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Conrads großes Ehedrama ist die bürgerliche Version von »Heart of Darkness«. Jetzt wegen der Verfilmung mit Isabelle Huppert in einer Neuübersetzung von Sophie Zeitz. Ich wollte die Wahrheit über das bestialische Bürgertum enthüllen», sagt Conrad über die Geschichte des überaus ehrbaren Alvan Hervey, der eines Abends in sein Londoner Heim zurückkehrt, um festzustellen, daß seine Frau nach fünf Jahren Ehe mit einem Zeitungsjournalisten durchgebrannt ist. Noch am gleichen Abend kehrt sie zurück, aber Hervey kann diese Schmach nicht verwinden. Am Ende verläßt er das Haus, um nich wiederzukehren. Herveys faszinierte Abscheu vor der Untreue seiner Frau ist die häusliche Version des moralischen ›Grauens‹, das Marlow später im Kongo empfinden wird. Diese eindringliche Erzählung entwirft ein drastisches ›Herz der Finsternis‹ im Zentrum der zivilierten Welt, hinter den Türen eines ehrbaren Londoner Bürgerhauses. Ein Ehedrama oder das Drama einer Ehe ohne Liebe zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Die Neuübersetzung der eindrucksvollen Erzählung erscheint anläßlich der Verfilmung des Stoffes durch den bedeutenden französischen Regisseur Patrice Chereau. Isabelle Huppert erhielt für ihre Hauptrolle den Spezialpreis auf dem Filmfest in Venedig 2005.
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Seitenzahl: 106
Joseph Conrad
Gabrielle oder Die Rückkehr
Neuübersetzung aus dem Englischen von Sophie Zeitz
Deutscher Taschenbuch Verlag
Neuübersetzung 2006© der deutschsprachigen Ausgabe:Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, MünchenDas Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.eBook ISBN 978-3-423-40410-5 (epub)ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-13461-3Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website
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Der Zug der ...
Alvan Hervey bog ...
Der flammende Schmetterling ...
Er fürchtete schon ...
Der Zug der Inner Circle Line aus der City schoß ungestüm aus einem schwarzen Loch und hielt mit schrillem, kreischendem Getöse im schmutzigen Zwielicht eines Westend-Bahnhofs. Eine Reihe von Türen flog auf, und eine Horde von Männern stieg hastig aus. Sie trugen hohe Hüte, gesunde blasse Gesichter, dunkle Mäntel und glänzende Stiefel; sie hielten dünne Schirme in den behandschuhten Händen und eilig gefaltete Abendzeitungen, die aussahen wie steife, fleckige Lumpen, grünlich, rötlich oder weißlich. Alvan Hervey stieg mit ihnen aus, eine glimmende Zigarre zwischen den Zähnen. Unbeachtet rannte eine kleine Frau in rostigem Schwarz verzweifelt den Bahnsteig entlang, beide Arme voller Pakete, sprang plötzlich in einen Wagen dritter Klasse, und der Zug fuhr los. Waggontüren schlugen zu, laut und hämisch wie Kugelhagel; ein eiskalter Luftzug, vermischt mit beißenden Dämpfen, fegte über die Länge des Bahnsteigs und erfaßte einen wackligen alten Mann, der, bis zu den Ohren in einen wollenen Schal gewickelt, inmitten der strömenden Menge stehenblieb, um über seinen Stockgebeugt heftig zu husten. Niemand würdigte ihn eines Blickes.
Alvan Hervey passierte die Eingangssperre. Zwischen den nackten Wänden eines schäbigen Treppenaufgangs kletterten die Männer hastig hinauf; ihre Rücken sahen einander gleich – fast so, als trügen sie Uniform; ihre gleichgültigen Gesichter unterschieden sich, doch irgendwie ließen sie eine Verwandtschaft erkennen, wie eine Schar Brüder, die einander, sei es aus Klugheit, Stolz, Abneigung oder Vorsicht, fest entschlossen ignorierten; und ihre Augen, flinkoder müde, ihre Augen, die die staubigen Stufen emporstierten, ihre Augen, braun, schwarz, grau, blau: alle hatten den gleichen starren Blick, zielgerichtet und leer, satt und gedankenlos.
Auf der Straße vor dem großen Bahnhofstor zerstreuten sie sich in alle Richtungen, liefen hastig davon, mit der Eile von Menschen, die vor Peinlichkeiten fliehen, vor Vertrautheit oder Vertraulichkeiten, vor verdächtigen und versteckten Makeln – sei es die Wahrheit oder die Pest. Alvan Hervey zögerte, stand einen Moment allein im Ausgang, beschloß dann, nach Hause zu gehen.
Er schritt forsch aus. Ein feiner Regen legte sich wie silbriger Staub auf Kleider, auf Schnurrbärte; benetzte die Gesichter, glasierte das Pflaster, verdunkelte die Mauern, tropfte von Schirmen. Und er marschierte mit sorgloser Heiterkeit durch den Regen, mit der friedlichen Gelassenheit eines erfolgreichen und arroganten Menschen, der seiner selbst sehr sicher ist – eines Mannes mit viel Geld und vielen Freunden. Er war groß, gut im Geschäft, gutaussehend und gesund; und in seinem klaren blassen Gesicht war unter der normalen Vornehmheit ein leichter Zug einer überheblichen Grausamkeit erkennbar, der durch nur scheinbar bemerkenswerte Leistungen gefördert wird; durch Glückim Spiel oder die Kunst des Geldverdienens, durch die bequeme Herrschaft über Tiere und arme Menschen.
Er ging viel früher nach Hause als gewöhnlich, auf direktem Weg aus der City und ohne in seinem Club vorbeizusehen. Er meinte, gute Beziehungen zu haben, hielt sich für gut erzogen und intelligent. Wer denkt das nicht von sich? Doch seine Beziehungen, seine Erziehung und Intelligenz entsprachen exakt denen der Männer, mit denen er geschäftliche oder gesellschaftliche Verbindungen pflegte. Vor fünf Jahren hatte er geheiratet. Alle seine Bekannten hatten damals gesagt, er sei sehr verliebt; und er selbst hatte das gleiche gesagt, einfach, weil es nur recht und billig ist, daß ein Mann sich im Leben einmal verliebt – es sei denn seine Ehefrau stirbt, dann ist es nur löblich, sich wieder zu verlieben. Das Mädchen war gesund, groß, hübsch und hatte seiner Meinung nach gute Beziehungen, war gut erzogen und intelligent. Außerdem langweilte sie sich in ihrem Elternhaus entsetzlich, wo ihre Persönlichkeit – und derer war sie sich äußerst bewußt – keinen Spielraum hatte, als hätte man sie in eine enge Schachtel gesteckt. Sie schritt einher wie ein Grenadier, war starkund aufrecht wie ein Obelisk, hatte ein schönes Gesicht, eine offene Stirn, klare Augen und nicht einen eigenen Gedanken in ihrem Kopf. All diesen Reizen ergab er sich schnell, und sie schien ihm so zweifelsfrei von der richtigen Art, daß er keinen Moment zögerte, sich für verliebt zu erklären. Im Schutze dieser geheiligten und poetischen Vorstellung begehrte er sie energisch, aus vielerlei Gründen; doch in erster Linie wegen der Befriedigung, seinen Willen durchzusetzen. Er ging die Sache sehr ernst und schwerfällig an – ohne den geringsten Grund, außer um seine Gefühle zu verbergen – wie es überaus schicklich ist. Gleichwohl hätte er niemanden vor den Kopf gestoßen, falls er diese Pflicht vernachlässigt hätte, denn was er spürte, war wirklich ein Verlangen – ein Verlangen, das stärker und zweifellos vielschichtiger war, doch seiner Natur nach keineswegs sträflicher als der Appetit eines gesunden Mannes auf sein Abendessen.
Nach ihrer Vermählung widmeten sie sich der Aufgabe, den Kreis ihrer Bekannten auszuweiten, mit ausgesprochenem Erfolg. Dreißig Personen kannten sie vom Sehen; weitere zwanzig duldeten ihre gelegentliche Anwesenheit in gastlichen Häusern mit einem Lächeln; darüber hinaus wurden mindestens fünfzig ihrer Existenz gewahr. In dieser erweiterten Welt bewegten sie sich unter ganz reizenden Männern und Frauen, die Aufregung, Begeisterung und Versagen mehr fürchteten als Feuer, Krieg und Siechtum; die nur die gewöhnlichsten Formeln der gewöhnlichsten Gedanken duldeten und nur einträgliche Fakten zur Kenntnis nahmen. Es war ein äußerst netter Kreis, ein Hort aller Tugenden, wo man nichts aufdeckte, und alle Freuden und Sorgen behutsam zu Vorzügen und Nachteilen abgetönt wurden. In diesen heiteren Gefilden, wo edle Gefühle in reichlicher Fülle gepflegt wurden, um den herzlosen Materialismus des Denkens und Strebens zu verbergen, verbrachten Alvan Hervey und seine Frau fünf Jahre in vernünftiger Glückseligkeit, ungetrübt von jeglichem Zweifel an der moralischen Richtigkeit ihres Daseins. Sie übernahm, um ihrer Persönlichkeit Raum zu geben, alle möglichen philanthropischen Aufgaben und wurde Mitglied in verschiedenen Wohltätigkeits- und Reformvereinen, die von adligen Damen unterstützt und geleitet wurden. Er entwickelte ein aktives Interesse an der Politik; und als er durch Zufall die Bekanntschaft eines Literaten machte – der immerhin mit einem Earl verwandt war–, ließ er sich überreden, ein todgeweihtes Gesellschaftsblatt zu finanzieren. Die Zeitung war eine halbpolitische und ganz und gar skandalöse Publikation, die nur durch ihre äußerste Schwerfälligkeit gerettet wurde; doch da sie gänzlich überzeugungslos war, da sie keinen neuen Gedanken enthielt, da sie nie auch nur die Spur von Witz, Spott oder Protest auf ihren Seiten brachte, befand er sie auf den ersten Blickals hinreichend respektabel. Später, als sie sich auszahlte, merkte er schnell, wie rechtschaffen das ganze Unternehmen war. Es ebnete ihm den Weg zu seinen Zielen; und außerdem genoß er die besondere Art von Wichtigkeit, die ihm durch die Verbindung mit dem, was er für Literatur hielt, zukam.
Diese Verbindung erweiterte ihre Welt noch mehr. Menschen, die für die Öffentlichkeit hübsch zu schreiben oder zu zeichnen pflegten, kamen gelegentlich zu ihnen nach Hause, und sein Herausgeber kam sehr häufig. Er hielt ihn für einen ziemlichen Esel, weil er so große Vorderzähne hatte (schicklich waren kleine, gerade Zähne) und das Haar ein wenig länger als die meisten Männer trug. Andererseits trägt auch mancher Herzog sein Haar lang, und der Bursche kannte zweifelsohne sein Geschäft. Das Schlimmste war, daß seiner Ernsthaftigkeit, so bedeutungsschwer sie sein mochte, nicht zu trauen war. Da saß er, elegant und massig, im Salon, der Knauf seines Stocks vor seinen großen Zähnen schwebend, und redete mit seinem dicklippigen Lächeln stundenlang (gegen nichts, das er sagte, ließ sich etwas einwenden oder aufbegehren), redete mit dieser ungewöhnlichen Manier – nicht durchschaubar – irritierend. Seine Stirn war zu hoch – ungewöhnlich hoch–, und darunter saß, verloren zwischen haarlosen Backen, eine gerade Nase, die in einem geschwungenen Bogen mit einem Kinn zusammenstieß, das in der Form der Spitze eines Schneeschuhs glich. Aus diesem Gesicht, dem Gesicht eines dicken, diabolisch wissenden Säuglings, funkelten ein Paar schlaue, spähende, ungläubige schwarze Augen. Er schrieb auch Verse. Ein ziemlicher Esel. Doch die Männer, die an den Schößen seines gewaltigen Gehrocks hingen, schienen dem, was er sagte, wunderbare Dinge zu entnehmen. Alvan Hervey tat es als Affektiertheit ab. Diese Künstler waren überhaupt so affektiert. Und doch war all das äußerst schicklich – sehr nützlich für ihn – und es schien seiner Frau zu gefallen – als hätte auch sie einen persönlichen und verborgenen Vorteil aus der intellektuellen Verbindung. Sie empfing die bunten und anständigen Gäste mit einer großen, gewichtigen Anmut, die ihr seltsam eigen war und die bei den eingeschüchterten Fremden unpassende und unschickliche Erinnerungen an Elefanten, Giraffen, Gazellen weckte; an einen gotischen Turm – einen übergroßen Engel. Die Donnerstage seiner Frau erlangten Berühmtheit in ihrer Welt; und diese Welt wuchs stetig, verleibte sich eine Straße nach der anderen ein. Bald gehörten der Soundso-Park dazu, ein Crescent – ein paar Plätze.
So lebten Alvan Hervey und seine Frau fünf glückliche Jahre nebeneinander her. Mit der Zeit kannten sie einander gut genug für alle praktischen Belange eines solchen Daseins, doch sie waren nicht zu mehr echter Intimität imstande als zwei Tiere, die, unter einem Dach, in einem luxuriösen Stall aus einer Krippe fressen. Sein Verlangen wurde gestillt und wurde zur Gewohnheit; und ihre Wünsche erfüllten sich – der Wunsch, dem Elternhaus zu entkommen, ihre Persönlichkeit zu behaupten, sich in ihren eigenen Kreisen zu bewegen (die so viel feiner als die elterlichen waren), ein eigenes Heim zu haben und ihren Anteil am Respekt, Neid und Beifall der Welt. Sie verstanden einander wachsam, stillschweigend, wie zwei vorsichtige Verschwörer in einem einträglichen Komplott; denn beide waren sie unfähig, eine Tatsache, ein Gefühl, ein Prinzip oder einen Glauben anders zu betrachten als im Hinblickauf ihren eigenen Stolz, ihre eigene Verherrlichung, ihren eigenen Vorteil. Hand in Hand glitten sie an der Oberfläche des Lebens dahin, in einer klaren und frostigen Atmosphäre – wie zwei elegante Schlittschuhläufer, die um des Beifalls der Zuschauer willen in dickes Eis Figuren schneiden und den verborgenen Strom darunter verächtlich unbeachtet lassen, den ruhelosen und dunklen Strom; den Strom des Lebens, tief und ungefroren.
Alvan Hervey bog zweimal links ab, einmal rechts, schritt zwei Seiten eines Platzes entlang, in dessen Mitte Gruppen zahm aussehender Bäume gebührlich eingezäunt hinter Eisengittern standen, und klingelte an seiner Tür. Ein Hausmädchen öffnete. Es war ein Steckenpferd seiner Frau, nur weibliches Personal zu beschäftigen. Während das Mädchen ihm Hut und Mantel abnahm, sagte es etwas, das ihn auf die Uhr blicken ließ. Es war fünf, und seine Frau war nicht zu Hause. Doch daran war nichts Ungewöhnliches. Er antwortete: »Nein, keinen Tee«, und ging nach oben.
Mit gedämpften Schritten stieg er hinauf. Messingstangen schimmerten entlang des roten Teppichs bis nach oben. Auf dem ersten Treppenabsatz streckte eine marmorne Frau, vom Hals bis zum Rist züchtig in steinerne Falten gehüllt, eine Reihe lebloser Zehen zur Sockelkante und warf blind einen starren weißen Arm in die Luft, der eine Traube Lichter hielt. Alvan Hervey hatte künstlerische Neigungen – zu Hause. Schwere Vorhänge, zusammengerafft, halb verborgene dunkle Ecken. An den Wänden mit der prächtig geprägten Tapete hingen Skizzen, Aquarelle, Stiche. Seine Neigungen waren eindeutig künstlerisch. Alte Kirchtürme ragten aus grünen Laubmassen; Berge waren violett, Wüsten gelb, die Meere sonnig, die Himmel blau. Eine junge Frau mit verträumten Augen lag ausgestreckt in einem vertäuten Boot, bei ihr ein Picknickkorb, eine Sektflasche und ein verliebter Mann im Clubjackett. Knaben mit nackten Beinen schäkerten artig mit zerlumpten Mädchen, schliefen auf Steinstufen, spielten mit Hunden. Ein rührend mageres Kind drückte sich gegen eine karge Mauer, drehte die erlöschenden Augen zum Himmel und bot eine Blume feil; während gleich daneben die großen Photographien berühmter, verstümmelter Basreliefs vermutlich ein steingewordenes Massaker zeigten.
Er sah natürlich nicht hin, stieg eine weitere Treppe hinauf und ging geradewegs in das Ankleidezimmer. Ein bronzener Drache, mit dem Schwanz an eine Konsole genagelt, krümmte sich in regelmäßigen Windungen von der Wand weg und hielt in seinen typisch wütenden Fängen ein offenes Gasflämmchen, das an einen Schmetterling erinnerte. Das Zimmer war leer, natürlich; doch kaum war er eingetreten, füllte es sich auf einen Schlag mit der Bewegung vieler Menschen; denn die länglichen Scheiben in den Türen des Kleiderschranks und der große Pfeilerspiegel seiner Frau warfen ihn von Kopf bis Fuß zurückund vervielfältigten sein Bild zu einer Menge galanter und knechtischer Nachahmer, die