Für immer heißt ein Leben lang - Gabriele von Braun - E-Book

Für immer heißt ein Leben lang E-Book

Gabriele von Braun

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Beschreibung

Was bedeutet Glück?

Paula liebt Henning. Denkt sie. Doch als er ihr endlich den langersehnten Antrag macht, befallen sie plötzlich heftige Zweifel: Soll das jetzt wirklich schon alles gewesen sein im Leben? Hat sie nicht vielleicht etwas verpasst?

Mitten in ihrer Sinnkrise stolpert Paula auch noch über eine alte selbstverfasste Liste - mit lauter Dingen, die sie erlebt haben will, bevor sie mal Ja sagen sollte. Das muss ein Zeichen sein! Paula macht sich ans Werk - und erkennt am Ende, was sie wirklich will ...

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Dieses Buch ist bereits in einer früheren Ausgabe unter dem Titel "Abgehakt" erschienen.



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Seitenzahl: 348

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Inhalt

Cover

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Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Zitat

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Epilog

Weitere Titel der Autorin

Das Geschenk eines Sommers

Ein Augenblick für immer

Über dieses Buch

Paula liebt Henning. Denkt sie. Doch als er ihr endlich den langersehnten Antrag macht, befallen sie plötzlich heftige Zweifel: Soll das jetzt wirklich schon alles gewesen sein im Leben? Hat sie nicht vielleicht etwas verpasst?

Mitten in ihrer Sinnkrise stolpert Paula auch noch über eine alte selbstverfasste Liste - mit lauter Dingen, die sie erlebt haben will, bevor sie mal Ja sagen sollte. Das muss ein Zeichen sein! Paula macht sich ans Werk - und erkennt am Ende, was sie wirklich will …

Über die Autorin

Gabriele von Braun brach ihr Soziologiestudium ab, um etwas absolut Ausgefallenes zu wagen: Sie studierte BWL. Doch es nützte nichts – sie landete auf direktem Weg »in den Medien«, wo sie u.a. als PR-Redakteurin tätig war, bevor sie zu SPIEGEL TV überlief. Inzwischen arbeitet sie im Programm-Marketing für eine Landesrundfunkanstalt. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Gabriele von Braun

FÜR IMMER HEISSTEIN LEBEN LANG

beHEARTBEAT

Digitale Neuausgabe

»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Lübbe AG

Copyright © 2012 by Bastei Lübbe AG, KölnTitel der Originalausgabe: »Abgehakt«

Für diese Ausgabe:Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anja LademacherLektorat/Projektmanagement: Anna-Lena Meyhöfer

Covergestaltung: Nicole Meyer, designrevolte.de unter Verwendung von Motiven © shutterstock: solarbird | NottomanV1 | mattjeacock

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-6285-5

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Sehr viele und vielleicht die meisten Menschen müssen,um etwas zu finden, erst wissen, dass es da ist.

1

Wie ein gigantischer Erdrutsch kann eine Veränderung die Gleichförmigkeit eines bequemen Lebens zerstören. Oder anders gesagt: Es ist Himmelfahrt in Heiligendamm, kurz nach neun Uhr abends, als ich beginne, an meiner Beziehung zu zweifeln.

Ich starre auf meine Handfläche, in die ich soeben einen silbrig glänzenden Ring gespuckt habe. Der steckte in einer Mini-Mozzarella-Kugel, und im ersten Moment dachte ich: Man ist auch wirklich nirgendwo mehr sicher, noch nicht einmal in einem Fünf-Sterne-Hotel! Aber hätte mich tatsächlich jemand ins Jenseits befördern wollen, hätte es auch ein rostiger Nagel getan. Dies hier jedoch ist eindeutig ein Ring, ein kostbarer Ring, und ich ahne, dass ich ihn aus einem ganz besonderen Grund ausgespuckt habe.

Bitte nicht! Nicht heute! Nicht so!

Verdattert schaue ich Henning an.

»Paula? Alles in Ordnung mit dir?« Seine Stimme klingt besorgt.

Soll ich lachen oder weinen, ihm sofort um den Hals fallen oder erst einmal abwarten, was er zu sagen hat? Vielleicht ist der Ring nur eine originelle Aufmerksamkeit für zwischendurch. Ich sage immer noch nichts, sondern schaue weiter auf meine erstarrte Hand, in der dieser Ring liegt, und dann zu Henning.

Der ringt um Worte. »Also … Paula, ich liebe dich. Und … ähm … ich würde dich gerne fragen, ob du dir vorstellen könntest, meine Frau zu werden.«

Da ist er also, mein Heiratsantrag. Heute, hier in dieser Junior-Suite ist er auf einmal da, und er verlangt nach einer Reaktion. Stattdessen senkt sich Stille über uns. Was ist nur los mit mir? Warum fühle ich mich so versteinert?

Wie von einer fremden Macht gesteuert, öffne ich den Mund und murmele: »Dann frag mich doch.«

Mein Blick klebt noch immer an dem feucht glänzenden Ring in meiner Hand, als Henning ihn mir abnimmt und sich räuspert. »Schon gut, ich mache das hier ja schließlich nicht jeden Tag. Also: Willst du mich heiraten?«

Er schaut mir tief in die Augen und streift das edelmetallene Bekenntnis seiner Liebe über meinen linken Ringfinger. Es passt genau, ich kann es nicht glauben. Henning hat nun wahrlich nicht viel Erfahrung im Verschenken von Schmuck.

»Tja, warum eigentlich nicht?«, höre ich mich mechanisch antworten.

Was sollte ich auch anderes sagen, schließlich bin ich ein höflicher Mensch. Und der Ring ist wirklich hübsch: ganz schlicht, Weißgold nehme ich an, und an der Innenseite, von außen nicht sichtbar, befindet sich ein kleiner Brillant. Es sieht wirklich ganz danach aus, dass es kein Zirkonia, sondern etwas Ernstes ist.

Warum also freue ich mich nicht? Irgendwie klang die Frage aller Fragen gerade genau so, als hätte jemand gesagt: »Dürfen es zwei Scheiben mehr sein?« Nein, so habe ich mir diesen Augenblick nicht vorgestellt, so sollte das ganz und gar nicht ablaufen.

Überraschenderweise ist Henning mein Stimmungswechsel nicht entgangen. Eben haben wir noch das Essen genossen, einander angelächelt, uns über die Schönheit der weißen Stadt unterhalten und über die nette Zimmerkellnerin. Für mich ist das hier schließlich eine Premiere, ich bin zum ersten Mal an der Ostsee.

Und jetzt ist plötzlich alles anders. Jetzt sitze ich hier in unserer Suite beim Dinner mit Henning und dem Antrag und habe keinen Appetit mehr. Dabei liebe ich diese Mozzarella-Kugeln, die unseren Vorspeisenteller bereichern. Henning weiß das, und so war seine Idee allemal ausgefallener, als den Ring zum Beispiel – ups – im Champagnerglas zu versenken. Aber auch das macht es nicht besser.

Die Balkontür steht offen. Ich höre das Meer rauschen, sehe, wie sich die Gardine beschwingt in einem Lüftchen wiegt, und schweige. Henning ist aufgestanden, um die Balkontür zu schließen. Die plötzliche Stille ist beklemmend, sie muss schnell beendet werden, ohne dass es weh tut. Aber ich weiß nicht, wie. Henning schaut zu mir herüber, mit einem Blick, den ich nicht deuten kann. Und ich dachte immer, ich kenne all seine Blicke!

Seine Stimme klingt belegt und fremd. »Paula, ich habe dich nicht mit einem heimtückischen Virus infiziert, sondern dir einen Heiratsantrag gemacht. Was ist los? Ich fühle mich wie der größte Idiot.«

Betreten schaue ich auf den beigefarbenen Teppichboden, nestele an meinem neuen Ring herum und bin nicht in der Lage, Henning in die Augen zu sehen.

»Ich weiß auch nicht, was auf einmal mit mir los ist. Ich habe mir das hier so lange und so sehnlich gewünscht. Vielleicht ist es die Überraschung darüber, nach all den Jahren wirklich gefragt zu werden.«

Bis heute habe ich nie an der Ehe gezweifelt – und das, obwohl meine Eltern sich vor drei Jahren getrennt haben, weil sie nichts mehr gemeinsam hatten außer ihrer Leidenschaft für getrennte Schlafzimmer.

»Aber irgendwie ist aus der freudigen wohl eine böse Überraschung geworden.« Henning spricht ganz leise, er ist fassungslos, unendlich enttäuscht.

Und tatsächlich habe ich das Gefühl, als hätte jemand einen Schalter in mir umgelegt, als wäre ich schockgefroren, und ich kann es nicht begreifen.

»Es tut mir leid, Henning«, sage ich, weil etwas gesagt werden muss, »ich kann es auch nicht erklären. Was würde sich ändern, wenn wir verheiratet wären? Abgesehen davon, dass ich nicht mehr Brandt, sondern Berger heißen würde, was nicht einmal meinen Initialen etwas anhaben kann? Ach ja, natürlich, wir könnten die Steuerklasse ändern lassen.«

Als ich merke, dass ich alles nur noch schlimmer mache, platzt es verzweifelt aus mir heraus: »Verdammt, ich weiß einfach nicht, was ich erwartet habe! Henning, wir sind so ein eingespieltes Team!«

»Was soll das heißen? Dass ich dich langweile? Was stört dich auf einmal daran, dass wir ein gutes Team sind? Paula, ich verstehe die Welt nicht mehr.« Henning schüttelt den Kopf.

»Ich verstehe sie doch selbst nicht mehr. Wieso ausgerechnet jetzt? Du hattest elf Jahre Zeit!«

Henning sieht so traurig und enttäuscht aus, dass ich es kaum ertrage. »Muss ich mich tatsächlich für den Zeitpunkt rechtfertigen? Ich glaub das alles nicht … Ich war eben der Meinung, dass es ein guter Moment ist. Weil ich dich liebe und diesen Ort hier wunderbar romantisch finde, und weil ich es gerne offiziell machen möchte, dass wir ein gutes Team sind …«

»Und vorher passte es nie? Was war denn jetzt plötzlich der Auslöser?«, fahre ich ihm dazwischen, ohne zu wissen, warum ich so schroff reagiere und mich wie eine frustrierte Kommissarin beim Verhör benehme. Das hat er doch nicht verdient! Aber ich kann nichts dagegen tun. Statt Euphorie beherrscht mich diese eiskalte Stimme, die einfach aus mir herausbricht und mit der ich Henning verletze.

»Du machst mich wahnsinnig. Vergiss es einfach!«, zischt Henning, springt auf und stürmt aus dem Zimmer.

Das habe ich jetzt davon. Ich kann hier nicht sitzen bleiben, ganz allein mit dem Antrag! Also springe ich auf und renne Henning wie ferngesteuert hinterher.

»Bitte, warte!«, rufe ich über den Hotelflur.

Henning bleibt stehen und dreht sich zu mir um.

»Es tut mir leid, dass ich so grässlich zu dir bin«, sage ich verzweifelt, und plötzlich löst sich diese absurde Starre, und es sprudelt aus mir heraus: »Weißt du, ich habe mir wirklich jahrelang nichts sehnlicher gewünscht, als dass du mich fragst, ob ich deine Frau werden will. Aber du hast es nie getan. Es gab ganz sicher Tausende richtiger Momente, die du einfach ignoriert hast. Und jetzt ganz plötzlich, wo all diese Momente verflogen sind … Da muss ich doch annehmen, dass es irgendeinen anderen Grund für deinen Antrag gibt. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Du musstest es deiner Mutter versprechen, stimmt’s? Ist es nicht so?« Ich spüre, wie ich Henning das Messer immer tiefer in den Leib ramme, und ich hasse mich dafür. Was ist bloß mit mir los?

»Was soll’s. Ich hab’s kapiert. Bitte schön: Du hast recht. Ja, ich habe meiner Mutter im Krankenhaus versprochen, dass ich mit dir eine Familie gründen werde, mit allem Drum und Dran. Es gibt nichts, was sie sich für ihren Sohn sehnlicher wünscht. So, ist es das, was du hören wolltest?«

Henning ist laut geworden. Seine Mutter ist ein wunder Punkt in unserer sonst so harmonischen Beziehung. Vor einiger Zeit hatte sie einen Herzinfarkt, aber inzwischen ist Renate wieder der Quirl, der sie immer war. Sie ist dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen, wie sie gern betont. Aber jetzt hat sie auch einen Grund, sich vor allem zu drücken, was ihr nicht in den Kram passt. Henning akzeptiert, dass ich mit seiner Mutter noch keine Verschwisterungstänze aufgeführt habe, und weiß, dass ich mich sehr bemühe, sie zu respektieren, um es mal vorsichtig auszudrücken. Er schätzt ihre ständigen Belehrungen ebenso wenig wie ich. Aber das Letzte, was ich möchte, ist, ihr zuliebe zu heiraten oder Kinder zu kriegen – und das weiß Henning genau.

Und obwohl ich weiß, dass Henning mir das nur ins Gesicht geschleudert hat, weil ich es darauf angelegt habe, springe ich auf seine Worte an wie ein eingestaubter Motor, der nur darauf gewartet hat, dass jemand mal kräftig aufs Gaspedal drückt. »Braver Sohn!«, ätze ich weiter.

Wie sehr habe ich mir immer gewünscht zu heiraten, und jetzt, wo ich nur »ja« zu sagen brauche, wehre ich mich mit Händen und Füßen, nur weil ich während des Antrags nicht diesen ominösen Zauber verspürt habe, von dem ich immer geträumt hatte? Ich wollte nie, dass Heiraten bloß eine logische Konsequenz ist – aber ist dieser Zauber nicht vollkommen illusorisch nach einer Beziehung, die schon länger währt als die Herrschaft von Tutanchamun im alten Ägypten?

Mit einem Mal packt mich Panik, dass ich womöglich einfach nicht mehr genug für Henning fühle. Bis vor ein paar Minuten habe ich nie darüber nachgedacht, dass mit unserer Beziehung etwas nicht stimmen könnte; ich war mir immer sicher, dass nichts sie erschüttern kann. Wir lebten satt und zufrieden in harmonischer Gleichförmigkeit – und das meine ich ganz positiv.

Noch immer stehen Henning und ich auf dem Hotelflur herum.

»Entschuldige mich, aber ich muss deine Reaktion erst mal verdauen«, sagt er und wendet sich ab.

Ich halte ihn am Ärmel seines Hemds zurück. »Bitte lass uns das Wochenende hier einfach genießen.« Als ob das jetzt noch möglich wäre. Toll hingekriegt, Paula!

»Na klar, deswegen sind wir schließlich hier«, erwidert Henning matt und reißt sich los.

Verspannte Zweisamkeit. Wir gehen stumm ins Bett, stehen am nächsten Morgen wieder auf, frühstücken, versteckt hinter einer düster betitelten BILD (ich) – »Steht der Weltuntergang unmittelbar bevor?« – und einer etwas optimistischer klingenden Süddeutschen Zeitung (Henning) – »Terrornetzwerk gesprengt«. Droht unserer Beziehung etwa das Gleiche? Ich frage mich, ob es sich überhaupt noch lohnt, Pläne zu machen, wenn das Ende schon so nah ist. Hochzeit, ein gemeinsames Häuschen, Kinder?

Oje, Weltuntergangsstimmung auch in meinem Kopf. Ich blättere schnell auf die letzte Seite, wo die Welt gleich wieder viel bunter aussieht, weit und breit keine Apokalypse in Sicht. Alles ist eben nur eine Frage des Blickwinkels.

Henning legt die Zeitung beiseite und trinkt seinen Orangensaft aus. Dann steht er auf und wirft mir einen verwundeten Blick zu. »Bis später«, sagt er leise und geht.

Ich weiß nicht, wohin mit dem Fragengewitter in meinem Kopf. Irgendetwas muss passieren! Ich kann hier nicht alleine sein! Also stapfe ich hinaus in den salzigen Ostseewind, spaziere zum leuchtend weißen Strand hinunter und kapere einen Strandkorb. Dann rufe ich meine beste Freundin Lucie an. Wenn mir jetzt irgendjemand zuhören und helfen kann, dann sie!

Lucie ist sechsunddreißig und seit fünf Jahren mit Guido, Hennings bestem Freund, verheiratet. Die beiden haben sich über uns kennengelernt. Inzwischen nennen sie zwei Kinder und ein hübsches Häuschen ihr Eigen. Lucie hat früher mit mir zusammen gearbeitet, ist aber seit der Geburt von Leo, meinem zuckersüßen, mittlerweile fünfjährigen Patensohn, zu Hause. Sie hasst das Wort Hausfrau, und da Chefin eines kleinen Familienunternehmens mittlerweile genauso originell klingt, erzählt sie gern, dass sie im Krisenmanagement tätig sei und meistens Home Office mache.

»Endlich! Herzlichen Glückwunsch, meine Süße, ich freue mich ja so für dich!«, sagt Lucie, als ich ihr von Hennings Antrag erzähle.

»Na ja, ganz so einfach ist das hier alles nicht«, bemerke ich finster und schildere ihr, so gut es geht, meine Verfassung.

»Sag mal, was ist denn mit dir los? Du wirst nächstes Jahr fünfunddreißig, worauf willst du noch warten? Das Leben ist nun mal kein Rosamunde-Pilcher-Film, das ist doch nichts Neues. Natürlich ist eine Hochzeit nach all diesen Jahren eine logische Konsequenz und kein Ereignis im überschwänglichen Rausch der Hormone!«, versucht Lucie mich wieder auf den Boden der Tatsachen zu holen.

Ich zeichne mit meinem Fuß ein riesiges Herz in den feinen Sand. »Ja, ja, ich weiß! Warum also vermisse ich auf einmal einen dicken Zuckerguss auf meinem Beziehungskuchen? Warum erscheint mir der Gedanke an meine Hochzeit plötzlich so verlockend wie die eigene Beerdigung? Es kann doch nicht sein, dass mich Henning plötzlich dazu bringt, an unserer Beziehung zu zweifeln, nur weil er mich endlich gefragt hat, ob ich seine Frau werden will!«

»Weißt du, ich sag dir jetzt mal was: Als Guido mich gefragt hat, bin ich auch nicht vor Verzückung in Ohnmacht gefallen. Das ist ein reiner Mythos. Und wahrscheinlich habe ich mir auch die gleichen Fragen gestellt wie du dir. Habe ich genug erlebt? Passiert danach noch etwas in meinem Leben? Tröste dich, du leidest einfach nur unter Torschlusspanik! Das geht vorüber, glaub mir. Und vor allem: Dein Leben geht weiter, auch nach dem Ja-Wort!«

Wesentlich besser geht es mir nach dem Gespräch mit Lucie leider nicht. Also gehe ich in der Hoffnung, dass mich vielleicht das mitgebuchte Wohlfühlprogramm auf andere Gedanken bringen kann, in den paradiesischen Wellness-Bereich unseres Hotels und schwimme mit mir um die Wette, um dann im Aroma-Dampfbad weiter vor mich hin zu grübeln.

Ich kenne Henning einfach in- und auswendig. Er ist wie der Inhalt meiner Handtasche: Er strahlt Wärme aus wie der Taschenwärmer, den ich im Winter immer dabei habe, und ist fürsorglich und aufmerksam wie mein iPhone, das mich an so vieles erinnert. Henning ist so belesen, dass sich selbst eine Brockhaus-App hinter ihm verstecken muss, und so vertrauenswürdig wie meine Kreditkarte. Er kann so aufregend sein wie der Duft meines Eau de Cologne, so süß wie die zermatschten Schokobons im Seitenfach, die ich so gerne zwischendurch verdrücke. Henning ist so kräftig wie der Geschmack meiner Fisherman’s Friends und so großzügig wie meine Handcreme. Und immer dann, wenn ich für einen Moment Angst habe, dass er so langweilig sein könnte wie die Rechnung über die Einlagerung meiner Winterreifen, die zerknüllt auf dem Boden meiner Tasche vor sich hin gammelt, dann kann er ganz schnell umschwenken und mindestens so unterhaltsam sein wie die aktuelle Ausgabe meiner Lieblingszeitschrift. Und das ist noch lange nicht alles!

Ich merke, wie sich ein paar Tränen aus meinen Augenwinkeln lösen und sich mit der dampfnebligen Feuchtigkeit auf meinem Gesicht vermischen.

Ach Henning, was geht hier nur vor sich?, frage ich mich in der spärlich beleuchteten Wohlfühl-Kammer.

Ich sehe Henning bis zum Abend nicht mehr – keine Ahnung, wo er sich heute den ganzen Tag herumgetrieben hat. Aber immerhin sitzen wir beim Dinner wieder zusammen. Für einen Augenblick scheint alles, was geschehen ist, vergessen. Wir sind wieder wir und bedauern das schweigende Mitvierziger-Paar drei Tische weiter.

»Und, was denkst du?«, frage ich.

»Lange verheiratet. Er ist beruflich viel unterwegs. Maximal drei Mal im Jahr Sex. Zwei pubertierende Blagen. Erstes kinderfreies Wochenende in diesem Jahrzehnt.«

Ich grinse und nicke. »Könnte hinkommen.«

Das ist eine Marotte von uns: Jedes Mal, wenn wir ernst dreinblickende Pärchen sehen, die so kommunikativ sind wie ein Schwarm Lachse, machen wir eine Paar-Analyse. Für uns ist so ein Nebeneinanderher unvorstellbar. Henning und ich haben uns immer etwas zu erzählen.

Nur diesmal endet unsere kurz aufflammende Unterhaltung abrupt. Mit zerstörerischer Gewalt kommt die Disharmonie zurück, als hätten wir ihr ungeschriebenes Gesetz gebrochen. Das Bedauern über die anderen bleibt uns im Halse stecken. Wir schweigen. Betreten. So kann sich das also anfühlen. Es ist eine Qual.

Ich habe keinen Hunger und stochere unmotiviert in Cannelloni mit Rindertatar herum. Schade drum, denke ich, ein wirklich exzellentes Menü, das wir gewählt haben. Schließlich wollten wir uns auch einmal einen Hauch von Luxus gönnen, vier Gänge mit Jakobsmuscheln, Trüffeln und allem Drum und Dran. Wann habe ich dazu schon mal die Gelegenheit? Heiligendamm sollte etwas ganz Besonderes sein – aber nicht auf diese Art.

Nach dem Essen verabschiedet sich Henning zu einem Spaziergang. Ich gehe aufs Zimmer, schalte den Fernseher ein und bleibe bei einem Special von Bauer sucht Frau hängen. Einmal mehr wird mir bewusst, dass ich es doch eigentlich ganz gut getroffen habe.

Als Henning zurückkommt, liege ich schon im Bett. Normalerweise trinkt er kaum Alkohol, heute war ihm das aber ganz offensichtlich egal. Ich kann riechen, was die Hotel-Bar hergab. Ich sage nichts, sondern tue so, als ob ich schlafe.

Ein weiterer Tag zieht sich quälend dahin. Statt Wellness gemeinsames Schweigen, angespannte Ruhe und Gedankenfolter – dann endlich ist es Sonntag.

Und ich würde mich darüber freuen, endlich dieser Zweisamkeitshölle entfliehen zu können, wenn da nicht die Rückreise wäre. Wir fliegen – zumindest von Rostock nach München, danach geht es zum Glück per Bahn weiter nach Nürnberg, unsere Heimat. Und dabei leide ich ganz schrecklich unter Flugangst! Zum zweiten Mal seit der Hinreise verfluche ich mich, dass wir uns von dem günstigen Flugangebot haben verleiten lassen und nicht mit dem Zug reisen. Ein Start und eine Landung an einem einzigen Tag, das ist eindeutig zu viel für mich.

Doch die Gedanken, die mich quälen, sind stärker als jede Flugangst. In den elf Jahren, die wir zusammen sind, habe ich nie an unserer Beziehung gezweifelt, bin immer davon ausgegangen, dass das zwischen uns Liebe ist, und jetzt …

Nur zu gerne gebe ich mich, als das Brummen der Motoren lauter wird und sich mein Magen zusammenzieht, den Gedanken an frühere Zeiten hin.

Henning trat in mein Leben, als ich einen der anspruchsvollsten Jobs meines Lebens erledigte: Zu Ostern war ich für eine Promotion-Agentur, die mich damals während meines gerade begonnenen Germanistikstudiums finanziell über Wasser hielt, an einer Autobahn-Raststätte in ein Hasenkostüm geschlüpft. Nur mein Gesicht blieb frei, eingerahmt von flauschigem Plüsch mit sechzig Zentimeter langen Ohren. Man kann sich sicher leicht vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als ich um das Glücksrad herumhoppelte, an dem ich Jungs und Mädels drehen ließ, die ich mit Schokoriegeln eines namhaften Süßwarenherstellers versorgte. Aber im Laufe der acht Stunden täglich lernte ich: Sieh in all den peinlichen und vertrackten Situationen deines Lebens, die immer mal wieder auftreten werden, etwas Gutes!

In diesem Fall war das die direkte Nähe zu McDonald’s, denn ich stand quasi im Foyer des Fast-Food-Tempels und durfte gratis essen, was mein Herz begehrte. Und das tat ich dann auch ausgiebig. Als Hase hatte ich eh nichts zu verlieren, da konnte ich auch mal richtig reinhauen. Nach einem Chicken-McNugget-Päuschen mit reichlich Pommes wollte ich gerade mit schwerem Magen meine letzte Arbeitsstunde abhoppeln, als mich ein gut aussehender junger Mann fragte, seit wann Hasen im Sitzen essen würden und wie sich das Leben mit so großen Lauschern gestalte. Ich sagte ihm, dass es deprimierend sei, weil jeder nur auf meine Ohren starre und ich mir nun vorstellen könne, wie Pamela Anderson sich fühlen müsse. Der junge Mann blickte mir demonstrativ in die Augen. Wir lachten, und es stellte sich heraus, dass er Henning hieß und ebenfalls im Auftrag meiner Promotion-Agentur vor Ort war, um mich samt der Ausstattung wieder in die Stadt zu kutschieren.

Nach ein paar Wochen waren wir ein Paar. Henning beeindruckte mich nicht nur mit seinem durchtrainierten Körper – er war Schwimmer und hatte eben mit dem Training für seinen ersten Marathon begonnen –, sondern auch mit seinem unglaublichen Wissensschatz. Egal, was ich ihn fragte, auf alles hatte er eine Antwort, selbst dann, wenn er etwas doch nicht so genau wusste. Henning war knapp sechsundzwanzig und hatte gerade sein Archäologie-Studium beendet. Er wartete auf den Beginn eines Forschungsprojekts in Peru, in dessen Verlauf dem prähistorischen Andenvolk der Chachapoya auf den Zahn gefühlt werden sollte.

Also starteten wir mit einer Fernbeziehung, was erstaunlich gut funktionierte, auch wenn Henning in dieser Zeit nur alle drei Monate für ein paar Tage nach Hause kam. Nach zweieinhalb Jahren und weiteren Stationen in Ägypten, Jordanien, Istrien und Xinjiang hatte Henning genug in der Welt herumgegraben und konnte das jetzt endlich wieder verstärkt bei mir tun. Inzwischen hat er längst eine Stelle in einem Museum gefunden und ist nur noch selten im Ausland unterwegs.

Als ich Henning kennenlernte, hatte ich bereits einige Zeit darauf verwendet – oder verschwendet, wie meine Eltern sagen würden –, meine berufliche Bestimmung zu finden. Direkt nach dem Abitur hatte ich nur einen Herzenswunsch, der mein ganzes Denken beherrschte: Ich wollte Schauspielerin werden, schrieb mich aber erst mal an der Uni für Kunstgeschichte ein, weil ich mich einfach nicht dazu durchringen konnte, wirklich an einer Aufnahmeprüfung für eine Schauspielschule teilzunehmen. Dafür fehlte mir dann doch das rechte Selbstvertrauen. Die Kunstgeschichte allerdings machte mich ziemlich schnell ratlos, da mir nicht klar war, was ich später mal damit anstellen könnte – und ich warf das Handtuch. Meine Eltern wurden verständlicherweise langsam unruhig, und ich brauchte einen neuen Plan. Als eine meiner Freundinnen im Blumenladen ihrer Eltern eine Ausbildung begann, war ich ganz angetan davon und fasziniert von der Schönheit der Flora. Also ließ ich mich endgültig exmatrikulieren und schwenkte um. Allerdings brach ich die Lehre zur Floristin nach einem halben Jahr ab, weil mein Daumen doch nicht so grün und meine körperliche Belastbarkeit doch nicht so hoch war, wie es sich für diesen Beruf gehört.

Um meine Eltern vor einem Nervenzusammenbruch zu bewahren, begann ich daraufhin, ganz solide Jura zu studieren, was allerdings weniger meinem Faible für unser Rechtssystem zu verdanken war als vielmehr einer gewissen Ally McBeal. Zwar war recht schnell zu mir durchgedrungen, dass es kaum etwas Langweiligeres und Zäheres gibt als ein Jurastudium, aber nach den vorangegangenen Fehlversuchen wollte ich mir und meinen Eltern endlich beweisen, dass ich auch etwas durchziehen konnte. Die Drohung meiner Eltern, mir andernfalls den Geldhahn abzudrehen, tat ein Übriges. Nach vier Semestern schmiss ich hin.

Meine Eltern standen Kopf und setzten alles daran, mir einen Ausbildungsplatz zur Bankkauffrau zu organisieren. Noch bevor sie ihre Drohung wahrmachen konnten, hatte ich mich für Germanistik eingeschrieben, jetzt allerdings angewiesen auf besagte Promotion-Jobs, die mir nicht nur ausreichend Geld, sondern auch Henning einbrachten. Nach dem dritten Semester machte ich außerdem ganz brav ein Praktikum in der Pressestelle der Stadtwerke, um Berufserfahrung zu sammeln – und konnte bleiben, weil eine Kollegin in Rente ging.

Seither reden meine Eltern wieder mit mir, und ich bin mittlerweile seit zehn Jahren dort – es geht eben nichts über eine 38,5-Stunden-Woche.

Und so verlaufen auch meine Tage mit Henning immer in ähnlich beständigen Bahnen. Gemeinsames Frühstück um halb acht und um sieben Abendessen. Meist hat Henning dann schon eine Trainingseinheit hinter sich, denn sein großes Ziel ist die Teilnahme am Ironman auf Hawaii. Dafür gibt er viel, wenn nicht sogar alles. Manchmal muss ich mich ganz schön zusammenreißen, um mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr er mir mit seinem sportlichen Ehrgeiz auf die Nerven gehen kann. Zum Beispiel sonntags morgens um sieben.

Meine Lebensziele sind nicht ganz so aufregend wie Hennings: Ich schaue lieber Fernsehserien. Ja, damit war ich immer zufrieden.

Doch seit dem Erlebnis mit dem Heiratsantrag fange ich ernsthaft an, daran zu zweifeln. Kann man vielleicht Bedürfnisse haben, ohne etwas davon zu wissen? Mist, ich drehe noch durch. Ich muss mich unbedingt bei den Mädels ausheulen! Gut, dass der Mittwoch naht.

2

Mittwochs abends trennen sich Hennings und meine Wege. Er trifft sich mit seinen Freunden zum Sport, und ich treffe mich mit meinen Mädels zum Futtern. Dieser Termin ist nur in Ausnahmefällen stornierbar.

Vor sechs Jahren war es nur Lucies und mein Mittwochabendritual, inzwischen sind wir zu fünft.

Nun steht der ersehnte Mittwochabend endlich wieder vor der Tür, und ich kann mich mit meinem Gedankensalat in die tröstenden Arme meiner Freundinnen werfen.

Als ich bei unserem Stammgriechen Kostas hereinschneie, ist Lucie schon da. Zum Glück! Die gute Seele. Sie sitzt wie immer an unserem Tisch in der Ecke am Fenster.

»Ach Schatzi, schön, dass du pünktlich bist. Manchmal glaube ich, dass ich mir mit meinem Überpünktlichkeitsfimmel das Leben einsamer gestalte als nötig.«

Lucie steht auf und umarmt mich. Ich muss mich strecken, denn sie trägt heute ausnahmsweise hohe Schuhe und überragt mich trotz meiner eins fünfundziebzig um einen halben Kopf. Lucie selbst findet sich zu burschikos – ich finde sie wunderschön mit ihrer eleganten dunklen Kurzhaarfrisur.

»Wie geht’s meiner Lieblingsfrischverlobten?«

Noch bevor ich ihr unter vier Augen mein Herz ausschütten kann, trudeln nach und nach die anderen ein. Was soll’s, dann bombardiere ich eben gleich alle. Wie immer bestellen wir Wasser, Weißwein und gegrillten Oktopus mit Unmengen Knoblauch. Nach dem ersten Schluck Weißwein kann ich nicht mehr an mich halten und erzähle im Eiltempo, in welchem Dilemma ich stecke.

»Er hat dich endlich gefragt?«, kreischt Viola und freut sich so, wie ich mich hätte freuen sollen. Viola und ich haben uns vor fünf Jahren bei einer organisierten Bergwanderung in Südtirol kennengelernt. Genauso wie ich hasst sie diese Kraxelei und war nur ihrem Freund zuliebe dabei. Mit einunddreißig ist Viola unser Küken; sie möchte es aber am weitesten bringen, zumindest in der Theorie, deswegen schreibt sie gerade an ihrer Doktorarbeit in Biologie über die Entwicklung eines Formulierungsverfahrens für einen endophytischen Nutzpilz. Wir stellen ihr dazu keine Fragen mehr.

Als Viola merkt, dass ich nicht gerade vor Glücksgefühlen glühe, hält sie inne und hakt nach: »Warum machst du so ein griesgrämiges Gesicht? Das wolltest du doch immer!«

»Habe ich auch gedacht. Aber anscheinend habe ich nicht mehr damit gerechnet, dass es passieren würde«, erwidere ich.

»Mensch Paula, es kann doch nicht dein Ernst sein, deswegen immer noch schlechte Laune zu haben! Freu dich doch, besser spät als nie!«, ruft Lucie.

»Ich weiß, aber ich kann mich einfach nicht freuen. Irgendwas stimmt nicht, und ich weiß nicht, was. Irgendwie werde ich einfach das Gefühl nicht los, dass in Wahrheit etwas ganz anderes hinter dem Antrag steckt«, sage ich betreten.

Steffi spielt mit einer langen dunklen Haarsträhne und versucht mich zu beruhigen. »Wie kommst du denn darauf, was bitteschön sollte das denn schon sein? Dein Reichtum? Oder will Henning dich gar an den Herd fesseln, um dich davon abzuhalten, Karriere zu machen? Ich bitte dich!« Diese schonungslose Trockenheit passt zu Steffi, meiner alten Schulfreundin. Sie ist der einzige Single unter uns und versorgt uns gern detailliert mit intimen Infos aus ihrem abwechslungsreichen Liebesleben. Bis vor zwei Jahren war sie mit Thomas zusammen, ebenfalls ein Freund von Henning. Steffi und Thomas trennten sich, als sie Wind davon bekamen, dass sie sich gegenseitig betrogen. Steffi ist Eventmanagerin. Das ist einer von diesen Blender-Jobs. Hört sich toll an, beinhaltet aber nichts anderes, als sich die Nerven abtöten zu lassen. Steffi hat bald keine mehr.

»Vergiss das«, schaltet sich Lucie wieder ein. »Es gibt keinen speziellen Grund. Pass auf, dass dir dieser coole Typ nicht eines Tages davonrennt, während du aufgescheucht von deiner Torschlusspanik die Pferde scheu machst. Ich bin sicher, seine bedingungslose Liebe ist die einzige Motivation für den Antrag!«

»Entschuldige mal, was soll das heißen, dass es keinen besonderen Grund gibt, mich zu heiraten? Das heitert mich ja jetzt wirklich auf.«

Meine Stimmung wird tatsächlich immer mieser. Ich greife nach dem Weinglas und spüle weitere Kommentare herunter. Habe ich etwa keine Vorzüge? Okay, ich teile Hennings sportliche Begeisterung nicht vorbehaltlos, spiele aber immerhin ab und zu bei uns in der Betriebssportgruppe Volleyball und denke schon seit Längerem darüber nach, Hennings Angebot anzunehmen und mindestens einmal in der Woche mit ihm laufen zu gehen.

»Paula, wir meinen es doch nur gut mir dir. Du solltest dir dringend mal die Frage stellen, warum du überhaupt zweifelst«, sagt Steffi und trifft damit leider genau den wunden Punkt.

Es ist tatsächlich gar nicht so einfach, den Mädels den Ernst meiner Lage begreiflich zu machen. Es wäre schon viel wert, wenn ich ihn selber verstehen würde.

»Ich stelle mir ständig Fragen. Nur mit den Antworten hapert es. Was ist bloß los mit mir? Warum spüre ich kein Hochgefühl? Ich bin doch genau da, wo ich immer sein wollte!«

»Tja, darauf kann dir niemand anders eine Antwort geben als du selbst«, sagt Lucie und macht es mir damit auch nicht leichter.

»Nun gut, versuchen wir, hier in unserer schnuckeligen kleinen Selbsthilfegruppe einen Ansatz zu finden«, schlägt Viola vor. »Hast du Angst, etwas verpasst zu haben? Du lebst lange genug mit Henning zusammen, hätte dir das nicht zwischendurch schon mal auffallen sollen?«

»Hm, ich weiß nicht. Wie ihr wisst, bin ich beziehungstechnisch ja ein Fan von Beständigkeit. Warum ist jetzt auf einmal alles anders?«

»Sag du es uns! Was willst du eigentlich? Nochmal: Dein Leben wird nicht schlimmer, nur weil du einen Ring am Finger trägst«, stellt Lucie lakonisch fest.

»Ich bin zwar nicht verheiratet, aber Lucie hat sicher recht«, sagt Viola.

»Ja, so ist es«, meldet sich nun auch Frauke zu Wort, die fünfte in unserem Bunde, die bisher nur zugehört hat, wie sie es meistens tut. Frauke ist seit vierzehn Jahren mit Georg verheiratet und führt seit sieben Jahren eine Wochenendbeziehung mit ihm. Georg lebt in Hamburg und hat dort eine Professur an der Uni. Wir haben ihn noch nicht kennengelernt. Viola hat Frauke vor einem halben Jahr mit in unsere Runde gebracht, nachdem sie sich in einem Forschungslabor kennengelernt hatten. Viola meinte, dass sie den Eindruck habe, Frauke sei sehr einsam und müsse dringend mal unter Leute. Mit sechsundvierzig ist Frauke die Älteste von uns, eine ehrgeizige Wissenschaftlerin. Ihr Fachgebiet ist die Mykologie, und sie hat schon mehrere Bücher zum Thema geschrieben, aber das ist nicht der Grund, weshalb ich mit ihr noch nicht warm geworden bin. Ich kann sie einfach nicht richtig einschätzen, so wenig, wie sie von sich preisgibt.

Inzwischen reden alle auf mich ein, mein Kopf beginnt zu brummen. Als Kostas das Essen bringt, denke ich, er fragt sich bestimmt, was bei uns bloß los ist. Wenn er die landestypische Musik ein bisschen runterdrehen würde, könnten wir das ganze Lokal mit unserer Psycho-Show unterhalten.

»Natürlich weiß ich, dass eigentlich alles gut ist! Aber ich wollte so gern viel mehr spüren! Versteht ihr das?«

»Paula, wach endlich auf. In welchem Film lebst du denn?«, fragt Frauke ungewöhnlich scharf.

Es überrascht mich, wie sie sich in diese Debatte einbringt. »Ist es denn so ungewöhnlich, dass ich andere Erwartungen habe?«

»Ja, ist es! Mensch, Kind, wie lange lebst du denn jetzt schon mit Henning zusammen?«, fragt Steffi so laut, dass sie damit selbst ein Best-of von Nana Mouskouri übertönt.

»Es ist wirklich nicht einfach mit dir. Was sagt Henning zu alldem?«, fragt Viola, während sie den Tintenfisch vom Salat befreit und ihn dann genussvoll verspeist.

»Nicht viel. Wie soll ich ihm auch klarmachen, was in mir vorgeht? Wir reden kaum miteinander.«

»Und wie soll das jetzt weitergehen?«, fragt Lucie.

»Wenn ich das nur wüsste. Aber es ist, wie es ist. Hennings Frage hat mir gezeigt, dass ich bisher viel zu wenig erlebt habe. Oder seht ihr das anders? Hey, ich hatte nur zwei feste Freunde in meinem Leben – und einer davon will mich ehelichen.« Ich kaue auf dem Tintenfisch herum. Der ist heute zäh wie Gummi. Nächste Woche nehme ich Moussaka, fettig, deftig, weich, so wie ich es gerne mag.

»Und wie viele Liebhaber hattest du?«, hakt Viola nach und schiebt sich ihre kleinen aschblonden Locken hinters Ohr, um den Tintenfisch besser bezwingen zu können.

»Zählt auch, wenn wir uns nur geküsst haben?«

»Nein«, erwidern Viola, Lucie und Steffi wie aus der Pistole geschossen.

»Okay, wenn ich meine Beziehungen mit dazuzähle … dann waren es immerhin drei«, gebe ich kleinlaut zu. Dauer-Single Steffi findet als Erste die Sprache wieder. »Gut, das erklärt einiges.«

Hilfe, sehe ich da etwa Mitleid in ihrem Blick?

»Jetzt mach das nicht an der Zahl ihrer Männer fest«, springt mir Viola rettend zur Seite. »Das ist ein bisschen einfach. Ich kann mir nicht vorstellen, dass alles anders wäre, wenn sie drei Typen mehr gehabt hätte.«

»Hm, wahrscheinlich nicht«, erwidere ich unsicher.

Steffi will es ganz genau wissen. »Hast du denn noch regelmäßig Sex mit Henning?«

»Ja … äh, schon.« Mehr sage ich nicht dazu. Auch wenn ich den Mädels alles anvertrauen kann, muss ich jetzt hier nicht ausbreiten, dass ich oft lieber schlafen oder in Ruhe lesen würde. Aber immerhin weiß ich, dass Henning mich immer noch begehrt.

»Dann kannst du ihn auch heiraten«, stellt Steffi klar. Für sie ist die Sache geritzt.

»Genau, Hase. Außerdem bist du im besten gebärfähigen Alter. Und vielleicht möchte Henning endlich Nachwuchs mit dir haben, ohne dass ihr darüber diskutieren müsst, welchen Nachnamen das Kind haben soll«, überlegt Lucie.

»Nein, nein. Hennings Kinderwunsch ist nicht der Grund.« Argh! Plötzlich krampft sich in mir etwas zusammen. Nicht umsonst haben Henning und ich dieses Thema sehr lange nicht angerührt. Ich schlucke. Es fällt mir nicht leicht, so zu tun, als wäre nichts. Aber darüber reden kann ich jetzt nicht. Stattdessen rede ich ein bisschen vor mich hin: »Die Pille habe ich schon vor über vier Jahren abgesetzt, weil ich sie nicht vertragen habe. Und glaubt ja nicht, dass wir jedes Mal an ein Kondom denken. Aber wir wollen warten, bis Henning den Ironman geschafft hat, bevor wir abklären lassen, warum ich in all den Jahren noch nicht schwanger geworden bin. Sein Traum erfüllt sich leichter, wenn kein Baby nach ihm brüllt.« Wie abgeklärt das klingt! Und ich habe es gesagt! Es rauscht in meinen Ohren.

»Und wenn er jedes Jahr an der Qualifikation scheitert, dann bleibt ihr seinem Sport zuliebe kinderlos? Ehrlich Paula, das ist eine äußerst merkwürdige Erklärung«, meint Lucie.

Nein, das ist hier definitiv nicht mein Thema. Ganz schnell muss ich einen Schlusspunkt setzen und von mir ablenken! Ich atme tief durch und sage tapfer: »Noch höre ich meine Uhr nicht ticken. Ich habe keine Eile. Und falls es auch später nicht klappt, dann soll es eben so sein. Es gibt doch genug Paare, die sich bewusst gegen Kinder entscheiden, weil sie ihre Unabhängigkeit nicht aufgeben wollen. Frauke, du wolltest doch auch keine Kinder und hast es nie bereut, oder?«

»Ja, klar hab ich mich bewusst dafür entschieden – nachdem mir die Eierstöcke und die Gebärmutter entfernt worden waren.«

Stille. Uns bleibt das Essen im Hals stecken.

»Wie bitte? Oh nein, das tut mir leid, ich wollte dir nicht zu nahetreten«, sage ich geschockt, als ich meine Stimme wiedergefunden habe. Das ist jetzt nicht gerade die Reaktion, die ich mir auf dieses heikle Kinderwunschthema gewünscht hätte. Das einzig Positive daran ist, dass dafür mein eigener Seelenschmerz in den Hintergrund gerät.

»Macht nichts. Ich hatte Eierstockkrebs – und ich lebe noch. Dafür kann man schon mal auf Kinder verzichten.« So gefasst Frauke klingt, es ist doch kaum zu glauben, dass man wirklich so abgebrüht mit diesem Thema umgehen kann.

»Wie lange ist das denn jetzt her?«, fragt Viola.

»Acht Jahre. Als ich über den Berg war, ging Georg nach Hamburg. Wir brauchten den Abstand. Es war schwer für mich zu akzeptieren, dass wir nun endgültig keinen Nachwuchs haben werden. All die Jahre davor lag es an Georg, dass es nicht geklappt hat. Wir hatten gerade einen Termin in einer Fertilisationsklinik vereinbart, als sich das Schicksal drehte. Na ja, immerhin bin ich dadurch unabhängig.« In Fraukes Stimme liegt so viel Wehmut, dass die Traurigkeit unseren Tisch mit der Wucht einer Tsunamiwelle überrollt.

»Warum hast du uns nie etwas davon erzählt?«, frage ich, als mir einmal mehr bewusst wird, wie wenig ich über Frauke weiß.

»Wozu? Ich geh doch damit nicht hausieren. Und jetzt wisst ihr es.«

Frauke klopft auf die Tischplatte und bestellt dann in lautem Befehlston Metaxa, den Kostas innerhalb von Sekunden serviert. Heute ist nicht viel los in seinem Laden.

»Habt ihr vor, an der Wochenendbeziehung etwas zu ändern?«, erkundigt sich Steffi.

»Es ist gut, wie es ist, weil ich mich jede Woche auf Georg freue. Das war anders, als wir zusammengelebt haben, kurz nach der Diagnose. Da haben wir uns an Kleinigkeiten hochgeschaukelt, die beinahe unsere ganze Liebe aufgefressen hätten. Aber in den Jahren nach meiner Krankheit ist es wieder besser geworden.« Frauke hat rote Flecken im Gesicht und trinkt ihren griechischen Weinbrand auf ex. Es schüttelt mich schon beim Anblick.

»Hast du keine Angst davor, dass er sich in Hamburg eine Parallelwelt schaffen könnte?«, fragt Lucie. Sie scheint kein Pardon zu kennen und ergreift die Chance, endlich mehr über Fraukes Leben zu erfahren.

»Nein. Er hat seine Forschung und ich meine. Das ist bei uns eine sehr intensive Form von Leidenschaft – und die können wir ausleben, wann immer uns danach ist.«

»Das klingt toll«, seufzt Steffi. »Ach Kinder, was meint ihr, wie gern ich wenigstens eine Wochenendbeziehung hätte. Dieses ewige Ausprobieren und Suchen stresst mich ganz schön.«

Gut, dass sie das Thema wechselt. Viel mehr Tragik würde ich heute Abend nicht ertragen.

»Was?! Beneiden wir dich etwa ganz umsonst um dein aufregendes Single-Leben?«, fragt Viola. Dann nimmt sie Salz- und Pfefferstreuer und lässt die beiden wild übereinander herfallen.

»Was für ein hübsches Paar«, säuselt Steffi und geht lachend mit der Olivenöl-Flasche dazwischen. Dann wird sie wieder ernst. »Ich hab langsam keine Lust mehr auf die ewigen One-Night-Stands und Affären. Ich möchte endlich einen Mann kennenlernen, den ich vorher selbst ausgesucht habe. Aber leider bin ich viel zu schüchtern, um die Initiative zu ergreifen. Stattdessen lasse ich mich von den dämlichsten Primaten zu einem Drink einladen und gehe mit dem einen oder anderen ins Bett.«

»Du und schüchtern? Haha, da muss ich aber lachen«, bemerkt Lucie sarkastisch.

»Ja, ja, schon gut. Aber bei wirklich interessanten Männern bin ich wirklich schüchtern. Neulich wollte ich mal ganz mutig sein, als ich den schönsten Mann gesehen habe, der mir je begegnet ist. An einer Tankstelle. Ich gab mir einen Ruck und verfolgte ihn in seinem alten Saab 900. An der nächstbesten Ampel habe ich seine Stoßstange berührt. Nur ein bisschen. Fragt mich mal, was mich da geritten hat! So verzweifelt bin ich schon. Der Mann sah umwerfend aus, wie er da völlig perplex vor mir stand und mich entsetzt anschaute. Gerade, als ich ihn zu einem Wiedergutmachungsbier einladen wollte, griff er zum Telefon und rief seinen Mann an. Seinen Mann, einen Anwalt! Aber es war nicht völlig umsonst. Immerhin habe ich einen Blechschaden verursacht und werde bei der Versicherung hochgestuft.« Geistesabwesend steckt sich Steffi ein Stück Weißbrot in den Mund.

»Du hast eindeutig nicht nur einen Blechschaden. So was Bescheuertes habe ich noch nie gehört«, sage ich.

»Okay. Beim nächsten Mal achte ich darauf, dass er heterosexuell ist«, nuschelt Steffi mit vollen Backen.

»Ach Mädels, das Leben ist ganz schön aufregend«, lallt Viola. Das klingt niedlich. Sie verträgt nicht viel, verliert aber trotzdem nie komplett die Kontrolle. Wir nicken und prosten uns gegenseitig mit Ouzo zu; wie immer geht die Abschiedsrunde aufs Haus.

Als ich gegen Mitternacht zu Hause eintreffe, schläft Henning bereits. Ich schleiche ins Schlafzimmer und reiße das Fenster weit auf, um die laue Nachtluft hereinzulassen und mit ihr vielleicht sogar ein paar neue Erkenntnisse. Dann drapiere ich so lautlos wie möglich die schweren Vorhänge zwischen den Fensterflügeln, damit der Tag nicht zu früh Einzug hält, und krabbele ins Bett. Ich schließe die Augen und lausche Hennings gleichmäßigem Atem.

Aber neue Einsichten bringt die Nacht nicht. Es ist und bleibt paradox: Henning ist ein Teil von mir, und dennoch kann ich nicht von ganzem Herzen ja zu ihm sagen. Ich vermisse etwas, von dem ich keine Ahnung habe, was es sein könnte.

3

Der Donnerstag im Büro vergeht nur langsam. Ich habe mit den Vorbereitungen für ein Stadtfest zu tun, versuche, Preise für die Tombola zu akquirieren, schreibe eine Pressemitteilung über den Clown, die Hüpfburg und den Auftritt unseres Showacts, eines alten Schlagersängers, der seit hundert Jahren immer dieselben Hits zum Besten gibt. Soweit ich weiß, ist trotzdem nur ein Alkoholiker aus ihm geworden, nichts Schlimmeres. Bewundernswert.