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Alana ist eine Banshee, eine Todesfee der irischen Mythologie. Sie sieht über dem Kopf jedes Menschen eine rückwärts laufende Uhr, die in roten Ziffern die noch verbleibenden Monate, Tage, Stunden und Minuten seiner Lebenszeit anzeigt. Da Banshees in dem Ruf stehen, Unglück zu bringen, bleibt sie lieber für sich. Allerdings gestaltet sich das gar nicht so einfach, denn Alana kreischt automatisch in bester Banshee-Manier wie eine Sirene los, wenn ihr ein Mensch begegnet, der in den nächsten Tagen sterben wird. Doch dann tauchen in Santa Fe mehrere Leichen auf, die Alana ins Visier des attraktiven Detectives Dylan Shane geraten lassen. Kann sie das Geheimnis der dunklen Sekte lüften, die scheinbar magische Wesen sammelt? Und werden sowohl Detective Shane als auch ihr bester Freund Clay den Kontakt mit Alana überleben?
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Seitenzahl: 492
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Drachenmond Verlag GmbH
Auf der Weide 6
50354 Hürth
https://www.drachenmond.de
E-Mail: [email protected]
Satz: Annika Roeder & Astrid Behrendt
Layout Ebook: Stephan Bellem
Umschlag- und Farbschnittdesign: Alexander Kopainski
www.kopainski.com
Bildmaterial: Shutterstock
ISBN 978-3-95991-986-9
Alle Rechte vorbehalten
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
10 Monate später
Danksagung
Drachenpost
Für alle,
die Bücher lieber mögen als Menschen
Ich sprang hinter den drei Typen auf den unter uns vorbeifahrenden Zug. Trotz meines harten Aufpralls hatten sie mich noch nicht bemerkt, was ich wohl vor allem dem Fahrtwind zu verdanken hatte. Sofort stellte ich fest, dass über Zugdächer laufen nicht gerade mein neues Lieblingshobby werden würde. Aber egal.
Der Blonde in der Mitte gehörte mir, er wusste es nur noch nicht.
Wie drei flinke Affen sprangen sie jetzt auch noch von einem Waggon zum anderen. Und im Gegensatz zu mir waren die Typen mit ihren Jeans und T-Shirts auch noch passend dafür angezogen.
Der Anblick ließ mich gequält aufstöhnen. Heute blieb mir aber auch gar nichts erspart!
Während ich noch ausrechnete, wie viel mich meine Schuhe inklusive Versand gekostet hatten, streifte ich mir die Keilabsatz-Sandalen ab und ließ sie vom Zug fallen. Das Blechdach fühlte sich verdammt heiß unter meinen nackten Füßen an.
Na gut, jedes Staubkorn in New Mexico glühte fast den ganzen Sommer über brütend heiß. Die Hölle musste ein geradezu paradiesisch luftiger Ort verglichen mit diesem Teil der USA sein. Energisch biss ich die Zähne zusammen und straffte die Schultern. Dann strich ich mir mein schwarzes Minikleid glatt und hastete den dreien hinterher.
In Filmen sah das immer so leicht aus, aber in Wirklichkeit war es verflucht schwer, auf einem fahrenden Zug zu laufen und dabei nicht das Gleichgewicht zu verlieren oder vom Fahrtwind umgeweht zu werden – Letzterer heulte mir auch ganz schön in den Ohren. Unglücklicherweise war ich weder Batman noch eine Zeichentrickfigur aus den Looney Tunes und zugegebenermaßen hatte ich auch schon sportlichere Menschen als mich gesehen. Aber der Blonde war es wert.
Wir bogen um eine Kurve. Links und rechts der Gleise zogen nur noch karge Wüste und riesige Felslandschaften an uns vorbei. Wir ließen die südlichen Ausläufer Santa Fes bereits hinter uns.
Heilige Flusspferdscheiße! Da vorne kam ein Tunnel und gerade in diesem Moment sprang die Uhr auf null. Verflucht noch mal!
Ohne mich groß um mich selbst zu kümmern, sprintete ich in einem Affenzahn nach vorn, um die letzten Meter zwischen mir und den drei Typen zu überwinden.
* * *
»Achtung!« Mein Gekreische übertönte gerade so den Fahrtwind und veranlasste Blondie dazu, sich endlich zu mir umzudrehen. Just in diesem Moment krachte ich gegen ihn und gemeinsam schlugen wir hart auf dem Zugdach auf. Keine Sekunde zu früh. Denn jetzt rauschte der Tunnel über uns hinweg.
Links und rechts von uns waren Blondies Freunde in Deckung gegangen.
Zwei Atemzüge später umgab uns statt Tunnelschwärze wieder Sonnenlicht.
»Ey, Alte! Was soll’n der Scheiß?«, kreischte Blondie mich an.
Natürlich. Wie immer konnte ich keinen Dank von meinen »unfreiwilligen Klienten« erwarten, wie ich sie nannte. Schnell checkte ich Blondies Ziffernanzeige über seinem Kopf. In Rot blinkten mir die Zahlen 602:18:12:02 entgegen. Wie bei einem falsch eingestellten Radiowecker. Gut. Der Typ hatte damit also 602 Monate, 18 Tage und 12 Stunden und 2 Minuten auf seiner Lebensuhr. Mein halsbrecherischer Einsatz hatte sich gelohnt.
»Alte!«, nörgelte Blondie unter mir.
Ach ja, richtig. Schnell rappelte ich mich auf.
Endlich wurde auch der Zug langsamer. Da vorne, 200 Meter entfernt, sah ich den Bahnhof von Fullerton auf uns zukommen. Oder wir auf ihn … Wie auch immer.
Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie mich Blondies Freunde mit offenen Mündern anstarrten.
Hatte ich etwa eine Fledermaus im Haar? Oder noch schlimmer, Spinnenweben? Schnell strich ich mir durch meine haselnussbraunen Haare, deren Spitzen mich an den Schulterblättern kitzelten. Nein, da war nichts. Puh, Glück gehabt!
Als Erster fasste sich einer von Blondies Freunden, ein Typ mit Infinity-Zeichen auf dem T-Shirt, wieder. In seinen Augen blitzte es, aber das war wahrscheinlich nur eine Sinnestäuschung. »Alter, die Tussi hat dir gerade das Leben gerettet, also halt’s Maul, Justus!«
O wie charmant … Dennoch zog ich geschmeichelt an meinem Kleid.
»Oha!« Blondie, der wohl Justus hieß, kratzte sich am Kopf. »Der Tunnel?«
»Ja, der Tunnel. Hätte dich geköpft«, bestätigte ich. »Sauberer Schnitt.« Ich schlug mir mit der flachen Hand auf den Unterarm. »Aber furchtbar eklig. Ganz viel Blut«, nickte ich versonnen.
Justus wurde kreidebleich. »Oh … wie … wie kann ich …?«
Während er redete, zog ich bereits meine Visitenkarte aus dem Ausschnitt meines Kleids, was ihn ganz schön ins Stottern brachte. »Schick mir einfach ein Paar hübsche High Heels in Größe 38 an diese Adresse.« Ich drückte ihm meine Visitenkarte in die Hand.
Wie ein überraschtes Suppenhuhn öffnete und schloss Blondie gleichzeitig Augen und Mund. »Alana McClary? Privatdetektivin?«, las er halbwegs flüssig vor.
Ich hob einen Daumen. »Stets zu Diensten!«
Dann kletterte ich vom Zug, der nun fast auf Schritttempo abgebremst hatte.
* * *
O Mann, was für ein Tag! Zu Hause ließ ich mich erst mal wie ein Sack Mehl auf die schäbige Couch fallen. Wieder so ein paar lebensmüde Teenies … und dann noch auf einem Zug! Meine Fußsohlen hatten inzwischen die Farbe von Schwarzkohle angenommen, nachdem ich barfuß von der Bushaltestelle nach Hause hatte laufen müssen.
Zu meinen Fällen, die ich als Privatdetektivin bearbeitete, war ich heute gar nicht erst gekommen. Nicht, dass es besonders viele gewesen wären … oder besonders interessante. Mrs Murphy zum Beispiel hatte mich beauftragt, ihre entlaufene Katze zu finden.
Mein Fuß stieß gegen etwas Hartes unter dem Couchtisch. Oh, das Buch. Das Buch! Müde angelte ich danach. Mein Mitbewohner und bester Freund Clay hatte es mir vor Kurzem zu meinem 20. Geburtstag geschenkt. Es handelte sich um ein Buch über die Mythischen Sagengestalten Nordeuropas. In ihm fanden sich Zeichnungen und Beschreibungen von Kobolden, Elfen, Wechselbälgern und anderen magischen Geschöpfen Nordirlands und Schottlands.
Natürlich glaubte ich kein Stück von diesem Quatsch.
Clay aber schon. Er wollte mir sogar weismachen, dass Trinity, die in dem Blumenladen unter unserer Wohnung arbeitete, eine Elfe war.
Am lustigsten in diesem seltsamen Buch fand ich die Leprechauns, die angeblich einen Schatz am Ende des Regenbogens versteckt hielten und Glück brachten. Ganz im Gegensatz zu Banshees, irischen Todesfeen, die Unglück brachten und den Tod voraussagten.
Aber Clays Meinung nach war ich genau so ein Wesen. Eine Banshee. Aus diesem Grund hatte er mir auch diesen Wälzer geschenkt.
Unmöglich. Genervt schleuderte ich das Buch einmal quer durch den Raum, wo es gegen die rote Backsteinwand klatschte und verdreht auf dem Boden liegen blieb.
Nein, das war sogar absolut unmöglich! Ich war ein ganz normaler Mensch, keine Banshee-Todesfee. Zugegeben, ein Mensch, der die noch verbleibende Lebenszeit anderer Menschen wie eine Leuchtreklame-Anzeige über deren Köpfen sah.
Das war mir schon in meiner Kindheit klar geworden. Merkwürdigerweise sah ich die exakte Zeit, die anderen noch bis zu ihrem Tod blieb. Das war schon immer so gewesen. Darüber brach ich nicht gerade in Begeisterungsstürme aus, aber ich hatte gelernt, damit zu leben.
* * *
Gerade als ich dem Buch ein Kissen hinterherpfefferte, öffnete sich die Haustür.
»Na, räumst du um?«, fragte Clay.
»Haha, witzig wie eh und je!«, begrüßte ich ihn.
Clay war mein bester Freund und ich liebte ihn wie einen Bruder. Wir waren im selben Kinderheim aufgewachsen und schon seit ich denken konnte unzertrennlich. Die Kinderheimleitung behauptete sogar, wir seien am selben Tag als Babys vor ihrer Tür ausgesetzt worden. Also kannten wir uns praktisch schon immer und waren in all den Jahren nie von der Seite des anderen gewichen.
Dieser Gedanke ließ mich schmunzeln. Vor zwei Jahren, als wir beide endlich 18 Jahre alt waren, zogen wir sofort in diese Wohnung im ersten Stock eines fabrikähnlichen Backsteinhauses in Los Verdes. Eine Kleinstadt etwas östlich von Santa Fe. Die Miete konnten wir geradeso aufbringen. Clay verdiente sein Geld mit Online-Poker und ich – nun ja, mit meiner Detektei, die ich von zu Hause aus betrieb. Ein Büro hatte ich nicht. Aber manchmal überließ mir Trinity ein Nebenzimmer in ihrem Blumenladen für Gespräche mit neuen Klienten.
»Ich habe eingekauft!« Clay zog sich seine große Messenger-Tasche über den Kopf, wobei sein dunkelbrauner Wuschelkopf etwas in Mitleidenschaft geriet. Zum Vorschein kamen Nachos und Käse.
»Yummy!«, lobte ich ihn.
Nachos mit Käse war unser Lieblingsessen. Etwas anderes konnten wir uns auch kaum leisten. Seit der Sache mit Ava waren wir beide eigentlich viel zu fertig, um zu arbeiten. Daher kam kaum noch Geld rein.
Es gab keinen Tag, an dem ich mir nicht wünschte, ich hätte verhindern können, was geschehen war. Clay ging es wohl genauso.
»Wie war dein Tag?«, fragte er jetzt, während er Nachos und Käse in die Mikrowelle verfrachtete.
»Och … wieder so einen Mutprobenjunkie gerettet, sonst aber nichts.«
Clay sah mich an. »Du hast ein Leben gerettet, das ist nicht nichts!«
Ja, ein Leben hatte ich gerettet, aber nicht Avas …
»Und wie lief’s bei dir?«, fragte ich stattdessen.
»150 Dollar bei Texas Hold’em online gewonnen!«
»Ahh! Deshalb die Nachos«, nickte ich verstehend. »Wir feiern.«
»Jap.« Clay ließ sich mit einer Schüssel Nachos und zwei kleinen Wasserflaschen neben mich auf die Couch fallen. Das braune Leder ächzte unter ihm. »Bedien dich!«
Eine Weile aßen wir schweigend. Dann fiel Clays Blick auf das Buch Magische Kreaturen Nordeuropas, das aufgeschlagen mit den Seiten nach unten neben der Wand lag. »Du hast gelesen?«
»Haha«, sagte ich, »du glaubst tatsächlich, ich kann lesen?«
Clay schob sich eine weitere Ladung Nachos in den Mund. »Alana, jetzt bleib einmal ernst. Du kannst dich nicht ewig davor verschließen. Du bist eine Banshee.«
Oh, nicht schon wieder diese Leier! In den letzten Wochen hatte ich genug über Banshees aus Clays Mund gehört, dass es bis an mein Lebensende reichte. »Ach ja?«, schmatzte ich. »In dem Buch steht aber nichts darüber, dass Banshees rote Ziffern über den Köpfen der Leute sehen. Da steht nur, dass sie Menschen erscheinen, die bald sterben werden, oder vor deren Häusern sitzen und den kommenden Tod eines Familienmitglieds beweinen!« Oh, apropos … Verstohlen checkte ich die Ziffern über Clays Kopf. Mit der Zeit hatte ich gelernt, die Zahlen, die die Lebenszeit anzeigten, auszublenden und nahm sie gar nicht mehr richtig wahr – so wie man die neue Frisur eines Bekannten irgendwann nicht mehr registrierte.
Gut. Mein bester Freund hatte noch über 742 Monate. Natürlich hatte Clay meinen Blick bemerkt. »Und wie lange hab ich noch?«
»Mehr als 60 Jahre.« Ich tätschelte seinen Arm. Gott sei Dank! Es hatte sich nichts geändert.
Das Blöde an der Sache mit den Ziffern war: Man konnte sich einfach nicht darauf verlassen, dass sie sich nicht plötzlich änderten.
Auf der Highschool hatte ich gesehen, wie sich Lebenszeiten drastisch verkürzten, als die dazugehörigen Teenager zu ihrer ersten Zigarette gegriffen hatten. Unsere Entscheidungen bestimmten eben unser Schicksal … So lief das einfach.
Meine eigene Uhr sah ich nicht. Nicht mal im Spiegel. Aber das war vermutlich auch besser so. Ich persönlich wollte gar nicht wissen, wann ich das Zeitliche segnen würde.
Clay nahm sich eine weitere Handvoll Nachos und sah mich eindringlich an. »Seit der Sache mit Ava hast du dich verändert. Warum sträubst du dich so dagegen, eine Banshee zu sein? Das ist auch nicht verrückter als deine roten Todeszahlen. Die frühere Alana hätte …«
»Die frühere Alana hätte!«, äffte ich ihn nach. »Es ist aber nun mal passiert. Ava ist tot!«
Unter meinen harten Worten zuckte Clay zusammen.
Wütend erhob ich mich, um in mein Schlafzimmer zu gehen. Ich brauchte Abstand von Clay und seinem Gerede über Banshees. Ja, okay, er hatte mir immer als Einziger geglaubt, wenn ich im Kinderheim von den roten Zahlen über den Köpfen der Menschen gesprochen hatte. Aber das hieß noch lange nicht, dass ich mir jetzt diesen Müll über Banshees und Elfen anhören musste und dass sie tatsächlich existierten! Und schon gar nicht wollte ich jetzt über Ava sprechen. Ava, an deren Tod ich schuld war.
* * *
In meinem Zimmer fiel mir schon nach zwei Minuten die Decke auf den Kopf. Toll. War ja mal wieder typisch.
Meine Gedanken kreisten weiterhin um Ava und all das Unglück, das ich in letzter Zeit wie magisch anzog. Na ja, »in letzter Zeit« stimmte nicht so ganz. Genau genommen lief das schon seit meiner Geburt so, musste ich zugeben. In dieser Hinsicht hatte das verdammte Buch recht. Ich war ein Unglücksbringer.
Leise vor mich hin murmelnd ließ ich mich aufs Bett fallen.
Mein Zimmer war vielleicht nicht das schickste, aber dafür sehr gemütlich eingerichtet, was ich dank jeder Menge bunter Kissen hinbekommen hatte. Am liebsten hätte ich mich hier drin vor der bösen Welt da draußen versteckt. Doch dann fiel mir ein, dass ich ja das Böse war, sozusagen. Und außerdem auch noch hier drin … Arghh! Stöhnend riss ich die Arme in die Luft. Ich war einfach wie zehn schwarze Katzen von links auf einmal. Nein, streng genommen noch schlimmer. Wem hatte ich eigentlich noch kein Unglück gebracht? Sofort fielen mir hundert Gegenbeispiele ein, weshalb ich mir genervt ein Kissen aufs Gesicht drückte.
Ava zum Beispiel.
Oder die ganzen Jungs, die ich im Laufe meines Lebens kennengelernt hatte. Denen hatte ich ausnahmslos Unglück gebracht, denn jede meiner Beziehungen war im Grunde genommen gleich abgelaufen: Ich hatte mich verliebt, aber immer dann, wenn es ernst zwischen uns geworden war, hatte sich die Lebenszeit meines Liebsten drastisch verkürzt. Und dafür konnte es nur einen Grund geben: Weil derjenige mit mir zusammen war. Natürlich hatte ich jedes Mal sofort panisch die Flucht ergriffen. Als eindeutig war, dass jede meiner Beziehungen so ablaufen würde, hatte ich das Daten irgendwann sein lassen. Sicher wären auch meine Freunde besser dran ohne mich. Selbst Clay …
Ich musste hier raus! Mit dem vagen Plan, an den Fluss zu gehen und mich dort mit einem Eis in den Schatten eines Baums zu setzen, schnappte ich mir kurze Jeansshorts, ein hellblaues »Rettet die Wale«-Greenpeace-Top und meine weißen Chucks. So ausgestattet flog ich beinahe die Treppenstufen nach unten ins Erdgeschoss.
Gerade als ich die schwere Eisentür zu unserer Wohnung abgeschlossen hatte (in diesem Viertel von Los Verdes konnte man nie wissen) und mich zur Straße umdrehte, platschte es. Mein rechter Fuß war statt von der Türschwelle auf den Gehweg in etwas sehr Nasses getreten.
»Waaaas?« Verwundert sah ich an mir herunter. Das konnte jetzt aber echt nicht wahr sein! Warum bitte stand auf dem Gehweg direkt vor meiner Tür eine Salatschüssel voll mit Wasser? Und mein rechter Chuck, der in diesem Moment von einem ziemlich fetten Goldfisch umkreist wurde, steckte bis zum Knöchel darin! Wieder ein Fettnäpfchen beziehungsweise Unglück, in das ich mit beiden Beinen reingesprungen war. Nein, halt! In diesem Fall nur mit einem.
Jemand räusperte sich. »Ähm, Miss, Sie stehen in meinem Goldfischaquarium!«
Mit zusammengekniffenen Augen hob ich den Kopf. Ein kleiner Junge von vielleicht sechs Jahren, mit braunen Augen und ebenso braunen Haaren stand vor mir. »Wirklich?«, presste ich hervor. »Ich dachte, ich nehme ein Fußbad …«
Der Kleine schüttelte den Kopf. »Nein, da liegen Sie falsch.«
Toll, jetzt wurde ich auch noch gesiezt! Konnte dieser Tag noch schlimmer werden? So was brauchte ich jetzt echt wie Fußpilz!
Der Junge – nach einem Blick auf seine Lebensuhr nannte ich ihn Tausendsassa, weil er noch mehr als 1000 Monate hatte – war ja ganz schön aufsässig.
»Na schön«, giftete ich. »Was macht dieses verdammte Salatschüssel-Aquarium vor meiner Tür und wie kriege ich meinen Schuh jetzt wieder trocken?« Und vor allem, wie kam ich mit meinem Fuß da wieder raus, ohne den fetten Goldfisch, der neugierig meinen Knöchel beäugte, zu verletzen oder das Gleichgewicht zu verlieren und auf die Schnauze zu fliegen?
Nun wurde der Kleine doch etwas unruhig. »Dylan!«, rief er, während er anklagend mit einem Finger auf mich deutete. »Kommst du mal? Die Frau da macht mir Angst!«
Na klasse. Auch das noch. Und wer war Dylan?
Gerade als ich beide Hände in die Hüften stemmte, um zu einer Moralpredigt anzusetzen, öffnete sich die Tür von Trinitys Blumenladen.
»Rider?« Ein hochgewachsener Mann mit breiten, muskulösen Schultern quetschte sich durch den Türrahmen, bevor sich die Tür ganz geöffnet hatte, und stürzte alarmiert auf den Knirps zu. Dann bemerkte er mich und meinen Fuß in der Schüssel. Die Mundwinkel des Mannes zuckten. »Was wird das? Eine Greenpeace-Aktion nach dem Motto ›Rettet die Goldfische‹, oder so?«
Was? Ach ja, mein Shirt mit dem Anti-Walfang-Aufdruck … »Haha!«, machte ich. »Wirklich amüsant. Aber ich lach dann lieber später.«
»Ich glaube, Nemo fühlt sich von Ihrem Fuß eher in seinem Lebensraum bedroht«, fuhr er fort.
»Entschuldigung? Haben Sie heute Morgen ›lustig‹ gegoogelt oder einfach nur eine Überdosis Antidepressiva genommen?« Böse funkelte ich ihn an. Leider erzielte mein vernichtender Blick durch meine peinliche Situation mit der Salatschüssel nicht den gewünschten Effekt.
Muskelprotz Dylan, ich schätzte ihn auf ungefähr 26 Jahre, grinste blöd. Über seinem Kopf zeigte seine Lebensuhr noch mehr als 610 Monate, also noch etwa 50 Jahre Lebenszeit an.
»Jetzt helfen Sie mir wenigstens hier raus!« Ohne auf eine Antwort zu warten, streckte ich einen Arm aus, um mich an ihm abzustützen. So gelang es mir schließlich, meinen Fuß zu befreien, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Und Nemo war auch noch in einem Stück.
Ich besah mir meinen Schuh. Super. Total durchweicht. Dann fiel mir auf, dass ich immer noch an der Schulter des unverschämten Muskelprotzes hing. Mist! Schnell rückte ich ein Stück von ihm ab.
Wenigstens freute sich Tausendsassa, der wohl Rider hieß. »O gut, dann können wir Nemo ja jetzt zum Fluss bringen.«
Überrascht sah ich zuerst den Kleinen und dann Dylan an.
»Mein Bruder und ich entlassen Nemo heute in die Freiheit«, erklärte Dylan.
Aha. »Schon mal was von einer Klospülung gehört?«, erkundigte ich mich. »Dadurch bringt man auch nicht anderer Leute Schuhe in Gefahr!« Bei den letzten Worten hob ich meine Stimme deutlich an, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen.
Völlig unbeeindruckt hob Rider seinen Goldfisch in der Salatschüssel auf. »Mir wird das hier zu kindisch. Komm, Nemo, wir gehen.« Und damit drehte sich Rider um und ging davon.
Der Kleine hatte ja echt Nerven!
Wütend starrte ich ihm hinterher. In seinem Alter war ich sicher nicht so gewesen! Da hatte ich Respekt gezeigt gegenüber Älteren!
Sein Bruder Dylan machte dagegen noch keine Anstalten zu gehen, sondern grinste mich breit an. Was gab es denn jetzt noch so dämlich zu grinsen? Irgendwie stand ihm das enge schwarze Shirt ja schon und anscheinend wusste er auch, dass er verdammt gut aussah.
Wie ich solche eingebildeten Kerle hasste! Genervt verschränkte ich die Arme vor der Brust. »Was?«
»Ihr Schuh ist nass«, informierte er mich trocken.
Schneller als eine Nasa-Rakete ging ich in die Luft. »Wie bitte? Haben Sie keine eigenen Probleme?«
»Eigentlich schon.« Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als ob er sich selbst wieder zur Vernunft bringen müsste. »Mein Name ist übrigens Dylan Shane. Und Sie sind?«
»Alana Geht-Sie-nichts-an«, antwortete ich patzig. Warum sollte ich dem Idioten auch meinen Namen verraten? Zugegeben, er war ein hübscher Idiot. Aber Idiot blieb Idiot.
»Hm, verstehe … Alana McClary, nehme ich an?« Der Idiot kramte in seiner Hosentasche und zog eine Polizeimarke hervor. »Police Department Santa Fe.«
Was? Ich verschluckte mich fast an meiner eigenen Zunge.
Dylan Shane grinste dämlich. »Eine Überwachungskamera hat aufgezeichnet, wie Sie heute von der Canyon-Brücke auf einen Zug gesprungen sind.«
Oh, oh …
Keine Sorge, deswegen bin ich nicht hier.« Immer noch mit einem schiefen Grinsen im Gesicht nahm Detective Dylan Shane seine Dienstmarke wieder runter.
Puh.
Erneut kramte der unverschämte Muskelprotz – der, wie sich herausgestellt hatte, ein unverschämter Detective war – in seinen Hosentaschen. »Ich möchte nur wissen, ob Sie mit angesehen haben, wie dieser Junge entführt wurde.«
Bevor ich ganz begriffen hatte, was geschah, hielt er mir ein Foto unter die Nase. Moment mal, den hatte ich doch schon mal gesehen! Es war der Typ mit dem Infinity-Zeichen auf dem Shirt.
Der Kumpel von dem Blonden, dem ich heute Vormittag das
Leben gerettet hatte. Groß, dunkelhaarig, verwegener Blick. O nein!
Stöhnend fuhr ich mir mit der Hand durch die Haare.
Detective Unverschämt beobachtete mich genau. »Scott Dayling wurde heute am späten Vormittag in eine schwarze Limousine gezerrt, gleich nachdem er den Bahnhof in Fullerton verlassen hatte. Sein Freund Justus Newman hat ausgesagt, Sie wären kurz vorher noch bei ihnen gewesen. Wissen Sie vielleicht mehr darüber?«
Da hatte er recht. Warum hatte ich Blondie auch meine Visitenkarte geben müssen? Dafür hätte ich mich jetzt wirklich ohrfeigen können!
Trotzdem hatte ich ja nichts zu verbergen. Also hob ich eine Augenbraue. »Ich habe diesen Justus davon abgehalten, einen großen Fehler zu begehen, gewissermaßen, aber danach bin ich gegangen. Was mit diesem Scott passiert ist, kann ich nicht sagen.«
»Einen Fehler, wie von einem Zug zu springen?«, hakte er nach.
»Kann man so sagen.«
Gut, das war nicht die volle Wahrheit. Aber wie hätte ich das mit Justus’ ablaufender Uhr erklären sollen? Und wie ich von seinem nahenden Ende hatte wissen können, als er mir heute Vormittag zufällig über den Weg gelaufen beziehungsweise gerannt war? Allerdings fand ich diese kleine Notlüge nicht wirklich schlimm. Schließlich hatte ich ja nichts zu befürchten, oder? Dieser Detective hatte mir noch nicht mal meine Rechte vorgelesen … Er dachte also sicherlich nicht, dass ich etwas mit der Entführung zu tun hatte?
Mir fiel wieder ein, dass Detective Shane eben aus Trinitys Blumenladen gekommen war. Empört reckte ich das Kinn. »Haben Sie etwa Trinity Wood nach mir ausgefragt? Dürfen Sie das überhaupt? Ich bin schließlich keine Verbrecherin!«
»Ich bin heute nicht im Dienst, aber nachdem meinen Kollegen Ihre Visitenkarte zugespielt wurde, haben sie mich benachrichtigt. Zufällig wohne ich hier ganz in der Nähe. Bei Entführungen zählt jede Minute und Sie sind eine Spur, verstehen Sie?«
Beinahe hätte ich laut aufgelacht. Ich war eine Spur? Ja, normalerweise war ich tatsächlich eine Art blinkendes Hinweisschild mit der Aufschrift »Ärger hier!«, gegen das jede Leuchtreklame in Las Vegas wie ein schlechter Witz wirkte. Aber dieses Mal konnte ich ja wirklich nichts dafür … Oder etwa doch? Hatte ich diesem Scott durch mein Auftauchen Unglück gebracht? Hatte ich, indem ich seinen Freund Justus gerettet hatte, Scotts Schicksal verändert?
Krampfhaft versuchte ich mich daran zu erinnern, wie viel Lebenszeit Scotts Uhr angezeigt hatte, als ich ihm begegnet war. Leider ohne Erfolg. Es mussten jedenfalls noch mehrere Monate gewesen sein, sonst wäre es mir aufgefallen. Aber wie gesagt, man konnte nie wissen, welche Entscheidungen ein Schicksal änderten …
»Geht es Ihnen nicht gut?«, unterbrach Detective Shane meine Gedanken.
Als Antwort schüttelte ich nur den Kopf. Irgendetwas störte mich an den letzten Momenten mit Scott auf dem Zug, wenn ich so daran zurückdachte. Aber was? Was war faul an der Sache?
»Wenn Ihnen noch etwas einfällt, hier ist meine Karte«, fuhr der Detective fort.
»Hm«, brummte ich, immer noch in Gedanken. Was war falsch an der Sache mit Scott?
Während ich noch mein Gehirn nach Informationen über Scott Dayling durchforstete, musterte mich Dylan Shane weiterhin irritiert. »Sie sehen irgendwie nicht gut aus …«
Ach wie nett. »Na so ein schönes Kompliment habe ich ja noch niiie gehört!« Ich zog das Wort »nie« in die Länge wie ein aufgedrehter Opernsänger das hohe C in seinem Solo-Finale. »Haben Sie nicht noch ein Telefonat zu führen, oder so? Ich dachte, jede Minute zählt.« Wenn dieser Kerl mich so dämlich von der Seite ansah, konnte ich nicht richtig nachdenken.
»Störe ich Sie bei irgendwas?«, wollte er wissen.
»Ja, ich versuche hier meinen Schuh trocknen zu lassen, vielen Dank!«, gab ich patzig zurück. Konnte er nicht irgendwo jemand anderem auf die Nerven gehen?
Wieder zuckten die Mundwinkel des Detectives. »Okay, dann störe ich Sie lieber nicht länger. Ich sehe, Sie haben Wichtigeres zu tun, als mit mir zu reden …«
Endlich zog er von dannen in Richtung Fluss, während er im Laufen etwas in sein Handy tippte. Sicher ein Strafzettel wegen Beamtenbeleidigung. Oder er wollte einfach seinen Kollegen die Sache mit dem Goldfisch brühwarm erzählen.
* * *
Hinter mir räusperte sich jemand. »Sehr charmant von dir!« Es war Trinity, die vor sich hin schmunzelnd an dem Türrahmen ihres Ladens lehnte. Das weißblonde Haar fiel ihr heute offen bis über die Taille. »Genauso lernt man Männer kennen, Schätzchen. Ich bin wirklich stolz auf dich.«
»Hör mir auf mit dem!«, motzte ich. »So einen Idioten würde ich nicht mal daten, wenn …« Ich verstummte.
»Nicht mal wenn was?« Trinity neigte den Kopf zur Seite, während sie mich mit ihren intelligenten, eisblauen Augen fixierte.
»Nichts«, nuschelte ich.
Trinity wusste nichts von den Todesuhren, die ich sah. Apropos … Unwillkürlich hob ich den Kopf und checkte ihre Anzeige. 450:21:10:55. Gut, sie hatte immer noch einige Jahrzehnte, und das, obwohl wir seit ein paar Monaten befreundet waren.
Trinity war 26 Jahre alt, also sechs Jahre älter als Clay und ich. Manchmal behandelte sie uns aber wie ihre Kinder, worüber ich mich insgeheim freute.
Trotzdem wollte ich jetzt nicht mit ihr über meine angeblichen Beziehungsängste sprechen.
»War dieser Detective bei dir, um dich über mich auszuquetschen?«, fragte ich stattdessen, um vom Thema abzulenken.
Trinity nickte. »Er war im Laden und hat gefragt, ob du hier wohnst und ob ich Scott kenne.«
Überrascht riss ich die Augen auf. »Du kennst diesen Scott? Das Entführungsopfer?«
»Ja«, gab Trinity zu. »Er ist im selben Bogenschützenverein wie ich. Daher kenne ich ihn flüchtig.«
»Und nun wurde er entführt«, murmelte ich. »Zufällig habe ich ihn heute Vormittag in Fullerton getroffen und seinem Freund meine Visitenkarte gegeben. Deshalb wusste der Detective auch von mir.«
Trinitys Blick schien mich zu durchbohren wie ein menschlicher Lügendetektor. Verdammt, sie war gut! Bestimmt ahnte sie bereits, dass das nicht die volle Wahrheit war.
Aber wie sollte ich erklären, dass ich auf einen Zug gesprungen war, um jemandes Leben zu retten, wenn ich nicht sagen konnte, woher ich vom baldigen Ableben der Person wusste? Schnell wandte ich den Blick ab. »Also dann … wir sehen uns später, Trin! Ich muss los.« So schnell und gleichzeitig so lässig, wie es mit einem quietschenden, nassen Schuh möglich war, spurtete ich davon, zu meinem Lieblingsplatz am Fluss, wo ich hoffentlich ungestört nachdenken konnte.
Die Sache mit Scott ließ mich nicht los. Ein Gedanke, den ich nicht richtig zu fassen bekam, schwirrte in meinem Kopf herum – so als sollten mir die einzelnen Informationen über ihn etwas sagen …
Und dann geschah es. Schon ein paar Sekunden bevor es
passierte, spürte ich es kommen. Das ungute Gefühl im Magen und die aufsteigende Gewissheit, dass sich mein Kiefer gleich unter einem markerschütternden Schrei fast ausrenken würde.
Mir wurde schlecht. Nein, nicht schon wieder! Das war einfach zu viel für heute.
Einen Moment lang fühlte ich mich an den Tag zurückversetzt, an dem es das erste Mal passiert war. Mit acht Jahren, als ich mit dem Kinderheim auf dem Weg zu einem Ausflug in den Zoo gewesen war, hatte ich aus unerklärlichen Gründen einen betrunkenen Mann angeschrien, der vor mir über den Bahnsteig getaumelt war. Die Uhr über seinem Kopf hatte fast nur Nullen gezeigt. Während mich meine Betreuer zurechtgewiesen hatten, hatte ich kurz darauf endlich begriffen, was es mit den Zahlen über den Köpfen der Menschen auf sich hatte. Denn keine zwei Minuten später fuhr ein Zug in den Bahnhof ein und der betrunkene Mann stürzte auf die Gleise. Es war ein schrecklicher Anblick gewesen, trotzdem hatte es mich irgendwie erleichtert, da ich nun endlich verstand, was mit mir los war: Ich sah die Lebenserwartung der Menschen und ich schrie sie automatisch wie eine Warnsirene an, wenn ihr Tod kurz bevorstand.
Aber wer war es jetzt? Hektisch sah ich mich um.
Links von mir lag der Albertson River, der eigentlich ein künstlich angelegter Kanal war. Hier im Downtown Park in Los Verdes wimmelte es heute nur so vor Menschen. Mit meinen Augen suchte ich die Menge ab.
Da vorn telefonierte Detective Dylan Shane und etwa 20 Meter weiter entleerte Rider gerade die Salatschüssel in den Fluss. Etwas zog mich zu dem Jungen. Er stand gefährlich nah am Wasser.
Meiner Vorahnung folgend beschleunigte ich meine Schritte. »Rider, pass auf!«, schrie ich ihm zu.
Rider zuckte zusammen, als er mich schreien hörte. Vor Schreck entglitt ihm die Schüssel. »O Mist!«, fluchte er. Flink, wie er war, ging er in die Hocke und beugte sich nach vorn, um im Wasser nach der Schüssel zu angeln.
»Lass das!«, rief ich.
An dieser Stelle wurde der Kanal sehr schnell tief. Die Strömung war zwar nicht stark, aber tückisch.
Doch es war zu spät. Rider verlor das Gleichgewicht und fiel nach vorn. Im gleichen Moment sprang seine Lebensuhr von über 1000 Monaten auf gerade mal noch eine Minute um.
O verdammt! Mir entfuhr der typische Todesschrei, bei dem sich mein Kiefer beinahe komplett ausrenkte. Es war fast wie beim Gähnen – eine Art Reflex, den ich einfach nicht unterdrücken konnte.
Die Leute im Park warfen mir verwunderte Blicke zu, aber keiner sah in Riders Richtung und bemerkte, in welcher Gefahr er schwebte.
Ich dagegen ließ ihn nicht aus den Augen und raste wie eine aufgescheuchte Nilpferdmama auf ihn zu.
Sein kleiner Körper wurde vollständig vom Fluss verschluckt. Kurz darauf tauchten Riders Haarschopf und zwei wild umherrudernde Kinderhände wieder auf. Bevor irgendjemand anderes reagieren konnte, sprang ich ihm hinterher, mitten in das graublaue Kanalwasser. »Rider!«
Wenn dieses Kind jetzt ertrank, war das ganz allein meine Schuld!
Wild um sich schlagend trieb Rider im Wasser. Schwimmen hatte er scheinbar noch nicht gelernt.
Sobald ich die Wasseroberfläche durchbrochen hatte, sogen sich meine Schuhe sowie meine Kleider mit Wasser voll. So schnell ich konnte, kraulte ich auf Rider zu.
Verflucht, die Strömung trieb ihn weiter und weiter von mir weg. Immer wenn ich dachte, ich hätte den Kleinen fast erreicht, entglitt er mir wieder.
Jetzt bekam auch der gesamte Downtown Park inklusive Dylan Shane mit, was passiert war. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Leute mit aufgerissenen Mündern auf uns deuteten und Dylan laut brüllend angelaufen kam.
Endlich bekam ich Riders Arm zu fassen.
Der Kleine zitterte, spuckte Wasser und klammerte sich an mir fest, sodass ich auf einmal selbst fast unterging. Nun war ich
diejenige, die Wasser spuckte. Immer wieder tauchte ich unter,
hob aber Rider, so gut es ging, über die Wasseroberfläche. Das war’s dann wohl für mich. Lange würde ich das nicht mehr durchhalten.
Auf einmal packte mich jemand und zog mich nach oben.
Es war Dylan, der mich und Rider zum Ufer schleppte.
»O Gott, Rider, was ist passiert?« Er zog seinen Bruder aus meinen Armen und half dann auch mir aus dem Wasser.
Die Menschentraube um uns herum atmete auf. Das Kind war gerettet. Und keiner von ihnen hatte sich nass machen müssen, dachte ich bitter. Nein, das hatten sie mal schön Dylan und mir überlassen.
Von irgendwoher wurden bunt gemusterte Picknickdecken gereicht, in die sie uns einfach zu dritt einwickelten. Scheinbar wurde allgemein angenommen, dass wir eine dreiköpfige Familie waren. Unsanft wurde ich gegen Dylan gepresst, der den nach Luft schnappenden Rider auf dem Arm hielt. Eine absolute Unverschämtheit. Erst nichts tun und dann das!
Bevor ich wusste, wie mir geschah, klebte ich an Dylans Brust. Eingewickelt in einen altmodischen Blüten-Albtraum, der den Namen Picknickdecke nicht mal ansatzweise verdient hatte. Ich schielte nach oben.
Mit seinen großen Augen sah Rider mich an. »Danke.«
»Ja. Danke, dass Sie meinen Bruder gerettet haben«, murmelte nun auch Dylan. »Wie Sie da einfach in den Fluss gesprungen sind …«
»Na ja«, winkte ich ab. »Mein rechter Schuh war ja eh schon nass …«
Dylan sah aus, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er jetzt lachen oder weinen sollte. Am Ende beließ er es bei einem durchdringenden Blick.
Was war denn jetzt mit ihm los?
Schnell checkte ich Riders Uhr. Wieder mehr als 1000 Monate. Gut. Ich hatte nicht versagt. Über Dylans Kopf leuchteten mir die Zahlen 610:26:11:08 entgegen. Den beiden ging es gut, also wurde ich hier jetzt nicht mehr gebraucht.
Die anderen Schaulustigen entfernten sich ebenfalls.
Perfekt. Ich schüttelte die Decken ab und löste mich aus dieser kuscheligen, triefnassen Dreierumarmung. Toll, jetzt roch ich zu allem Überfluss auch noch nach nassem Hund. Achselzuckend wandte ich mich zum Gehen.
»Warten Sie!« Dylan packte mich am Handgelenk.
Überrascht fuhr ich herum.
»Wie kann ich Ihnen danken?« Dylans Stimme klang heiser.
Gerade wollte ich meine üblichen Honorarvorschläge in Form von Schuhen oder Ähnlichem unterbreiten, da blieb mir die Luft weg.
Dylan Shanes Atem ging dagegen schnell, während er mich auf weniger als eine Armeslänge von sich entfernt hielt. Meine Güte, war er vorhin auch schon so attraktiv gewesen? Die Muskeln unter seinem Shirt bebten, als sei er gerade einen Marathon gelaufen …
Langsam ließ ich meinen Blick über seinen Oberkörper bis zu seinem Gesicht wandern. O nein, Alana, ermahnte ich mich selbst. Bleib stark, du weißt, was sonst passiert! Und du hast heute schon ein Leben gefährdet … Das stimmte. Hätte ich Rider nicht erschreckt, wäre die Salatschüssel vielleicht nie im Fluss gelandet und Rider nicht hinterhergestürzt. Innerlich verpasste ich mir eigenhändig eine Ohrfeige. Alana McClary, es ist besser, du nimmst jetzt beide Beine in die Hand, und das sehr schnell!
»Alles gut. Sie müssen sich nicht bedanken«, murmelte ich verwirrt. Dann riss ich mich los, bevor ich Gefahr lief, dass er durch meine bewundernden Blicke noch eingebildeter wurde.
Was war nur mit mir los? Ich brauchte dringend jemanden zum Reden. Eine Freundin. Ava, schoss es mir durch den Kopf. Nein, das ging jetzt nicht mehr …
Trinity und Siri mussten arbeiten. Obwohl, Siris Schicht im American Diner hatte sicher gerade erst begonnen und es war noch nicht viel los. Während ich so schnell wie möglich den Park hinter mir ließ, spürte ich den Blick von Dylan Shane weiterhin in meinem Rücken, was tief in mir einen widersprüchlich warmen und zugleich kalten Schauder auslöste. Das kam aber sicher nur durch die klitschnassen Klamotten und die Hitze.
Der Knoten in meinem Gehirn zog sich immer mehr zusammen, als ich nach Hause lief, um meine nassen Klamotten zu wechseln. Wie gern hätte ich jetzt mit Ava, mit der ich immer über alles hatte reden können, gesprochen … Aber zu allem Überfluss war es auch noch meine Schuld gewesen, dass sie an diesem Tag in der Mall gewesen war. Schnell versuchte ich den Gedanken zu vertreiben.
Meine akuten Probleme waren ganz klar: Scotts Verschwinden, der komische Detective Dylan Shane und, na ja, irgendwie das grundsätzliche Problem meiner Andersartigkeit. Die Sache mit den Todesuhren …
Nebenbei sollte ich wohl auch noch ein paar Detektivfälle lösen und endlich mit meinem eigenen Fall vorankommen, dessen Akte ich schon mit zehn Jahren geöffnet hatte. An meinem zehnten
Geburtstag hatten Clay und ich uns nachts unter meinem Bett im Kinderheim versteckt – Jungs waren im Mädchenschlafsaal
verboten – und hatten mit Taschenlampen bewaffnet auf ein Blatt Papier geschrieben: Alanas Akte – Fall 1: Alanas Mutter und Vater finden.
Dasselbe hatten wir in Clays Akte geschrieben. Dass wir seine Eltern finden wollten, war unser zweiter Fall.
Über die Jahre waren aber leider alle Spuren im Sand verlaufen.
Immer noch hatte ich absolut keinen brauchbaren Hinweis,
woher ich kam. Außer einer Decke und einem Brief, in dem mein Name und Geburtsdatum stand, hatte sich nichts weiteres in dem Korb befunden, in dem ich ausgesetzt worden war. Komischerweise hatte Clay einen ähnlichen Zettel bei sich getragen und war wenige Stunden nach mir im Kinderheim angekommen. Alles sehr merkwürdig. Geschwister waren wir allerdings nicht. Das hatten sie im Labor testen lassen. Niemand hatte herausfinden können,
woher wir kamen und wer unsere Eltern waren.
Wie auch immer.
Im Flur schlüpfte ich eilig aus meinen nassen Schuhen und ließ sie samt Socken achtlos zu Boden fallen.
Fünf Minuten später stand ich in meinem weißen Sommerkleid und Sandalen wieder auf der Straße und eilte in Richtung American Diner.
* * *
Das Diner war wie in einem Film der 60er-Jahre gestaltet. Außen rosa, innen schwarz-weiß karierter Linoleumboden und Kellnerinnen in rosa Kleidern mit weißen Schürzen.
Die Tür klingelte, als ich sie aufstieß.
Sofort drehten sich alle Köpfe zu mir um.
Hoch erhobenen, nassen Hauptes durchquerte ich das Diner und ließ mich auf den hintersten Platz an der Theke fallen.
Zwei Sekunden später hielt mir Siri einen Eiskaffee unter die Nase. Komisch. Als ob sie gewusst hätte, dass ich kam. »Na, Süße«, begrüßte sie mich, »regnet es draußen?«
»Haha«, machte ich, während ich mir meine feuchten Haare aus der Stirn strich. »Ich war schwimmen.«
»Verstehe. Man erzählt sich, eine hübsche Brünette sei in den Fluss gehüpft. Jetzt muss ich fast annehmen, dass du das warst.«
Himmel! Die Story machte also schon die Runde!
»Hast deinen Rettungsschwimmerschein gemacht und darfst jetzt
den roten Baywatch-Badeanzug tragen?« Siri grinste verschlagen. Ihre türkis gefärbten kinnlangen Haare passten nicht recht zu ihrem Kellnerinnen-Outfit. Obwohl … Eigentlich sah sie aus wie zwei Sorten Zuckerwatte. Rosa und türkis. Zum Anbeißen süß.
Ich rümpfte die Nase. Ein wenig erinnerte sie mich an Jennifer
Aniston in jungen Jahren, nur eben mit türkisfarbenen Haaren. Glücklicherweise zeigte ihre Lebensuhr noch mehr als 800 Monate, also brauchte ich mir um Siri keine Sorgen zu machen. Vorerst.
»Komm schon, Alana. Was war heute los? Erzähl mir alles. Ich hab Zeit. Hab den Kunden was in ihren Kaffee getan, die werden nicht stören.« Sie zwinkerte mir zu.
»Ja klar, guter Witz.« Einen Moment schloss ich die Augen, dann begann ich Siri alles zu erzählen. Die ganze verdammte Geschichte von diesem ganzen verdammten Tag.
»Ach, Süße«, seufzte Siri, als ich geendet hatte, während sie mich aus ihren bernsteinfarbenen Augen musterte.
Ein glatzköpfiger Mann mit leerer Kaffeetasse näherte sich uns.
»Nicht jetzt!«, zischte Siri.
Der Glatzkopf zog den Kopf ein und verschwand sofort wieder.
»Reizend, Siri, das gibt heute bestimmt ein dickes Trinkgeld«, lobte ich sie spöttisch.
»Jaja.« Siri machte eine wegwerfende Handbewegung. »Jetzt lenk mal nicht ab, Alana. Hier.« Sie reichte mir eine rosa Papierserviette. »Schreib eine To-do-Liste. Ich fange an, bei deinen Problemen den Überblick zu verlieren.«
* * *
Nach einer Viertelstunde stand auf meiner Serviette in fein säuberlicher Handschrift:
1. Meine Eltern finden
2. Clays Eltern finden
3. Herausfinden, was mit Scott Dayling geschehen ist
4. Mir Dylan Shane vom Hals halten
5. Den verdammten Kater finden
»Interessant«, meinte Siri nach einem Blick auf meine Serviette. »Ich hätte vielleicht noch hinzugefügt: ›Sechstens, weniger griesgrämig durch die Gegend laufen‹, aber okay …«
Grinsend warf ich ein Geschirrtuch nach ihr, das auf der Theke gelegen hatte. »Du spinnst ja wohl! Ich und griesgrämig? So schau ich eben aus, wenn ich nachdenke!«
»Ist klar. Also heute Abend um neun Uhr bei euch? Wenn Shelly noch auftaucht, kann ich früher Schluss machen. Ich bring mit, was an Diner-Resten übrig bleibt.«
Shelly war Siris Kollegin. Seit ein paar Tagen war sie allerdings nicht mehr zur Arbeit erschienen. Das war aber nicht allzu verwunderlich, denn sie feierte gerne wilde Partys.
»Okay«, nickte ich. »Dann sag ich noch Trinity Bescheid.
Bis später.« Und damit erhob ich mich mit meiner To-do-Serviette in der Hand vom Barhocker, der lustige Quietschgeräusche machte, als ich von seinem Kunstleder herunterrutschte.
Wieder wandten sich alle Köpfe im Diner zu mir um.
Mist! So viel Aufmerksamkeit war mir gar nicht recht. Ich wollte nicht das Stadtgespräch sein, Riders Rettung hin oder her. Diese
verdammte Kleinstadt! Wäre ich lieber in Santa Fe wohnen geblieben!
* * *
Zu Hause empfing mich Clay mit vorwurfsvollem Blick. Sein Haar klebte ihm verschwitzt an der Stirn und er trug Joggingklamotten. Im Wohnzimmer hinter ihm lief eine Nachmittagssendung auf voller Lautstärke.
»Was macht deine nasse Socke auf meiner Pizza?« Er hielt mir einen Pizzakarton mit einer halben Pizza unter die Nase, in dessen Mitte
eine von meinen Socken klebte. »Die wollte ich noch aufessen!«
Ups. »Verdammt, damit bist du jetzt wohl eine freie Hauselfe!«, sagte ich. Was sollte ich auch anderes machen, als zu versuchen, die
Situation mit einem Scherz zu retten? Tatsächlich musste ich die Socke
irgendwie verloren haben, als ich mich vorhin eilig umgezogen hatte.
Clay sah mich entgeistert an. Der Pizzakarton entglitt seinen
Fingern und fiel zu Boden. Komisch. Sonst verstand er doch Spaß.
»Warum lässt du auch einen offenen Pizzakarton auf dem Sofa liegen?«, hakte ich nach.
Clay fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich … konnte nicht alles aufessen, weil wir ja schon Nachos hatten …« Sein Gesicht hatte einen unnatürlichen Weißton angenommen.
Also irgendwie war Clay heute seltsam.
»Siri bringt später Diner-Resteessen mit. Wirf die Pizza einfach weg.« Damit war das Thema für mich – sprichwörtlich – gegessen.
»Alana?«
Auf dem Weg zu meinem Zimmer hielt ich inne, als ich Clay meinen Namen aussprechen hörte.
»Ich muss dir was sagen.«
Verwundert drehte ich mich um. »Was?« Um ihn besser hören zu können, musste ich ein Stück zurückgehen, denn der Fernseher,
der gerade eine Nachrichtensendung zeigte, lief auf Presslufthammer-Lautstärke.
»Also …« Clay kratzte sich am Kopf. »Ich weiß nicht, wie ich dir das sagen soll …« Er sah zu Boden. »Alana …«
»Shht!«, unterbrach ich ihn. Der Bericht in den Nachrichten hatte plötzlich meine volle Aufmerksamkeit erregt.
»… wurde heute Morgen in Downtown, Santa Fe die Leiche einer 17-jährigen Kellnerin aus Los Verdes gefunden. Nähere Umstände zu ihrem Tod gibt die Polizei bisher nicht bekannt, doch einige Augenzeugen, die die Leiche fanden, beschrieben ihren Zustand als ›ausgeblutet‹«, berichtete soeben eine blonde
Reporterin, die vor einer mit Polizeibändern abgesperrten Gasse stand. Im Hintergrund konnte man ein paar Polizeibeamte um einen Leichensack herum stehen sehen.
O mein Gott, das musste Shelly sein! Siris Kollegin! Wie viele andere Kellnerinnen aus Los Verdes in diesem Alter konnte es schon geben? Verdammt! Sie war seit Tagen nicht im Diner erschienen. Ab und zu hatte ich mit ihr im Diner gequatscht. »Da … da …«, stotterte ich.
»Hm?« Jetzt wandte auch Clay seine Aufmerksamkeit dem Fernseher zu.
Gerade wurde ein Passbild von Shelly eingeblendet. Wir hatten immer Witze darüber gemacht, dass sie ganz genau wie Barbie aussah und nicht wie Shelly.
»… Die Polizei bittet um Ihre Mithilfe. Hinweise zum Mord an Shelly K. geben Sie bitte an die örtliche Polizeistelle weiter.«
»Ach du Scheiße, ist das Barbie-Shelly?«, japste Clay.
»Sieht fast so aus«, antwortete ich lahm.
Unfassbar. Shelly war tot.
Auch Stunden später konnte ich es nicht begreifen. Wer tat so etwas? Wer hatte die hübsche, verrückte Shelly ermordet?
Gegen acht Uhr lieferte Dylan seinen Bruder zu Hause ab. »Hey, ihr zwei!«, begrüßte ihn seine Mutter Samantha. »Hattet ihr beiden Spaß?«
»Tja, was das angeht …« Dylan reichte ihr zunächst Riders Tasche mit den noch feuchten Klamotten vom Vormittag und kratzte sich dann am Kopf.
»Ich bin fast ertrunken!«, berichtete Rider stolz.
»Was?«
»Na ja, das war so …« Dylan gab sich Mühe, seinen Bericht so sachlich wie möglich abzuliefern. Ganz genauso, wie er es im Polizeirevier getan hätte.
Am Ende war seine Mutter einfach nur froh, dass ihren beiden Jungs nichts geschehen war. Die anschließende Standpauke hielt sich jedenfalls in Grenzen.
Ein Anruf auf Dylans Handy unterbrach das versöhnliche Schweigen. »Entschuldigt mich, ich muss da rangehen. Wir sehen uns dann nächstes Wochenende wieder«, verabschiedete sich Dylan, insgeheim froh darüber, so einfach davongekommen zu sein.
»Detective Shane«, nahm er den Anruf entgegen.
»Officer Roy Dunmore hier. Es tut mir leid, Sie an Ihrem freien Tag zu stören, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass eine weibliche Leiche in Santa Fe gefunden wurde, Shelly King. Sie wurde ermordet.
Detective Rowland ist der Ansicht, dass der Mord und die Entführung von Scott Dayling zusammenhängen. Die Zeit drängt also. Wir benötigen alle verfügbaren Detectives vor Ort. Bitte finden Sie sich sofort im Police Department ein.«
Bevor Dylan etwas antworten konnte, hatte Dunmore einfach aufgelegt.
Na super. Seinen Urlaub konnte er jetzt vergessen. Wenn die Entführung von Scott Dayling allerdings mit diesem Mord zusammenhing, würden sie bald noch viel größere Probleme haben als einen abgesagten Urlaub …
»Warum Shelly?« Siri vergrub das Gesicht in den Händen.
Unsicher rutschte ich ein Stück näher an sie heran.
Das braune Leder der Couch quietschte und irgendwie passte dieses unangemessene Geräusch zu meinem unbeholfenen Wesen. Ich wusste einfach nicht, was in dieser Situation zu tun war. Zwar hatte ich schon viele Menschen sterben sehen, doch da hatte ich das Trösten der Angehörigen fast immer anderen überlassen.
Doch scheinbar schien Trinity es zu wissen. Sie stand hinter Siri und hatte ihr die Hände auf die Schultern gelegt. »Du kannst nichts dafür. Sie werden ihren Mörder schon finden.«
»War die Polizei schon im Diner?«, wollte Clay wissen.
»Ja«, schluchzte Siri. »Die haben mich und meine Angestellten zu Shelly befragt.«
Betroffen blickte Clay zu Boden.
Ich streckte eine Hand aus, um ihm beruhigend über den Nacken zu streichen. Irgendwie hatte ich das Bedürfnis, Clay und Siri wenigstens durch meine Berührungen Trost zu spenden. Das Reden überließ ich dabei liebend gerne den beiden.
»Kommt ihr zur Beerdigung? Ich werde eine ausrichten lassen, Shelly hatte keine Familie«, brachte Siri zwischen zwei Schluchzern hervor. Ihr türkisfarbenes Haar stand nach allen Seiten ab.
»Natürlich kommen wir«, bestätigte Clay.
Das durfte doch alles nicht wahr sein! Anstelle eines gemütlichen Treffens im Diner würden wir Shelly das letzte Mal auf ihrer eigenen Beerdigung sehen. Das Leben war so ungerecht!
Später am Abend setzte ich einen weiteren Punkt auf meine To-do-Serviette. Der Kuli kratzte über das rosa Tuch, während ich schrieb:
6. Shellys Mörder finden
* * *
Am nächsten Morgen schleppte ich mich gegen halb acht in die Küche. Die ganze Nacht lang hatte ich über Shellys Tod nachgegrübelt. Ihre Lebensuhr hatte bei unserem letzten Zusammentreffen noch über 30 Jahre angezeigt. Hatte sie danach irgendwelche verhängnisvollen Entscheidungen getroffen? Vielleicht hatte sie neue Bekanntschaften gemacht und war an die falschen Leute geraten.
Hm … Ich würde all ihre Freunde befragen müssen, um Licht ins Dunkel zu bringen.
Ein Blick in den Spiegel verriet mir, dass ich aktuell wie ein schlecht gelaunter Troll mit Allergieschock aussah. Reizend! Hatte ich nicht gestern erst ein ähnliches Bild von einem Geschöpf in meinem Magische-Wesen-Buch gesehen? Wie war sein Name noch gleich gewesen? Obwohl ich so tief wie möglich in meinem Hirn stocherte, flutschte mir der Name immer wieder davon. Eine leise Stimme in meinem Hinterkopf beharrte darauf, dass das eine
wichtige Information sei, doch ich schüttelte am Ende nur genervt den Kopf. Der Troll brauchte jetzt seinen Kaffee!
»Guten Morgen, Sonnenschein!«, begrüßte mich Clay, als er um die Ecke bog.
Ich hob den Kopf.
Einen Moment später schien Clay die Sache mit Shelly wieder eingefallen zu sein. »O ähm. Sorry. Mein Hirn war irgendwie gerade …«
»… offline?«, vervollständigte ich seinen Satz.
Bevor er weiterredete, biss sich Clay kurz auf die Unterlippe. »Das war unpassend von mir. Sorry. Also, Alana«, er angelte sich eine Banane aus der Obstschale und ließ sich dann auf dem Barhocker
mir gegenüber nieder. »Wirst du versuchen herauszufinden, was mit Shelly geschehen ist?«
»Natürlich«, nickte ich grimmig.
»Okay«, fuhr Clay fort. »Aber ehe du gleich losstürmst, muss ich noch kurz mit dir reden.« Er kratzte sich am Kopf.
Plötzlich wirkte mein bester Freund wie ein kleiner unsicherer Schuljunge. Wie merkwürdig … Sonst gab er doch immer den selbstbewussten Klassenclown in Person …
»Also, Alana, ich habe eigentlich schon versucht dir das gestern zu sagen …«
In diesem Moment erklang die Melodie von »This ain’t a love song« von Scouting for Girls aus meiner Handtasche. Wer rief mich denn so früh am Morgen an? Ich schnappte mir die Tasche samt Handy und hob einen Finger in Richtung Clay. »Vergiss nicht, was du sagen wolltest!«
Gerade jetzt musste mein Handy klingeln! »Alana McClary?«, nahm ich den Anruf schlecht gelaunt entgegen.
»Detective Dylan Shane«, quakte mein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung in den Hörer.
»Sie!«, keifte ich ins Telefon. Er! Wurde ich diesen Typen eigentlich nie los?
Neben mir zuckte Clay zusammen.
Schnell warf ich ihm einen Blick, gefolgt von einem würgenden Geräusch zu. Dieser ätzende Detective!
Doch da Clay die Bekanntschaft mit Dylan Shane bisher erspart geblieben war, verstand er natürlich nicht, was ich damit zum Ausdruck bringen wollte. Im Gegenteil. Plötzlich wurde Clay kalkweiß im Gesicht.
»Ist Ihnen nicht gut?«, erkundigte sich Detective Shane am
anderen Ende der Leitung.
Er hatte das Würggeräusch anscheinend gehört.
»Ähm, nein, das war nur die Katze …« Ich überlegte einen Moment. »Detective? Die Verbindung ist gerade ganz schlecht. Ich kann Sie … krrrch … ganz …. krrrch … schlecht … krrrch … hören!«
»Jetzt hören Sie doch auf!«, kam es aus dem Handy. »Das ist der älteste Trick der Welt. So einfach werden Sie mich nicht los.«
Verdammt! So schnell würde ich Punkt 4 auf meiner To-do-
Serviette anscheinend nicht abhaken können. Meine Augen verengten sich zu Schlitzen. Das Schicksal hatte mich mal wieder im Visier.
Auf keinen Fall wollte ich diesen nervigen Detective wiedersehen, und schon gar nicht so schnell! Was konnte er wollen? Mir wieder 35 Fragen zu unliebsamen Themen stellen? Bestimmt.
»Sind Sie noch dran?«, erkundigte er sich.
»Ja, leider«, brummte ich. Wie kam man auf die Idee, andere Leute so früh am Morgen anzurufen? Er hatte doch wirklich den totalen Sockenschuss!
»Da bin ich aber erleichtert.« Detective Sockenschuss überging meine Beleidigung geflissentlich.
Ja, »Detective Sockenschuss« war gut. So würde ich ihn ab jetzt nennen! Meinen Magen, der beim Klang seiner Stimme Achterbahn fuhr, ignorierte ich dabei.
»Ich ermittle im Mordfall Shelly King sowie im Entführungsfall Scott Dayling. Diese beiden Straftaten scheinen in Zusammenhang zu stehen und Sie sind momentan unsere einzige Verbindung
zwischen den Opfern.«
Wie bitte? Was wollte er denn jetzt damit sagen?
»Hä?«, konterte ich messerscharf.
Detective Sockenschuss seufzte. »Gestern wurde Siri McNamara, die Arbeitgeberin des Mordopfers, befragt und ihrer Aussage zufolge gehören auch Sie zum Freundeskreis von Shelly King. Zudem wurden Sie gestern mit Scott Dayling zusammen gesehen …«
»Jaja«, unterbrach ich ihn. Diese blöde Geschichte mit den Mutprobenjunkies auf dem Zug verfolgte mich hartnäckig. Zu hartnäckig für meinen Geschmack. »Moment mal! Verdächtigen Sie etwa MICH, etwas mit diesen Verbrechen zu tun zu haben?«, japste ich empört. Vor Entsetzen wäre ich beinahe rückwärts vom Barhocker gefallen. Das dunkle Holz des Sitzes knackte bedenklich, als ich mich in letzter Sekunde am Küchentresen abstützte.
»Kommen Sie einfach in einer Stunde im Morddezernat Santa Fe vorbei. Ich schicke Ihnen die Adresse«, kam die wenig erleichternde Nachricht von meinem Gesprächspartner.
Und dann war die Leitung einfach tot – bevor ich Einspruch gegen diesen frühmorgendlichen Termin erheben konnte. Das machte er doch mit Absicht, der unverschämte Kerl. Das war seine Retourkutsche. Dieser Mistkerl von einem Detective!
Um halb neun taumelte ich aus dem Überlandbus, der direkt
vor dem Polizeipräsidium in Santa Fe hielt. Normalerweise war ich vor meinem dritten Kaffee am Morgen für meine Mitmenschen unerträglich und daher lag meine Stimmung gerade irgendwo auf dem Level zwischen angriffslustiger Wespe und giftiger Klapperschlange.
Die Sonne brannte bereits unbarmherzig auf meine nackten Schultern. In der Eile hatte ich das weiße Kleid, das ich gestern schon getragen hatte, erneut übergestreift.
Während ich meine Augen vor der Sonne abschirmte, sah ich mich blinzelnd um. Das zweistöckige Lehmgebäude mit dem Flachdach und den hervorstehenden runden Holzbalken hätte genauso gut in einem mexikanischen Dorf stehen können. Kaum zu glauben, dass diese verdammte Wüstenstadt zu den Vereinigten Staaten von Amerika gehörte.
Na dann begab ich mich wohl mal in die Höhle des Löwen …
Im selben Moment öffnete sich die Glastür an der Frontseite des Gebäudes. Detective Dylan Shane gab sich die Ehre und lehnte sich aus seinem klimatisierten Büro nach draußen. Über seinem Kopf leuchteten mir in Rot die Zahlen 610:25:16:02 entgegen. »Guten Morgen, Miss McClary«, rief er mir zu. Ich meinte einen leicht spöttischen Tonfall in seiner Stimme zu erkennen.
»Was soll an diesem Morgen gut sein?«, rief ich zurück. Dann stöckelte ich hoch erhobenen Hauptes auf ihn zu.
Um größer und selbstbewusster zu wirken, hatte ich mich heute in meine weißen Riemchensandalen mit goldenen Zehn-Zentimeter-
Absätzen gequetscht, was ich nun aber umgehend bereute, als ich das breite Lüftungsgitter am Eingang vor dem Polizeipräsidium sah. Aber irgendwie würde ich diese drei Meter breite Schikane schon überwinden. Nachdem ich noch einmal tief Luft geholt und mir meine Handtasche über die Schulter geworfen hatte, setzte ich einen High Heel auf das Gitter. So anmutig wie möglich schob ich mich vorsichtig über das Metallgitter hinweg.
»Jetzt machen Sie schon!« Das kam von Detective Sockenschuss, der meine Gehversuche beobachtete.
Selbst Bambi auf einem zugefrorenen See hätte sicher eine bessere Figur als ich gemacht. Na super.
Langsam machte der Detective ein paar Schritte rückwärts. Offensichtlich hatte er wenig Geduld oder Lust, mir über das Gitter zu helfen.
Schönen Dank auch! Ich würde jetzt auch lieber eine Kuhle in meine Couch liegen, als über sein Lüftungsgitter zu staksen.
Immerhin stand die Tür dank des Schnappmechanismus weiter offen.
Und dann passierte es. Natürlich … Das fehlte mir gerade noch! Abrupt blieb ich stehen. »Ähm, gehen Sie doch schon mal vor, Detective …«
Das brachte mir jedoch nur einen schiefen Blick von Detective Sockenschuss ein. »Stecken Sie etwa fest?«
Mist! »Nein«, brachte ich wenig überzeugend hervor.
»Das ist jetzt nicht Ihr Ernst.« Er verdrehte die Augen.
Ob das mein Ernst war? Womit hatte ich diesen Tag verdient? Ich hatte allerdings anderes zu tun, als in Detectives Sockenschuss’ Lüftungsgitter festzustecken.
Jetzt kam er auch noch auf mich zu.
»Halt!« Ich hob einen Arm, um ihn daran zu hindern, näher zu kommen. »Gehen Sie einfach vor, ich bekomme das gut alleine hin.«
»Das sehe ich!«, schnaubte er. Einen Herzschlag später kniete er vor mir und zog an meinem rechten Schuh, dessen Absatz im Gitter festklemmte.
Unwillkürlich musste ich seine beeindruckenden Schultermuskeln unter seinem schwarzen Shirt bewundern, die mir aus dieser Position nicht verborgen blieben. Alana!, ermahnte ich mich im Stillen. Selbst wenn er nicht so ein Idiot wäre – ich konnte nicht riskieren, Detective Sockenschuss in Gefahr zu bringen. Das würde aber zweifellos irgendwann einfach durch meine bloße Anwesenheit passieren. Sobald ich anfing, ihn zu mögen …
»Helfen Sie doch mal mit«, beschwerte er sich jetzt. Augenblicklich wurde meine kleine Schwärmerei im Keim erstickt.
Diesem unverschämten Kerl würde ich gleich helfen!
Bevor ich jedoch etwas sagen konnte, packte mich Dylan Shane grob mit beiden Händen an meinem Knöchel und zog einmal kräftig daran.
»He!« Einen Moment später taumelte ich nach vorn.
Sofort nutzte Detective Sockenschuss meine Lage aus und zog mich auf seinen Rücken, sodass ich nun kopfüber darüber hing.
»So wird’s am einfachsten gehen. Ich bin geschult in so was.«
Das bezweifelte ich jetzt aber doch stark.
Dann zog er erneut ruckartig an meinem Fuß, indem er sich urplötzlich zu seiner vollen Größe aufrichtete.
Tatsächlich kam auf diese Weise mein Unglücksfuß frei. Oha.
Er war gut!
»Lassen Sie mich runter!«, nörgelte ich sofort. Bestimmt hatte inzwischen das halbe Präsidium einen Blick auf meine pinkfarbene Unterwäsche mit dem Hello-Kitty-Motiv werfen können.
»Gern geschehen«, sagte der Mistkerl, wobei er mich wieder auf dem Boden abstellte.
Ich musste mich an seiner Brust abstützen, damit mich der Schwindel, der mich erfasste, nicht umwarf. Seine 610 Monate sah ich auf einmal doppelt über seinem Kopf tanzen.
Glücklicherweise stützte mich der Detective.
Unglücklicherweise konnte ich es mir aber nicht verkneifen, den Kopf zu heben, um direkt in seine funkelnden grünbraunen Augen zu blicken. Gott, diese Augen, gepaart mit diesen Muskeln und den dunklen leicht verstrubbelten, kurzen Haaren! Schwerer Fehler, Alana! Plötzlich wurden meine Knie weich wie Daunenfedern. Was hatte dieser Typ nur an sich, dass ich am liebsten schreiend weglaufen wollte?
»Ist Ihnen nicht gut?« Detective Shane legte den Kopf schief, während er mich prüfend musterte.
»Ja. Ähm, ich meine, nein. Alles bestestens … Hab mich im Griff …«, stotterte ich.
»Da bin ich aber froh.« Er grinste.
Einen Moment lang standen wir einfach so da. Meine Daunenfederbeine ließen mich nicht hängen – noch nicht jedenfalls – und ich starrte ihn einfach nur an.
Detective Sockenschuss starrte zurück. Es hätte mich nicht gewundert, wenn von irgendwoher ein Regisseur »Schnitt!« gerufen hätte, so unwirklich kam mir diese Szene vor.
Dann trällerte es plötzlich aus meiner Handtasche: »And I’m a little bit lost without you, and I’m a bloody big mess inside …«
Hm? Was war das jetzt? Ach ja, mein Klingelton.
»Wollen Sie da nicht rangehen?« Detective Shanes Stimme klang eine Spur belegt.
»Was?« Sicher nur wieder Mrs Murphy wegen ihrer Katze, die ich noch immer nicht gefunden hatte …
Tatsächlich zeigte mir mein Handy die Nummer meines Bankberaters Mr Jefferson an. Doch ich drückte ihn einfach weg. Über meine Geldprobleme wollte ich jetzt wirklich nicht nachdenken. Kaum hatte ich das Handy zurück in die Tasche fallen lassen, schielte ich ein weiteres Mal nach oben in Richtung dieser
funkelnden grünbraunen Augen, die mich gefangen hielten. Bis mir
bewusst wurde, dass ich ihn anstarrte.
Allerdings schien Detective Shane das ganz und gar nicht
zu bemerken, denn er musterte mich gerade selbst von Kopf bis Fuß.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Ist Ihnen nicht gut?«
»Doch, alles bestens …« Detective Sockenschuss kratzte sich am Kopf. »Wenn Sie jetzt bitte endlich mitkommen würden«, fügte er hinzu, als wäre nichts gewesen. Fast meinte ich einen genervten Unterton in seiner Stimme zu erkennen. Unfassbar, dieser Kerl!
Ganz der mürrische Detective drehte er sich um und ließ mich
stehen. Mann, was lief denn bitte bei ihm schief? Mit einem gewagten
Hopser überwand ich die letzten 70 Zentimeter Lüftungsgitter, dann folgte ich dem Detective schlechter gelaunt als zuvor.
Das Innere des Polizeipräsidiums präsentierte sich als reinste Schilderhölle. Überall an den Wänden zeigten Pfeile in unterschiedliche
Richtungen und wechselten sich mit Flugblättern verschiedenster Art ab. »Bankräuber auf der Flucht« verkündeten mehrere hellblaue Papiere, während auf rosafarbenen zu lesen war, dass der alljährliche »Kostümball des Polizeipräsidiums Santa Fe« kurz bevorstand.
Kaum hatte ich einen Moment nicht aufgepasst, hätte ich beinahe Detective Sockenschuss verloren. In dem Gewusel aus Menschen
konnte man aber auch schnell seine eigenen Füße verlieren.
»Pass doch auf!«, knurrte ich, als plötzlich jemand frontal in mich hineinlief.
Moment mal, den Typen kannte ich doch! Der blonde Kerl
stolperte rückwärts, nachdem er sich einen beherzten Schubser von mir eingefangen hatte. Es war dieser Justus, der Kumpel von Scott, der mich jetzt verwirrt aus rotgeschwollenen Augen ansah.
Ja, unverkennbar. Ich erkannte ihn auch an den 602 Monaten, die dank mir wieder über seinem Kopf leuchteten.
»Du?«, stammelte Justus.
»Ja, ich.«
Plötzlich verstand ich, warum er hier im Präsidium war. Ohne mit der Wimper zu zucken, stemmte ich beide Hände in die Hüften. »Du hast meine Visitenkarte der Polizei übergeben. Deshalb werde ich jetzt verdächtigt!«
Deutlich verlegen sah Justus zu Boden.
Ich verdrehte die Augen. Glaubte dieser Trottel ernsthaft, ich hätte gestern seinen Kumpel entführt, nachdem ich sein eigenes Leben gerettet hatte? Wie konnte er mich da nur mit reinziehen?
Neben mir räusperte sich Detective Sockenschuss. »Mr Newman hat nur seine Pflicht getan und alle Personen gemeldet, die Kontakt zu Scott Dayling hatten, kurz bevor er entführt wurde.«
Mit zusammengekniffenen Augen drehte ich mich zu ihm um. »Ist das so? Und hat Mr Newman auch erwähnt, dass ich sein verdammtes Leben gerettet habe?«