Gänsemagd ever after - Nina MacKay - E-Book

Gänsemagd ever after E-Book

Nina MacKay

0,0

Beschreibung

Wenn der Spiegel recht hat, ist die Königin tot und ein Krieg steht uns bevor. Kurz flackert ihr Bild vor meinem inneren Auge auf. Das Bild der Königin, die ich hätte sein sollen. Prinzessin Elisa, die einstige Gänsemagd-Königin, wird von ihrer Lüge eingeholt. Ihre Magd Agnes, die vor Jahren mit Elisas Hilfe an ihrer Stelle Königin wurde, ist tot und der Bastardbruder des Königs erhebt Anspruch auf den Thron. Die einzige Lösung, bevor ein Bürgerkrieg ausbricht: Elisa soll den König heiraten und ihm einen Nachkommen schenken, um den Thron zu sichern. Bloß was, wenn Agnes ihren Tod nur vorgetäuscht hat? Elisa findet jedenfalls Hinweise darauf, dass sie zur Akademie für Gute Feen geflohen ist, und nimmt mit ihren Freunden Spieglein, Gretel und der Goldenen Gans die Verfolgung auf. Kann sie ein weiteres Mal durch einen Trick ihrem Schicksal entkommen, oder erkennen, was es heißt, für andere einzustehen und ihr Schicksal zu erfüllen, bevor alles verloren ist? Und das, obwohl der äußerst anziehende Käpt'n James Hook alles noch viel komplizierter macht?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 365

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gänsemagd

EVER AFTER

NINA MACKAY

Copyright © 2024 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

https://www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Nina Bellem

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout Ebook: Stephan Bellem

Umschlagdesign: Marie Graßhoff

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-996-8

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Playlist

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Epilog

Danksagung

Drachenpost

Für Astrid,

die immer an dieses Spin-off geglaubt hat

Playlist

Das Besondere an dieser Playlist ist, dass man sie beim Lesen in Endlosschleife hören kann, oder auch jeden Track einzeln zum jeweiligen Kapitel. Track 1 passt perfekt zur Stimmung von Kapitel 1 und so weiter. Ihr findet die Playlist auch in den Highlights auf meinem Instagram Account. Viel Spaß damit!

1. Dotlights – Life Inside A Nightmare Rectangle

2. Machine Gun Kelly, Halsey – Forget Me Too (Elisas Lieblingssong)

3. Fly By Midnight – Tragedy

4. Parachute – New Orleans

5. Emorie – Evergreen

6. Loving Caliber – Left In The Rain

7. SABAI, Hoang, Claire Ridgely – Million Days

8. Twenty One Too – Lose You To Love Me

9. Jonathan & Friends, Loote, Emma Lov – Start Up

10. Jake Scott – If You Wanted It Too

11. Jake Scott – We Haven’t Looked At Our Phones

12. Eighty Ninety – 10K Summer Nights

13. Jake Scott – Open Eyes

14. Jake Scott – Like No One Does

15. Gatsby – Lonely

16. Dahl – Can I Kiss You

17. Jake Scott – All Too Well

18. Taylor Swift – Anti Hero

19. The Band Camino – Song About You

20. Heather Sommer – Sometimes

21. Aliana Lohan – Without You

22. Arc North – The Revolution

23. Life Of Dillon – Surrender

24. Spin Doctors – Two Princes

25. Billy Joel – We Didn’t Start The Fire

26. StreamBeats Originals – Machine

27. Apollo LTD – You

28. Blake Rose – Best Of Me

KapitelEins

Wenn der Spiegel recht hat, ist die Königin tot und ein Krieg steht uns bevor. Kurz flackert ihr Bild vor meinem inneren Auge auf. Das Bild der Königin, die ich hätte sein sollen. Agnes – meine frühere Magd. Nachdenklich sehe ich zwischen dem Spiegel und dem See hin und her.

»Da du mir jetzt einen Gefallen schuldest …«, sagt Spieglein, seines Zeichens Whistleblower und bester Freund von Snow – Schneewittchen.

Misstrauisch kneife ich die Augen zusammen. »Moment, bevor wir zu diesem Teil unserer Unterredung kommen, sag mir bitte, was du selbst davon hältst.«

Selbstverständlich wird Spiegleins Antlitz ernst, und ich verscheuche einen Prinzen, der sich am Freilichtwaschbecken die Hände waschen will, damit ich ungestört mit dem Spiegel reden kann. »Nimm den See, Prinz Friedrich«, blafft Spieglein ihn an. Er ist alles andere als ein Prinzenfan. Genau wie ich. Und das, obwohl er die Prinzenakademie leitet. Oder vielleicht gerade deswegen. Vor ziemlich genau einem Jahr hat er dort die Position des Direktors übernommen.

Ich neige den Kopf. »Also, Agnes ist von der Klippe gesprungen? Allein? König Laurenz war nicht bei ihr?«

Kurz hält Spieglein inne, wodurch er einem pikiert dreinschauenden Adeligen ähnelt.

Aber mein Blick schweift über die nördlichen Seen. Die Seenplatte ist riesig. Ganz im Osten – von meinem Bootsverleih aus nicht sichtbar – liegt das Schloss von König Laurenz, Herrscher über die nördlichen Seen. Und mein eigentlicher Ehemann. Wenn sich meine Magd damals nicht für mich ausgegeben hätte. In dem Märchen über mein Leben, das man als Die Gänsemagd kennt, steht es genau so niedergeschrieben. Was allerdings kaum jemand weiß, ist, dass wir nach Ende des Märchens die Plätze zurückgetauscht und den Tod von Agnes, meiner Magd, lediglich vorgetäuscht haben. Damit sie an meiner Stelle Königin werden und ich ein freies Leben führen konnte. Weil es so, wie es war, gut war. Ich mit meiner Karriere als Reporterin sowie Gänsemagd und Agnes als künftige Königin, die ihrer Leidenschaft für Fotografie und Geschichten auch in dieser Position nachgehen konnte. König Laurenz, der Agnes vor der Hochzeit nur hinter einem Schleier hatte sehen dürfen, war unser Tausch nicht aufgefallen. Er hatte die Magd, die sich als Prinzessin ausgegeben hatte, zum Tod verurteilt, und zwar durch ein Nagelfass. Doch uns gelang es, das Fass, das mit Nägeln bestückt war, mit Steinen statt mit Agnes zu füllen – und fertig. Im Anschluss tauchte ich schneller unter, als man »Gänsebraten« hätte sagen können. Agnes und ich verweilten seither genau auf der Position in unseren jeweiligen Leben, auf der wir schon immer hatten stehen wollen. Zumindest hatte ich das bisher angenommen …

»Agnes fiel beim Fotografieren von der Wasserfallklippe südlich des Schlosses«, berichtet Spieglein weiter. »Da sie dabei normalerweise alles um sich herum vergisst – eine durchaus logische Art für sie, von dannen zu gehen.«

Prinz Ludwig kommt angetrabt, um sich ein Ruderboot für sich und seine Angebetete des Monats zu leihen, darum werfe ich ihm den Schlüssel für die Umkleideräume zu. Er rudert stets ausschließlich in Badehose und niemals in seiner Uniform.

Eine Gans kreischt, als würde sie der Anblick, der sich uns gleich bieten wird, verstören. Ich verstehe sie da nur zu gut …

Sobald wir wieder allein sind, zupfe ich an meiner Unterlippe. »Wenn ich meinen Tod hätte vortäuschen wollen, hätte ich es genauso gemacht.«

»Exakt mein Gedanke. Sauber, keine Leiche, episch. Man wird ihrer gedenken und Blumen ins Meer werfen. Eine nette Trauerfeier. Ich hätte nichts zu meckern.«

»Und Kürdchen war Zeuge?« Mein Kürdchen. Dank ihm habe ich damals das Gänsehüten erlernt – auch wenn er mich anfangs die meiste Zeit geärgert hat. Unwillkürlich streiche ich mir bei dem Gedanken über meine langen Haare.

Spieglein hebt beide beinahe unsichtbaren Augenbrauen. »Gekaufter Zeuge, nehme ich an.«

Also im Prinzip wie damals. Mit dem Fass. Schon fast zu viele Parallelen, um es noch als Wahrheit verkaufen zu können.

»Sag mal, hat die Prinzenakademie heute Ausgang, oder was?«, fragt Spieglein, nachdem der dritte Prinz hinter mir auftaucht und neugierig in den Spiegel über dem Holzwaschbecken späht. Von Privatsphäre hat hier mal wieder keiner gehört.

»Müsstest du das als ihr Schulleiter nicht am besten wissen?« Ich lehne mich gegen das Holzwaschbecken, seufze dann erneut. »Die Blaublüter feiern heute so was wie ein Fest der Liebe. Ekelhaft. Valentinstag. Der Tag schreibt wohl vor, seine Angebetete über den See zu paddeln. Aber so genau kenne ich mich da nicht aus.«

»Pah, wer braucht schon so was«, sagt Spieglein, worauf sich Prinz Riccardo verzieht, der glücklicherweise auf einem Ohr taub ist.

Mein Armband mit dem Piratenanhänger klimpert, als ich mir eine blonde Haarsträhne hinters Ohr schiebe. Das Armband mit der Piratenmünze, das mir meine Mom geschenkt hat, weil sie mich immer ihr Abenteuerkind genannt hat. Kurz erfasst mich eine Welle von schlechtem Gewissen, weil ich sie seit der Fake-Hochzeit nicht besucht habe und lediglich gephotoshoppte Bilder von mir und dem König schicke. Herkommen könnte meine bettlägerige Mutter sowieso nicht, und meinen Brüdern würde es nie einfallen, mich zu besuchen, eher würden sie ihre Schlafgemächer in unserem Schloss sauber lecken. Während ich an die weichen, nachsichtigen Gesichtszüge meiner Mutter denke, grabe ich meine Fingernägel in die Furchen des Holzwaschbeckens, kann plötzlich nicht mehr aufhören – wie üblich.

»Ich glaube«, sagt Spieglein langsam und irgendwie bedacht, als würde er gleich eine Bombe so groß wie Snows Ego platzen lassen, »dass Königin Elisa, die natürlich eigentlich Königin Agnes ist, irgendeinen Plan verfolgt. Ein neues Abenteuer vielleicht. Das passt zu ihr, passt zu euch beiden. Daher hat sie zum zweiten Mal in eurem Leben ihren Tod vorgetäuscht.«

»Mhm«, mache ich. »Ohne mir davon zu erzählen?« Dennoch ergibt das leider Sinn.

»Na ja, seit ihr diesen Streit hattet und sie dich gefeuert hat –«

»Sie hat mich nicht gefeuert, ich habe bei ihrem Nachrichtenblatt gekündigt. Viel zu übertrieben und zu viel Klatsch für eine anständige Zeitung. Ich habe dort keine Zukunft für mich gesehen.« Außerdem will ich nicht daran erinnert werden, was passiert ist. Nicht an die Sache denken, weswegen Agnes und ich seit Kurzem nicht mehr miteinander reden.

»Jaaaa«, sagt Spieglein gedehnt, »das war ganz sicher der Grund. Wie gesagt: ich denke, sie ist am Leben, und da wir momentan in unsicheren Zeiten leben, ist ihr Verschwinden umso fataler.«

Unsichere Zeiten? »Du meinst den Aufmarsch und die Militärübungen von Prinz Sverre?« Ich tippe mir gegen das Kinn, drehe mich dann zum See, weil ich dort eine Bewegung wahrgenommen habe. »Oh, wenn man vom Thronräuber spricht.« Ich ziehe mein Smartphone mit dem verspiegelten Display aus der Hosentasche. Eine Einladung für Spieglein, die er postwendend annimmt. Eine Sekunde später erscheint er auf meinem Display statt im Spiegel, und ich halte mein Smartphone so, dass er die drei riesigen Schiffe mit den rot-goldenen Segeln erkennen kann, die draußen gen Osten segeln. »Prinz Sverre will wohl König Laurenz einen Besuch abstatten.«

»Oder ihm einen Dolch in den Rücken stoßen«, sagt Spieglein nach einem Hüsteln.

»Nein, das wird er geschickter angehen.« Ganz bestimmt sogar. Vor Nervosität kann ich meine Finger kaum ruhig halten, zupfe mit meiner freien Hand an meinem Ohrläppchen.

»Wackel nicht so«, beschwert sich Spieglein, springt dann zurück in den großen Spiegel. Seine dunklen Augenhöhlen verziehen sich. »Du hast wohl Angst, dass jetzt alles auffliegt?«

Natürlich habe ich das. Schließlich wissen ein paar Märchenfiguren zu viel von meinem und Agnes’ doppeltem Tausch. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis König Laurenz davon erfährt – nun, da Agnes weg ist. Irgendwann wird die Nachricht selbst meine Mutter erreichen. Aber das wird dann ihr Tod sein. Meine Mutter darf es nie erfahren, und Prinz Sverre erst recht nicht, sonst wird dieser ungehobelte Gauner die Macht über die nördlichen Seenlande an sich reißen und mit brutaler Gewalt herrschen – ich weiß es.

»Ich muss los. Snow in Stylingfragen beraten.« Spieglein lächelt schief und verschwindet, ehe ich noch etwas sagen kann.

Hufgeklapper kündigt Besuch an. Eine große Gruppe von ungeliebten selbigen. Silberne Streifen an blauen, wehenden Röcken. Meine frei laufenden Gänse kreischen, rennen sich fast gegenseitig um auf der Flucht vor den Reitern.

Mist, verfluchter! Hastig springe ich in den Geräteschuppen, ziehe die Tür hinter mir zu. Immerhin habe ich durch die Schlitze zwischen den Brettern eine gute Sicht auf den See, unsere zwei Waschbecken und die ganzen Prinzen, die gerade ebenfalls die Beine in die Hand nehmen. Prinz Friedrich springt hinter einen Busch, wo er auf Prinz Riccardo landet. Offensichtlich habe nicht nur ich etwas zu verbergen, oder kann auf den Besuch einer großen Gruppe Reiter verzichten.

Eine Bewegung an den Waschbecken zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Ein winzig kleiner Siebenschläfer sitzt plötzlich auf dem Rand des Beckens, in dem ich normalerweise am Ende des Tages das Equipment auswasche. Er neigt den Kopf, um das Wasser daraus zu trinken. Ich sehe es schon voraus, ehe es passiert. Und tatsächlich: Der Siebenschläfer rutscht mit den Pfötchen aus und plumpst mit einem erstickten Schrei ins Wasser. Dann hört man bloß noch ein Platschen. Außerdem kreischende Gänse, die mit ausgebreiteten Flügeln durcheinanderrennen. Plus: die ankommenden Reiter.

Der Siebenschläfer taucht nicht mehr auf, oder ich kann ihn einfach nicht sehen, nicht mal ein Pfötchen, das nahe genug an den Rand heranreicht. Ganz offensichtlich schafft er es nicht aus eigener Kraft heraus. Bei allen Gänsefedern! Der Drang, nach draußen zu stürmen, packt mich mit eisernem Griff, um das flauschige Wesen in meinem Becken zu retten, aber ich kann nicht … Was ich eigentlich tun sollte, ist, die Bodenklappe zu öffnen, um in den unterirdischen Gang zu verschwinden, der von hier bis zum Keller der Sieben Zwerge führt, und von da weiter zur Goldenen Gans zu laufen. Vielleicht kann ich doch abhauen? Das sollte ich wirklich. Die Reiter werden das Tier über kurz oder lang schon sehen und retten, richtig? Aber wenn der Siebenschläfer ertrinken sollte und ich es hätte verhindern können …

Die Stimme des Königs – der meinen Namen ruft – ist allerdings das Nächste, was ich höre. »Elisa. Prinzessin Elisa!«

Kurz schließe ich die Augen. Der ertrinkende Siebenschläfer taucht sofort vor meinem inneren Auge auf. Warum sehen sie ihn nicht? Schnaubende Pferde, schabende Hufe, rufende Männer. Bloß keiner von ihnen schenkt dem großen Waschbecken Beachtung.

»Du da. Wo ist die Prinzessin? Die Inhaberin dieses Etablissements.« Ein Begleiter des Königs muss einen der Prinzen entdeckt haben.

Gestotter … aber niemand nähert sich dem Waschbecken, in dem ein Nagetier gerade um sein Leben kämpft.

Ich presse die Lippen aufeinander. Egal was mich erwartet, ich kann nicht länger warten. Keine Sekunde mehr, weshalb ich, ohne weiter nachzudenken, nach draußen stürze. Zuerst blinzle ich gegen das Sonnenlicht an und hechte dann auf geradem Weg auf das Waschbecken zu. »Hab dich.« Mit beiden Händen schaufle ich den prustenden Siebenschläfer an die Wasseroberfläche. Er zittert. Hinter mir: Stille. Sicherlich starren sie mich alle an. Sowohl die Neuankömmlinge als auch die Prinzen und ihre Prinzessinnen. Selbst die Gänse und die Pferde.

Weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll, presse ich den kleinen Nager an mich, streichle ihm über sein graubraunes Fell und wende mich unserem Besuch zu. »Was kann ich für Euch tun? Unsere Boote sind für heute leider vollkommen ausgebucht.«

Einer der Prinzen um uns herum hüstelt. Wie sie alle aus ihren Verstecken kommen … plötzlich versessen darauf, den neuesten Klatsch mitzubekommen, anstatt zu ihren Herzensdamen in die Ruderboote zu steigen. Die Prinzessinnen selbst zücken natürlich ausnahmslos ihre Smartphones und richten sie auf mich. Ganz wie erwartet.

»Sieh an«, presst Spieglein hervor, der plötzlich wieder im Waschbeckenspiegel aufgetaucht ist. Genau im richtigen Moment. Sicherlich will er nichts von dem Drama verpassen, das sich aktuell bei meinem Bootsverleih abspielt. »König Laurenz stattet uns einen ehrenvollen Besuch ab.«

Ich streichle dem zitternden Siebenschläfer weiterhin beruhigend über den Rücken, zwinge mich, nicht an meinem Ohrläppchen zu zupfen, und drehe mich so, dass ich dem König, den meine Mutter einst als meinen Ehemann auserwählt hatte, direkt ansehe.

König Laurenz scheint mich mit seinen Blicken durchbohren zu wollen, und ich versuche, dem so gut wie möglich standzuhalten. Sein hellbraunes Pferd mit der wunderschönen welligen Mähne, schnaubt, trippelt mit den Hufen. Fallada war niemals nervös. Mein Pferd wäre der Spannung in der Luft mit einem müden Schnauben begegnet. Wenn Fallada noch am Leben wäre …

»Elisa?« Mist. Er weiß es. Gut, das war durch seinen Aufmarsch hier so kurz nach Agnes’ Tod, vorgetäuscht oder nicht, durchaus zu erwarten. »Die echte Prinzessin Elisa aus den südwestlichen Königslanden im Märchenwald?«

Kurz überlege ich, ein sanftes Lächeln aufzusetzen, um die Situation zu entspannen, recke stattdessen allerdings das Kinn und nicke. Schluss mit den Spielchen. Selbst er, König Laurenz, hat es verdient, die ungeschminkte Wahrheit zu erfahren.

Er nickt ebenso, die Gesichtszüge hart wie ein Amboss kurz vor der Wintersonnenwende. Und ich presse jede Faser meines Körpers zusammen wie Mais unter großer Hitze, kurz vor dem Plopp.

»Wie konnte mir das entgehen?«, wispert er, wobei ich an seinen Gesichtszügen ablesen kann, dass ihm zahlreiche Gedanken durch den Kopf schießen. Seine Nasenflügel flattern. Was für ein schöner König – und auch ganz schön perplex.

Jetzt tut er mir tatsächlich ein wenig leid. König Laurenz mit den dunkelblonden Haaren, die genauso akkurat gestutzt sind wie sein Dreitagebart. Nicht mal nach dem Ritt wagt es eine Strähne aus der Reihe zu tanzen. Ein König Laurenz, der jedoch nicht mitbekommen hat, dass Agnes und ich zweimal die Plätze getauscht haben, sodass er am Ende doch die Magd geheiratet hat. Was im Grunde meine Schuld ist.

»Es waren nur wenige eingeweiht.« Ich schlage die Augen nieder, obwohl es das Letzte ist, was ich tun will. Dennoch schulde ich ihm etwas, das zumindest in die Richtung von Bedauern geht, oder als das gelesen werden kann.

Er atmet tief durch die Nase ein, und aus den Augenwinkeln bemerke ich, dass seine Begleiter ihn mustern. Ob sie mich festnehmen werden? Stehe ich unter der Anklage des Hochverrats? Schließlich bin ich schuld daran, dass König Laurenz statt mir eine Bürgerliche geheiratet hat, ohne es zu wissen. Und das lediglich durch unsere List mit dem Schleier, blond gefärbten Haaren und Photoshop.

»Du wirst deine Sachen packen und dich bis Sonnenuntergang im Schloss einfinden«, sagt der König der nördlichen Seen.

Wie bitte? Ich hebe den Kopf, nur um in seine blauen Augen zu starren, die ebenfalls hart wie Stahl glänzen. »Ich bestelle den Priester ein, und wir werden den Fehler korrigieren.«

Korrigieren? Priester? Er meint doch nicht etwa …? »Äh«, gelingt es mir gerade noch hervorzupressen, mehr ist schwer zu formulieren, wenn einem im selben Moment ein Siebenschläfer unter dem T-Shirt den Rücken hochklettert.

»Prinz Sverre«, fährt der König da schon fort, »ist auf dem Weg ins Schloss. Zweifellos um jetzt, da ich Witwer bin und zudem kinderlos, seinen Anspruch als mein Halbbruder auf die Krone durchzusetzen.«

Mir wird schlecht. Das ist im Prinzip alles meine Schuld. Agnes hat ihm nie ein Kind geschenkt, und deshalb hat er nun keinen Erben …

Spieglein stößt ein Pfeifen aus. »Daher weht also der Wind.«

Bei dem Geräusch hält der Siebenschläfer inne, zittert nicht mehr, verbeißt sich allerdings in meine Haarsträhnen.

»Das tut mir sehr leid«, sage ich. »Aber ich kann nicht.«

»Doch.« König Laurenz’ Pferd macht einen Schritt auf mich zu.

Es gelingt mir gerade so, nicht zurückzuweichen.

»Ich werde heute Abend die richtige Prinzessin heiraten«, presst König Laurenz hervor. »Oder der Thron geht an Sverre. Willst du das? Seine Unterstützer schrecken vor nichts zurück, so schändlich es auch sein mag … Die nördlichen Seenlande werden mit ihm zugrunde gehen. Allen voran die unbescholtenen Bürger.«

»Uh, jaaa. Der Bastardprinz Sverre.« Der Spiegel erzittert, was sofort die Aufmerksamkeit von uns allen auf ihn lenkt. »Die Dreizehnte Fee und viele Hexen stehen auf seiner Seite. Sie haben sich für ihn sogar die Beine rasiert.« Er verzieht den Mund.

Ich bin mir jedoch sicher, König Laurenz muss etwas anderes gemeint haben. Nun gut. Zeit, ihm ein zweites Mal das Herz zu brechen. Im Grunde haben Agnes und ich es bei unserer ersten Begegnung mit ihm lediglich geringfügig angekratzt, und da wir uns bis auf die Originalhaarfarbe recht ähnlich sehen …

»Heute Abend!«, unterbricht König Laurenz meine Gedanken. »Oder wir verlieren die Krone an Sverre und ein paar rachsüchtige Feen und Hexen, und was dann aus dem Märchenwald mit all seinen Königreichen wird, brauche ich dir sicher nicht zu sagen …«

»Mir schwebt da eine besonders widerwärtige Folge von Game of Thrones vor«, antwortet Spieglein an meiner Stelle. »Mit Hexen, die Liebestränke für Prinzen brauen und ein paar ihrer Nasenhaare in Suppenteller fallen lassen.«

Um uns herum stöhnen mehrere lauschende Prinzen kollektiv auf.

Selbst der König blinzelt irritiert, was so gar nicht zu ihm passen will. »Zuallererst denke ich da an Mord und Totschlag sowie weitere Entmachtungen. Eure Freunde werden die Nächsten sein, die ihren Thron verlieren.«

Oh. Sofort kommt mir Cinder in den Sinn, und ich schlucke. Gerade erst hat sie ihre große Liebe Peter Pan verloren. Eine harte Trennung liegt hinter ihr. Wenn Sverre ihr jetzt noch ihre Ländereien und das Schloss nimmt …

»Also dann.« Der König wendet sein Pferd, was ihm seine Begleiter sogleich nachmachen. »Heute Abend im Schloss bei Sonnenuntergang. Ich lasse dein … ihr altes Brautkleid herauslegen.«

Oh, wie überaus freundlich.

Ich starre den Reitern und der Staubwolke, die sie hinter sich aufwirbeln, nach. Gänse gackern. Spieglein, ich und jede Menge ängstlich dreinblickende Prinzen bleiben zurück.

Und ein Minisiebenschläfer, der einem Flughörnchen gleich von meiner Schulter direkt auf das Gras zu meinen Füßen segelt. »Danke, dass du mich gerettet hast, und mein Beileid für die Sache mit dem König.« Oh, er kann reden? Irgendwie braucht mein Hirn etwas, um beides zu verarbeiten. König Laurenz’ Absichten und dass der Siebenschläfer spricht.

»Warte mal …« Spiegleins Antlitz im Waschbeckenspiegel vergrößert sich, als würde er an der Scheibe kleben und nach unten aufs Gras sehen. »Wenn man einem Siebenschläfer das Leben rettet, hat man dann nicht drei Wünsche frei?«

KapitelZwei

Der Siebenschläfer hält mitten in der Bewegung inne, verschränkt seine Pfoten hinter dem Rücken, und das recht ungelenk. Sein buschiger Schwanz streicht über die Grashalme. Ein wenig erinnert er mich an ein Eichhörnchen, bloß sieht er durch die riesigen Knopfaugen und die rosa Schnauze noch niedlicher aus. »Woher habt ihr denn dieses Ammenmärchen?«

»Netter Versuch, aber wer eine Lüge lebt, kommt nicht weit«, sagt Spieglein altklug, und kurz weiß ich nicht, wen von uns beiden er meint. Mich oder den vor sich hin stammelnden Nager.

»Ist ja gut!«, schreit der Nager voller Panik, die schwarzen Äuglein aufgerissen. »Zwei Wünsche, zwei! Hört ihr?«

»Wieso lediglich zwei?«, will Prinz Riccardo wissen. »Es sind immer drei Wünsche. Die magische Zahl.«

»Einer wurde heute bereits verbraucht.«

»Aber nicht von mir.« Ich kneife die Augen zusammen. »Dafür kann ich nichts.«

»Die Regeln besagen …« Das Nagetier klopft seine Fellfalten ab, zieht dann eine Schriftrolle hervor, die zwar nur die Breite eines Kassenzettels aufweist, aber erstaunlich dick ist.

»Schon gut«, sage ich schnell. »Zwei Wünsche sind absolut fein für mich.« Was ich keinesfalls gebrauchen kann, ist ein zweistündiger Vortrag aus dem Siebenschläfer-Wünsche-Handbuch.

Moment mal. Zwei Wünsche? Die könnten mir in der aktuellen Situation recht nützlich sein.

»Danke«, haucht der Siebenschläfer auf eine Art, die mich noch nachdenklicher werden lässt, ehe er auf meine Schulter springt und von da auf meinen Unterarm.

Ich ertappe mich dabei, wie ich am Schwanz des Siebenschläfers zupfe, der mich ungefähr so fasziniert ansieht wie ich ihn. Vielleicht ist er zurück auf meinen Arm gesprungen, um mich wie ein exotisches Zootier zu studieren. »Du hast also ein Leben als Prinzessin aufgegeben für das hier?«, bringt er hervor.

Für das hier? Ich sehe mich um. Mein See, mein Bootsverleih, die frei laufenden Gänse, meine Schreibmaschine … Gut, genau genommen gehört der See zur Hälfte König Laurenz und zur Hälfte der Schneekönigin, die Schreibmaschine brauche ich jetzt, wo ich nicht mehr für Agnes’ Nachrichtenblatt Die kühne Prinzessin schreibe, nicht mehr, und die Boote … Gerade sehe ich, wie Prinz Johann in eins davon steigt, die Nase hochzieht und dann lautstark hineinrotzt. Selbst Prinzessin Romy verzieht den Mund, und das, obwohl sie normalerweise – aus Angst vor Falten – keinerlei Mimik an den Tag legt.

»Nun lenk nicht ab, Nager«, sagt Spieglein. »Elisa ist dran mit wünschen.« Er nickt mir zu, schielt dann in Richtung See. Ja, daran habe ich auch schon gedacht.

»Was wünschst du dir denn?«, fragt der Siebenschläfer irgendwie kleinlaut. Fast bekomme ich den Eindruck, er würde diesen Part seines Lebens hassen. Ob es wohl anstrengend ist, Wünsche zu erfüllen? Oder hasst er es, wenn ihn neue Freunde nach der Erfüllung ihrer Wünsche einfach so sitzen lassen? Ich beiße mir auf die Lippen, plötzlich fest entschlossen, den kleinen neuen flauschigen Freund niemals fortzuschicken. »Hm«, sage ich, tippe mir gegen das Kinn. »Ich wünsche mir zu erfahren, was mit meiner Freundin Agnes geschehen ist.«

»Etwas konkreter bitte.« Der Siebenschläfer sieht mich fest an. Ach so, richtig: Wünsche muss man sehr detailliert beschreiben, damit keine Verwechslung möglich ist. »Ich wünsche mir, dass ich Agnes, die sich für mich ausgegeben und den König geheiratet hat, wohlbehalten auffinde. Sie hat nämlich ihren Tod an den Klippen vorgetäuscht, aber ich denke, sie lebt noch. Ich will sie finden.«

»Okay, ist gewährt«, quietscht der Siebenschläfer. »Aber dazu musst du erst den Unfallort aufsuchen.«

Wie? »Du meinst, deine Wunscherfüllung hat immer einen Haken?«

Jetzt nickt der Siebenschläfer, zieht dabei allerdings den Kopf ein. Plötzlich verspüre ich Mitleid und ein kitzelndes Gefühl auf meiner Handfläche – weil sein buschiges Hinterteil so sehr auf meiner Haut zittert.

Lediglich Spieglein starrt mit zusammengekniffenen Augen unseren neuen Freund an. »Davon hab ich noch nie gehört.«

»Lass ihn doch«, beschwichtige ich ihn. »Dann reisen wir eben zur Klippe. Ist ja nicht allzu weit.«

»Du hast keine Kutsche, nicht mal ein Fahrrad, und zudem …« Spieglein verstummt, aber ich weiß dennoch, worauf er anspielt. Seit Falladas Tod habe ich mich nicht mehr getraut, auf ein Pferd zu steigen. Das heißt, ich werde laufen müssen. Es sei denn … Ich drehe mich zu unserem prinzigen Publikum um. Durch die Prinzen geht allerdings in diesem Augenblick allesamt ein Ruck. Sie wenden sich ab, tun sehr geschäftig. Prinz Friedrich hechtet in sein Boot.

»Ach, kommt schon. Ein kleiner gemeinsamer Ausflug? Bloß ein kleiner Umweg für euch mit euren Kutschen?«, rufe ich ihnen hinterher. Selbstverständlich vergebens. Sie rudern und segeln bereits davon. Nun gut. Ich tausche einen Blick mit Spieglein und dem Siebenschläfer. »Bestellen wir uns eine Mietkutsche?«

In diesem Moment hören wir es hupen, ächzen und knirschen. »Hallo, Froiindee!« Gretels Stimme. Gretel, die mit ihrer Lastenkutsche auf uns zurollt. Die Gänse springen ihr aus dem Weg, vor allem, weil aus einer schlecht geölten Musikbox am Lastenwagen die Titelmelodie der Flintstones ertönt.

»Äh, hi, Gretel.« Ich hebe eine Hand.

Spieglein räuspert sich.

»Hoffe, die Geschäfte laufen zufriedenstellend?«, erkundigt sich Geschäftsfrau-Gretel. Unten an ihren streichholzlang gestutzten Haaren erkennt man die dunklen Haarwurzeln, die die wasserstoffblonde Färbung zurückdrängen. »Ich habe heute jede Menge frisches Gebäck im Angebot, oder brauchst du Ersatzteile für die Surfbretter? Hab alles da, selbst Ruder.«

Also wie jeden ersten Donnerstag im Monat.

»Hm.« Ich setze mir den Siebenschläfer auf die Schulter, greife mir dann meine Umhängetasche, die an dem Nagel neben der Eingangstür baumelt. »Eigentlich benötige ich eine Mitfahrgelegenheit zur Klippe mit dem Obelisken. Weißt du, wo das ist?«

Sogleich richtet sich Gretel auf dem Kutschbock auf. Selbst ihre beiden gepunkteten Schimmelstuten spitzen die Ohren. »Selbstverständlich. Es gibt keinen Ort im Märchenwald und den umliegenden Ländern, den ich nicht kenne.«

Auf diese Antwort und ihr herausgefordertes Ego habe ich spekuliert.

»Dann nimmst du uns mit?«

Gretel zögert.

»Wir kaufen auch dein ganzes Kuchenregal«, sagt Spieglein.

Aha? Kein schlechter Move, aber das könnte teuer werden.

»Ich zahle«, schiebt Spieglein hinterher und sieht mich dann direkt an. »Was? Ich will wissen, wie dein Wunsch in Erfüllung geht, und Prinz Sverre keinen Grund geben, länger als nötig zu bleiben.«

Tatsächlich wäre mir ebenfalls lieber, wenn er sich so schnell wie möglich wieder auf seine Insel nahe Neverland zurückzieht.

Keine zwei Minuten später befinden wir uns auf dem Weg zum angeblichen Unfallort. Der Siebenschläfer schaukelt auf meinen Knien im Takt der Kutsche mit, klammert sich an meiner Jeanshose fest. »Wie heißt du eigentlich?«, frage ich, muss mich dann schnell an der Kühlvitrine festhalten, weil die Kutsche über einen Stein holpert.

Die Krallen des Tiers drücken in meine Haut. Nach einem Quieken vom Siebenschläfer und einem Schmerzensschrei von mir finden sich unsere Blicke ein weiteres Mal. »Ich habe keinen Namen«, sagt das Tierchen leise.

Oh. Das habe ich nicht kommen sehen.

»Also, die Geschäfte an der Börse laufen gut, ja?«, fragt Spieglein aus der Spiegelung der Kuchenvitrine heraus.

Gretel dreht sich nicht zu uns um, nickt jedoch. »Absolut. Da kannst du jeden fragen. Obwohl natürlich nicht jeder so erfolgreich an der Börse handelt wie ich. Ich sage nur Hexensabbat.«

Keine Ahnung, was das heißen soll, und auch nicht, was Spieglein mir mit diesem bedeutungsvollen Augenaufschlag sagen will, mit dem er mich bedenkt.

Stattdessen betrachte ich den Flauschfreund auf meinem Schoß, der sich gerade zu einer Fellkugel zusammenrollt. »Was bedeutet es noch mal, wenn Siebenschläfer einschlafen?«, frage ich an niemand Bestimmten gerichtet.

Der Siebenschläfer öffnet ein Auge. »Ich kann schon seit Monaten nicht mehr schlafen. Schlafstörungen. Du musst dir also keine Sorgen wegen eures Aberglaubens machen.«

Aha. Aberglaube. Wie der Siebenschläfer das sagt. So als würden wir ihn damit verletzten. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Könnte das der Fall sein? Was besagt noch mal die Tradition? Im Märchenwald versucht meist Snow am Ende des Frühlings auf ziemlich brutale Weise einen Siebenschläfer zu wecken, und je nachdem, ob er dann wach wird oder nicht, sieht man das als Zeichen, ob der Sommer gut oder verregnet werden wird.

»Das da ist sie.« Gretel deutet nach vorn. Wir biegen ab, und das dermaßen scharf, dass ein verschnürtes Bündel Klamotten auf mich stürzt. Was lagert Gretel eigentlich nicht in diesem Karren? Beziehungsweise was versucht sie alles im Märchenwald zu verticken? Die Klamotten verströmen einen gewissen Meerschweinchenduft. Stimmt, mir fällt ihre Meerschweinchenzucht wieder ein.

Als hätte der Siebenschläfer meine Gedanken gehört, ruckt sein Kinn nach oben. »Was verkaufst du denn alles so? Sieht nach einer wilden Mischung aus.«

»Darling …« Gretel wendet sich auf dem Kutschbock halb zu uns um. »… ich kann dir einfach alles verkaufen, und das macht unverhältnismäßig viel Spaß. Ich würde dieses Hobby um nichts in der Welt aufgeben. Denn ich kann alles besorgen und jedem seine Wünsche erfüllen. Seht ihr die vielen Kunden, die am Wegesrand Schlange stehen, damit ihre Wünsche wahr werden? Nein? Das kommt daher, dass ich ihnen ihre Träume bereits verkauft habe!«

Diesen Vortrag von Gretel bin ich schon gewohnt. Nachdenklich zupfe ich mir ein paar Meerschweinchenhaare von meiner Jeanshose. Allerdings vertreibt der Anblick der Klippe meine Gedanken an Ramsch und Meerschweinchen.

Wir sind da. Ach Agnes … Plötzlich klopft mein Herz schneller, und ich sehe die wichtigsten Momente unserer Freundschaft vor mir. Agnes’ Betrug, unsere Versöhnung, unser Trick – wie wir uns getrennt, aber den Kontakt über Social Media gehalten haben. Mussten wir ja auch, um unseren Betrug an König Laurenz durchzuziehen. Meine Familie durfte ebenso keinen Verdacht schöpfen. Nicht dass sie je versucht hätten, mich zu besuchen. Meine Brüder – so faul wie zehn Kartoffelsäcke – bewegen sich sowieso ungern von ihrer jeweiligen Playstation weg.

Vorsichtig setze ich mir den Siebenschläfer auf die Schulter, nicht ohne vorher gefragt zu haben, ob das in Ordnung sei. (Ist es.)

Mein Hals schnürt sich zu, als ich mich auf den Rasen gleiten lasse. Die Klippe. Der Sandsteinbasilisk. Kreischende Möwen und Schäfchenwolken am blauen Himmel. Die Kulisse ist einer Postkarte würdig. Gut, einer Postkarte aus einem Gruselkabinett, denn es geht hier um das Verschwinden und den möglichen Tod von Königin Elisa, die natürlich eigentlich ich bin. Genau genommen also um den Tod meiner Doppelgängerin. Der Magd Agnes. Es ist ihr durchaus zuzutrauen, allein einen Neuanfang zu wagen, beginnend mit ihrem vorgetäuschten Tod. Ich denke daran, wie Mutter sie einst als meine Begleitung ausgewählt hatte. Damit sie mich zu meinem von Mutter ausgesuchten Bräutigam eskortierte. König Laurenz. Zu unserem Schutz hatte Mutter uns ein Taschentuch mit drei magischen Blutstropfen mitgegeben.

Allerdings hatten die mich nicht davor bewahren können, von Agnes betrogen zu werden. Sie hatte mich gezwungen, die Rollen zu tauschen, sodass sie am Hof als Prinzessin vorgestellt wurde und ich als Magd. König Laurenz hatte mich daraufhin zu Kürdchen geschickt, um gemeinsam mit ihm die Gänse zu hüten, was sich als großer Spaß für mich erwies und als meine Bestimmung. Allerdings war es ganz und gar nicht okay gewesen, was Agnes meinem sprechenden Pferd Fallada antat. Aus Angst, er könnte unsere Abmachung verraten, hatte sie mein Pferd töten und den Kopf am Stadttor aufhängen lassen, wo er heute noch hängt. Ich hatte meinen Schwur zu schweigen zwar nie gebrochen, doch der König hatte von Agnes’ Betrug natürlich dennoch irgendwann erfahren und sie zum Tode verurteilt. Wieder kam mir das rollende Fass mit Nägeln in den Sinn und unser Rücktausch. Wie naiv ich damals gewesen war.

Der Siebenschläfer beobachtet mich genau, weshalb ich versuche, mir absolut nichts anmerken zu lassen.

Eine Windböe streicht mir die blonden Haare aus dem Gesicht. Kurz bin ich versucht, dem Wind zu befehlen, seine Hektik einzustellen und mich in Ruhe zu lassen. Bloß dann fällt mir ein, dass der Wind mir womöglich noch nützlich sein könnte … Aber zuerst sehe ich mich um. Damit Spieglein alles sehen kann, ziehe ich eine Kordel aus meiner Umhängetasche, an der ich mein Handy befestige und es mir dann wie eine lange Kette umhänge, mit dem Display nach vorn. Wie immer wartet Spieglein gar nicht erst meine Einladung ab, sondern erscheint postwendend im schwarzen Display. »Der Tatort.« Er knirscht mit den Zähnen, oder versucht jedenfalls den Anschein zu erwecken.

»Eher der angebliche Unfallort«, verbessere ich ihn.

Selbst Gretel schreitet mit uns die bewachsene Klippe ab. Fährt gar nicht weiter. Eigentlich ist es hier viel zu schön für einen grausigen Unfall. Die Büsche rechts von uns tragen rote Blüten. Dahinter dehnt sich das Gestrüpp zu einem kleinen Wäldchen aus.

Ansonsten ist nichts zu sehen. Nichts, was an einen tödlichen Unfall erinnert.

»So schön wie im Märchen«, stellt der Siebenschläfer fest. Da bin ich ganz bei ihm. Bedacht schlendere ich zum Ende der Klippe, knie mich hin und luge nach unten. Wellen schlagen dort sanft gegen das Gestein. Klar, es ist ein riesiger dunkler See. Ein See, der in manchen Tiefen und Untiefen sogar Monster beherbergt. Ob eins davon Agnes gefressen hat? Aber kein Anzeichen wie angespülte zerfetzte Kleidung ist zu erkennen.

Hm, dann bleibt mir nur noch der Wind.

»Weh, weh, Windchen«, wispere ich.

»Für das falsch Prinzesschen.

Such die Beweise.

Für das, was an diesem Ort geschah.

Such alles zusammen von hier und immer da.«

Selbstverständlich hören mich Spieglein und der Siebenschläfer. Bei Gretel bin ich nicht sicher, wie viel sie mitbekommen hat. Doch das ist egal. Der Wind frischt deutlich auf. Darin liegt Kraft. Auf einmal werden aus allen Himmelsrichtungen Papierfetzen aufgewirbelt und direkt vor mir zusammengeschoben. Vom Wind persönlich.

»Was ist das?«, haucht der Siebenschläfer, während der Wind die Papierfetzen zusammenfügt.

»Eine Karte«, sage ich langsam. »Jemand, wahrscheinlich Agnes, muss hier gestanden und die Karte zerrissen haben.«

Der Wind, mein alter Freund, gibt sich alle Mühe, die Fetzen zurück an ihren angestammten Platz zu setzen, flippt in Windeseile die Teile auf die richtige Stelle.

»Eine Karte vom See. Seht ihr? Am südlichen Ende sieht man meinen Bootsverleih und im Osten das Schloss von König Laurenz, im Norden das Schloss der Schneekönigin.«

»Und da …« Spieglein zögert. »Eingekreist in der Mitte die drei Akademien.«

Er hat recht. Jemand hat mit rotem Buntstift nie mehr zurück über das Schloss von Laurenz geschrieben. Dazu hat derjenige einen traurigen Smiley gemalt. Agnes’ Handschrift, wenn ich mich nicht irre. Außerdem sind die drei Akademien auf ihren drei Inseln im Südwesten des Sees eingekreist. Wahrscheinlich von Agnes … denn der Wind sollte mir alle Hinweise bringen. Hinzu kommt die Tatsache, dass mein Siebenschläferwunsch hiermit quasi erfüllt ist. Ja, das muss heißen, dass es stimmt. Das alles echt ist. Mein Hinweis auf Agnes. Mein Herz klopft schneller. Wie immer, wenn ich als Journalistin auf eine gute Story stoße.

»Die Prinzenakademie, die Akademie für Gute Feen und die Piratenakademie«, sage ich leise vor mich hin, betrachte die drei Schulen auf der Karte. Eingekreist. Das kann Agnes nur aus einem Grund getan haben. Und sicher nicht, weil sie sich umbringen wollte. Nein, Agnes hatte keinerlei Absicht, in den Tod zu springen, ich bin mir sicher, und das ist der Beweis. Niemand, der sich umbringen will, würde eine Karte mit einem eingekreisten Ziel zu dieser Klippe mitnehmen. Nein, Agnes wollte sich auf eine Reise begeben, hatte ein Ziel, zweifellos.

Mit einem leisen Flüstern bedanke ich mich beim Wind. Der Umstand, dass keiner meiner Freunde das komisch findet, nicht mal mit einer Wimper zuckt, zeigt, wie sehr sie an meine Windgespräche gewöhnt sind. Lediglich der Siebenschläfer starrt mich heftig blinzelnd und mit offenem Mund an. Ein bisschen so, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er mir zuerst tausend Fragen stellen oder lieber vorher in Ohnmacht fallen will. Ich stupse ihn sanft mit dem Zeigefinger an, worauf das Tierchen noch ein wenig perplexer ausatmet. Eigentlich müsste er an Magie gewöhnt sein, wo er doch selbst Wünsche erfüllen kann. Ich schiebe den Siebenschläfer von meiner Hand weiter nach oben bis auf meine Schulter. »Agnes wird seit heute einen neuen Traum haben«, sage ich schlicht. Schließlich kenne ich Agnes und ihre Träume, die schnell zu unumstößlichen Zielen werden. Zuletzt war das, eine Prinzessin zu werden und Chefredakteurin einer Zeitung zu sein. »Sie wird sich zur Guten Fee ausbilden lassen. Das würde zu ihr passen. Quasi der nächste Schritt auf ihrer Karriereleiter.« Auf irgendeine Weise gönne ich ihr das sogar. Nur dass sie damit die nördlichen Seenlande gefährdet, kann ich nicht zulassen. Gemeinsam mit Spieglein und Gretel starre ich auf den See. Da hinten im Westen meine ich den Umriss einer der drei Inseln erkennen zu können.

»Wirst du hinfahren?«, will Spieglein wissen.

»Natürlich werde ich das.« Ich straffe die Schultern. »Ich werde Agnes zurückholen, sie daran erinnern, dass sie den König liebt, ebenso wie er sie, und dass Wegrennen keine Lösung ist. Sie muss ihr Schicksal erfüllen, sonst könnte ein Krieg ausbrechen, oder schlimmstenfalls ein neuer brutaler König an die Macht kommen.«

»Gut.« Spieglein schielt zu mir nach oben, und irgendetwas an seinem Blick gefällt mir nicht. Obwohl ich es nicht genau benennen kann. Aber es ist so, als wollte er nicht nur Agnes für ihre Entscheidungen kritisieren, sondern mich gleich mit dazu. Meine Zähne knirschen voller ungesagter Worte.

Schließlich seufzt der Spiegel. »Ich werde mit Illusion sprechen. Sie hat hier irgendwo ein U-Boot versteckt.«

»Was?« Ich runzle die Stirn. Ein U-Boot? Ernsthaft? Und dann noch eins im Besitz vom neuen Spiegel der Bösen Königin Bane, auch bekannt als Snowwhites Stiefmutter? »Äh, nein danke. Da rudere ich lieber.«

»Sei nicht kindisch.« Spieglein bläst die Wangen auf, oder imitiert jedenfalls diese Mimik, die ich selbst oft an den Tag lege. »Wenn du ruderst, brauchst du zwei Tage. Nein, wir nehmen einen motorisierten Untersatz. Du gehst jetzt zu König Laurenz und bittest ihn um Aufschub, danach geht’s los.«

Damit hat Spieglein ganz unumstößlich recht, bloß habe ich bereits einen Plan. Schließlich muss ich nicht rudern, sondern kann mithilfe meines Freundes, dem Wind, recht schnell dorthin segeln. Aber ein paar Tage Aufschub, bis ich meine Schuld bei König Laurenz begleichen muss, wären ganz wunderbar.

Zwar möchte mein Körper mit jeder Faser protestieren, sich schreiend auf den Boden werfen und darum betteln, nicht ins Schloss zu müssen. Nicht König Laurenz ein zweites Mal an diesem Tag unter die Augen treten zu müssen, aber ich weiß, mir bleibt keine andere Wahl. Außerdem ist mir bewusst, dass König Laurenz an diesem Punkt seines Lebens Antworten von mir verdient hat. Plötzlich tut er mir leid. Sehr leid sogar. Auch wenn ich immer noch überzeugt davon bin, damals das Richtige getan zu haben. Für uns alle drei. Laurenz und Agnes wollten sich verlieben und königliches Ehepaar spielen. Ich wollte meine Ruhe. Happy End für alle. Ich lege den Kopf in den Nacken, betrachte die dunklen Wolken, die von Nordwesten aufziehen. Nun bin ich mir nicht mehr so sicher.

»Ich begleite dich«, flüstert mir der Siebenschläfer ins Ohr.

Spieglein brummt etwas, das sich wie »Besser ist es, schließlich schuldest du ihr noch einen Wunsch« anhört.

KapitelDrei

Der Weg ist nicht weit, und ich beschließe, den Rest bis zum Schloss zu Fuß zu gehen, denn das gibt mir die Möglichkeit, meine Gedanken zu sortieren. Damit ich, wenn ich König Laurenz gegenübertrete, weiß, was genau ich ihm alles sagen will.

»Okay, aber ich kann dich in zwei Stunden am Schloss abholen, wenn du willst«, bietet Gretel an. »Die Goldene Gans will ganz in der Nähe eine Grundstücksbewertung von mir, und danach kann ich dich aufgabeln.«

Ich nicke, bin einfach dankbar, was für eine hilfsbereite Freundin Gretel ist. »Das wäre fantastisch.« Und ein guter Grund, früh zu gehen. Zu flüchten gewissermaßen. Ich streiche den verknitterten Stoff meiner Baumwollbluse glatt, während mir der seidene Schwanz des Siebenschläfers über den Nacken streichelt.

»Wie kann man eigentlich keinen Namen haben?«, fragt Spieglein aus meinem Smartphone, als der Waldweg gerade eine Biegung beschreibt und dahinter das Schloss von König Laurenz auftaucht. Ich schlucke. Das bedeutet, ich werde gleich unter Falladas Kopf hindurchlaufen müssen. Fallada, der immer noch an den Torbogen genagelt ist. Der abgehackte Kopf des besten Pferdes der Welt, um genau zu sein.

»Mir hat einfach nie jemand einen gegeben«, piepst der Siebenschläfer.

»Nicht mal deine Mutter?«

»Was ist eine Mutter?«

Fragt er das ernsthaft? Ich hebe beide Augenbrauen. »Die Person, die dich großzieht. Die dich geboren hat. Meistens ist das jedenfalls so.«

»Meine Auslieferin? Nein, wieso sollte sie?« Aus den Augenwinkeln bemerke ich, dass der Siebenschläfer die Vorderpfoten hebt. »Ich bin ›Du da‹, wenn mich ein anderer Siebenschläfer anspricht. Genau wie die anderen für mich. Und alle anderen nennen mich Siebenschläfer.«

»Das klingt traurig«, sage ich, konzentriere mich aber auf den Weg, der breiter wird und plötzlich alle möglichen Fuhrwerke beherbergt. Hinter uns trabt ein junges Mädchen auf einem Pferd heran.

»Niederschmetternd«, gibt Spieglein zu bedenken. Und das aus seinem Mund – und mit seinem Namen.

Ich zupfe an der Piratenmünze an meinem Armband. Dann ragt das Tor plötzlich vor uns auf. Das kleine Stadttor in der Mauer, die den Ort um das Schloss herum schützt. Die steinernen, windschiefen Häuschen, die mich alle mit ihren Fensteraugen zu durchbohren scheinen. Über mich richten und blitzschnell ihr Urteil fällen. Ich zwinge mich dazu, nicht mehr an die Vergangenheit zu denken und vor allem nicht nach oben zu sehen. Obwohl ich natürlich weiß, dass Fallada dort hängt. Das Tor ist zwar bewacht, aber tagsüber geöffnet, und keiner der Gardisten in ihren schicken blauen Uniformen hält uns auf. Sie schauen nicht mal komisch wegen des Siebenschläfers auf meiner Schulter, und Spieglein fällt ihnen erst recht nicht auf.

Von da an geht es bergauf. Über unebenes Kopfsteinpflaster, ausgetretene Stufen und vorbei an Unkraut, das aus den Fugen hervorkriecht – genau wie mein schlechtes Gewissen.

Ganz oben, direkt neben der kleinen Kirche, ragt das königliche Schloss auf. Weiß getüncht, mit einer lächerlich hohen Anzahl an Türmchen.

Selbst Spieglein sieht nach oben, und ich erkenne an seinen glühenden Augenhöhlen, dass er diese »Alles ist so perfekt«-bunten Blumenkübel an jedem Fenster und die allgemeine »Happy End«-Optik genauso leidenschaftlich hasst wie ich.

»Snow braucht mich«, bringt Spieglein gepresst hervor. »Wir sehen uns später.«

Ausrede oder nicht, einen Wimpernschlag später verschwindet mein Freund Spieglein aus meinem Handydisplay, das jetzt leer und vollkommen schwarz über meinem Bauchnabel baumelt.

Also bin ich auf mich gestellt, werde die Schwelle zu König Laurenz ohne Begleitung nehmen. Nun ja, abgesehen von meinem kleinen neuen Flauschfreund ohne Namen. Der scheint meine Sorgen zu spüren.

»Er wird dich schon nicht fressen«, sagt der Siebenschläfer leise. »Um sicherzugehen, kannst du dir das übrigens von mir wünschen. Dass der König dich nicht frisst.«

Ich runzle die Stirn. Irgendetwas ist seltsam an diesem Vorschlag. Nicht nur die Unsinnigkeit an sich, sondern noch irgendetwas anderes. Etwas, das der Siebenschläfer hinter den Worten zu verbergen versucht. Unglücklicherweise habe ich keine Zeit, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Denn eigentlich kreisen meine Gedanken um ganz andere Themen.

Ich starre die Stufen und das doppelflügelige Eisentor an, das sich direkt in die Eingangshalle öffnet. Wenn man die Gardisten darum bittet.

Ich kann nicht. Noch nicht. Hastig mache ich ein paar Schritte zur Seite, verschwinde um die Ecke, bis ich den Rosengarten erreiche. Ich weiß, es ist kindisch, aber die Angst, dass ich hierbleiben muss, in dieser prunkvollen Gefangenschaft, schnürt mir die Kehle zu.

Blöderweise klemmt das weiße Gatter, das den Garten vor ungebetenen tierischen Besuchern sichern soll. Ich rüttle daran, doch es will sich nicht öffnen. Bei allen Gänsefedern! Ich zerre daran, wieder und wieder.

»Darf ich?« Auf einmal ist da ein Arm auf der anderen Seite des Holzgatters, und dieser Arm zieht es locker-flockig auf. Der Arm gehört zu einem gut gekleideten Adeligen. Unter seinem anderen Arm klemmt ein Buch, wahrscheinlich hat er im Garten gelesen.

»Äh, danke.« Ich sehe zu ihm auf. In ein Gesicht voller dunkler Sommersprossen und einem Dreitagebart. Blitzende Augen. Mein Blick wandert zu dem Buch, das er festhält. Es ist ein Märchenbuch – ausgeblichen und zerfleddert. »Das sieht ein wenig mitgenommen aus«, sage ich und fühle mich dem Buch auf einmal schrecklich verbunden. »Hast du es ausgelesen?« Eigentlich sollte ich einfach weitergehen, und ich kann mir auch nicht erklären, warum mein Unterbewusstsein beschlossen hat, Small Talk zu betreiben, obwohl es sonst nichts Furchtbareres für mich gibt als das.