Game of Fear and Promise - S. B. B. Burner - E-Book

Game of Fear and Promise E-Book

S. B. B. Burner

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Beschreibung

Steige auf oder stirb: dystopische Spannung bis zur letzten Seite! Die »Wand« ist das größte Todes-Sportspektakel der Welt. Da die Siegesprämie die Behandlung ihres kranken Vaters finanzieren könnte, setzt die 16-jährige Lissa ihr Leben bei diesem grausamen Wettbewerb aufs Spiel. Als eine von 150 jungen Teilnehmenden versucht sie, die zwei Kilometer hohe, mit mörderischen Fallen gespickte »Wand« zu erklimmen. Nur wer zuerst oben ankommt, erlangt Ruhm, Ehre und finanziellen Reichtum. Und nicht alle überleben den tödlichen Wettlauf – und die Intrigen der Konkurrenz ... Die packende Dystopie ab 14 Jahren sorgt für spannungsgeladenen Nervenkitzel und ist der perfekte Lesestoff für alle Fans von Squid-Game und »Die Tribute von Panem«!

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Die „Wand“ ist das größte Todes-Sportspektakel der Welt. Da die Siegesprämie die Behandlung ihres kranken Vaters finanzieren könnte, setzt die 16-jährige Lissa ihr Leben bei diesem grausamen Wettbewerb im Herzen von Memento City aufs Spiel. Als eine von 150 jungen Teilnehmenden versucht sie, die zwei Kilometer hohe, mit mörderischen Fallen gespickte „Wand“ zu erklimmen. Nur wer zuerst oben ankommt, erlangt Ruhm, Ehre und finanziellen Reichtum. Doch nicht alle überleben den tödlichen Wettlauf – und die Intrigen der Konkurrenz ...

Dystopische Spannung bis zur letzten Seite!

INHALT

DIE WAND

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TAG 3

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EPILOG

Körperliche Schwerarbeit, die Sorge um Heim und Kinder,

kleinliche Streitereien mit Nachbarn, Kino, Fußball, Bier und

vor allem Glücksspiele steckten ihren Denkhorizont ab. Es war

nicht schwer, sie unter Kontrolle zu halten.

George Orwell – 1984

DER HIMMEL ERWARTET DICH

(Inschrift im Sockel der WAND)

DIE WAND

Schon wenn man sie aus der Ferne sieht, stockt einem der Atem, und das Herz beginnt, bis zum Halse zu schlagen. Die WAND ist gewaltig, von biblischem Ausmaß, ein gigantischer Pfeiler im Zentrum von Memento City, wie der Turm zu Babel ragt sie dort in den Himmel. Sie ist so hoch, dass ihr letztjähriger Bezwinger zwei Tage, elf Stunden und 33 Minuten gebraucht hat, um ihr oberes Ende zu erreichen. Nur 18 weitere beendeten den Wettbewerb ebenfalls.

Zitternd. Ausgelaugt. Am Ende ihrer Kräfte. Die anderen 81, die mit ihnen gestartet waren, sind tot.

Alle fast noch Kinder.

Mehr als eine dreiviertel Milliarde Menschen sehen jedes Jahr das Spektakel. Einschaltquote: 96 Prozent.

Kein anderes Sportereignis hat auch nur den Hauch einer Chance dagegen. Weder das Todestauchen von Cringe Bay noch das Finale im Blutball. Nichts schlägt die WAND.

Logisch, bei den immens hohen Opferzahlen. Dem Thrill. Dem Spaß beim Zuschauen.

Du willst eine VIP-Loge haben, direkt gegenüber im Tuckler-Building? Vergiss es! Selbst die billigsten Plätze – seitlich unterhalb der WAND, wo du dir den Hals verrenkst – sind Monate im Voraus ausgebucht. Du kannst froh sein, wenn du noch ein T-Shirt bekommst.

Der Sieger des letzten Jahres hieß Rent Moneymaker. Kein Scherz. Das Fernsehprogramm ist heute noch voll mit Berichten darüber, wie er durch seinen Sieg den so heiß ersehnten Schritt in die Oberschicht gemacht hat. Und was er mit seinen Massen an Geld anstellt.

Nicht nur er ist ein reicher Mann geworden. Auch die, die auf ihn gewettet hatten, haben ein Stück von der Torte abbekommen. Für Moneymaker aber gab es die Kirsche.

Er war ein krasser Außenseiter gewesen, doch sein Nachname – Geldmacher – hatte viele dazu veranlasst, blindlings auf ihn zu setzen, ohne zu wissen, wie fit er war oder woher er kam. Oder ob er überhaupt klettern konnte.

Das Talent zum Klettern spielt nicht die größte Rolle, obwohl man das bei einem solchen Wettbewerb annehmen könnte. Es kommt auf mehr an.

Auf die körperliche Leistungsfähigkeit, auf das Startgewicht, auf die generelle Beweglichkeit und die Länge der Extremitäten. Es gibt so vieles, was gute Athleten haben sollten, männliche wie weibliche, doch am Ende sind es genau zwei Dinge, die einen Gewinner von einem Verlierer unterscheiden.

Erstens: Du musst gut mit Druck umgehen können. In diesem Fall mit dem Druck, zu wissen, dass jedes falsche Aufsetzen des Fußes, jeder Griff ins Leere deinen Tod bedeuten kann.

Und zweitens: Du brauchst verdammt viel Glück. Denn die WAND ist mehr als ein Kletterparcours. Sie ist der Inbegriff der Bosheit. Sie verfügt über so viele Tücken, abartige Fallen und technische Hindernisse, die es zu überwinden gilt (wie die Laserschranken ein gutes Stück oberhalb des ersten Drittels), dass man sie unmöglich alle aufzählen kann. Eine perfide Ausgeburt des menschlichen Verstandes. Zwei Kilometer in die Höhe ragende Hölle. Doch auf einen wartet der Himmel.

Also, besteige die WAND, Fremder, Abenteurer, Glücksritter, wenn du dich traust. Steige auf wie Phönix aus der Asche.

Oder mache dich auf den tiefsten aller Stürze gefasst.

1

Lissa ließ die Abschussstange des Flippers los, und die rostige Kugel schnellte auf die Spielfläche. Nur noch die Hälfte der bunten Lichter funktionierte, und auch die Zielscheiben und Bumper gaben nichts als dissonantes Klingeln oder ein schwaches Ächzen von sich. Der Automat war älter als ihr Ur-, Ur-, Urgroßvater, schätzte sie, älter als das Satellitensystem, das hoch über ihrem Kopf das Wetter kontrollieren sollte (aber wieder seit Monaten ausgefallen war), älter sogar noch als die großen Städte im Norden und Osten, in denen die Reichen und Berühmten lebten, doch was bedeutete Alter schon, dachte sie weiter, an einem Ort wie diesem, an dem die Menschen nicht alt wurden.

»Hey, Lissa, mach uns doch noch mal ’ne Runde!«

Die Kugel rollte zwischen den Flipperhebeln hindurch ins Aus und verschwand in einem Loch.

»Verdammt«, fluchte Lissa.

Sie schlug mit der flachen Hand auf die Seite des Automaten, woraufhin dieser einen lauten Brummton von sich gab und die Punkteanzeige zurück auf Null springen ließ.

»Schwing jetzt gefälligst deinen Arsch hier rüber, wir haben Durst!«

Lissa fuhr herum und fixierte den dreckigen Mann an Tisch drei mit den Augen einer Wildkatze. »Das Einzige, das ich gleich schwingen werde, ist meine Faust! Verstanden, Morrie?«

Der Mann sagte einen Augenblick lang nichts, sondern starrte das drahtige Mädchen mit den zerzausten, tiefbraunen Haaren, dessen Gesicht von einer kaum zu ihrer oft spröden Art passenden Stupsnase geziert wurde, nur an. Dann lachte er aus vollem Halse los. »Wer bin ich schon, dass ich mich mit Lissa Orlando anlegen würde?« Er sog schwerfällig die Luft in seine rasselnde Lunge, während die anderen Männer in sein Gelächter mit einstimmten.

»Die Kleine ist ein härterer Brocken als ihr Vater«, rief jemand vom Nachbartisch. »Und der konnte Granit mit den Zähnen durchbeißen.«

Mit einem Satz war Lissa bei ihm und packte ihn an der Kehle. »Das kann mein Dad noch immer«, knurrte sie wütend, wohl wissend, dass es nicht stimmte.

Ihr Vater Derin hatte zeit seines Lebens im Marmorsteinbruch gegenüber geschuftet, so wie fast alle im Pub, doch der Staub hatte ihm dermaßen zugesetzt, dass er die letzten Wochen nur noch im Bett hatte liegen können.

Aber so war das Leben hier am Bruch: gute Herzen, rauer Ton und ein früher Tod. Jeder Zweite starb an Staublunge. Wenn er nicht vorher einem Unglück bei der gefährlichen Arbeit im Tagebau zum Opfer fiel.

»Was ist nun mit unseren Drinks?«, fragte Morrie vorsichtig.

Lissa atmete einmal tief durch und ließ den Mann am Nebentisch schließlich aus der Mangel. Sie setzte ihr professionellstes Lächeln auf. »Kommen sofort.«

Das kleine Dörfchen Bethlom lag hoch in den Bergen, direkt auf einer Anhöhe gegenüber dem Steinbruch, wo der wertvolle Marmor unter teils unmenschlichen Bedingungen abgebaut und für den Transport nach Memento City behauen und zurechtgesägt wurde.

Es gab kaum einen Mann aus der Gegend, der nicht hier im Bruch ackerte, als Steiger, Sprenger oder einfacher Steineklopfer. Nur wenige hatten das Glück, in der Verwaltung arbeiten zu dürfen, in einem kleineren Ladengeschäft oder auf dem Versorgungszug, dort wo die Luft ebenfalls stickig, nicht aber so heiß und von Staub durchzogen war wie im Marmorbruch. Dieses Privileg war zumeist den Frauen und Mädchen vorbehalten; seltener den Kranken, und wenn dann nur jenen, die sich aufrecht halten konnten.

Lissa war eine Ausnahme. Zwar half sie zwei bis drei Tage die Woche im Pub aus, doch die meiste Zeit war sie als Kletterin im Bruch beschäftigt, ein Job, der sonst von jungen Männern ausgeübt wurde. Seit dem Tod ihres Bruders war es nun Lissa, die zwischen spitzen Felsen und Vorsprüngen herumstieg und Dynamitladungen in den Stein schob.

Sie hatte Talent. Sie war leicht und beweglich, und ihre langen Finger fanden auch in den kleinsten Ritzen Halt. Schon nach kurzer Zeit hatte es niemanden mehr geschert, dass dort ein Mädchen im Bruch herumkraxelte.

Lissa öffnete ein paar Flaschen Bier und stellte sie den Kumpels vor die Nase. Die Männer, deren Haut vom weißlichen Marmorstaub bedeckt war, griffen gierig danach und soffen die billige Plörre in wenigen Schlucken hinunter.

»Noch mal das Gleiche. Und kümmere dich um die Glotze! Das Bild ist ja ganz verschwommen.«

Lissa ging rüber zum Fernseher, einem alten Flachbildmonitor, der wahrscheinlich noch aus der Antike stammte, und rüttelte an ein paar Kabeln, bis das Rauschen verschwand.

»Ist das nicht dieser Moneytaker?«

»Moneymaker«, verbesserte Lissa einen Gast, der auch Opa Timm genannt wurde, obwohl er vermutlich erst Anfang vierzig war.

Dieser zog den Rotz aus der Nase hoch und spuckte einmal kräftig auf den Boden. Offenbar hatte er nicht auf Moneymaker gewettet.

»Das ist ein Vorbericht für die diesjährige WAND«, murmelte Lissa und setzte sich zu den Männern, wobei sie den struppigen, grauen Hund von Pubbesitzer Big Bennie zu kraulen begann, was der Mischling schwanzwedelnd und mit einem seligen Knurren dankbar quittierte. »Ja, mein Winston, du Feiner.«

»Und wer holt uns jetzt die Getränke?«

Lissa hielt den Männern geistesabwesend ihren Kühlschrankschlüssel hin. »Holt sie euch selbst.« Sie machte den Fernseher lauter. »Und jetzt Ruhe, ich will das sehen!«

»… Goldschmuck, eine Sammlung erlesenster Weine, zwei Sportwagen und eine Eigentumswohnung am Columbus Mons, unweit der Stätte seines Sieges«, dröhnte es aus den Boxen, »das sind nur ein paar der Dinge, die Rent Moneymaker sich mit seinem Gewinn von drei Millionen Dogs zugelegt hat. Er gehört somit unumstritten zu den oberen zwei Prozent der Bevölkerung, jenen Menschen, die in Wohlstand und Luxus leben und es lieben, ihren Reichtum auch zu zeigen.«

Das Gesicht eines jungen, gutaussehenden Mannes erschien nun auf dem Bildschirm. Es war Rent Moneymaker.

»Ich habe mir das Geld verdient«, sagte er. »Und ein großes Opfer dafür gebracht.«

Moneymaker deutete auf seinen linken Unterarm, an dem die komplette Hand fehlte.

»Die hat er im oberen Abschnitt verloren«, flüsterte Lissa.

»Die habe ich im oberen Abschnitt verloren«, sagte Moneymaker ernst. »Dass ich es danach überhaupt noch geschafft habe, gleicht einem Wunder.«

Lissa erinnerte sich genau an diesen Moment. Rent hatte mit der Hand den Haltegriff verpasst und war mit ihr in eine der vielen Schnappfallen geraten. Allein mit seiner rechten und unter höllischen Schmerzen war er weitergeklettert und hatte nur sechs Sekunden vor seinen beiden Verfolgern – Kinderman und Weisz – die WAND erklommen.

Nachdem noch einmal die besten Szenen des letzten Jahres, zu denen natürlich auch besagte Schnappfallen-Situation gehörte, gezeigt worden waren, übernahm die drückende Stimme eines Werbesprechers: »Noch zwei Wochen bis zur WAND. Erleben Sie das größte Blutsportspektakel der Welt live und hautnah – übertragen von mehr als tausend 3-D-Kameras und Flugdrohnen. Und da in diesem Jahr erstmals fünfzig zusätzliche Athletinnen und Athleten teilnahmeberechtigt sind, heißt das für Sie: Mehr Action! Mehr brutale Szenen! … Mehr Tote!«

»Eines Tages …«, seufzte Lissa und blickte in die dunklen Knopfaugen von Pubhund Winston, der seinen Kopf auf ihrem Oberschenkel abgelegt hatte und zufrieden Lissas Streicheleinheiten genoss.

»Jaja«, sagte Morrie, der gerade mit einer neuen Runde Bierflaschen unter dem Arm zurückkam. »Eines Tages wirst du bei der WAND mitmachen. Träum schön weiter, Schätzchen.«

»Und gewinnen!«, rief Lissa entrüstet.

Wieder lachten alle.

»Stellt euch mich doch mal vor.« Jetzt begann Lissa zu grinsen. »Ich in schicken Kleidern, auf hohen Schuhen, geschminkt wie eine dieser reichen Geishas, und in der Hand eine Flasche des teuersten Champagners.«

»Prost!«, brüllte einer der Männer im hinteren Teil des Pubs und erhob sein Glas billigen Whiskys.

»Hast du nicht eine Kleinigkeit vergessen?«, krächzte Morrie.

»Was denn?«, fragte Lissa unschuldig. »Alt genug bin ich ja nun. Gerade 16 geworden.«

»Ich meinte die in deinen Augen wohl völlig unbedeutende Tatsache, dass noch nie eine weibliche Athletin gewonnen hat. Oder auch nur nah dran gewesen ist. Die eignen sich bestenfalls als Wasserträgerinnen. Außerdem hasst die WAND Frauen. Wirft sie dreimal so oft ab wie Männer. Ist statistisch bewiesen.«

Lissa zuckte nur gelassen mit den Schultern. »Dann werde ich wohl mal was an der Statistik ändern müssen.«

»Eher scheißt eine Bergzicke Gold«, lachte Morrie heiser.

Lissa nahm ihm den Schlüssel wieder ab und trat hinter die Bar. Sie öffnete eine kleine Metallkassette vor sich auf dem Tresen. »Apropos Gold: Wo bleiben eigentlich eure Wetteinsätze?«

Es hatte seit über einem halben Jahr nicht mehr geregnet. Nicht nur in Bethlom nicht; in der gesamten Region rund um die Berge war kein Niederschlag verzeichnet worden. Es herrschte Dürre bis hinab in die Täler, und das hieß für die Dorfbewohner vor allem eins: noch weniger zu beißen.

Schuld an der Trockenheit waren die defekten Wettersatelliten, für deren Reparatur die Provinz aber kein Geld hatte, und da eine geringere Ernte noch weniger Gewinn bedeutete, war dies ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gab. Außerdem musste die Region trotz ihrer Armut immens hohe Steuern an die Hochprovinzen entrichten, und das, obwohl sie bereits den von Adel und Oberschicht so heiß begehrten Marmor dorthin auslieferte.

Mittlerweile waren auch die meisten Ernteroboter ausgefallen, hatten keinen Treibstoff mehr oder waren Schrott. Und Besserung war nicht in Sicht. Anders ausgedrückt: Lissa würde wohl auf ewig ihren 0-Status behalten.

Eine 0 auf seinem unter der Haut implantierten Identifikationschip zu haben, bedeutete, dass man zur gemeinen Landbevölkerung gehörte. Dass man über kein oder ein nur geringes Einkommen verfügte. Und dass man die großen Städte nicht betreten durfte.

Status 1 hatten die Pendler, die Waren ein- und ausführten, Menschen wie Cern, der den Marmorzug fuhr. Es war ihnen erlaubt, sich für einen gewissen Zeitraum in den Städten aufzuhalten, dort leben aber durften sie nicht.

Dieses Recht war nur Status 2 oder höher vorbehalten. Während 2er Unterkünfte am Stadtrand, in den Suburbs, zugewiesen bekamen und niedere körperliche Arbeiten verrichten mussten, konnten Status-3-Personen im inneren Ring leben und dort ihre – wie Lissa es häufig ausdrückte – stinklangweiligen Bürojobs ausüben.

Für sie gab es nur Status 4: Die Oberschicht. Hier musste niemand mehr arbeiten. Das Leben bestand aus teuren Restaurants und wilden Partys, aus Konzerten, Theaterbesuchen und … Sportveranstaltungen!

Eine 5 auf dem ID-Chip war für Leute ihres Schlages völlig unerreichbar. Status 5, das war der Adel, und in den wurde man entweder geboren oder man heiratete hinein, was Lissa weder vorhatte, noch kannte sie überhaupt jemanden, der auch nur höher als 1 stand. Und eine andere Möglichkeit, dorthin aufzusteigen, existierte nicht. Es sei denn, man gewann ein Ereignis wie die WAND.

So war das System seit dem Ende des Krieges, und es funktionierte großartig, zumindest wenn man den immer wieder gebetsmühlenartig abgespulten Worten des Zarregenten und seines Rats glaubte.

Trotz aller bitteren Armut aber, die in Bethlom und Umgebung herrschte, hatten weder die Kumpel noch deren Frauen und Kinder ihren Lebensmut gänzlich verloren.

Das lag vermutlich daran, dass es noch ein Mindestmaß an Unterhaltung – Lissas Mom nannte es Volksverdummung – gab. Und Drogen.

Nicht die harten Szene- oder die exklusiven Designerdrogen, die in den Großstädten im Umlauf waren. Kein Dizzle oder Toxxy, sondern selbst gebrannten Fusel und starke, mit verschnittenem, tödlichem Tabak gestopfte Zigaretten, von denen die Bergarbeiter trotz ihrer Staublungen eine nach der anderen qualmten.

Und dann gab es noch das Wetten. Natürlich verfügte niemand, der sich im Bruch krumm machte, über genügend Geld, um selbst mit einem Volltreffer reich werden zu können, nicht mal im Ansatz. Aber eine gut platzierte Wette bei entsprechender Quote konnte schon mal für ein paar Extra-Dogs im Portemonnaie sorgen und somit für die eine oder andere Runde mehr im Pub.

»Also, her mit euren Tipps, oder haben sich die harten Hunde hier plötzlich alle in feige Hühner verwandelt?« Lissa stemmte ihre Hände in die Hüften und begann, laut zu gackern. Da es in Bethlom kein offizielles Wettbüro gab, übernahm Big Bennie die Abwicklung, indem er Lissa das Geld einsammeln und es dann über einen Status-1-Mittelsmann in die nächste Stadt bringen ließ, der es wiederum – nach Abzug seines Anteils selbstverständlich – dort platzierte und eventuelle Gewinne, von denen es in der Regel so gut wie keine gab, später abholte und an die entsprechenden Tipper verteilte.

»Ein bisschen früh, findest du nicht?«, monierte ein hagerer, grauer Mann an Tisch eins. »Es sind noch zwei Wochen bis zur WAND.«

»Du weißt doch, Edd: Je früher die Wette, desto größer am Ende die Beute.«

Morrie nestelte an seinem Geldsäckchen herum. »Welche Quote gibst du mir auf Perchov?«

»Perchov, hm?« Lissa überlegte kurz. »Sechs zu eins.«

»Das ist ja so gut wie nichts«, echauffierte sich Morrie.

»Am Ende bekommst du sowieso nichts, Morrie. Perchov hat keine Chancen auf den Sieg. Glaub mir.«

Lissa kannte alle Teilnehmenden der WAND. Nicht nur ihre Namen. Sie wusste jedes noch so kleine Detail über sie. Und so wusste sie natürlich auch, dass Petr Perchov zu den diesjährigen Favoriten zählte. Er war ein bis in den letzten Muskel durchtrainierter, 22-jähriger Extremkletterer aus dem West-Kaukasus und mit seinen 1,98 m einer der Größten im Feld. Aber er war ein Rohrkrepierer. Das fühlte Lissa. Nie und nimmer würde Perchov gewinnen. Seine Statistiken waren exzellent, keine Frage, aber er war im falschen Team. Sie hatten ihn den Apes zugeteilt, wegen seiner langen Arme und Beine, doch mit seinem Stil hätte er ins Bugs-Team gehört, denn er schmiegte sich beim Klettern eng an und verschwendete keine Zeit mit kräfteraubendem Herumhängen.

»Ich weiß schon, was ich tue.«

»Wie du willst«, sagte Lissa und nahm dem aufgeregten Morrie fünf ganze Bronzedogs ab, ein halber Wochenlohn hier im Bruch. »Perchov also.«

»Mein Mann«, grinste Morrie.

»Meiner ist Uru Mumba«, sagte Dorn, ein Steiger aus dem Südtal, überheblich.

Noch so ein Blindgänger, dachte Lissa. Ebenfalls glänzende Werte, wenn man nur aufs Papier schaute, er war aber bislang nur den gut strukturierten Schiefer seiner Heimat geklettert und hatte keinerlei Erfahrung mit einer harten, anspruchsvollen Strecke. Außerdem war er ein Barfußkletterer, was sich in den glatten Abschnitten der WAND mit Sicherheit rächen würde.

»Für Uru kann ich dir höchstens vier zu eins anbieten. Er ist immerhin einer der Top-Favoriten. Aber auch bei ihm glaube ich nicht, dass er als Erster oben ankommt.«

»Was weißt du schon?«, entgegnete Dorn leicht beleidigt und gab Lissa seinen Einsatz.

»Ich habe euch gewarnt«, sagte sie leise zu sich selbst und schnippte fünf weitere Bronzedogs in die Kasse.

Am Ende war es ihr einerlei, auf welches falsche Pferd die Steinbrüchler setzten. Sie würde für ihre Dienste so oder so einen kleinen Anteil aus dem Topf erhalten, wenn der Wettbewerb vorbei war.

Als sie eine halbe Stunde später mit allen Gästen durch war, quoll die Metallkassette geradezu über vor Geld. Es war nicht viel, aber es würde vermutlich für einen kleinen Ballen roten Stoffs reichen, aus dem sich ihre Mutter die Vorhänge nähen könnte, die sie sich so sehr wünschte.

Stopp, Lissa, so was darfst du nicht mal denken!

Natürlich wusste sie, dass sie den kargen Lohn der Kumpel nicht anrühren durfte. Auf der anderen Seite musste denen selbst klar sein, dass sie ihr Geld nie wiedersehen würden, bei den lausigen Tipps, die sie abgegeben hatten.

»Danke, Fräulein Orlando, ab hier übernehme ich.« Es war Big Bennie, der Inhaber des Pubs. Er nahm die Kasse an sich und schloss sie in ein Schränkchen, das über der Theke hing. An ihn würde der beträchtlichste aller Anteile gehen, aber wegen der Trinkfreudigkeit seiner Kunden floss letztlich so oder so all ihr Geld in seine Taschen.

»Und jetzt machst du gefälligst Feierabend! Dein Vater braucht dich.«

2

Derin Orlando wollte sich nichts anmerken lassen. Er richtete sich in seinem Bett auf und lächelte Lissa an. Sie sah, dass es ihm große Mühe bereitete.

»Meine kleine Sonne! Komm her und drück deinen alten Dad mal.«

Lissa nahm all ihren Mut zusammen und setzte sich neben ihren Vater. Sie wusste, wie es um ihn stand, und als sie ihre Arme um seinen ausgemergelten Körper schlang, fühlte sie es auch. Er hatte stark an Gewicht verloren, und seine Lunge klang wie der stotternde Motor des Stromgenerators.

»Nicht weinen, Schätzchen. Das wird schon wieder.«

»Du brauchst einen Arzt, Dad.«

»Doc Jennar war heute Morgen hier.«

»Einen echten. Einen Arzt aus der Stadt. Und Medikamente.«

»Du weißt, dass wir uns das nicht leisten können.«

Gerade als Lissa etwas erwidern wollte, kam ihre Mutter durch die Tür. Sie trug einen Topf mit Suppe, schenkte Derin etwas davon in einen Teller und reichte ihm diesen.

»Was wäre ich nur ohne euch zwei?«, sagte er. »Lornia, könntest du mir noch etwas Salz aus der Küche holen?«

»Natürlich«, antwortete sie, strich Lissa zärtlich über die Wange und verließ das Zimmer.

Ihr Vater zeigte auf den dampfenden Teller. »Willst du was davon?«

»Big Bennie hat mir im Pub ein Sandwich gemacht«, log Lissa, woraufhin ihr Vater die Suppe in die kleine Zimmerpflanze goss, die neben ihm auf dem Tisch stand. So wie sie ihren Kopf hängen ließ, musste sie schon einige Portionen verabreicht bekommen haben.

»Schau nicht so schockiert. Deine Mutter weiß genau, dass ich im Moment nichts runterkriege. Es ist eine Art stilles Abkommen zwischen uns.«

»Dad, du musst was essen!«

»Wie läuft’s unten im Pub?«, wechselte ihr Vater das Thema. »Setzen die Dummköpfe ihr Geld immer noch so treffsicher in den Sand?«

Lissas Gesicht hellte sich ein wenig auf. »Eher scheißt eine Bergzicke Gold, als dass einer ihrer Gäule als Erster durchs Ziel geht.«

Derin Orlandos Lachen verwandelte sich in ein trockenes, langanhaltendes Husten. Aus den Augenwinkeln sah Lissa den Napf, der unter seinem Bett stand, und den Derin ganz offensichtlich vor ihr verstecken wollte. Es war ihr bewusst, dass ihr Vater dort sein Blut hineinspuckte. Eine Träne lief über seine Wange, und er setzte hastig ein weiteres verunglücktes Lächeln auf.

»Hilf deiner Mutter ein bisschen im Haushalt, ja? Sei so gut.«

Lornia Orlando saß am Tisch in der kleinen Küche. Ihre Augen waren geschlossen. Sie schien hoch konzentriert zu sein.

»Betest du?«

»Einer in der Familie muss das ja für uns tun.«

»Das ist verboten, das weißt du.«

Lornia öffnete die Augen und blickte ihre Tochter ernst an. »Wer sollte mich denn verraten?«

Lissa wusste nicht viel über Religion. Nur dass es unter Strafe stand, eine zu praktizieren. Und besonders jene, die ihre Mutter ausübte, war dem Zarregenten und seinen Ratsherren ein Dorn im Auge. Sie war neu, gerade erst im Entstehen, im Aufkeimen, wie einige Leute unten im Tal hinter vorgehaltener Hand flüsterten, und genau deshalb hielten die Oberen sie auch für so gefährlich. Sie wollten sie unter Kontrolle bringen, bevor sie sich ausbreiten konnte wie ein Lauffeuer. Denn der Glaube konnte bekanntlich Berge versetzen. Menschen zusammenführen. Und ganze Systeme stürzen.

»Mom, die Zarenregierung hat ihre Spitzel überall. Wenn jemand mitkriegt, dass du eine von diesen … diesen Libertisten bist, dann buchten die dich ein. In den Nachrichten heißt es, dass die Libertisten Bombenanschläge in ein paar großen Städten verübt haben. Sogar in Memento City.«

Ihre Mutter schaute angewidert auf. »Das sind Terroristen, Liss. Die machen das im Namen des Glaubens, aber sie verstehen ihn ja nicht mal. Echte Libertisten sind friedlich. Mit diesen Gewalttätigen habe ich nichts zu tun.«

»Ich weiß, Mom. Ich will ja nur, dass du vorsichtig bist.«

Lissa stand auf und zog die alten, löchrigen Vorhänge zu.

Sie selbst hatte keine besondere Meinung zu diesem Thema. Ihr Vater hatte ihr die handfesten Dinge des Lebens beigebracht, wie das Klettern, das Reparieren oder das Fluchen, ohne das man hier in der Gegend nicht weit kam. Lesen, Schreiben und Rechnen hatte sie von ihrer Mutter gelernt. Doch mit der Religion war diese bei Lissa gescheitert. Als Tochter eines Bruchsteigers und Status-0-Inhaberin gab es ohnehin nicht viel Hoffnung auf einen wie auch immer gearteten Aufstieg, und spätestens seit dem Tod ihres älteren Bruders Wedd war es Lissa unmöglich, an eine höhere Macht zu glauben, die sie alle beschützen und die Dinge zum Besseren wenden würde. Wenn man sie gefragt hätte, dann hätte sie womöglich geantwortet, dass Sportwettbewerbe ihre Religion seien. Und da natürlich vor allem die WAND.

Sie verschlang alles über die WAND, über ihre Geschichte und ihre Teilnehmenden, was sie in die Finger bekommen konnte. Das meiste waren Zeitschriftenartikel und Poster, die Cern ab und zu aus Caldera, der nächstgrößeren Stadt, mitbrachte, und die sie sorgsam nebeneinander in ihrem Zimmer aufgehängt hatte, geordnet nach Bestleistungen und Teams, aber auch nach besonders spektakulären Szenen und Ereignissen, wie dem Beinahe-Doppelsieg von Delacroix und Schuster vor vier Jahren, oder der einen grausamen Saison, in der alle Athleten wegen eines Sturms abgestürzt waren und es keinen Gewinner gab. Da Derk Reval aber so einen immensen Vorsprung gehabt hatte, waren die Verantwortlichen gnädig gewesen und hatten seinen Namen dennoch posthum in den Sockel der WAND meißeln lassen. Ein Kreuz dahinter erinnert bis heute daran, dass er nicht wirklich der 18. Sieger des Wettbewerbs war, als der er zwischen den echten Champs ausgewiesen wurde.

»Dein Vater wird sterben.«

Lissa setzte sich neben ihre Mutter. »Sag das nicht.«

»Er weiß es. Ich weiß es. Und du weißt es auch.«

Lissa nahm die Hand ihrer Mutter. Dann fingen beide an zu weinen.

In dieser Nacht hatte Lissa einen schrecklichen Traum. Sie kletterte die WAND empor, es war finster, und sie war völlig allein. Als sie unter sich schaute, sah sie einen schwarzen Abgrund. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass Wasser aus ihm nach oben stieg. Wasser, das sie überspülen und in dem sie schließlich bis auf einen tiefen, einsamen Grund sinken würde. Lissa kletterte schneller. So schnell wie sie nur konnte. Doch es half nichts. Sie spürte das Wasser schon an ihren Knöcheln. Sie blickte ein zweites Mal hinab, und was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Es war ihr Vater. Er war blau angelaufen und aufgedunsen. Seine Zähne waren schwarz und faulig. Lissa schaute über sich. Die WAND war endlos. Sie wusste, dass sie es unter keinen Umständen bis nach oben schaffen würde. Im selben Augenblick begriff sie auch, dass es nicht das Wasser war, das sie fühlte, sondern die eiskalten Hände ihres Vaters, die sie an den Knöcheln packten. Mit einem Ruck hatte er sie von der WAND geholt und mit sich ins Wasser gezogen. Lissa, die nicht schwimmen konnte, strampelte um ihr Leben. Es half nichts. Die dunklen Wassermassen schlossen sich über ihrem Kopf. Sie bekam keine Luft mehr. Sie ging unter.

Schreiend erwachte Lissa. Nach einigen Sekunden der Orientierungslosigkeit schaltete sie das Licht neben ihrem Bett ein. Sie war schweißgebadet. Ihr kleiner Wecker zeigte kurz nach drei Uhr in der Nacht. Sie hielt den Atem an, fühlte, wie ihr Herz hämmerte, und horchte, ob jemand ihren Schrei gehört hatte. Da alles ruhig blieb, atmete sie einmal langsam aus, stand danach auf und nahm ihre Jacke vom Haken. Dann zog sie ihre Schuhe an und ging nach draußen.

Sie hatte einen Entschluss gefasst.

3

Es war eine der gefährlichsten Parkour-Strecken, die man sich ausmalen konnte. So kurz vor den Wettbewerben zog ihr Trainer das Tempo noch einmal mächtig an, erhöhte den Schwierigkeitsgrad von Tag zu Tag, und ließ Deniel und seine Teamkameraden die härtesten Wege und Wände der Stadt bewältigen.

Die Suburbs von Memento City waren durchzogen von Zäunen, maroden Mauern, Pfeilern und Säulen, von heruntergekommenen U-Bahneingängen und Treppenschächten, die mal nach oben auf eine der Zugbrücken, mal nach unten in Richtung der Docks führten. Die Häuser waren alt und verfallen, egal ob flach oder hoch, fast alle sahen sie aus wie bröckelnde Zähne, die man ihren Besitzern am besten allesamt aus dem Mund hätte schlagen sollen, bevor ihre Fäulnis auf den Nachbarzahn überspringen konnte.

»Los, Leute!«, rief Deniel hechelnd und schaute auf die Uhr an seinem Handgelenk. »Wir liegen nicht besonders gut in der Zeit.«

Es war halb vier am Morgen, und im Osten dämmerte es bereits. Während im inneren Ring noch jede Menge Partys gefeiert wurden, lagen die meisten Menschen im äußeren Rest von Memento City entweder in den Federn oder erhoben sich zur Frühschicht. Nur wenige waren auf den Straßen unterwegs, und die Lichtverhältnisse waren, gelinde gesagt, anspruchsvoll. Perfekte Trainingsbedingungen.

Nachdem Deniel seine Mitstreiter an sich vorbeigewunken hatte, setzte er sich wieder in Bewegung. Es dauerte nicht lange, da hatte er zwei von ihnen erneut überholt. Er war der Schnellste im Team, jedenfalls über kurze Strecken, dazu verfügte er über eine ausgezeichnete Sprungtechnik und kräftige, von Sehnen durchzogene Arme. Beste Voraussetzungen für die ersten beiden Drittel der WAND. Allerdings mangelte es ihm etwas an Ausdauer, was sich dadurch bemerkbar machte, dass er nur drei Minuten später deutlich zurückfiel und die gerade erst Eingeholten ziehen lassen musste. Er gab alles, um nicht den Anschluss zu verlieren, doch als er an der Rückseite der großen Wäscherei angekommen war, sah er, dass die anderen schon fast die Hälfte der Backsteinwand geschafft hatten. Deniel spuckte in die Hände und kletterte los.

»Hey, Den, von hier oben siehst du echt winzig aus.« Es war die Stimme seines Freundes Riggs, die aus luftiger Höhe kam.

»Wie eine Ameise«, fiel ein Junge namens Seus mit ein.

»Nur sind Ameisen bessere Kletterer«, lachte Zel.

Deniel lächelte. »Na wartet.«

Er atmete einmal tief durch und zündete den Turbo. Seine Finger griffen flink und sicher in Fugen und Löcher, ertasteten intuitiv jeden Halt, und doppelt so schnell wie seine Kameraden erklomm er die Wand.

»Nicht schlecht«, sagte Zel, als Deniel mit ihm auf gleicher Höhe war. »Aber das Tempo hältst du nie lange durch.«

»Muss ich auch gar nicht«, zwinkerte Deniel und zog Zel die Hose herunter.

»Was zum …«, rief dieser und fasste sich reflexartig an sein Hinterteil, sodass er sich nur noch mit einer Hand festhalten konnte.

»Lass dich mal nicht so hängen«, lachte Deniel und preschte tollkühn an ihm vorbei.

Sein nächstes Opfer war Seus. Deniel packte dessen linken Fuß und schob ihn unsanft zur Seite.

»Verdammter … Parasit«, schnaubte Seus wütend und versuchte, Deniel von der Wand zu treten. Sie respektierten die Talente des jeweils anderen. Das war es aber dann auch schon. Freunde würden sie mit Sicherheit nicht mehr werden.

Nachdem Deniel zwei weitere Teammitglieder, Oqua und Merliott, überholt hatte, gab es nur noch Riggs. Der war bereits auf dem Dach angekommen und grinste Deniel von dort oben mit in die Luft gestreckten Armen an. »Und der Gewinner ist …«

»Du bestimmt nicht«, keuchte Deniel.

Er benötigte drei Züge, dann hatte auch er das Flachdach erreicht. Er sprang über die Brüstung, rannte auf die andere Seite und schaute nach unten. Eine Feuerleiter führte in die Tiefe. Riggs hatte sie bereits benutzt, denn jetzt grinste er Deniel von der Straße an. Der drehte sich ohne nachzudenken um, ergriff die Leiter rechts und links und rutschte sie quietschend hinab.

»Grüß mir die Toten, wenn du sie siehst!«, rief Riggs. Ein Spruch, der an der WAND äußerst populär war. Und der in aller Regel von einem sich über einem anderen Athleten befindlichen Kletterer gebraucht wurde, kurz bevor dieser dem Unteren ins Gesicht trat. Riggs rannte los.

»Ich richte keine Grüße aus, die du selbst überbringen kannst«, antwortete Deniel, als er mit den Füßen auf dem Boden aufkam. Ein weiterer Spruch, den die Kletterer an der WAND benutzten. Es gab eine Menge beliebter Rituale, sowohl für die Zuschauenden als auch für die Sportler.

Deniel spurtete Riggs hinterher. Er sprang über eine Treppe, rollte sich ab und hechtete dann unter einem Geländer hindurch auf den von Rissen übersäten Gehweg. Riggs’ Vorsprung schmolz. Nur noch wenige Meter, dann hätte Deniel seinen Freund eingeholt. Doch Riggs war schneller als er, und Deniel spürte, dass seine eigenen Kräfte langsam nachließen. Er hatte bereits alle Reserven angezapft, und nun war nichts mehr übrig. Das eine Körnchen zu viel, von dem die Sportler immer wieder sprachen. Die einzige Möglichkeit, Riggs doch noch zu besiegen, war …

»Abkürzung!«, schrie er, während Riggs eine rostige Wendeltreppe zu den Docks hinabrannte. Deniel hatte eine andere Idee. Er sprang in vollem Lauf ab und klammerte sich an eine Laterne, die neben der Treppe stand. Dann ließ er sich am Pfahl nach unten gleiten und erreichte im selben Moment wie Riggs die Stelle neben der Laterne, an der ihr Trainer auf sie wartete und seine Stoppuhr drückte.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte der zu Riggs. »Du bist der Sieger des frühen Morgens.«

»Hey, Coach, das ist unfair!«, moserte Deniel. Er stemmte hechelnd seine Hände in die Hüften. »Wir waren mindestens gleichauf.«

Coach Jurugama zeigte mit dem Finger auf Deniel und die hinter ihm nach und nach ins Ziel kommenden Jungs. »Mit dieser Leistung wärt ihr alle an der WAND eine herbe Enttäuschung. Oder tot.«

Seus schubste Deniel grob zur Seite. »Deinetwegen wäre ich wirklich fast gestorben. Dummes Arschloch!«

»Du musst auf alles vorbereitet sein«, sagte Jurugama ernst. »Nur einer kann gewinnen.«

»Wie auch immer«, japste Zel. »Ich brauche jetzt erst mal eine Pause.«

»Du machst eine Pause, wenn ich es dir sage«, schimpfte der Coach. »Jetzt noch eine Runde.«

Die Jungen tauschten irritierte Blicke aus.

»Schaut nicht wie eine Horde Schafe!« Jurugama drückte auf einen Knopf an seiner Uhr. »Die Zeit läuft.«

4

Das Innere des Pubs war dunkel, so wie die umliegenden Häuser und Geschäfte. Auf den von schwachem Laternenlicht beschienenen Straßen befand sich keine Menschenseele. Ein Schatten huschte von einer Seite auf die andere und blieb schließlich am Hintereingang des Pubs stehen.

Lissa wusste genau, wie sie den verbogenen Knauf drehen und den Holzpfosten dabei vorsichtig mit der Hand bearbeiten musste, damit die alte Tür aufsprang.

Drinnen nahm sie den Schlüssel vom Tresen, öffnete das Schränkchen, in dem Big Bennie die kleine Schatulle aufbewahrte, und schloss sie auf.

Als sie das Geld darin sah, musste sie schlucken. Es waren die Bronze- und Silberdogs ihrer Kollegen und Freunde, dazu ein paar Scheine, Geld von Menschen, die sie seit ihrer Geburt kannte, und die ihr, trotz Lissas manchmal spröder Art, vertrauten.

Sie seufzte einmal leise und nahm das Geld aus der Kasse. Dann legte sie einen Zettel hinein. Nur die wenigsten Arbeiter waren imstande zu lesen. Big Bennie aber konnte es.

Die Sterne funkelten hoch über dem Steinbruch, und in der Ferne erhob sich ein schwaches Rosa. Lissa stand auf der Spitze des Berges. Sie atmete die Luft ein, die um diese Zeit noch angenehm frisch war. Den Abhang hinunter erblickte sie die kleine Bahnstation. Nur selten wurden von dort Personen befördert, jeden Tag aber fuhr Cern den alten Marmorzug nach Memento City und spät abends wieder zurück, und alle zwei Wochen sogar noch weiter bis nach New Versailles.

Sie stieg den Berg hinab, an manchen Stellen mehr kletternd als laufend, bis sie nach ein paar Minuten die Gleise erreicht hatte. Die Schienen hier waren dreigleisig, denn der Marmorzug war voll beladen viel zu schwer für eine der normalen, alten Strecken, von denen noch einige – wenn auch häufig mittendrin unterbrochen – durch die Botwüste führten. Darüber hinaus war er breiter als ein gewöhnlicher Zug, angeführt von einer flachnasigen, halbverglasten Führerlok, die 30 in der Fläche rechteckige, offene Waggons hinter sich herzog, jeder wegen seines Gewichts mit einer zusätzlichen dritten Räderreihe in der Mitte unter sich.

Lissa spähte in alle Richtungen. Wie erwartet, waren keine Verlader zugegen. Um diese Zeit, kurz bevor der Zug um halb fünf abfahren würde, waren die riesigen, tonnenschweren Marmorplatten bereits auf den Waggons abgelegt und mit Sicherungsseilen verschnürt worden, und die Arbeiter hatten ihre Nachtschicht beendet und waren müde nach Hause gegangen.

Genau in diesem Moment gingen die Lampen am Zug an, und ein lautes, metallenes Ächzen erfüllte die Luft. Lissas Magen krampfte sich unwillkürlich zusammen, und sie hielt den Atem an. Als einige Sekunden lang nichts weiter passierte, entspannte sie sich wieder und lugte längs am Zug vorbei. Auch im Führerstand brannte nun Licht. Sicherlich war das Cern, der pünktlich wie ein Uhrwerk die Systeme durchcheckte.

Lissa drückte sich mit ihrem Rücken an die Außenwand und schob sich ganz langsam Meter für Meter nach vorne, bis sie eine kleine Leiter erreichte. An dieser stieg sie hinauf auf eine der Plattformen und versteckte sich zwischen zwei Steinstapeln. Dort blieb sie, kauernd und still, bis der Zug die Bahnstation verlassen hatte.

Zunächst fuhren sie durch lang gezogene Tunnel das Gebirge hinab bis ins Friedenstal, wo einige Bauern bereits ihre kargen Felder bestellten. Die ersten Sonnenstrahlen durchzogen einen gelblichen Himmel. Nur wenige Stunden noch, dann würde es auch hier unten wieder so heiß und trocken sein wie die vielen Wochen zuvor.

Lissa dachte an die defekten Wettersatelliten und fantasierte davon, wie sie diese mittels einer von ihr mit der Siegesprämie von der WAND finanzierten Flugdrohne reparieren würde, und die Menschen vom Berg und aus dem Tal ihr daraufhin bei einer ausgelassenen Feier zujubelten und Handküsse zuwarfen, doch als sie merkte, dass sie nur döste und nichts von alledem real war, schüttelte sie sich und somit ihren Traum ab wie ein nasser Stubentiger das Wasser aus seinem Fell, und sie befahl sich, fortan wach und vor allem auf der Hut zu sein. Auch wenn es selten vorkam, so konnte es doch jederzeit Kontrollen geben.

Nachdem sie das Tal Richtung Nordosten verlassen hatten, wechselte das Klima. Der Himmel bedeckte sich. Am fernen Horizont zogen pechschwarze Wolken auf, aus denen es in unregelmäßigen Abständen grell blitzte oder grünlich wetterleuchtete. Ein kalter Wind zog auf, und sie presste sich stärker an den Marmor, der zwar keinerlei Wärme spendete, aber doch etwas Schutz bot.

Eine Stunde verging. Dann noch eine. Schließlich verließ der Zug die gewittrige Gegend, beschrieb eine ausladende Kurve nach links, und als eine weitere Stunde vergangen war, erreichten sie die Ausläufer der Botwüste.

Diese machte ihrem Namen alle Ehre. Nach nur wenigen Kilometern sah Lissa bereits die ersten leblosen Körper. Sie wirkten menschlich, auch wenn sie auf skurrile Art verdreht waren, ihre Leiber von bläulich schimmerndem Sand bedeckt.

Es waren keine Menschen. Es waren Androiden. Hunderte. Tausende. Legionen. Und alle waren sie tot, wenn man bei solcherlei Maschinenwesen überhaupt von tot oder lebendig sprechen konnte. Seit neunzig Jahren lagen sie hier und verwitterten, auch wenn es bei ihnen erheblich länger dauerte als bei rein auf Kohlenstoff basierenden Lebewesen.

Lissa fröstelte es erneut, doch dieses Mal war nicht die Temperatur daran schuld. Natürlich kannte sie die Geschichten über die Botkriege, allein in Bennies Pub wurden bis heute unzählige erzählt, doch erst jetzt, als sie mit eigenen Augen sah, dass es sich nicht um bloße Legenden aus einer längst vergangenen Epoche handelte, wurde ihr das ganze Ausmaß der Tragödie bewusst, ein wuchtiger Schlag der Geschichte mitten in die Magengrube ereilte Lissa, und sie bekam eine Gänsehaut.

Je weiter der Zug in die Wüste vordrang, desto mehr Spuren des großen Krieges kamen zum Vorschein: Verstaubte Flugzeugwracks und von Hitze und Wind zerfressene Militärfahrzeuge, ganze Angriffsbasen lagen noch halb sichtbar unter Tonnen von Wüstensand vergraben, und dann waren da immer wieder die grotesken Gesichter der abertausend kreuz und quer verteilten Androidensoldaten, deren Ausdruck sie so sehr an Menschen erinnerte, dass sie nach einer Weile nicht mehr hinschauen mochte. Nur unter Aufbietung aller Kräfte und unsäglichen Verlusten, die in die Milliarden gingen, hatte die Menschheit die aufständischen Andros damals besiegen können. Diese Ödnis hier war ein Mahnmal dafür. Und künstliche Intelligenz seither verboten und aus der Welt getilgt.

Nachdem sie die letzten Ausläufer der Botwüste hinter sich gelassen hatten, wurde das Klima gemäßigter. Grüne Regionen mit Gräsern und Bäumen tauchten nun immer wieder auf, Bauernhöfe, Felder, Wiesen und Weiden mit Nutzvieh, das so gut genährt aussah, dass Lissa annahm, die Tiere bekämen mehr zu essen als die Menschen in Bethlom.

Und schließlich sah sie in der Ferne die Skyline von Memento City. An den Rändern noch flach, wuchs die Stadt zur Mitte hin in die Höhe und Hochhäuser bildeten sich zu gewaltigen Wolkenkratzern aus, deren verspiegelte Fassaden verheißungsvoll im Sonnenlicht glitzerten. Nichts aber konnte den Anblick der WAND übertreffen. Sie erhob sich aus dem Zentrum Memento Citys und überragte den Rest wie ein Bauwerk aus einer anderen Welt. Einer Welt, in der Riesen die Baumeister waren.

Auch wenn Lissa keine Angst hatte, so verspürte sie dennoch einen leichten Schwindel. Natürlich hatte sie die WAND schon oft gesehen, im Fernsehen, und Dutzende Poster von ihr zierten Lissas Zimmer, doch wie bereits beim Anblick der Botwüste durchlief sie ein eigenartiger Schauer, als sie die Stadt und ihr Wahrzeichen nun zum ersten Mal mit den eigenen Augen erblickte.

»Einfach gigantisch«, flüsterte Lissa mit einer Mischung aus Bewunderung und Schrecken. Zwar war sie ein Fan, seit sie denken konnte, doch wusste sie auch um die unzähligen Athleten, die an der WAND ihr junges Leben verloren und ihre Familien in unsäglicher Trauer zurückgelassen hatten. Für gewöhnlich dachte sie aber an die erfolgreichen Absolventen des Wettkampfs, an die Choys, Akintolas und Moneymakers. An jene, die das große Geld gewonnen und ewigen Ruhm erlangt hatten, und deren Namen allesamt in den Sockel der WAND gemeißelt waren. Direkt unter dem großen Schriftzug Der Himmel erwartet dich. Es war der Abschnitt, der daran erinnern sollte, dass die WAND ein Felsen war, den es zu bezwingen galt. Dass sie bereits nach fünf Metern in solides Metall überging, tat der symbolischen Idee – Mensch gegen Natur – keinen Abbruch.

Obwohl die Sonne schon in Kürze ihren absoluten Zenit erreicht haben würde, waren die Temperaturen äußerst angenehm. Anders als bei ihr zu Hause, schien das Wettersystem einwandfrei zu funktionieren. Kein Wunder, schließlich lebte im Zentrum der Stadt die reiche Oberschicht, zu der unter anderem berühmte Menschen aus Showbiz, Politik und Sport sowie Geschäftsleute gehörten. Dorthin würde auch Lissa nun gehen.

5

Noch zwei Wochen bis zur WAND. Holen Sie sich jetzt das Extra-Abo für visuellen Zugriff auf jede einzelne Flugdrohne, die das Spektakel überträgt! Für einmalige 9 Dogglars 99. So nah an die WAND … kommen sonst nur die Athletinnen und Athleten ran!

Die voll aufgedrehte Stimme des Werbesprechers hallte über den staubigen Bahnhof. Zwar war dies nur die südliche Güterstation von Memento City, an der sich meist nicht mehr als eine Handvoll Zug- und Lastwagenfahrer trafen, dennoch gab es auf dem sandigen Platz, der sich nördlich der Zubringer im Licht der Mittagssonne nach und nach aufwärmte, ein paar Bänke, einen Kiosk und – was offensichtlich nirgends fehlen durfte – einen riesigen Monitor, der am oberen Ende eines metallenen Mastes über dem Bahnhofsgelände prangte und fortwährend in bunten Bildern und der Lautstärke einer entgleisenden Lore das bevorstehende Großereignis bewarb.

Lissa lugte durch einen der Zwischenräume der seitlichen Zugwände, als plötzlich von irgendwoher eine tiefe Sirene dröhnte, die Lissa zusammenzucken ließ. Rasch drehte sie sich um und spähte auf der anderen Seite zwischen der Bretterwand hindurch. Was sie sah, war äußerst beunruhigend: Vier Soldaten der innerstädtischen Truppen patrouillierten neben den Gleisen und steckten alle naselang ihre Köpfe in irgendeinen Waggon. Nur noch ein paar dieser Stichproben, dann würden sie hier sein und womöglich auch den Marmortransport genauer unter die Lupe nehmen. Gar nicht gut. Lissa sprang aus dem Waggon in den Staub, schlich sich ein paar Meter am Zug entlang und sprintete dann im 90-Grad-Winkel über die Gleisanlage. Schneller als die Kontrolleure überhaupt gucken konnten, war sie zwischen den Lagerhallen verschwunden.

Jump!, röhrte die Stimme in seinem Kopfhörer. Beinahe schrie sie es.

Might as well jump

Go ahead and jump

Get it and jump

Go ahead and jump

Deniel hatte keine Ahnung, von welcher Band der Song stammte, was eine record machine war, von der darin gesungen wurde, oder wie man ein so rasantes Gitarrensolo spielen konnte. Er wusste nur, dass das Lied älter war als der Krieg, viel älter noch, und dass es ihn in einer Art und Weise ansprach und motivierte, wie es nicht mal Coach Jurugama konnte. An manchen Stellen bekam er eine Gänsehaut, und er spürte regelrecht, wie er dank der Musik nun manch Hindernis beinahe mühelos überwand.

Natürlich hatte er auch neue Musik auf seinem Smallflat, Songs von Futasma, Gretchen Thorne oder Krøne, aber es war vor allem der Vorkriegssound, der Deniel faszinierte, war er doch gleichermaßen antreibend wie inspirierend und von einer geheimnisvollen Aura umgeben.

Er schaute auf die digitale Anzeige. »Na gut … Van Halen … dann tue ich doch mal, was du mir sagst.«

Deniel sprang aus vollem Lauf über die fast zwei Meter breite Lücke im Boden des metallenen Geländers, das sich um einen der beiden riesigen, verrosteten Gastanks des Südviertels schlängelte. Mit einem dumpfen Klonk kam er sicher auf der anderen Seite auf.

Dieses Mal lag Deniel in Führung. Er hatte einen Vorsprung von gut einer Minute auf Riggs, hinter dem wiederum ihre anderen Teamkameraden in unterschiedlichen Abständen auf der Strecke verteilt waren. Nach einem längeren Nickerchen am Vormittag war Deniel mit jeder Menge neuer Energie erwacht. Außerdem hatte er sich seine Kräfte viel besser eingeteilt als bei den beiden Testrennen am Morgen. Und die epische Rockmusik, die aus seinen Ohrhörern dröhnte, tat ihr Übriges.

… nothin’ gets me down …

Er rannte eine Rampe hinab und erhöhte die Geschwindigkeit. Dann spannte er seine Muskeln an, um ein weiteres Mal zu springen. Im selben Moment prallte er mit etwas zusammen und wurde äußerst unsanft von den Beinen geholt.

Deniel wand sich im Staub hin und her und hielt sich seine Wade.

»Kannst du nicht besser aufpassen?« Die Stimme gehörte einem Mädchen, das neben ihm auf dem Boden lag und sich ebenfalls vor Schmerzen krümmte.

»Ich?«, fragte Deniel benommen. In seinem Kopf drehte sich alles. »Du bist doch in mich hineingelaufen!«

Lissa spuckte ein wenig Kies aus und fuhr sich anschließend mit der Zunge ein paar Mal über die Lippen. Wütend blitzten ihre Augen ihn an. »Ich bin ganz normal hier langge…«

»… rannt!«

»Jedenfalls bist du …«

»Ja?«, entgegnete Deniel und hob mehrmals auf provozierende Art sein Kinn. »Ich höre. Was bin ich denn?«

»Du bist Deniel«, sagte Lissa nach einer kurzen Pause irritiert. Jedweder Zorn war urplötzlich aus ihr verschwunden und ehrlicher Neugier gewichen. »Du bist Deniel Tofanes.«

»Und du ein ziemliches Trampeltier, weißt du das?«

Er versuchte aufzustehen, doch eine Hand drückte ihn wieder zu Boden.

»Oh Mann, Alter, der Coach wird dich schön zur Schnecke machen.« Es war sein Freund Riggs, der ziemlich außer Atem, aber bester Dinge war. »Obwohl«, lachte er. »Das bist du ja schon.« Er drehte sich um und begann im Rückwärtsgehen zu tänzeln, wobei er im Wechsel mit seinen beiden Zeigefingern auf Deniel schoss und dann mit einem pfeifenden Geräusch so tat, als würde er sie ausblasen. »Grüß mir die Toten, wenn du sie siehst.«

»Ich richte keine Grüße aus, die du selbst überbringen kannst«, flüsterte Lissa reflexartig und starrte Riggs noch einen Moment lang hinterher. »Hey, weißt du, wer das war?«

»Natürlich weiß ich das«, brummte Deniel. »Das war der Typ, der heute Nachmittag keine Extrarunden laufen muss.«

Deniel war sich im Klaren darüber, dass es keinen Sinn hatte, noch einmal aufzustehen. Er würde Riggs nicht mehr einholen. Nicht jetzt, wo er aus dem Rhythmus war. Und aus seinen Ohrstöpseln kam auch nur noch ein armseliges Rauschen. Kein Wunder, er saß ja auch auf seinem Smallflat, das – wenn es nicht sogar ganz zerbrochen war – mindestens ein paar unschöne Kratzer abbekommen haben musste.

»Ein Päuschen, Tofanes?«, lachte eine weitere Stimme gehässig. Nur einen Wimpernschlag später zischte der dazugehörige Körper vorbei.

»Oqua Khumalo«, sagte Lissa überrascht.

Im selben Moment kam der nächste Junge an ihnen vorbeigerannt. Als er Deniel auf dem Boden sitzen sah, kickte er ihm mit dem Fuß eine gehörige Portion Staub ins Gesicht.

»Das ist Seus Eugnatius. Und dahinter kommt Zel. Zel Bronski.« Lissa blieb der Mund offen stehen. »Ihr seid das Jaguar-Team!«

Deniel seufzte. »Ein Teil davon.«

»Offenbar der Teil, der noch jede Menge zusätzliches Training nötig hat. Bei dir und deinen Werten ist das auch eine sinnvolle Maßnahme, ganz klar. Aber was macht Riggs Greeson hier?« Den Namen sprach Lissa mit deutlich hörbarer Bewunderung aus. »Ich meine, der Typ wird die WAND gewinnen.«

Jetzt wurde es Deniel zu bunt. Nicht nur, dass diese Göre ihn um seinen wohlverdienten Sieg beim Freestyle-Parkour gebracht hatte, jetzt maßte sie sich auch noch an, seine Mannschaft zu … bewerten. »Hör mal, Kleine«, knurrte er zornig, doch weiter kam er nicht.

»Nenn mich nicht Kleine«, herrschte Lissa ihn an. »Du bist gerade mal zwei Jahre älter als ich.«

Deniel atmete einmal tief durch. »Du hast dir unsere Statistiken durchgelesen. Fein. Aber das macht dich noch nicht zum Profi in Sachen …«

»Hey, Den«, rief es plötzlich ganz aus der Nähe. Es war Merliott, der als Vierter an ihnen vorbeizog. »Hast du ein Date, oder was?«

Dann war er auch schon wieder in einer der Seitengassen des Bahnhofsgeländes verschwunden.

Lissa stand auf und klopfte sich den Staub von der Kleidung. »Ich muss weiter«, sagte sie so, als wäre sie auf einer äußerst wichtigen Mission.