Gangster in London - Edgar Wallace - E-Book

Gangster in London E-Book

Edgar Wallace

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Beschreibung

Gangster in London Edgar Wallace - Zwei Gangsterbanden terrorisieren die Reichen Londons. Die "Gesellschaft zur Sicherung wohlhabender Bürger" garantiert den Reichen Londons Sicherheit vorausgesetzt, sie bezahlen dafür. Wer der Aufforderung nicht nachkommt oder gar die Polizei verständigt, wird ermordet. Auch Elias Tanner, ein wohlhabender Bürger, wird erpresst. Seine Sekretärin Lilian Ranger findet dies heraus und verständigt die Polizei. Kurze Zeit später wird Tanner ermordet...

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Edgar Wallace
Gangster in London

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Gangster in London

When the gangs came to London

1932

Kriminal-Roman

Ungekürzte Ausgabe

1

Eine hübsche junge Dame stieg die Stufen zur Haustür von Berkeley Square Nr. 147 hinauf und klingelte energisch. Ihre ungewöhnliche Größe fiel nicht auf, weil ihre Figur durchaus gut proportioniert war. Ihr Gesicht war hübsch, wenn auch nicht im gewöhnlichen Sinne. Alles an ihr verriet eine Persönlichkeit, die weit über dem Durchschnitt stand.

Die Haustür öffnete sich, und ein Diener sah die Dame fragend an.

»Kommen Sie wegen der Stellung ...?«

»Ist der Posten bereits vergeben?«

»O nein! Wollen Sie nicht nähertreten?«

Er führte sie in ein großes, kühles Zimmer, das sie an den Warteraum eines Arztes erinnerte. Nach fünf Minuten erschien er wieder. »Kommen Sie bitte mit.«

Diesmal brachte er sie in die Bibliothek. An den Wänden standen Schränke und Regale, und auf dem Tisch lag eine Menge neuer Bücher.

An dem großen Schreibpult saß ein hagerer Herr, der das junge Mädchen über seine Brille hinweg betrachtete.

»Nehmen Sie Platz! Wie heißen Sie?«

»Leslie Ranger.«

»Sie sind wohl die Tochter eines pensionierten Offiziers oder sonst eines vornehmen Herrn?«

»Nein. Mein Vater war kaufmännischer Angestellter und arbeitete sich zu Tode, um seine Familie anständig durchzubringen«, erwiderte sie und bemerkte, daß seine Augen aufleuchteten.

»Haben Sie Ihre letzte Stellung aufgegeben, weil Ihnen die Arbeitszeit zu lang war?« fragte er barsch.

»Ich habe sie aufgegeben, weil der Chef zudringlich wurde ...«

»Großartig!« erwiderte er ironisch. »Wie ich aus Ihren Zeugnissen sehe, stenographieren Sie unglaublich schnell; und die Handelskammer bestätigt hier, daß Sie vorzüglich maschineschreiben können. Dort steht eine!« Er deutete mit seinem dürren Finger darauf. »Setzen Sie sich und schreiben Sie nach meinem Diktat! Papier liegt auf dem Tisch, Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten – und nervös brauchen Sie auch nicht zu sein!«

Sie spannte ein Blatt in die Maschine und wartete. Gleich darauf begann er außergewöhnlich rasch zu diktieren. Die Tasten klapperten unter ihren flinken Fingern.

»Sie sprechen zu schnell für mich«, sagte sie schließlich.

»Das weiß ich. Kommen Sie wieder hierher!« Er zeigte auf den Stuhl, der dem Schreibtisch gegenüberstand. »Welches Gehalt beanspruchen Sie?«

»Fünf Pfund die Woche.«

»Ich habe bisher nie mehr als drei gezahlt. Ich werde Ihnen vier geben.«

Sie erhob sich und griff nach ihrer Handtasche. »Es tut mir leid.«

»Also gut: fünf Pfund! Welche fremden Sprachen beherrschen Sie?«

»Ich spreche fließend Französisch, und ich kann Deutsch lesen.«

Er schob die Unterlippe vor, was sein Gesicht noch abstoßender machte. »Fünf Pfund sind eine Menge Geld ...«

»Französisch und Deutsch sind eine Menge Sprachen!« entgegnete Leslie.

»Wollen Sie sonst noch etwas wissen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nichts über Ihre Pflichten und über die Arbeitszeit?«

»Nein. Ich nehme als selbstverständlich an, daß ich nicht hier im Haus wohne.«

»Sie wollen also nicht einmal wissen, wie lange Sie zu tun haben? Sie enttäuschen mich nicht. Hätten Sie nämlich danach gefragt, so hätte ich Sie sofort zum Teufel gejagt. Also: Sie sind engagiert! Hier ist Ihr Arbeitszimmer!«

Mr. Elijah Decadon erhob sich, ging zu einer Nische des großen Raums und öffnete eine zurückliegende Tür, die in ein kleines Büro führte. Es war vorzüglich ausgestattet. Ein großer Schreibtisch stand darin, eine Schreibmaschine und in einer Ecke ein großer Safe.

»Morgen früh um zehn treten Sie Ihre Stellung bei mir an! Vor allem haben Sie die Aufgabe, niemand, wer es auch sein möge, telefonisch mit mir zu verbinden. Sie müssen die Leute selbst abfertigen. Ich will nicht durch unnötige Fragen gestört werden. Ferner haben Sie meine Briefe zur Post zu befördern. Und dann noch eins: Sie dürfen meinem Neffen nichts von meinen Geschäften erzählen!« Mit einer Handbewegung zur Tür entließ er sie.

Sie folgte der Aufforderung und hatte die Türklinke schon halb heruntergedrückt, als er sie zurückrief:

»Haben Sie einen Freund, einen Verlobten oder so etwas Ähnliches?«

Sie schüttelte den Kopf. »Halten Sie das für notwendig?«

»Nein – im Gegenteil!« erwiderte er nachdrücklich.

Am nächsten Morgen traf sie Mr. Edwin Tanner, den Neffen ihres Chefs, vor dem dieser sie gewarnt hatte. Er machte einen ruhigen, sympathischen Eindruck und hatte angenehme Umgangsformen. Sein Gesicht war glattrasiert; er lächelte gern und trug eine Goldbrille. Leslie schätzte ihn auf fünfunddreißig Jahre.

Kurz nach ihrer Ankunft trat er in ihr Privatbüro und strahlte sie freundlich an. »Ich möchte mich Ihnen vorstellen, Miss Ranger. Ich bin Edwin Tanner, Mr. Decadons Neffe.«

Sie war etwas verwundert über den amerikanischen Akzent, mit dem er sprach. Er schien ihr Erstaunen als selbstverständlich vorauszusetzen: »Ja, ich bin Amerikaner. Meine Mutter war Elijah Decadons Schwester. Ich vermute, daß er Ihnen verboten hat, mit mir über seine Geschäfte zu sprechen. Das tut er gewöhnlich. Aber da es hier nichts gibt, was nicht alle Leute wüßten, brauchen Sie diese Bemerkung nicht sehr ernst zu nehmen! Ich glaube nicht, daß Sie mich brauchen. Aber falls es doch einmal nötig werden sollte: Ich bewohne das kleine Appartement im oberen Geschoß, und es gehört zu Ihren Pflichten, an jedem Sonnabendmorgen für meinen Onkel die Miete bei mir einzukassieren. Ich wohne sehr nett, aber ich muß feststellen, daß Mr. Decadon durchaus kein Menschenfreund ist. Auf der anderen Seite hat er allerdings auch viele angenehme Charakterzüge.«

Auch Leslie konnte das in den nächsten Monaten feststellen. Seinen Neffen erwähnte Decadon äußerst selten, und nur einmal hatte sie die beiden zusammen gesehen. Sie wunderte sich, warum Tanner überhaupt im Hause seines Onkels wohnte. Allem Anschein nach hatte er ein eigenes großes Privateinkommen und hätte sich eine Reihe von Zimmern in einem guten Londoner Hotel leisten können.

Decadon drückte auch selbst einmal seine Verwunderung darüber aus, aber er war sparsam, um nicht zu sagen geizig, und deshalb kündigte er dem Neffen nicht, obwohl er keinerlei Zuneigung für ihn zu fühlen schien. Er war argwöhnisch Edwin Tanner gegenüber, der offenbar jedes Jahr zweimal England besuchte und dann bei ihm wohnte.

»Er ist der einzige Verwandte, den ich habe«, brummte der Alte eines Tages. »Wenn er ein bißchen Verstand hätte, würde er sich von mir fernhalten.«

»Er scheint doch einen sehr verträglichen Charakter zu haben?« entgegnete Leslie.

»Wie können Sie das sagen, wenn er mich die ganze Zeit ärgert?« fuhr er sie an.

Elijah Decadon hatte seine Sekretärin vom ersten Augenblick an gern gehabt. Edwin Tanner verhielt sich ihr gegenüber objektiv. Er blieb stets gleichmäßig freundlich und zuvorkommend. Trotzdem hatte sie den Eindruck, daß ihr eine Seite seines Wesens vollkommen verhüllt blieb. Der alte Decadon bezeichnete ihn einmal als einen leichtsinnigen Spieler und Spekulanten, ließ sich aber nicht näher darüber aus. Es war merkwürdig, daß er das sagte; denn er selbst hatte sein großes Vermögen durch Spekulationen erworben, die alle mehr oder weniger gewagt, ja leichtsinnig gewesen waren.

Der ganze Haushalt hatte etwas Ungewöhnliches, und Leslie war dankbar, daß sie behaglich in einer eigenen Wohnung leben konnte. Decadon hatte unerwartet ihr an und für sich schon hohes Gehalt nach einer Woche verdoppelt.

Sie machte einige seltsame Erfahrungen. Decadon war etwas unachtsam und verlegte oder verlor häufig Gegenstände. Manchmal waren es kostbare Bücher, manchmal Wertpapiere oder Verträge. In solchen Fällen benachrichtigte er sofort die Polizei. Und stets fanden sich die Gegenstände wieder, bevor die Beamten erschienen.

Als Leslie das zum erstenmal miterlebte, erschrak sie sehr. Ein seltenes unheimlich wertvolles Manuskript war verschwunden. Während sie eifrig in allen Schubladen suchte, telefonierte Decadon schon mit Scotland Yard. Kurz darauf kam der noch sehr junge, hübsche Chefinspektor Terry Weston. Wie gewöhnlich, hatte sich das verlorene Manuskript inzwischen in dem großen Safe in Leslies Büro gefunden.

»Mr. Decadon«, bemerkte Terry freundlich. »Diese Marotte von Ihnen kostet den Staat eine Menge Geld!«

»Wozu haben wir denn überhaupt eine Polizei?« fragte der alte Mann brummig.

»Jedenfalls nicht dazu, um vergeßlichen Leuten verlorene Dinge suchen zu helfen.«

Decadon räusperte sich ärgerlich und ging in sein Wohnzimmer, wo er den Rest des Tages in einer recht unfreundlichen Stimmung zubrachte.

»Ihnen kommt das alles sicher komisch vor, Miss?«

»Ja, Mister –«

»Chefinspektor Weston – Terry Weston. Ich wage nicht vorzuschlagen, daß Sie mich ›Terry‹ nennen.«

Sie lächelte, sein ungezwungen heiteres Wesen wirkte ansteckend. Niemals hätte sie sich einen Polizeibeamten so menschlich und freundlich vorgestellt.

Auch er interessierte sich von Anfang an lebhaft für sie und traf sie natürlich wieder. Sie nahm ihr Mittagessen gewöhnlich in einem kleinen Restaurant in der Bond Street ein. Eines Tages erschien er in diesem Lokal und nahm ihr gegenüber Platz. Die Begegnung war nicht zufällig, wenigstens nicht von seiner Seite aus. Im Gegenteil, er hatte alles sehr genau ausgekundschaftet.

Ein andermal sah er sie, als sie auf dem Heimweg war. Aber er war klug genug, sie niemals ins Theater einzuladen oder ihr zu zeigen, wie sehr er sich für sie interessierte. Er wußte, daß sie sich dann sofort zurückziehen würde.

»Warum arbeiten Sie eigentlich für den alten Griesgram?« fragte er einmal.

»Er ist doch kein Griesgram!« verteidigte sie Mr. Decadon, aber ihre Worte klangen nicht besonders überzeugt, besonders, da sie sich an diesem Tag mehr als einmal über ihren Chef geärgert hatte.

»Ist Edwin Tanner ein netter Kerl?«

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. »Warum stellen Sie dieses Verhör an?«

»Ach, habe ich das getan? Das tut mir leid. Mein Beruf bringt das mit sich. Ich interessiere mich nicht besonders für Mr. Tanner.«

Leslie hatte im allgemeinen eigentlich wenig zu tun: es waren nur ein paar Briefe zu schreiben, ein paar Bücher zu lesen und über den Inhalt zu berichten. Der alte Decadon war ein großer Bücherfreund und verbrachte die meiste Zeit in seiner Bibliothek.

Der zweite ungewöhnliche Vorfall, den Leslie in ihrer neuen Stellung erlebte, ereignete sich, nachdem sie ungefähr vier Monate für Decadon tätig war. Sie hatte einige Briefe auf der Post einschreiben lassen und wollte eben wieder zur Haustür hineingehen, als ein Mann sie ansprach. Er war klein und trug einen großen, steifen Filzhut; den Rockkragen hatte er hochgeschlagen, es regnete.

»Wollen Sie Ed diesen Brief geben?« fragte er mit amerikanischem Akzent und zog ein Kuvert aus der Tasche.

»Meinen Sie Mr. Tanner?«

»Ja: Ed Tanner.« Er nickte. »Sagen Sie ihm, er komme vom ›Großen‹!«

Sie mußte über seine Worte lächeln. Als sie aber im Lift zum obersten Stock hinauffuhr, wo Edwin Tanner wohnte, zeigte sich dieser nicht im mindesten überrascht.

»Vom ›Großen‹?« wiederholte er nachdenklich. »Wer hat Ihnen denn den Brief gegeben? War es ein kleiner Mann etwa so groß?«

Er legte anscheinend Wert auf eine genaue Beschreibung des Boten. Sie erzählte ihm alles, worauf sie sich besinnen konnte, und erwähnte auch den merkwürdigen steifen Hut.

»Ach, seh'n Sie mal an!« entgegnete Tanner. »Ich danke Ihnen vielmals, Miss Ranger!«

2

»Es gibt zwei vorherrschende Triebkräfte im Leben der Männer: die Liebe und die Furcht vor dem Tode ... Verstehen Sie?« Captain Jiggs Allerman von der Chikagoer Geheimpolizei lehnte sich im Sessel zurück und blies den Rauch seiner Zigarre zur Decke hinauf. Er war groß, schlank und von der Sonne gebräunt wie ein Indianer.

Terry Weston grinste. Er amüsierte sich immer über Jiggs.

»Sagen Sie mal: Sie sind doch Chefinspektor oder so etwas Ähnliches?« fuhr Jiggs fort, »Mir scheint, daß man nächstens hier noch Kinder zu höheren Beamten macht. Wie alt sind Sie denn jetzt, Terry?«

»Fünfunddreißig.«

Jiggs machte ein verächtliches Gesicht. »Das ist eine gemeine Lüge! Wenn Sie älter sind als dreiundzwanzig, dann lasse ich mich totschießen.«

»Immer wenn Sie Ihren jährlichen Besuch in Scotland Yard machen, erzählen Sie denselben faulen Witz. Man könnte doch meinen, daß Ihnen mit der Zeit etwas Neues einfallen sollte? Aber Sie haben eben von zwei Triebkräften im Leben gesprochen ...«

»Ja – Liebe und Tod.« Jiggs nickte eifrig. »Mit der Liebe hat man immer schon viel Geld verdient; aber mit dem Tod haben bisher nur die Ärzte und die Beerdigungsinstitute ihr Geschäft gemacht. Doch passen Sie auf: Das wird jetzt anders, Terry! In den Vereinigten Staaten werden jedes Jahr Unsummen für den persönlichen Schutz wohlhabender Bürger verausgabt. Und was dort drüben ein gutes Geschäft ist, müßte sich auch in England, Frankreich, Deutschland oder sonstwo bezahlt machen. Die Menschen sind überall gleich, und es wird überall mit Wasser gekocht. Jedenfalls: Unsere großen Gangster – ich weiß das – haben sich inzwischen in England umgesehen, und zwar einer aus Chikago und einer aus New York. Und wenn die sich was in den Kopf setzen, führen sie's auch durch. Denn diese Burschen, mit denen ich es drüben zu tun habe, denken in Millionen oder gar in achtstelligen Zahlen. Im vorigen Jahr wollten sie ein neues Geschäft in einem anderen Land aufmachen und haben allein für Vorarbeiten zwei Millionen Dollar ausgegeben. Die Sache rentierte sich dann aber nicht, und so haben sie einfach ihre ganzen Ausgaben auf Verlustkonto gesetzt ... Da staunen Sie, was? Diese Leute könnten jedes Jahr aus England hundert Millionen Dollar ziehen, ohne daß es auffiele.«

Jiggs Allerman war bei seinem Lieblingsthema angelangt. Er hatte sich schon öfters mit Terry darüber unterhalten, der ihm jedesmal widersprach. Persönlich wäre er an dieser besonderen Art von Verbrechen interessiert gewesen, denn er arbeitete in Scotland Yard im Dezernat für Betrug, Erpressung und ähnliche Vergehen.

Kurz darauf ging er mit dem Amerikaner zu Tisch. Er hatte Jiggs Allerman gern und wußte, daß er noch viel von ihm lernen konnte.

Im Grill-Room des Carlton-Hotels erkannte Terry Mr. Elijah Decadon und machte seinen Begleiter auf ihn aufmerksam. »Das ist einer der gemeinsten und gefährlichsten Millionäre, die es auf der Welt gibt!«

»Na – mit dem würde ich schon fertig werden!« erklärte Jiggs. »Und wer ist der dunkle Herr, der bei ihm sitzt? Der kommt mir so merkwürdig bekannt vor ...«

»Sein Neffe. Möglich, daß Sie ihn kennen; er wohnte früher in Chikago. Ist er nicht zufällig mal mit der Polizei in Berührung gekommen?« fragte Terry ironisch.

»Nein, aber das hat nichts zu sagen. Die ganz großen Verbrecher haben selten etwas mit der Polizei zu tun; die eigentlichen Drahtzieher, die hinter den Alkoholschmugglerbanden und ähnlichen Gesellschaften stehen, werden fast nie erwischt. Ach, jetzt fällt es mir ein! Tanner – Ed Tanner heißt der Mann! Ein durchtriebener Junge ... Hab' mich schon oft gewundert, woher er das viele Geld hat. Aber sagten Sie nicht eben, sein Onkel wäre Millionär?«

»Von dem hat er es nicht!« erwiderte Terry grimmig.

Der alte Decador drüben saß aufrecht vor seiner einfachen Mahlzeit und sah seinen Neffen böse an. Er war ungewöhnlich groß und stattlich und hatte sich für sein Alter erstaunlich gut gehalten.

»Ich hoffe, du begreifst endlich, daß ich das Geld, das ich besitze, auch behalten will?« sagte er barsch. »Ich möchte nichts von diesen wilden amerikanischen Phantasien hören, durch die die Yankees schnell zu Reichtum kommen wollen.«

»Ich sehe auch keinen Grund, warum du dich damit abgeben solltest, Onkel«, entgegnete Ed gutgelaunt. »Aber ich habe eine private Nachricht über dieses Petroleumfeld erhalten, und ich glaube, daß es ein gutes Geschäft ist. Ich persönlich habe nichts davon, ob du einsteigst oder nicht. Aber ich dachte, du spekuliertest gern?«

»Mit derartig windigen Geschäften will ich nichts zu tun haben!« brummte der Alte.

Die beiden Detektive an der anderen Seite des Speisesaals sahen, wie er aufstand und fortging. Sie nahmen an, er habe sich mit seinem Neffen gestritten.

»Möchte bloß wissen, was die zwei da eben geredet haben. Decadon kenne ich nicht, aber Ed um so genauer. Er ist der beste Psychologe in Amerika, und ... Donnerwetter, da ist ja auch der ›Große‹ selbst!«

Ein elegant gekleideter Herr von mittlerer Größe war in den Speisesaal getreten. Er trug das Haar kurz geschnitten; sein schmales Gesicht war von vielen Furchen durchzogen und sah nicht gerade vertrauenerweckend aus. Auch die beiden langen, dünnen Narben auf der linken Wange machten es nicht anziehender.

Jiggs pfiff leise vor sich hin. Er saß in gespannter Haltung; seine Augen glänzten. »Es ist wahrhaftig der ›Große‹ in eigener Person ... Himmeldonnerwetter, was hat das nur zu bedeuten?«

»Wer ist denn der ›Große‹?« fragte Terry.

»Den müssen Sie kennenlernen! In einer Minute wird er bei uns sein.«

»Er hat Sie doch gar nicht gesehen?«

»Sie können Gift darauf nehmen, daß ich der erste war, den er hier gesehen hat! Der Kerl entdeckt jede Stecknadel auf dem Boden. Haben Sie noch nie von ihm gehört? Kerky Smith – oder Albuquerque Smith – oder Alfred J. Smith; kommt ganz darauf an, ob Sie ihn kennen oder von ihm lesen.«

Der Mann, über den sie sprachen, ging anscheinend ziellos durch den Saal. Plötzlich sah er auf und begegnete dem Blick Edwin Tanners, der ihn lächelnd anschaute.

»Hallo, Kerky! Wann sind Sie denn hierhergekommen? Ich habe nicht im mindesten erwartet, Sie hier zu treffen.«

Er reichte ihm die Hand, und Kerky drückte sie schwach.

»Wollen Sie nicht Platz nehmen?«

»Bleiben Sie lange?« fragte Kerky, ohne auf die Aufforderung einzugehen.

»Ich fahre zweimal im Jahr nach England. Mein Onkel wohnt hier.«

»Ach so? Aus Chikago haben Sie ziemlich plötzlich Reißaus genommen ...«

»Durchaus nicht!« erwiderte Tanner eisig.

Kerky lehnte sich an den Tisch und sah auf ihn hinunter. Ein verständnisinniges Lächeln spielte um seine Lippen. »Hab' gehört, daß Sie hier Geschäfte machen wollen. Jemand sagte mir, Sie hätten zwei Millionen investiert. Bleiben Sie noch lange hier?«

Ed setzte sich bequem zurück und spielte mit einem Zahnstocher. »So lange, wie es mir Spaß macht!« erwiderte er vergnügt. »Jiggs dort drüben verschlingt uns geradezu mit den Augen ...«

Kerky Smith nickte. »Ja – ich habe den verdammten Kerl schon gesehen. Wen hat er da eigentlich bei sich?«

»Irgendeinen Burschen von Scotland Yard.«

Kerky richtete sich auf und legte seine lange, dürre Hand auf Eds Schulter. »Sie werden nett und lieb sein, mein Junge: Entweder machen Sie mit, oder Sie verschwinden. Sie brauchen einen unheimlichen Haufen Geld für dieses Geschäft, Ed; mehr, als Sie haben.« Er klopfte ihm auf die Schulter und ging dann zu Allerman hinüber. »Sieh, da ist ja auch Jiggs!« rief er strahlenden Gesichts.

»Setzen Sie sich, Sie gemeiner Hund und Dieb!« entgegnete der Detektiv ruhig. »Was machen Sie denn in London? Ich muß sagen, daß die englische Regierung in der Erteilung von Visen sehr fahrlässig ist.«

Kerky lächelte. »Das sollten Sie eigentlich nicht sagen ... Aber stellen Sie mich doch bitte Ihrem jungen Freund vor!« »Der kennt Sie schon genau. Chefinspektor Terry Weston ... Wenn Sie eine Weile in London bleiben, wird er auch bald Ihre Fingerabdrücke besitzen. Was für einen Schwindel haben Sie jetzt wieder vor, Kerky?«

»Muß ich denn immer was vorhaben? Ich bin zur Erholung hier und sehe midi dabei natürlich auch nach geeigneten Objekten um. Ich habe in Baisse spekuliert und den Markt erschüttert. Sehen Sie, ich verdiene mein Geld auf diese Weise. Ich mache es nicht wie die Polizeibeamten in Chikago, die sich die Taschen von den Gangstern spicken lassen und dann noch so tun, als ob sie die Leute fangen wollten.«

Jiggs Allermans Züge nahmen einen harten Ausdruck an. »Das werde ich Ihnen nicht vergessen, mein Junge! Wenn ich Sie erst mal im Chikagoer Präsidium unter vier Augen habe, werde ich mit Ihnen abrechnen.«

Kerky Smith lächelte harmlos und unschuldsvoll. »Sie fassen immer alles falsch auf. Können Sie denn keinen Spaß versteh'n? Ich bin doch durchaus für Ordnung und Gesetz. Einmal hab' ich Ihnen sogar das Leben gerettet: einer von den Kerlen im Norden wollte Sie um die Ecke bringen, aber ich hab' dafür gesorgt, daß er seine Absicht nicht ausführen konnte.« Kerky verstand es, gelegentlich anderen Leuten die Hand auf die Schulter zu legen, und das tat er auch jetzt, als er sich erhob. »Mein Junge, Sie wissen nicht einmal, wer Ihr bester Freund ist!«

»Mein bester Freund ist mein Revolver«, sagte Jiggs, anscheinend gleichgültig, »und wenn ich Sie eines Tages damit zur Strecke bringe, lasse ich die Mündung in Diamanten fassen.«

Kerky lachte. »Sie bleiben doch immer derselbe!« meinte er und winkte vergnügt zum Abschied.

Jiggs folgte ihm mit den Blicken, bis sich der Amerikaner neben einer schönen, blonden jungen Dame an einem Tisch niederließ. »Diese Art Verbrecher kennen Sie in England noch nicht. Die Kerle schießen jeden rücksichtslos über den Haufen, der ihnen in den Weg tritt. Und trotz alledem ist der Mann noch nie verurteilt worden. Immer war er in Michigan, wenn in Illinois etwas passierte, oder er war auf der Tour in Indiana, wenn in Brooklyn jemand ermordet wurde. Sie ahnen nicht, wie kaltblütig diese Schurken sind. Hoffentlich erfahren Sie es auch niemals. Er sagte doch, daß er mein Leben gerettet hätte ... Vier seiner Scharfschützen haben hintereinander versucht, mich kaltzumachen! Einer seiner Gehilfen, Dago Pete, hat mich mal zweitausend Kilometer weit verfolgt; aber es ist ihm doch nicht gelungen. Bis ich ihn dann selber zur Strecke brachte.«

»Gott sei Dank«, meinte Weston, »daß wir uns mit dieser verdammten Sorte nicht herumärgern müssen!«

»Warten Sie ab, was die Zukunft bringt«, erwiderte Jiggs düster.

3

Am nächsten Morgen wurde Terry gleich nach seiner Ankunft im Amt zu seinem Vorgesetzten gerufen.

»Fahren Sie gleich zum alten Decadon nach Berkeley Square!«

»Was hat denn der schon wieder verloren?« fragte Terry, unangenehm beruht.

»Er hat nichts verloren. Es handelt sich diesmal um eine ernste Sache. Die Sekretärin hat eben telefoniert und gebeten, daß Sie kommen möchten.«

Terry ließ sich das nicht zweimal sagen. Er fuhr zum Berkeley Square. Leslie mußte ihn erwartet haben, denn sie öffnete selber die Haustür.

»Nun, hat der alte Herr wieder etwas verlegt?« fragte er.

»Nein. Entweder ist es eine ernste Sache, oder es handelt sich um einen üblen Scherz. Mr. Decadon hat heute morgen einen Brief erhalten. Er ist oben in seinem Zimmer und hat mir den Auftrag gegeben, Ihnen alles zu erklären.« Sie führte ihn in ihr Büro, schloß ein Schreibtischfach auf und nahm ein Formular heraus, auf dem bestimmte Worte handschriftlich eingefügt waren.

Terry las: »Betrifft persönlichen Schutz. Leute mit großem Besitz und Vermögen sind in der gegenwärtigen Zeit stark gefährdet und brauchen deshalb wirksamen Schutz. Die ›Gesellschaft zur Sicherung wohlhabender Bürger‹ bietet diesen Schutz Mr. .....« Hier war mit Tinte der Name »Elijah Decadon« eingesetzt. »Die Gesellschaft gewährleistet Schutz an Leben und Eigentum und verhütet alle gesetzwidrigen Anschläge gegen die Freiheit der betreffenden Person. Als Gegenleistung verlangt sie die Zahlung der Summe von fünfzigtausend Pfund. Wenn Mr. .....«, hier stand wieder in Tinte Decadons Name, »... dem zustimmt, wird er gebeten, eine Anzeige in die Mittwochausgabe der ›Times‹ zu setzen, und zwar wie folgt: Überschrift ›W.B.‹; dann das Wort ›Einverstanden‹; zum Schluß die Anfangsbuchstaben des Betreffenden, der die Annonce aufgibt.« Darunter stand, fett gedruckt: »Wenn Sie unserer Aufforderung innerhalb dreißig Tagen nicht nachkommen, oder wenn Sie die Polizei verständigen oder zu Rat ziehen, werden Sie umgebracht.« Eine Unterschrift war nicht vorhanden. Terry las die Botschaft noch einmal durch, bis er sie auswendig konnte, dann faltete er das Blatt und steckte es in die Tasche. »Haben Sie noch das Kuvert?«

Leslie gab ihm den Briefumschlag, ein gewöhnliches Geschäftskuvert. Die Adresse war mit einer gebrauchsüblichen Schreibmaschine geschrieben; der Poststempel stammte aus London E.C.1.

»Ein Scherz?« fragte Leslie ängstlich.

»Ich weiß nicht recht«, erwiderte Terry unsicher. »Der Brief kam mit der ersten Post? Hat sonst noch jemand davon erfahren? Zum Beispiel Mr. Tanner?«

»Nein, nur Mr. Decadon und ich wissen davon. Mein Chef ist sehr aufgeregt. Was sollen wir nur machen, Mr. Weston?«

»Sie können mich ruhig ›Terry‹ nennen, wenn Sie nichts dagegen haben! Selbstverständlich wird kein Geld an diese Kerle gezahlt, und Sie haben das einzig Richtige getan, als Sie sofort die Polizei verständigten.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht«, entgegnete sie zu seinem Erstaunen. »Ich muß Ihnen sogar gestehen, daß ich Mr. Decadon überreden wollte, nicht mit Scotland Yard zu telefonieren ...«

»Das war nun nicht gerade die Haltung einer ehrsamen Staatsbürgerin ... Aber wahrscheinlich ist das Ganze nur ein Bluff. Auf jeden Fall wollen wir sehen, daß Elijah Decadon keinen Schaden leidet. Es ist doch besser, wenn ich mal mit ihm spreche.«

Er ging die Treppe hinauf und klopfte an die Tür von Decadons Schlafzimmer. Erst nach längerer Zeit öffnete der Alte und ließ ihn ein. Panischer Schrecken hatte den Mann gepackt.

Terry telefonierte ins Präsidium, und drei Beamte erhielten Befehl, Decadons Grundstück zu bewachen. »Ich habe Mr. Decadon eindringlich gebeten, nicht auszugehen«, sagte er am Apparat. »Wenn er es doch tun sollte, müssen die beiden Leute, die vorm Haus Wache halten, ihm folgen! Sie dürfen ihn nicht aus dem Auge verlieren!«

Terry ließ sich dann mit Jiggs Allerman verbinden und bat den Amerikaner, ihn im Präsidium aufzusuchen. Als er zu seinem Büro zurückkehrte, fand er ihn schon dort vor. »Ich habe etwas für Ihren scharfen Verstand«, sagte er und überreichte ihm das gedruckte Formular.

Jiggs las es mit hochgezogenen Brauen. »Wann ist das angekommen?«

»Heute morgen. Was halten Sie davon? Nehmen Sie die Sache ernst? Oder halten Sie sie für einen Scherz?«

»Das ist kein Scherz! Es handelt sich hier um eine ganz gemeine Erpressung. In Amerika ist das schon früher mit Erfolg versucht worden. Wir haben es hier mit einer organisierten Bande zu tun. Ich dachte mir schon, daß so etwas käme ...«

»Sie glauben also, daß Decadon ernstlich bedroht ist?«

»Aber selbstverständlich!« entgegnete Jiggs Allerman mit Nachdruck. »Ich werde Ihnen auch sagen, warum. Die Drohungen einer solchen Bande wirken zu Anfang nicht. Deshalb müssen zunächst ein paar Leute über den Haufen geschossen werden. Damit wird der Öffentlichkeit bewiesen, daß die Drohungen verflucht ernst gemeint sind. Vielleicht haben auch schon andere Wohlhabende derartige Briefe erhalten; andererseits wäre es ebenso wahrscheinlich, daß einstweilen nur Decadon das Formular bekommen hat und daß man an ihm ein Exempel statuieren will.« Er nahm den Bogen wieder zur Hand und hielt ihn gegen das Licht, fand aber kein Wasserzeichen in dem Papier. »Die Art und Weise, wie sie es anfangen, ist allerdings neu. Gedruckte Formulare haben sie früher nicht verwendet. Aber das hat auch seine Vorteile. Auf jeden Fall meinen es die Leute wirklich ernst.«

Terry hatte dann eine Unterredung mit seinem Vorgesetzten und nahm Jiggs dazu mit.

Der Polizeipräsident interessierte sich sehr für den Fall, war aber doch etwas skeptisch. »In England dürfte dergleichen kaum passieren, Captain Allerman«, sagte er.

»Warum nicht? Wenn in den nächsten Tagen die Schießerei in London anfängt, werden Ihnen die Augen schon aufgehen!«

4

Gewöhnlich verließ Leslie Ranger das Büro um fünf Uhr nachmittags. Decadon war aber den ganzen Tag sehr nervös und deprimiert gewesen, und als er sie bat, noch zu bleiben, kam sie seinem Wunsch aus Mitleid nach. Außerdem gab es auch noch allerhand für sie zu tun.

Ed Tanner begegnete ihr, als sie vom Tee zurückkam, und war überrascht, daß sie noch nicht nach Hause gegangen war. »Warum bleiben Sie denn heute so lange, Miss Ranger? Hat der alte Herr so viel zu tun?«

Sie gab eine Erklärung, die aber sehr unwahrscheinlich klang. Der alte Decadon hatte ihr streng untersagt, seinem Neffen etwas mitzuteilen, und sie richtete sich selbstverständlich danach.

Ungefähr um sieben Uhr abends hörte sie Tanners Stimme in der Bibliothek. Ob sein Onkel ihm jetzt von dem Brief erzählte? Die Unterredung zwischen den beiden dauerte ziemlich lange. Später hörte Leslie das Geräusch des Lifts, der zu Tanners Wohnung hinauffuhr. Kurz darauf klingelte es, und sie ging in die Bibliothek.

Der alte Herr schrieb eifrig. Er benutzte stets große Bögen, und seine Handschrift war trotz seines Alters sehr sauber und gut leserlich. Sie sah bei ihrem Eintritt, daß er den Bogen halb vollgeschrieben hatte. »Holen Sie Danes!« sagte er, ohne aufzusehen. »Klingeln Sie doch!« rief er dann ungeduldig, als sie zur Tür gehen wollte.

Sie drückte auf den Knopf, und gleich darauf erschien der Diener Danes im Zimmer.