gemüse, nehme mir ein Brett aus der Schublade und ein Messer aus dem Holzblock und fange an zu schneiden. Dann schüttle ich den Kopf, um die Gedanken an Leander daraus zu vertreiben und mich auf Marie und ihren Chef zu konzentrieren.
»Heißt das, er macht Urlaub?« Ich kann mich nicht erinnern, wann Philip Monsen zuletzt Urlaub gemacht oder eine Geschäftsreise ohne Marie angetreten hätte. »Hast du dann ein paar Tage frei?« Auch das bezweifle ich. Was den Job in Monsens Kanzlei betrifft, ist Marie genauso besessen wie ich mit dem Buchladen.
Sie räuspert sich. »Es ist kein Urlaub. Es ist mehr … eine Art … Krisenbewältigung«, erklärt sie und ich blicke auf, weil ihr Tonfall so unnatürlich wirkt. Marie verschwindet in der kleinen Speisekammer. »Natürlich wird er dort auch arbeiten«, ruft sie. »Wir sind in telefonischem Kontakt.«
Telefonischer Kontakt, klaaaar. Vermutlich hat sie ihre Uhr schon an die amerikanische Zeit angepasst und plant, die kommenden Nächte zum Tag zu machen.
»Was für eine Krise?«, frage ich.
Marie kommt aus der Speisekammer, eine Zwiebel in der Hand, einen verschlossenen Ausdruck auf dem Gesicht.
»Hier«, sagt sie. »Kannst du die auch noch schneiden?«
Ich weiß, wann eine Unterhaltung beendet ist, und frage nicht weiter.
»Da, du Dummchen«, sage ich stattdessen und strecke Mouse ein Stück Gurke hin, damit sie aufhört zu betteln. »Nichts für dich.« Dann nehme ich Marie die Zwiebel aus der Hand und widme mich schweigend der Salatzubereitung.
Meine Schwester ist sieben Jahre älter als ich, aber es kommt mir nicht wirklich so vor. Nicht mehr, sollte ich besser sagen. Nicht mehr seit Tims Tod. Beziehungsweise seit die Nachricht, die unser aller Leben aus der Spur gedrängt hat, auch in ihrem Bewusstsein angekommen ist. Als Tim starb und alles aus den Fugen geriet, blieb Marie als Einzige intakt. Sie schloss ihr Praktikum in einer Londoner Kanzlei ab, begann ihr Jurastudium, sie wollte Rechtsanwältin werden, mehr denn je. Im Nachhinein denke ich, bei ihr hat der Schock einfach später eingesetzt als beim Rest der Familie. Posttraumatisch, oder wie auch immer man das nennt. Kurz vor ihrem ersten Staatsexamen, um genau zu sein. Denn da, am Abend vor ihrer ersten Prüfung, brach Marie zusammen. Wir haben nie erfahren, was in den drei Nächten passierte, in denen sie nicht aufzufinden war.
Sie tauschte ihre Studentenbude gegen die Wohnung in Haidhausen und kurz danach bin ich bei ihr eingezogen. Noch ein paar Wochen später nahm sie den Job als Monsens persönliche Assistentin an. Ich weiß, es klingt jämmerlich nach Psycho-Familie, aber sie hat ihr Studium nie wieder erwähnt. Nie wieder ein Wort über ihre Zukunft verloren. Oder ihre Vergangenheit. Sie hat nie wieder von Tim gesprochen. Nie. Wieder. Wenn ich etwas gelernt habe in den zwei Jahren, die wir inzwischen zusammenleben, dann dieses: Wenn du die Schreie nicht hören willst, solltest du gewisse Türen nicht öffnen.
»Ich habe heute Leander gesehen«, sage ich.
Es war nicht schwer, Bela ausfindig zu machen, denn wie Max vermutet hatte, war er in der Sonne, ihres Zeichens die vielleicht hässlichste Kneipe der Stadt mit den bestechendsten Öffnungszeiten allerdings, nämlich 24/7. Als wir aus dem grellen Sonnenschein des Nachmittags in die schummrige Dunkelheit der Bar treten, wirft uns der Mann hinterm Tresen einen grimmigen Blick zu.
»Wird auch Zeit, dass den jemand aufgabelt«, murmelt er und nickt mit dem Kopf in Richtung der Toiletten.
Max stöhnt. Ich ahne Fürchterliches. Als wir die Tür zum Männerklo aufstoßen, wird aus der dunklen Ahnung übel riechende Gewissheit. Bela hängt halb über der Toilettenschüssel, bleich wie die Wand, die Augen geschlossen, die dunklen Locken ein klebriges Nest um seinen Kopf. Ich sage Max, er soll draußen warten, gehe neben Bela in die Knie und rüttle an seiner Schulter. Er öffnet die Augen, doch dass er viel sieht, bezweifle ich.
»Bela.« Ich halte mit einer Hand seine Schulter fest und tätschle mit der anderen seine Wange. »Hey, Kumpel, los geht’s, wir bringen dich nach Hause.«
Bela stößt Luft durch die Nase aus und lässt den Kopf nach hinten fallen. Als er wieder nach vorn rollt, schlingert sein Blick an mir vorbei in Richtung Türrahmen.
»Scheiswasmachtdernier«, grunzt er und versucht, sich aufzurappeln. Ich kann gerade noch verhindern, dass er mit dem Kopf gegen die Fliesen knallt.
Ich fluche ein bisschen, fahre Max an, er soll seinen Arsch hier raus und meine Maschine nach Hause schaffen, und hieve Bela vom Boden hoch. Er stammelt und mieft und kann sich kaum auf den Beinen halten. Wie jemand gleichzeitig so smart und so bescheuert sein kann, ist mir ein Rätsel.
Wir schaffen es zum Taxistand. Bela lässt sich in die Polster fallen und schläft ein, sobald sein Kopf die Nackenstütze berührt. Ich nenne dem Fahrer unsere Adresse und starre aus dem Fenster. Wenn heute noch irgendetwas passiert, das schwöre ich, sage ich all meinen zwischenmenschlichen Kontakten Adieu und krieche zurück in das Loch, aus dem ich gekommen bin.
Die Wohnung, in der wir leben, ist ein Witz. Sie gehört Max, der sie von seinem Großvater zum 21. Geburtstag überschrieben bekam, und sie ist eine Oase des überteuerten Geschmacks. Ich bin mir ziemlich sicher, die Leute in Berlin würden sie als Vorhof zur Hölle bezeichnen. Ganz sicher bin ich mir, dass Bela es so sieht. Er sabbert irgendetwas in der Art gegen meine Schulter, während wir mit dem Fahrstuhl lautlos gen Penthouse gleiten. 180 Quadratmeter, vier Schlafzimmer, Dachterrasse, Ausstattung gehoben. Weder Bela noch ich gehören hierher. Eher noch ich. Bela … auf keinen Fall. Zwar ist er auf das gleiche Gymnasium gegangen wie Max, Jana und ich, bevor ich weglief, doch mit den reichen Starnberger Kids hatte er so viel zu tun wie AC/DC mit den Backstreet Boys. Bela ist Schreiner und wuchs in einer Art Hippie-WG auf, irgendwo im Landkreis. Er würde hier nicht wohnen, hätte er nicht Max’ Kleiderschränke eingebaut und wäre Max nicht so ein Psycho, immer auf der Suche nach einem neuen Sozialprojekt und/oder Spielzeug.
Max lässt ihn hier günstig wohnen und beruhigt damit sein Kapitalisten-Gewissen. Im Gegenzug kümmert sich Bela um alles Handwerkliche, was in dem Penthouse anfällt. Und währenddessen? Währenddessen umkreisen sich die beiden wie zwei gleich gepolte Magnete, die niemals zusammenkommen können, weil sie einander nun mal von Haus aus abstoßen. Für Max ist das genau die Spielerei, mit der er sich am liebsten die Zeit vertreibt. Für Bela ist das Ganze nur nervtötend. Oder das war es bisher, bis vor ein paar Tagen … bis Max einen haarsträubenden Schritt zu weit ging.
Der Aufzug endet mitten im geräumigen Wohn- und Essbereich, und ich schleife Bela mehr, als dass er geht, über die dunklen, edlen Holzdielen in sein Zimmer. Es riecht nach Kaffee, und da kommt uns Max entgegen, eine Espressotasse samt Unterteller in der Hand. Ich werfe ihm einen mahnenden Blick zu, er dreht um und trollt sich zurück dahin, wo er hergekommen ist. Es lässt sich einiges über Max sagen, aber das Interessanteste dürfte sein, dass er gluckenhafter ist als eine Mutterhenne. Er mag mit Belas Freundin geschlafen haben, aber das hindert ihn nicht daran, ihm hinterher die Stirn zu tupfen und heißen Tee einzuflößen. Ich schüttle den Kopf, während ich Bela durch seine Zimmertür schiebe zum Bett, auf das er sich bäuchlings fallen lässt. Nicht nur diese Wohnung ist ein Witz, denke ich, ihre Bewohner sind es ebenfalls.
Und dann lasse ich ihn liegen.
»Es kann nicht sein, dass er sich jedes Mal volllaufen lässt, wenn irgendetwas in seinem Leben nicht ganz so läuft, wie er es sich vorstellt«, sagt Max.
»Mann, du solltest dich hören.« Ich stapfe durch die riesige Küche mit ihren Hochglanzschranktüren und High-tech-Geräten zu der Horrorbrut von Kaffeemaschine, für die Max ein Studium absolvieren musste, schätze ich, denn ich habe sie bis heute nicht kapiert. Ich bleibe davor stehen, wie immer unschlüssig, welchen Hebel ich zuerst betätigen muss. »Du bist so ein Heuchler«, sage ich. »Als hättest du nicht genau gewusst, was passieren würde, und hast es trotzdem getan.«
Max schiebt mich zur Seite, nimmt Tasse und Unterteller aus dem Schrank (wer benutzt eigentlich Unterteller?), platziert die Tasse unter einem der siebzehn Hebel (kaum übertrieben) und erweckt mit dem richtigen Griff das Kaffee spuckende Chrommonster zum Leben. »Das wird noch zum Alkoholproblem«, sagt er.
Ich verdrehe die Augen, trommle mit den Fingern auf der Arbeitsfläche herum, bis die Maschine aufhört zu keuchen, greife nach meinem Espresso und setze mich damit an den Tisch. »Verschon mich einfach, okay?«, schlage ich vor. »Du gibst vor, dich um deine Mitmenschen zu sorgen, und spannst ihnen trotzdem die Freundin aus. Wobei – Moment, das war die falsche Reihenfolge. Du spannst ihnen erst die Freundin aus und kochst dann heiße Milch mit Honig. Das ist so übel, dass einem fast das Essen hochkommt.«
»Ich hab sie ihm nicht ausgespannt, ich habe lediglich …«
»Oh, klar, ich vergaß – du hast sie lediglich gevögelt. Muss mir das Mädchen jetzt leidtun oder doch Bela?«
»… versucht, Bela auf das Unweigerliche aufmerksam zu machen, vor dem er bisher erfolgreich die Augen verschlossen hat. Dass diese Frau ihn schon mit allem betrogen hat, was nicht bei drei auf den Bäumen saß.«
Ich nippe an meinem Kaffee und über den Rand der Tasse hinweg starre ich Max ins Gesicht. Der Kerl sieht aus wie ein verdammter Prinz, selbstverständlich tut er das. Zu all dem Geld, das seine Familie im Überfluss besitzt und bergeweise in seine Richtung schaufelt, verfügt der gute Max noch über all die anderen lebenswichtigen Reize. Die, die aus seinem Dasein ein Kinderspiel machen. Mit denen er Nussbäumen Nüsse verkaufen kann. Oder Freunden Freundinnen ausspannen.
Max seufzt. »War vielleicht nicht die beste Idee.«
»Vielleicht nicht.«
»Er wird mir sicher nicht glauben, dass …«
»Nein«, unterbreche ich ihn. »Spar dir deine Psychospielchen, okay?«
Er zieht die Schubladen des Küchentischs auf, eine nach der anderen, denn der Tisch ist lang, und kramt schließlich ein Päckchen American Spirit hervor.
»Terrasse«, erinnere ich ihn.
»Das ist meine Wohnung«, antwortet er automatisch, doch er steckt sich eine der Zigaretten hinters Ohr, um sie später zu rauchen. »Wirst du mir sagen, wo du heute gewesen bist?«
Ich setze die Tasse ab.
Shit. Jana. Für eine halbe Stunde hatte ich tatsächlich vergessen, dass ich bei ihr war, dass ich sie kurz vor den Herzinfarkt geschockt habe, dass ich einen Fehler begangen habe, der mich sicherlich noch wochenlang beschäftigen wird. Ich starre Max an, und natürlich ahnt er etwas, das sehe ich in seinem Blick, er kann die Menschen lesen. Für einen stinkreichen, scheinbar oberflächlichen Mistkerl verfügt er über den Scharfsinn einer 63 Jahre alten Psychotherapeutin. Und er weiß von dem Unfall, von Tim, natürlich, wir sind zusammen zur Schule gegangen, doch wie alle anderen weiß auch er nicht, was genau damals passiert ist. Aber wie schon erwähnt: Psychotante, jahrelange Erfahrung. Ohne Max wüsste ich weder, wo Jana wann arbeitet, noch wo sie wohnt, noch, dass sie überhaupt in München ist. In den vergangenen drei Monaten hat er die Informationen häppchenweise eingestreut, weiß der Himmel, warum, vermutlich nur, um meine Reaktion zu testen. Max ist nicht blöd. Er wusste, Jana und ich waren Freunde. Er weiß, heute kennen wir uns nicht mehr.
Diese Spielchen, die er spielt. Aber die kann ich auch.
»Ich leg mich hin«, sage ich, während ich aufstehe und die Tasse in die Spülmaschine räume. Irgendwann werde ich Max vielleicht alles erzählen. Er ist mein Freund, trotz seiner gepflegten Reiche-Jungs-Attitüde, die ihn so unausstehlich macht. Am Ende kann man sich auf Max verlassen, und ja, was da mit Belas Freundin lief … sie war eine saublöde Kuh, insofern hatte er auch diesbezüglich recht.
Ich seufze. Im Augenblick ist er der einzige Freund, den ich habe. Und so, wie es aussieht, wird er das in nächster Zeit auch bleiben.
»Wirst du mir dann erzählen, weshalb du vorhin aussahst, als hättest du ein Gespenst gesehen?«, ruft er mir hinterher.
Und, ja. Genau das.
Etwas fällt klirrend zu Boden. Die Porzellanschüssel, in der Marie das Salatdressing angerührt hat. Ich hebe den Blick von meinem Schneidebrett. Meine Schwester starrt mich an. »Erzähl Mama nichts davon«, ist das Erste, was sie sagt.
»Okay«, antworte ich.
Einige Sekunden lassen wir einander nicht aus den Augen, dann bückt sich Marie und scheucht Mouse von den Scherben weg, die zu ihren Füßen in einer Essig-Öl-Lake glänzen.
»Wo?«, ist das Zweite.
»Er kam in Kates Bücherkiste, um …«
»Wann?«
»Heute Nachmittag. Kurz nach Mittag eigentlich. Er …«
»Weshalb?«
Ich atme ein, lege das Messer weg und drehe mich ganz zu Marie um. Meine Schwester steht da, die Hände voller Porzellansplitter, die Augen groß und hart. Ich frage mich, warum ich nicht den Mund gehalten habe, aber vermutlich ist die Antwort darauf ganz einfach. Leider fällt sie mir trotzdem nicht ein.
»Er kam rein«, erkläre ich Marie, »nahm sich ein Buch und ging damit zur Kasse, doch als ihm klar wurde, wer da hinter dem Tresen stand, machte er auf dem Absatz kehrt und rannte aus dem Laden. Ich bin mir sicher, er wusste nicht, dass ich da arbeite. Und ich bin mir sicher, dass er nicht noch mal dorthin kommt.«
Ich kann zusehen, wie es hinter Maries Stirn arbeitet, wie sie dichtmacht, das Kinn hebt, Fassung gewinnt. Sie wirft die Schüsselreste in den Müll, wischt das Dressing vom Boden, greift nach Essig und Öl und beginnt erneut mit dem Anrühren. Während der nächsten Minuten arbeiten wir schweigend, und erst als wir uns am Tisch gegenübersitzen, öffnet sie den Mund.
»Ich wusste nicht, dass er in München ist«, sagt sie.
»Wir wissen so einiges nicht über ihn, oder?«, gebe ich zurück.
Ich schiebe eine der Tomatenscheiben an den Rand meines Tellers, dann die nächste und noch eine, bis Marie sie mit ihrer Gabel aufspießt und auf ihren Teller hievt.
»Du solltest dir keine Sorgen machen«, sagt sie.
»Das tue ich nicht«, lüge ich.
»Er konnte sich damals der Situation nicht stellen und nun ist er wieder davongerannt.«
»Das stimmt.«
»Was auch immer er in München will, er wird einen Bogen um die Bücherkiste machen, jetzt, wo er weiß, dass er dich dort antreffen könnte.«
»Das denke ich auch, ja. Gibt es noch etwas anderes als Salat?«
»Es sind frische Brezen da.« Marie steht auf, holt die Tüte aus dem Brotkasten und legt sie vor mich auf den Tisch. »Wie sicher bist du, dass er es überhaupt war?«, fragt sie.
Ich blinzle. Dann mache ich mich an der Brezentüte zu schaffen. »Er sah ziemlich verändert aus«, räume ich ein. »Dünner. Richtiggehend hager, irgendwie.«
»Könnte er nicht weggerannt sein, weil er etwas stehlen wollte und sich ertappt gefühlt hat?«
Ich sortiere weitere Tomaten aus meinem Salat und ordne die Gedanken in meinem Kopf. Ich hätte Marie nicht davon erzählen sollen. Ich werde die Blicke nicht ertragen können, die sie mir künftig zuwerfen wird, wenn ich aus der Bücherkiste komme. Doch darf ich sie wirklich in dem Glauben lassen, Leander sei irgendein Ladendieb gewesen? Ein dürrer, abgemagerter Ladendieb, der vor mir geflohen ist, als er eine Ausgabe von Jane Eyre klauen wollte?
»Jana«, beginnt Marie, »sollte Leander wirkli…«
Und in diesem Augenblick läutet mein Telefon und nie im Leben war ich dankbarer für eine Unterbrechung. Ich springe auf, werfe ein »Entschuldige« in Maries Richtung und laufe in den Gang, wo ich mein Handy auf der Kommode hab liegen lassen. Shit. Henrik. Aber was bleibt mir übrig?
»Hallo.«
»Hey, Süße. Bist du noch im Buchladen? Ich dachte, ich komme vorbei und hol dich ab.«
»Heute ist Mittwoch.«
Henrik lacht. »Ich weiß, dass heute Mittwoch ist. Aber Anna-Lena ist auf ihrem Firmensommerfest, das hatte ich dir gesagt, oder?« Ich überlege einen Moment. Henrik säuselt: »Aber wenn du mich nicht sehen willst …«, und ich verdrehe die Augen.
Die Wahrheit ist: Ich will ihn tatsächlich nicht sehen. Seit knapp einem Jahr sehe ich Henrik in regelmäßigen Abständen, aber das Bedürfnis danach wird weniger und weniger. Und weniger.
»Jana? Bist du noch dran?«
»Ich weiß nicht«, beginne ich, »ich …« Doch dann ruft Marie aus der Küche nach mir und in Sekundenschnelle ist die Sache entschieden. »Holst du mich von zu Hause ab?«
»Klar. Bin in zehn Minuten da.«
Ich klicke das Gespräch weg im selben Augenblick, in dem Maries Telefon den Klingelton ihres Chefs von sich gibt. Ich atme erleichtert aus. Dann lege ich ihr einen Zettel hin, Bin bei Henrik, schnappe mir meinen Rucksack und laufe hinunter auf die Straße.
Henrik Baumgartner ist 28 Jahre alt, er hat kurze, blonde Haare, kühle, hellblaue Augen und eine Freundin namens Anna-Lena, was ihn nicht davon abhielt, mit mir ein Verhältnis zu beginnen. Vor elf Monaten war das. Nachdem wir einander in einem Club in der Innenstadt bekannt getrunken und schon auf der Tanzfläche die Hälfte unserer Klamotten verloren hatten. Damals wusste ich weder, dass Henrik zehn Jahre älter ist als ich, noch wusste ich von Anna-Lena oder von dem Porsche 911, den er voller Stolz durch die Stadt kutschiert. Er brachte mich im Taxi nach Hause. Vermutlich, weil es sich auf der Rückbank besser knutschen lässt, und geküsst wurde viel auf dieser Heimfahrt, große, feuchte, nach Gin schmeckende Küsse.
Henrik kann gut küssen. Gin habe ich seitdem nicht wieder angerührt.
Während ich mich an die Hauswand lehne, im mindestens noch 32 Grad warmen Schatten neben unserer Eingangstür, denke ich auf einmal, dass Henrik damals womöglich annahm, wir könnten mehr sein als nur das, was wir heute sind. Vielleicht dachte er, er habe sich in mich verknallt, und vielleicht dachte ich, ich könnte mich in ihn verlieben, aber sehr, sehr schnell war klar, so würde es mit uns nicht sein. Wir beide passen nicht zusammen. Zumindest nicht in jeder Beziehung. Wir treffen uns und es fühlt sich gut an, doch wenn wir auseinandergehen, fühle ich mich noch besser. In den vergangenen Wochen sogar sehr viel besser. Ich bin nicht sicher, aber es könnte sein, dass unsere Zeit vorbei ist. Die Sache ist nur – wenn ich Henrik aufgebe, was bleibt mir dann noch?
Ich höre seinen alten Wagen, bevor er in unsere Straße einbiegt. Er bleibt vor unserer Haustür stehen und lässt den Motor laufen. Weder steigt er aus noch küsst er mich zur Begrüßung, stattdessen betrachtet er die Welt in Rück- und Seitenspiegel, denn München ist klein und überall könnte jemand lauern, der ihn kennt oder Anna-Lena oder beide. Anfangs hat mich das alles wenig gestört, ganz im Gegenteil: Die Heimlichtuerei kam mir aufregend vor, ich selbst fühlte mich verwegen und verboten und wichtig, denn für mich nahm Henrik das alles auf sich. Seine Freundin? Die ersten Wochen verschwendete ich nicht einen Gedanken an sie. Mittlerweile … mittlerweile tröste ich mich damit, dass ich nicht allein verantwortlich bin.
»Wie kommt’s, dass du zu Hause bist und nicht im Buchladen?«, fragt Henrik.
»Hitzefrei«, antworte ich.
»Aaah.« Er hält an einer roten Ampel und sieht zu mir herüber. Henriks Sonnenbrille ist wirklich scheußlich, ein spießiger Ray-Ban-Verschnitt, zu rund und ohne Rahmen. Darunter trägt er sein typisches Lächeln, das ziemlich sicher verführerisch aussehen soll. Bis vor Kurzem hat es mir gefallen. Bis vor Kurzem hat mir außerdem gefallen, wenn Henrik seine Hand auf mein Knie legte, so wie jetzt, bevor seine Finger langsam die Innenseite meines Schenkels emporstreifen. Heute verspanne ich mich total und warte darauf, dass es grün wird und er seine Hand zurückzieht. Ich stelle mir vor, wie Leander die Stirn runzelt, wenn er Henrik und mich zusammen sieht.
Wirklich, Jana? Leander?
»Im Grunde ist es zu heiß für alles«, sage ich. »Sogar für Sex.«
Bei Henrik angekommen, beschlagnahme ich zuerst einmal die Dusche. Niemand klebt schon vorher gern, ist mein Argument, doch in Wahrheit zögere ich nur das Unausweichliche heraus, denn es ist so: Bei einer Beziehung wie der zwischen Henrik und mir trifft man sich nicht einfach um des Treffens willen. Man sitzt nicht am Küchentisch und erzählt sich vom Tag. Man kocht nicht gemeinsam fürs Abendessen. Man kommt für diesen bestimmten Zweck zusammen oder gar nicht (Doppeldeutigkeit unbeabsichtigt). Weshalb ich heute lieber zu Hause geblieben wäre, doch ich musste Marie ja unbedingt aus der Spur bringen. Ich schließe die Augen und lasse den Wasserstrahl über Gesicht und Haare rauschen, als könnte er all die Zweifel und Gewissensbisse von mir waschen. Ich werde hier ewig bleiben müssen, damit das funktioniert.
Ich stehe da immer noch, als ich höre, wie Henrik die Tür zur Duschkabine öffnet. Meine Augen bleiben geschlossen. Er stellt sich hinter mich, so dicht, dass kein Wasser mehr zwischen uns passt. Ich lehne meinen Hinterkopf an seine nackte Schulter und halte seine forschenden Hände nicht auf. Ich hätte nicht herkommen sollen. Doch nun bin ich hier.
Das Gute daran, wenn man Nachtschichten arbeitet? Sie sind vorbei, bevor der Tag richtig begonnen hat. Man legt sich ins Bett, wenn alle anderen aufstehen. Man schläft ein, wenn die Stadt erwacht. Wenn man Glück hat, träumt man nicht einmal zu dieser seltsamen Stunde. Wenn man Glück hat, schwebt man einfach davon.
Es ist sieben Uhr. Normalerweise liegt Max um diese Zeit noch im Koma, aber Bela ist in der Küche oder im Bad oder sonst irgendwo in der Wohnung, er muss um acht Uhr in der Werkstatt sein, doch heute rührt sich nichts. Nicht das Kaffeemonster, nicht die Spülung, kein Duschgeplätscher. In der Küche befülle ich den Wasserkocher für Tee. Wenn ich um diese Zeit Kaffee trinke, mache ich kein Auge mehr zu. Wenn ich um diese Zeit sofort ins Bett gehe, auch nicht. Also greife ich nach einem Beutel Kräutertee, bereite eine Tasse zu und gehe damit hinaus auf die Terrasse.
Das Thermometer zeigt 22 Grad. Um sieben Uhr morgens. Ich lasse mich in Max’ schickes Gartensofa fallen, die Tasse auf dem Bauch, den Hinterkopf in eins der vielen Kissen gedrückt. Meine Arme tun weh. Das kommt davon, wenn man sechseinhalb Stunden Lebensmittelkonserven in Regale einräumt, aber weshalb sollte ich darüber jammern, ich hab mir den Job selbst ausgesucht. Ich schließe die Augen. Die Nacht zu Donnerstag ist immer die letzte Schicht der Woche für mich und vor Erleichterung atme ich auf. Es ist keine furchtbare Tätigkeit, das nicht. Sie ist monoton, aber auch irgendwie tröstlich, denn man sieht den Fortschritt schon nach wenigen Handgriffen, die Kisten leeren sich, die Regale füllen sich, doch dazwischen bleibt einem viel zu viel Zeit zum Nachdenken.
Ich setze mich auf, nippe an meinem Tee und starre durch die Glasbrüstung hinunter auf die Stadt. Ich bin wieder hier, denke ich, und seit ich Jana gestern gesehen habe, fühle ich es auch. Die Niedergeschlagenheit, die mit München, Starnberg, mit Heimat verbunden ist. Und dann die Angst, die alles nur noch schlimmer macht, die Angst davor, dass meine Mutter es diesmal nicht schafft, dass sie aufgibt und mein Leben dadurch noch ein Stück unerträglicher wird, als es ohnehin schon ist. Sie muss stark bleiben, und ich für sie. Und ich denke, ich stütze sie, indem ich ihr nicht von diesem Job erzähle, nicht davon, dass ich mein Medizinstudium auf keinen Fall weiterführen werde, weil ich nicht so enden will wie er. Ich habe seit Monaten nicht mit meinem Vater gesprochen, und so soll es bleiben. Sich eine junge Freundin suchen, während die Ehefrau gegen den Krebs kämpft? Wirklich eine gute Idee.
Ich gehe rein, bevor meine Gedanken mir Übelkeit verursachen. Es ist halb acht. Ich stelle den Wecker auf halb eins, dann gehe ich ins Bett. Janas dunkelbraune Augen sind das Letzte, was ich sehe, bevor ich in den Schlaf drifte.
Ich bin viel zu früh dran und außerdem hundemüde. Diese Nächte bei Henrik sind aufreibend, und das nicht etwa, weil wir stundenlang durch die Kissen rollen wie frisch verliebte Hasen. Es ist eher so, dass keiner von uns beiden schlafen kann, danach. Und dass wir uns dennoch durch diese Nächte quälen, denn gleich nach dem Akt zu verschwinden, würde die ganze Situation noch bitterer erscheinen lassen, als sie ohnehin schon ist. Wir schlafen nicht in seinem Bett, in dem, das er sich mit Anna-Lena teilt, wenn sie bei ihm ist. Wir wälzen uns auf der billigen Ausziehcouch in seinem Arbeitszimmer. Gott, wenn ich mir das überlege. Was machst du da, Jana? Und wie lange willst du es noch tun?
Es ist sieben Uhr und ich sitze bereits in der S-Bahn von Unterföhring in die Innenstadt. Die Fahrt dauert 23 Minuten, die ich damit verbringe, aus dem Fenster zu starren, als mein Handy einen Ton von sich gibt.
KATE: Jana, bist du wach? Muss zum Zahnarzt, habe die halbe Nacht kein Auge zugetan. Könntest du ausnahmsweise für mich aufsperren? Ich weiß nicht, ob ich es rechtzeitig schaffe. Bitte sag Ja, ich beiß mich sonst noch durch alle vier Twilight-Bände.
JANA: Nein, tu das nicht, die sind so schwer verdaulich. Ich schließe auf und bleibe so lange, bis du kommst, kein Problem.
KATE: Danke. Du bist ein Schatz. Meine Rettung! Es tut schrecklich weh.
JANA: Wie wäre es mit der Notaufnahme?
KATE: So weh auch wieder nicht.
Ich grinse, während ich das Handy zurück in die Jackentasche stecke. Kate hat höllische Angst vor Ärzten jeglicher Art, vorm Zahnarzt aber besonders. Dass sie so lange gewartet hat, bis sie vor Schmerz nicht mehr schlafen kann, ist typisch für sie, und auch, dass sie sich – wenn sie schon zum Arzt gehen muss – niemals an einen völlig fremden in der Notaufnahme wenden würde.
Heute ist Donnerstag, nicht mein Bücherkistentag, aber ich bin dennoch froh. Ich muss nicht nach Hause, um mich Marie zu stellen, die womöglich noch im Homeoffice ist. Ich muss nicht an Henrik denken, den ich nach wie vor an meinen Sachen riechen kann. Ich fahre mit der S-Bahn zum Hauptbahnhof, mit der U-Bahn zur Fraunhoferstraße, ich kaufe mir Frühstück beim Bäcker nebenan, dann öffne ich die Ladentür, hole den Schlüssel für den Briefkasten, um ihn von Werbung und Gratiszeitungen zu befreien, und schließe die Tür wieder hinter mir zu. Es ist noch nicht einmal acht, wir öffnen nicht vor zehn, also bleibt noch ausreichend Zeit, mich in die Küche zu verziehen, Marie eine Nachricht zu senden und in den Reklameblättchen zu schmökern. Den Zettel sehe ich erst, als ich mit dem Cappuccino in der Hand den Stapel durchblättere, und ich kann gerade noch verhindern, dass ich mich verschlucke.
Ich weiß, dass er von ihm ist, obwohl ich seine Handschrift nicht erkenne.
Ich weiß es einfach.
Ich sitze am Küchentisch und zögere mit dem gefalteten Papier in meiner Hand, liniert und ausgefranst, wie aus einem Notizbuch gerissen. Er hat meinen Namen daraufgeschrieben.
Ich sitze da.
Und dann falte ich es auf.
Bitte vergiss, dass ich hier war.
Es wird nicht wieder vorkommen.
Alles Liebe für dich.
L.
Ich stelle meinen Kaffeebecher auf dem Tisch ab und lege den Zettel daneben. Vergiss, dass ich hier war. Es wird nicht wieder vorkommen. Alles Liebe.
Mein dummes, trügerisches Herz klopft einmal mehr so schnell, dass ich es in meinem ganzen Körper spüre. Der Rhythmus ist nervenzehrend, mehr noch, als sich die Stimme in meinem Kopf darüberlegt: Er war nicht zufällig hier. Er wollte dich sehen. Er war nicht zufällig hier.
Mit einem Ruck schiebe ich meinen Stuhl zurück und stehe vom Tisch auf. Mechanisch räume ich mein Frühstück zur Seite, werfe die Broschüren und Stadtteilblättchen in den Papiermüll, knülle Leanders Zettel zu einem Ball zusammen, schnippe ihn obenauf, dann laufe ich in den Verkaufsraum, um den Laden auf den Tag vorzubereiten: Lichter anknipsen, Bücher gerade rücken, Staub wischen, wo es nötig ist.
Er war nicht zufällig hier.
Und dafür hasse ich ihn nur noch mehr.
Als mein Bruder Tim starb, war ich zwölf Jahre alt und gerade damit beschäftigt, eine lächerliche Figur auf dem Schwebebalken abzugeben. Das vermute ich jedenfalls. Wochenlang geisterte mir dieser Gedanke durch den Kopf, er machte alles nur noch schlimmer. Es war ein Samstagabend gewesen. Der Turnverein unseres Viertels hatte zum Maifest geladen, es gab Grillwürstchen und Bier für die Eltern und eine Vorführung mit dem Best-of ihrer turnenden Kinder. Meine Mutter und mein Vater waren da, Tim – vier Jahre älter und Trilliarden Mal cooler – konnte nicht dazu bewegt werden, mir zuzusehen.
Leander, er wäre gekommen, dachte ich damals. Er war Tims bester Freund und genauso alt wie er und er war der große Bruder, den ich in meinem eigenen nie hatte. Er wäre gekommen, um mich anzufeuern und mir zuzuzwinkern. Leander war genauso cool wie Tim, aber eine Trilliarde Mal freundlicher zu mir. Leander … Leander war der tollste Junge, den mein zwölfjähriges Ich kannte.
Diesen Abend im Mai, den verbrachte er mit Tim. Die beiden wollten sich einen Film ansehen, doch dann ist alles anders gekommen.
Ich erinnere mich nicht mehr daran, ob mir später jemand davon erzählte oder ob ich es mir zusammenreimte, doch nur kurz nachdem wir uns auf den Weg in Richtung Turnverein gemacht hatten, müssen die zwei in unsere Garage gegangen und den Golf meiner Mutter genommen haben.
Warum? Keine Ahnung. Wessen Idee es war? Ich weiß es nicht. Leander ist gefahren, so viel wurde mir mitgeteilt. Tim war nicht angeschnallt. Leander wurde ins Krankenhaus gebracht, mit einer Gehirnerschütterung, einigen Brüchen und Schnittwunden. Tim wurde beerdigt, doch sein Freund war nicht an seinem Grab.
Ich weiß noch, ich wollte zu ihm. Ihn fragen, was passiert war, warum sie das getan hatten, ob es wenigstens ihm gut ginge. Als ich im Krankenhaus ankam, erklärte mir sein Vater, Leander empfange keinen Besuch, es hätte nichts mit mir zu tun, er müsse sich erholen. Ich ging nach Hause und wartete darauf, dass er es ebenfalls tat, doch Leander kehrte nie zurück. Meine Mutter war hysterisch. Mein Vater am Boden zerstört. Marie gar nicht da.
Und Leander kam nicht mehr.