Legend Academy, Band 1: Fluchbrecher - Nina MacKay - E-Book

Legend Academy, Band 1: Fluchbrecher E-Book

Nina MacKay

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Beschreibung

Befreie die sagenumwobene Legend Academy von einem uralten Fluch und entdecke, welche Magie in dir steckt! Sprechende Kolibris? Ein Schloss in Texas? Als Graylee an die Legend Academy geschickt wird, traut sie ihren Augen nicht. Denn das Internat ist eine Schule für die Nachfahren mythischer Wesen. Angeblich hat auch Graylee übernatürliche Kräfte – nur welche? Als wäre das alles nicht verrückt genug, gerät sie sofort mit dem aufbrausenden (aber leider auch ziemlich gut aussehenden) Hudson aneinander – und entdeckt, dass auf dem Internat ein Fluch liegt, der schon bald sein erstes Opfer fordern wird … Band 1 des Fantasy-Zweiteilers von Nina MacKay

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Seitenzahl: 596

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2022 Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag Originalausgabe Copyright © 2022 by Nina MacKay © 2022 Ravensburger Verlag GmbH Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover. Lektorat: Tamara Reisinger, www.tamara-reisinger.de Covergestaltung und Vorsatzkarte: Carolin Liepins, München Verwendetes Bildmaterial von © Julia Tochilina, © Yellow_stocking, © lizanice, © world illustrations, © faestock, © antart, © CastecoDesign, © Haqqani Labs und © PatternsBlooming, alle von Shutterstock Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-473-51114-3www.ravensburger.de

Widmung

Für Kathrin N., die das hier erst ermöglicht und noch so viel mehr als diese schäbige Widmung verdient hat

Playlist

Das Besondere an dieser Playlist ist, dass man sie in Endlosschleife beim Lesen hören kann oder auch jeden Track einzeln zum jeweiligen Kapitel. Track 1 passt perfekt zur Stimmung von Kapitel 1 und so weiter. Viel Spaß damit! :-)

1 3 Doors Down – Let Me Go (Graylees Lieblingssong)

2 Daughtry – Battleships

3 Toto – Africa

4 Fink – Looking Too Closely

5 Ed Sheeran – Bloodstream

6 Belinda Carlisle – Heaven Is A Place On Earth

7 Lost Frequencies – Love To Go

8ATC, The Ready Set – I Wanna Get Better (Willows Lieblingssong)

9 ElyOtto – SugarCrash!

10 Landon Austin – Every Time

11 Grimes – We Appreciate Power (Viviennes Lieblingssong)

12 Walking on Cars – Speedings Cars(Tristans Lieblingssong)

13 Sture Zetterberg – Fighters

14 Tom Gregory – Run To You

15 The Chainsmokers – Closer

16 Loving Caliber – Dive Into You

17 Jessie J – Do It Like A Dude (Canyons Lieblingssong)

18 Basstrologe Lizot – Somebody To Love

19 Journey – Don’t Stop Believin

20 Ashnikko – Tantrum(Ornellas Lieblingssong)

21 Ashnikko, Grimes – Cry

22 Artist vs. Poet – Break Away

23 Good Charlotte – I Just Wanna Live(Hudsons Lieblingssong)

24 James Bay – Let It Go

25 Illenium – Good Things Fall Apart

26 Luke Friend – Hole In My Heart

27 Natalie Taylor – Surrender

28 Marianas Trench – Who Do You Love

29 Dean Lewis – Let Go(Bakers Lieblingssong)

30 All Time Low – Good Times

31 Bowling for Soup – 1985(Varns Lieblingssong)

32 The Afters – Moments Like This

33 Taylor Swift – I Almost Do

34 Ellie Goulding – Still Falling For You

35 Mt. Wolf (feat Wilsen) – Tayrona

Kapitel 1

Mit einer Stricknadel und ziemlich viel Wut im Bauch auf einen Polizisten gedeutet zu haben, stellte sich rückblickend nicht gerade als eine der besten Ideen meines Lebens heraus.

»Ach, kommen Sie, es ist Cinco de Mayo.« Ich verschränkte meine Finger um die Cola-Dose, die sie im Verhörraum auf den Tisch gestellt hatten. Warum mussten die Angestellten im Police Department von Orange County ihre Klimaanlage eigentlich immer zwei Stufen zu hoch einstellen? Würden wir auf diese Weise den Planeten retten? Wohl eher nicht.

Während ich die leichte Gänsehaut auf meinen Unterarmen betrachtete, tippte ich mit den Fingernägeln gegen das Blech der Dose. Im Rhythmus meines Lieblingssongs.

Deputy Williams lehnte sich in seinem Aluminiumstuhl zurück und musterte mich abwartend. Da war er vermutlich nicht der Einzige; über uns war ich mir der Präsenz der Kamera nur zu bewusst.

»Miss McCoy«, sagte er mit einem Seufzen, »es ist ja nicht das erste Mal, dass wir Sie hier zu Besuch haben.«

»Soll ich mich nachher noch ins Gästebuch eintragen?« Ich zuckte mit den Schultern, setzte jedoch ein freudig-unschuldiges Lächeln auf. »Was soll ich sagen? Sie haben einfach die beste Cola-Marke weit und breit hier. Montana Brew.« Ich hob die Dose, wie um mit ihm darauf anzustoßen, und setzte sie wieder ab, ohne daraus zu trinken.

Deputy Williams presste die Lippen aufeinander.

Also nutzte ich den Moment, um fortzufahren. »Ehrlich gesagt fand ich das jetzt auch etwas übertrieben. Rektor Williams hätte nicht gleich die Polizei rufen müssen.«

»Finden Sie nicht? Wenn früh morgens die Drehtür der Schule aussieht wie … Was sollte das überhaupt darstellen?«

»Ein Strickkleid für eine überdimensionale Klopapierrolle. Als Inspiration dazu hat mir das Kunstwerk auf der Hutablage im Auto meiner deutschen Großmutter gedient. Aber musste Ihr Bruder es Ihnen direkt petzen?«

»Mein Bruder hat sich etwas zu oft von Ihnen und Ihrem Freund Tony auf der Nase herumtrampeln lassen. Abschreckungsmaßnahme. Und mussten Sie mir mit einer Stricknadel drohen?«

»Das war eher mein Beweis. Dass ich es war. Damit Sie mir glauben.«

»Sicherlich. Aber ich sage Ihnen jetzt mal was ganz im Vertrauen.« Er beugte sich über den Tisch, als wollte er sich mit mir verschwören. Im Licht der Leuchtstoffröhren und der grauen Wände wirkte selbst seine Latinobräune irgendwie fahl.

»Dieses Mal geht es nicht nur um eine Beschwerde gegen Sie, weil Sie unbescholtene Bürger belästigt haben …«

»Wie bitte?« Ich unterbrach ihn. »Wie Sie sehr wohl wissen, habe ich meine Notizen in höchstens fünfzig Briefkästen geworfen. Die Menschen in Laguna Hills und den umliegenden Städten sollten mir dankbar sein, weil ich sie darüber informiert habe, wer in ihrem Haus unter welchen Umständen zu Tode gekommen ist. Schlimmstenfalls wohnen sie in einem Haus, in dem es spukt, und wissen nicht mal, warum ihnen seltsame Dinge widerfahren.« Unbewusst tippte ich schneller gegen die Blechdose, bis ich sie abrupt losließ und mich in meinem Stuhl zurücklehnte.

Deputy Williams stöhnte, als hätte ich ihm soeben eröffnet, dass seine Schwiegermutter mit ihm in den Urlaub fahren würde. »Wie ich gerade sagen wollte, dieses Mal haben Sie sich nicht allein in Schwierigkeiten gebracht, sondern auch Ihren Freund, Tony Sinclair Álvarez. Der zugegeben hat, Teil Ihres Plans gewesen zu sein.«

»Wir haben nichts falsch gemacht«, hielt ich dagegen. Warum Sinclair vorhin an meine Seite hatte springen müssen, verstand ich immer noch nicht.

»Nein?« Die buschigen Augenbrauen des Deputys hüpften. »Dann haben Sie beide sich also nicht gestern Nacht unbefugt Zutritt zum Schulgelände verschafft, um die Drehtür mit einer Strickdecke zu bestücken?«

»Äh …« Unbefugt? Aber das war doch unsere Highschool.

Der Deputy ergänzte noch ein paar Fachbegriffe, die verdächtig nach »Hausfriedensbruch« und »Behinderung des täglichen Schulablaufs« klangen. Doch in meinem Kopf schwirrte es wie in einem Hornissennest. Ich begann zu ahnen, worauf das hinauslief.

»Was ich damit sagen will …« Er beugte sich noch ein wenig weiter über den Tisch, sodass die Kante sicherlich in seinen Bauch schneiden musste. »Ich muss diesen Vorfall melden, ihn in Ihre und Mr Álvarez’ Schulakte eintragen, und in diesem Zusammenhang wird sich das Jugendamt einschalten, das den Aufenthaltsstatus Ihres Freundes prüfen lassen wird. Mir bleibt keine andere Wahl. Ich will das genauso wenig wie Sie.«

Der Gedanke ließ mich innehalten. Sinclair! Drohte der Deputy etwa, ihn zurück nach Mexiko zu schicken? Das konnte er nicht machen! Gerade Deputy Williams, der selbst Mexikaner war, wusste, wie schwer es Einwanderer in den USA hatten. Wie viele Ungerechtigkeiten sie in diesem Bundesstaat ertragen mussten, vor allem wenn ihr Asylverfahren ohne große Erfolgsaussichten ablief. Es war einfach nicht fair! Entsetzt starrte ich ihn an. An seinen flackernden Augen konnte ich allerdings erkennen, dass er es wirklich nicht tun wollte, dass ihm in diesem Fall jedoch die Hände gebunden waren.

Eilig drehte ich den Kopf nach links, kippelte mit meinem Stuhl nach hinten, damit ich einen Blick durch das Fenster in der Tür werfen konnte. Nach draußen in den Flur, wo mein bester Freund saß. Alles in mir schrie danach, ihn von hier fortzubringen. Wenn sie ihn und seine Mutter zurück nach Mexiko abschoben, weil er sich meinetwegen strafbar gemacht hatte …

Sinclair saß im Wartebereich vor dem Verhörzimmer auf einem blauen Plastikstuhl. Er hatte sich vornübergebeugt, und mit den ineinander verschränkten Händen und dem in Richtung Plastikbodenbelag gerichteten Kopf sah es so aus, als würde er beten. Trotz der eisigen Kälte im Police Department lockten sich seine dunklen Haare an den Schläfen. Er schwitzte.

»Also gut.« Mit einem durchdringenden Klack setzten die Stuhlbeine und ich wieder vollständig auf dem Boden auf. »Ich war das allein. Schreiben Sie in Ihre Akte, dass ich in die Schule eingebrochen bin. Ohne Hilfe von anderen Schülern. Wenn jemand einen Verweis bekommen sollte, oder so einen Schulakteneintrag, dann ich. Niemand sonst.«

Zu allem Überfluss setzte uns die Polizei einigermaßen pünktlich vor dem Schwimmunterricht in der dritten Stunde wieder an der Highschool ab. Wir hätten auch laufen können, aber typisch Kleinstadt ließ es sich Deputy Williams nicht nehmen, uns persönlich zu bringen.

»Äh, danke, Deputy.« Ich knallte die Tür zu und schob meinen Rucksack über eine Schulter, ehe ich mich noch mal vorn an das offene Beifahrerfenster lehnte. »Wenn ich behaupte, ich hätte zwei Paar Handschellen in meinem Rucksack mitgehen lassen, würden Sie uns wieder zurück aufs Revier fahren?«

Deputy Williams streckte sich über den Beifahrersitz, um mir ins Gesicht zu sehen. »Dein wievielter Versuch ist das jetzt, Graylee?«

Uh, wenn er anfing, mich zu duzen, war wirklich alles verloren.

»Komm schon.« Sinclairs Hand legte sich auf meine freie Schulter. »So schlimm ist der Schwimmunterricht nicht.«

Ich funkelte ihn an. Wenn man schwimmen konnte und keine Angst vor fiesen Wasserwesen hatte, die einen in die Tiefe zogen, dann sicher. Natürlich war mir klar, dass es in der Schwimmhalle keine Monster gab. Trotzdem hatte ich einen Heidenrespekt vor tiefem Wasser, und dummerweise verspürte ich seit einem gewissen Vorfall zusätzlich absoluten Ekel vor Bazillen. Und die sprossen ja auf Schwimmhallenböden geradezu wie Pilze.

Deputy Williams startete den Motor. »Ich hoffe, wir sehen uns nicht allzu bald wieder.«

»Machen Sie sich keine falschen Hoffnungen.« Ich zog eine Grimasse, trat dann aber vom Polizeiauto zurück.

Der Wagen, der wirkte, als würde ihn nur noch eine Schicht Farbe zusammenhalten, qualmte aus dem Auspuff, bevor er unter einigem Ruckeln davonbrauste.

Hustend wedelte ich mit der Hand vor meinem Gesicht herum.

»Du hättest das nicht tun sollen, eben auf dem Revier.« Sinclair sah mich aus diesen braunen Augen an, die mich immer an den traurigen Gesichtsausdruck des Gestiefelten Katers erinnerten.

»Gern geschehen, und jetzt lass uns nicht mehr darüber reden.«

»Nein, im Ernst. Das kann ich nie wiedergutmachen.«

»Musst du auch nicht. Für wen sonst, außer für dich, würde ich so was tun?« Mein Blick glitt über unser Publikum.

Zu meinem absoluten Missfallen bildeten sich immer mehr Schülergrüppchen um Sinclair und mich. Schüler, die miteinander tuschelten. Offenbar hatte sich herumgesprochen, wer für die Guerilla-Strickkunst von heute früh verantwortlich war.

»Verflucht.«

»Ach, lass sie doch reden«, sagte Sinclair, der meinem Blick gefolgt war und nun mit beiden Händen die Gurte seines Rucksacks umklammert hielt, weswegen er wie ein Siebtklässler wirkte, obwohl er wie ich diesem Stadium der Pubertät zum Glück schon seit fünf Jahren entwachsen war.

»Nein, das ist es nicht. Ich habe vergessen, ein Attest für Sport zu fälschen.«

Voll bekleidet, nur ohne meine Schuhe, setzte ich mich fünfzehn Minuten später auf die Bank in der Schwimmhalle der Schule. Der eklige Chlormief und Bazillen aus den letzten fünfzig Jahren hatten mich dazu gebracht, meine marineblauen Socken anzulassen, die nun kalt und nass an mir klebten. Toll. War das eine Schleimschicht, die sich an meinen Fußballen bildete? Und wollte ich das überhaupt so genau wissen?

»Schon wieder?« Mrs Langline baute sich vor mir auf, die Haare ordentlich unter einer Schwimmhaube, obwohl sie uns nur selten etwas vorschwamm. In der Hand hielt sie eine Trillerpfeife. »Hattest du nicht erst vor zwei Wochen deine Tage, Graylee?«

Mit den Fingerspitzen tippte ich unruhig auf die raue Holzoberfläche der Bank. »Zwischenblutung.«

»Ganz bestimmt. Und dein Attest?«

»Hat der Hund gefressen.« Ich richtete den Blick zurück auf meine Füße, die ich versuchte, vom Boden fernzuhalten, so gut es eben ging. Letztlich gab ich auf und berührte mit den Fersen den verseuchten Schwimmhallenboden.

»Graylee, ich finde, du solltest dringend mal mit der neuen Vertrauenslehrerin sprechen. Mrs Zilba ist noch ganz jung und sehr nett. Du könntest mit ihr über den Vorfall von letztem Jahr reden, und vielleicht könnt ihr gemeinsam einen Plan erstellen, wie du deine Ängste in den Griff bekommst.«

Mrs Langline, ihres Zeichens Hobbypsychologin, analysierte also mal wieder.

»Kein Interesse.« Immer noch fixierte ich meine Socken. Irgendwer sprang nicht weit entfernt mit dem Hintern voran ins Becken, weswegen er einen Pfiff aus der Trillerpfeife kassierte.

»Ich weiß, du hattest es nicht leicht in letzter Zeit …«, fuhr Mrs Langline fort.

Ich hob eine Hand, einfach damit sie aufhörte, mich zu bemitleiden. »Schon gut, ich spreche mit der Vertrauenslehrerin. Wie wäre es mit jetzt gleich? Hier habe ich nichts zu tun, oder?«

Da Mrs Langline offenbar keine Einwände einfielen, erhob ich mich und stakste auf den Fersen aus dem Schwimmerbereich, wobei ich einigen schwarzen Haaren und undefinierbarem Glibberzeugs auf dem Boden auswich. Schwimmhallen. Gab es noch etwas Ekelerregenderes auf diesem Planeten?

Im Zimmer der Vertrauenslehrerin saß ich so ungünstig, dass mich die Sonne blendete. Aus dieser Perspektive konnte ich Tausende Staubflusen ausmachen, die in der Luft umeinanderwuselten.

Mrs Zilba zog die Kappe von ihrem Füller, schob sie wieder zurück, zog sie wieder ab. Eine Weile ging das so, wobei sie mich die ganze Zeit über schweigend betrachtete.

Und ich schwieg zurück. In einer Stunde und zehn Minuten war der Schwimmunterricht vorbei, und ich wollte keinesfalls vorzeitig in die Schwimmhalle zurückkehren müssen. Vor allem, da ich die verseuchten Socken bereits in einem Mülleimer entsorgt und keine Lust hatte, barfuß über den Boden zu staksen.

Mrs Zilba sah mich immer noch an. Vielleicht starrte sie auch nur so wegen des Spruchs auf meinem T-Shirt. Ich lehnte mich ein wenig weiter zurück, schob sogar meine Haarsträhnen aus dem Weg, damit sie einen guten Blick darauf werfen konnte. Der Unterschied zwischen deiner Meinung und Pizza ist, dass ich die Pizza haben will – stand in fetten schwarzen Großbuchstaben darauf.

Schließlich stieß sie ein Seufzen aus. »Direktor Williams hat mich gebeten, mit dir über deine Strickaktion zu reden und dir mitzuteilen, dass du zwei Wochen lang jeden Tag nach dem Unterricht den Müll auf dem Schulgelände einsammeln wirst.«

Oh, dann war ich ja genau richtig gekommen. Nicht.

»Hast du zu dieser Aktion noch etwas zu sagen, Graylee?«

Darüber wollte sie mit mir reden? Blinzelnd beugte ich mich nach vorn, sodass ich mit dem Kinn beinahe die Massivholzschreibtischplatte berührte. »Es war nur ein Scherz zum Cinco de Mayo. Und ich habe mich bereits auf dem Revier belehren lassen, mich sogar entschuldigt.« Meine Nasenflügel bebten. Was wollten sie denn noch von mir? War Müll aufsammeln als Strafe nicht genug? Aber wenigstens hatte ich Sinclair aus der Sache raushalten können.

»Du hast also ganz allein diese riesige bunte Decke gestrickt, bist durch ein gekipptes Fenster in die Schule eingestiegen und hast dann von oben die Strickdecke auf die Drehtür gezogen?«

»War vorher alles gut geplant und ausgemessen.« Mit dem Daumen kratzte ich mir über die Oberlippe. Was für eine Fangfrage kam als Nächstes?

»Und was hat es mit den zahlreichen Anzeigen gegen dich auf sich, weil du persönliche Informationen ausspioniert und Leute erschreckt hast?« Mrs Zilba fuhr mit dem Zeigefinger über ein Dokument, doch ich konnte sehen, dass sie das nicht ablas. Eine ihrer braunen Haarsträhnen löste sich aus ihrem Messy Dutt, der seinem Namen alle Ehre machte. Hatte sie sich heute Morgen überhaupt gekämmt?

»Hören Sie«, fing ich an, »ich habe da dieses Hobby. Herausfinden, wer in welchem Haus wie gestorben ist, und ich hab einfach angenommen, die neuen Bewohner würden das ebenfalls wissen wollen. Aber Überraschung! Gut die Hälfte dieser Leute ist nun sauer auf mich.« Seufzend lehnte ich mich in dem knarzenden Ledersessel nach hinten. Ein Furzkissen war wirklich nichts dagegen.

»Es ist recht ungewöhnlich, in deinem Alter so verbittert zu sein«, sagte Mrs Zilba. »Findest du nicht?«

»Wie lange haben Sie noch mal Psychologie studiert?«, fragte ich zurück.

Nachdem Mrs Zilba beide Augenbrauen nach oben gezogen hatte, griff sie nach einer Lesebrille. »Ich werde deinen Adoptiveltern einen Brief schreiben und ihnen einen Vorschlag unterbreiten.« Sie sah mich nicht mehr an, richtete ihre volle Aufmerksamkeit auf den Füller, der über das Papier kratzte.

Ein Füller und ein handgeschriebener Brief? Und warum musste sie extra betonen, dass ich bei meinen Adoptiveltern lebte? Was stimmte nur nicht mit ihr?

»Und du solltest diesen Vorschlag lieber annehmen«, fügte sie plötzlich hinzu und hob den Kopf, »sonst werde ich auch noch mit Tony Sinclair Álvarez und seiner Mutter sprechen müssen.«

Ihr Blick traf mich so hart wie eine Betonfaust, bevor sie sich wieder auf den Brief konzentrierte. Und so jemand war Vertrauenslehrerin? Das klang eher nach Erpressung. Und was für ein Vorschlag sollte das sein? Strafarbeiten jeden Samstag bis zu den Ferien? Küchendienst in der Cafeteria? Was auch immer, für Sinclairs Schutz war keine Strafarbeit zu hoch. Er durfte nicht auffallen. Es durfte keine Meldung ans Jugendamt geben. Niemals würde ich das zulassen.

»Während Sie schreiben, kann ich mir da ein Wasser und einen Kaffee aus dem Automaten im Flur holen?« Mit dem Daumen deutete ich über meine Schulter. Zeit schinden, ich musste Zeit schinden.

Mrs Zilba nickte, sah aber nicht auf.

Also erhob ich mich quälend langsam, richtete meine Jeans, zog an meinem Shirt und wandte mich zum Gehen. An der Tür hielt ich noch einmal inne. Zwar öffnete ich sie, warf aber, sobald ich halb im Flur stand, noch einen Blick zurück. Irgendetwas war seltsam an dieser neuen Vertrauenslehrerin. Woher wusste sie so viel über mich, was ging sie mein Hobby an und warum wollte sie unbedingt meinen Eltern schreiben? Mit der Hand stützte ich mich an der Wand zu ihrem Büro ab, und da passierte es. Warum hatte ich auch nicht besser aufgepasst? Als wäre ich mitten in einen Albtraum geraten, wurde es dunkel um mich. Dann sah ich die Flammen. Weiß statt rot, und sie bewegten sich wie in Zeitlupe, fraßen sich die Gardinen empor, bis sie das Fenster geradezu einrahmten. Eine ältere Dame mit Perücke schrie, versuchte, mit ihrem Schal die Flammen zu erschlagen. Ich blinzelte, löste meine Hand von der Backsteinwand und keuchte. Mein Herz pochte viel zu schnell gegen meine Rippen.

»Alles in Ordnung?« Über den Rand ihrer Brille hinweg sah Mrs Zilba mich an.

Ja, nur dass ich mal wieder eine vergangene Katastrophe mitansehen musste, weil ich die Wand eines Raumes berührt hatte. Wütend starrte ich auf meine eigene Hand. Langsam müsste ich doch wissen, wie man diese Visionen vermied.

Nach einem kurzen Nicken schloss ich die Tür und steuerte den Kaffeeautomaten an. Leider konnte ich nicht verhindern, dass meine Finger zitterten. Der Schulbrand von 1983. Er hatte zwei Menschenleben gefordert und drei Räume zerstört. Und genau diese drei hatte ich nie mehr betreten wollen.

Ein Werwolf sprang mir in den Weg, als ich nach der Schule den Laden meiner Eltern betrat.

»Dad, bitte.« Schnaubend schob ich ihn beiseite. Beim Anheben des Kostümkopfes hätte sich mein Vater beinahe selbst die Brille vom Kopf gewischt.

»Besser als eine Therapie, oder, Graylee-Bailey?«

»Ja, wirklich. Kuriert mich auf der Stelle.« Ich sah mich im Dekoshop meiner Eltern um. Eine neue Lieferung Halloween-Kostüme musste eingetroffen sein, dabei würde es noch mindestens drei Monate dauern, bis der Verkauf so richtig in Fahrt kam. »Mom?«, rief ich quer über das Chaos hinweg, da ich keine Lust hatte, durch das Wirrwarr an Plastikgrabsteinen und Hexen zu waten, die mit ihren langen Fingern nach mir griffen. »Bist du im Lager? Soll ich uns für heute Abend Pizza bestellen? Oder möchtest du lieber einen Salat?«

Nichts. Keine Antwort. In der Vitrine neben dem Vorhang, der zum Lagerraum führte, blinkte es. Und aus dem Lautsprecher dröhnte die Melodie eines Halloween-Klassikers. Im Prinzip hatte Dad nicht ganz unrecht. Ab Mai, wenn meine Eltern anfingen zu dekorieren, glich der Halloween-Shop einer Schocktherapie für mich. Aber meine Albträume von Monstern würden dadurch trotzdem nicht weniger werden. Das war mir vollkommen bewusst.

Von hinten tippte mir ein eiskaltes Händchen auf die Schulter. Da ich bei meinem Dad allerdings immer auf alles gefasst war, hatte ich aus dem Augenwinkel bereits mitbekommen, wie er die Plastik-glibberhand nach mir ausgestreckt hatte. »Dad.« Ich schob sie weg.

Mein Vater gluckste. »Niemand kann so schön genervt Dad sagen wie du, Graylee-Bailey.«

Etwas raschelte. Im nächsten Moment schob sich Mom aus der Teeküche, den Blick auf mehrere Blätter Papier in ihren Händen gerichtet, die so gefaltet waren, als wären sie in einem Briefumschlag angekommen. Mom steckte in ihrem Radsport-Trainingsanzug samt Helm, alles in ihrer weiß-grünen Teamfarbe, beachtete uns jedoch nicht. Ihre Lippen formten stumm einzelne Wörter, während sie las.

Oh, oh. Sofort beschlich mich ein ungutes Gefühl.

»Wie wäre es, wenn du dieses Jahr als Prinzessin Belle gehst«, schlug Dad gut gelaunt vor. Er zog ein gelbes Prinzessinnenkleid aus einer Kiste und hielt es vor mich. »Wir bräuchten nicht einmal eine Perücke, nur ein gelbes Gummibanddings für dich. Du hast genau ihre Haarfarbe.« Er strahlte, doch ich konnte den Blick nicht von Mom lösen. »Und ich gehe als Taco.« Dad sah mich begeisterungsheischend an. »Du verstehst schon. Taco …« Er ließ das Kleid sinken, gestikulierte nach links und dann nach rechts. »Und Belle.«

Mein linkes Augenlid zuckte. »Mom?«

Endlich sah sie auf. Mir direkt ins Gesicht. »Das kam gerade von deiner Vertrauenslehrerin.« Sie wedelte mit den Zetteln. Es waren vier. Handgeschrieben. »Du musst zwanzig Sozialstunden ableisten?«

Verflucht, verflucht, verflucht. War dieser Brief per Pegasus gekommen? »Ich …«

Doch Mom hob eine Hand und unterbrach mich.

Derweil putzte Dad seine Brille an einem Taco-Kostüm und schaute aufmerksam von mir zu Mom und zurück.

»Und sie schlägt vor, dich zum neuen Trimesterbeginn auf ein Internat zu schicken. Genauer gesagt auf die Swanlake Academy for Special Needs. Um zu lernen, mit deinen Ängsten klarzukommen. Mindestens bis zu den Weihnachtsferien, wenn es dir dort gefällt, auch länger.«

Was? SwanlakeAcademyforSpecialNeeds? Klang wie eine Psychiatrie.

»Internat?«, fragte Dad, bevor ich etwas erwidern konnte. »Können wir uns doch sowieso nicht leisten.«

»Die Kosten würden von dem Notfallfonds der Schule getragen werden«, las Mom tonlos vor. »Und du hast eine Verwarnung erhalten? Graylee? Was ist da genau passiert?«

Tja, das war der Vorteil, wenn man den Deputy so gut kannte, dass meine Eltern nicht mehr aufs Revier kommen mussten. Sie erfuhren normalerweise nichts von meinen »Verbrechen«. Doch jetzt konnte oder musste ich ihnen wohl oder übel die Story erzählen. Mom und Dad hörten mir schweigend zu, und zwar bis zum letzten Wort.

Erst da pfiff Dad. »Du hättest dir einfach den Riesensombrero aus dem Laden leihen und auf die Drehtür setzen können.« Er deutete auf seine Lieblingsdekoecke für den Cinco de Mayo.

»Adam!«, warnte Mom ihn.

Dad sah sie betreten an. »Du hast natürlich recht, Danielle. Aber du musst schon zugeben, dass das genial war. Graylee hatte diese Bombenidee, die Drehtür in eine überdimensionale Version der gehäkelten Klopapierrolle auf der Hutablage deiner Mutter zu verwandeln.«

»So was ist ein Trend in Deutschland.« Moms Lippen wurden schmal. »War es zumindest mal.«

Dad grinste immer noch.

Mom seufzte. »In Ordnung.« Sie legte den Brief auf dem gläsernen Verkaufstresen ab.

Mir schwante nichts Gutes. Selbst Dad trat näher und rubbelte sich über seine Geheimratsecken.

»Graylee«, fing sie entschlossen an, »ich finde, du solltest den Vorschlag deiner Vertrauenslehrerin annehmen. Sie könnten dir dort vielleicht wirklich mit deiner Angst vor Monstern helfen. Es wäre erst mal nur für das nächste Trimester. Seit diesem Vorfall mit Tinka bist du total neben der Spur. Eine Auszeit von deiner Highschool könnte dir guttun.«

Entgeistert beobachtete ich meine Mutter, wie sie mit dem Zeigefinger über den Staubfilm auf der Kasse fuhr. Was wusste sie schon von meinen Problemen und meinen Monstern?

»Du kannst sogar schon ihre Sommerkurse belegen, denn für die neuen Schüler gibt es vor Schulbeginn drei Orientierungswochen, in denen sie sich an das Internat gewöhnen können. Wäre das nicht eine gute Idee für die Ferien?«

Hörte sich Mom eigentlich selbst beim Reden zu? Drei Wochen Ferien an meiner neuen Schule? Ja, das klang wirklich großartig …

Mom blätterte wieder in den Zetteln. »Zusätzlich pro Woche gibt es zwei Therapiestunden.«

Im Prinzip wollte ich ja meine Phobien loswerden und über gewisse Dinge hinwegkommen. Ich meine, welche andere Siebzehnjährige außer mir hatte immer noch Angst vor Monstern unter ihrem Bett und in Schwimmbecken? Das abzulegen, wäre schon nett, und allein würde ich es nicht hinbekommen. Andererseits: Meine Eltern und Sinclair verlassen …? Nachdenklich betrachtete ich den Riesensombrero. Mrs Zilbas Worte hallten immer noch in meinem Kopf nach. Wenn ich nicht auf ihren Vorschlag einging, würde sie Sinclair melden. Sollte ich nicht fahren, würde ich zusätzlichen Ärger für ihn riskieren. Das konnte ich nicht zulassen.

»Was meinst du? «, fuhr Mom fort. »Wäre es nicht ratsam, etwas Abstand von hier zu bekommen? Nach allem, was vorgefallen ist? Und vielleicht findest du dort neue Freunde, die so sind wie du.«

»Ich habe Sinclair!«, protestierte ich sofort.

»Abgesehen von Sinclair.« Ihr mitleidiger Blick traf mich härter als Dads Schubs mit dem Wolverine-Handschuh, den er sich gerade übergestreift hatte.

Abgesehen von Sinclair. Abgesehen von Sinclair. Moms Worte spukten mir den ganzen Weg über bis nach Hause in Endlosschleife im Kopf herum. Ein echter Freund war doch viel mehr wert als zehn falsche! Na und? Dann konnte mich eben nur ein einziger Schüler an meiner Highschool so richtig leiden. Zumindest, seit sich Tinka von mir abgewandt hatte.

Zu meiner Überraschung wartete Sinclair bereits auf mich. Er lag rücklings auf der Grasfläche vor unserem Minibungalow. Viel zu unbekümmert wackelte er mit den Füßen, die in abgetragenen Turnschuhen steckten, die nur noch dank der Skateboard-Klebesticker an den Seiten zusammenhielten. Er schien die Wolkenformationen am Himmel zu studieren. Doch keine Sekunde lang nahm ich ihm diese gespielte Fröhlichkeit ab.

»Hey.« Ich streifte mir die Schuhe von den Füßen und legte mich neben ihn.

Über uns zog eine Wolke vorbei, die wie ein Drache aussah, der in einen Hotdog biss. Nett. Den kalifornischen Himmel würde ich definitiv vermissen.

»Was haben deine Eltern gesagt?« Sinclair tat so, als würde er an einem abgebrochenen Grashalm wie an einer Zigarette ziehen. »Hast du Hausarrest, bis du achtzehn wirst?«

»Schlimmer.«

Jetzt wandte er den Kopf nach links, sodass ihm seine Haare über die Brauen fielen. In seinen braunen Augen flackerte es. »Sie wollen, dass du den Kontakt zu mir abbrichst, hab ich recht?«

»Was, nein? Meine Eltern sind nicht so.« Gut, dafür waren meine Eltern auf andere Art und Weise ziemlich extravagant, und sie hörten zudem noch auf Mrs Zilba. Ich ballte die Hände zu Fäusten. »Sie werden mich für das nächste Trimester auf ein Internat in Texas schicken.«

»Was?« Innerhalb einer halben Sekunde hatte sich Sinclair aufgesetzt und den Grashalm über seine Schulter geworfen. »Sag mir, dass das nicht wahr ist.«

Obwohl ich das gern getan hätte, presste ich, statt zu antworten, einfach nur die Lippen aufeinander. Aber irgendwann musste ich ihm die ganze Geschichte erzählen, und das tat ich schließlich auch.

»Dios mío, was tue ich denn ohne dich, Graylee? In der Schule werden sie mich fertigmachen, und mit wem soll ich reden?« Sinclair fuhr sich durch seine Wuschelfrisur. »Ich habe den coolen Kids in der Highschool einfach nichts entgegenzusetzen. Noch nicht mal Mut, das weißt du.«

Um ihn zu beruhigen und diesen zittrigen Redefluss zu unterbinden, tippte ich sanft gegen seinen Handrücken. »Wie viel haben wir schon gemeinsam durchgestanden? Sieh dir an, was du alles erreicht hast. Du bist nicht mehr der verängstigte kleine Junge von früher. Du kannst alles schaffen. Auch deine Angst vor anderen Teenagern überwinden.«

Sinclair lächelte. »Das stimmt.«

»Siehst du? Außerdem gibt es ja Videotelefonie, und schneller, als du gucken kannst, bin ich auch schon wieder zurück.« Aus meinem Rucksack zog ich mehrere Knäuel Strickwolle und reichte sie Sinclair, damit er mir Farben aussuchte. »Lass uns den Gartenzaun verschönern. Ich möchte die Latten am Tor komplett mit meiner Guerilla-Strickkunst verhüllen. Dann werden Mom und Dad jeden Tag an mich denken. Und du auch, wenn du hier vorbeiläufst.« Sachte strich ich über das gelbe Wollknäuel.

»Das werde ich sowieso jeden Tag, das weißt du doch. Und wir könnten immer noch gemeinsam durch whodiedinmyhouse.com scrollen. So online im Videochat. Ich werde danach in die umliegenden Städte trampen und dort die Briefe einwerfen.« Sinclair klang so hoffnungsvoll, während er mir die orangefarbene Wolle reichte. Dabei war das eher mein Hobby als seins. Er war einfach nur ein guter Sidekick, der mich nie hängen ließ.

»Hm, vielleicht keine gute Idee.« Ich verzog gespielt gequält das Gesicht. »Wenn man bedenkt, was beim Prestley-Haus geschehen ist.«

Daraufhin erschlafften Sinclairs Gesichtsmuskeln. Man konnte beinahe mitansehen, wie er fieberhaft nach einem neuen Gesprächsthema suchte.

»Oder ich fahre einfach zu dieser Schule und hole dich da raus. Klingt ja wie ein Umerziehungsknast, oder?«

»Du fährst da hin und holst mich ab?« In einer Mischung aus Unglauben und Belustigung kicherte ich.

»Na, du weißt schon, ich klaue irgendeinen Porsche und düse los.« Genau wie sein Lieblingsschauspieler es zu tun pflegte, blies Sinclair die Backen auf. »Oder ich starte eine Online-Petition, die Leute in unserer Stadt spenden eine Million Dollar, und dann holen wir dich mit dem Helikopter da raus.«

Ja, sicher. »Das hier ist Laguna Hills und nicht Beverly Hills, Sinclair.« Ich zog die Beine an, und während ich die Wolle um meinen Zeigefinger wickelte, sprach ich den Gedanken aus, der seit einigen Stunden in meinem Kopf herumspukte. »Wahrscheinlich wäre ihnen das mit einer leiblichen Tochter, die mehr so ist wie sie, nicht passiert. Sicher würde die auch ihren Laden übernehmen wollen, nicht so wie ich. Oder mit Mom Radrennen fahren.«

»So was darfst du nicht mal denken!« Sinclair sah mich selten so ernst an wie in diesem Augenblick. Sein Blick bohrte sich in meinen, fast als wäre er wütend auf mich. »Erstens können Adam und Danielle keine Kinder bekommen, und zweitens gibt es keine Garantie, dass ein leibliches Kind ihr Geschäft übernehmen wollen würde oder dieselben Hobbys wie sie hätte. Drittens: Wie oft sagen sie, dass es der glücklichste Tag ihres Lebens war, als du als Baby zu ihnen gekommen bist? Sie lieben dich so, wie du bist. Genau wie ich.« Obwohl er so etwas für gewöhnlich nie tat, legte mir Sinclair jetzt einen Arm um die Schultern, was einer Umarmung gleichkam.

Mit einem Kloß im Hals von der Größe New Mexicos drückte ich Sinclairs Arm.

Die Strafarbeitsstunden musste ich zu meinem Unmut in den folgenden zwei Schulwochen tatsächlich jeden einzelnen Tag nach dem Unterricht absolvieren. Schnell stellte ich jedoch fest, dass auf dem Schulgelände Müll aufzusammeln gar keine so schreckliche Strafe war. Jedenfalls wenn man sich den orangenen Arbeitsoverall und meine kichernden Mitschülerinnen wegdachte, die offensichtlich extra länger geblieben waren, um mich zu beobachten.

Aber das war klar. Tinka war ja neuerdings ihre Anführerin.

Wenigstens sie würde ich auf der neuen Schule nicht vermissen. Schon gar nicht nach der Sache mit Sinclair im Prestley-Haus und nach dem, was sie mir bei der Schulübernachtungsparty angetan hatte. Früher waren Tinka und ich beste Freundinnen gewesen – zumindest hatte sie das behauptet. Doch davon war inzwischen nichts mehr zu erkennen. Für einen Moment verschwamm die komische Harke vor meinen Augen, mit der ich den Müll aufsammelte, als ich an die unzähligen gemeinsamen Nachmittage zurückdachte. An unsere früheren Sommer im Community-Park-Pool und unsere gemeinsame Blockhütte beim Invention Camp. Früher hätte es viel mehr wehgetan, Tinka zu verlassen, doch jetzt war ich regelrecht froh, nicht länger ihrer Boshaftigkeit ausgesetzt zu sein.

Kapitel 2

Ehe ich wusste, wie mir geschah, war es Freitagvormittag, drei Monate später, und ich kletterte in Dads Lieferwagen. Wahrscheinlich hätte ich etwas mehr einpacken sollen, aber man reiste mit leichtem Gepäck ja bekanntlich am besten. Und wahrscheinlich konnte ich auf diese Weise mein Vorhaben, mich so wenig wie möglich in diese Schule für Teenager mit Problemen einzugliedern, am besten umsetzen. Swanlake Academy for Special Needs. Wo gab es denn so was? Ach richtig: in Texas.

»Schatz, willst du dir nicht endlich mal die Broschüre ansehen?« Mom wedelte mit einem Hochglanzflyer vor meinem Gesicht herum. »Schau, sie haben diesen riesigen See, der aussieht wie aus einem Märchen entsprungen.«

Ich schüttelte den Kopf. Nein, wollte ich immer noch nicht.

»Wenn sie dort für Halloween einen Dekorateur suchen, verteil unsere Visitenkarten. Und nicht damit geizen!« Dad hörte sich eindeutig so an, als plante er, eine Million Dollar mit meiner neuen Schule umzusetzen.

Seufzend band ich mir die Haare zu einem Dutt und zog an meinem Shirt. »Wird es hier gerade superkalt oder liegt es an mir?« Wahrscheinlich hätte ich die Temperaturen in Texas nachschlagen sollen. Aber war es dort nicht genauso warm wie in Kalifornien?

»Ich war von Anfang an gegen dieses lächerliche Shirt«, sagte Mom betont neutral, während sie den Flyer in den Händen drehte. Moms Augen und ihr Verhalten passten viel besser zu einem Teenager als zu einer Vierundvierzigjährigen, dennoch hatten sich in den letzten Monaten zwei Falten in ihre Stirn gegraben. Genau wie bei Dad. Kurz dachte ich daran, was beziehungsweise wer diese Falten ausgelöst hatte, ehe ich das schlechte Gewissen runterschluckte und das Kinn hob. »Was hast du immer gegen meine Statement-Shirts, Mom?«

Dad stieß mehrere abschätzige Schmatzgeräusche aus. »Ich finde diese witzigen Shirts super.«

Mermaids don’t do homework – prahlte mein Shirt, und ja, das war absolut mein bestes Stück. »Danke, Dad.«

Doch er schien mich gar nicht mehr zu hören. »Nur noch zehn Stunden bis zum Motel in El Paso. Was meint ihr, Burritos zum Abendessen? Oder Chimichangas?«

»Ich nehme Nachos mit doppelt Käse«, sagten Mom und ich gleichzeitig.

Am nächsten Morgen lagen weitere zehn Stunden Autofahrt vor uns bis Swanlake, Texas, das am Rande eines Naturschutzgebietes lag. Mom hatte extra früh losfahren wollen, weswegen wir uns bereits um vier Uhr nachmittags auf der Zielgeraden befanden.

»Schatz, war es wirklich nötig, die Zwiebelsuppe zum Frühstück zu essen?« Mom wedelte vor meinem Gesicht herum. »Du brauchst einen Kaugummi, oder besser gleich zwei.«

»Außer Suppe, schön heiß in einem Topf durchgekocht, rühre ich in einem zwielichtigen Motel sicher kein Frühstück an.«

Dad reichte mir ein trockenes, eingeschweißtes Brötchen, während er selbst sich die Reste eines Sandwiches, das er mit billigem Käse und Schinken belegt hatte, in den Mund schob.

Abwehrend hob ich beide Hände. »Danke, Dad, aber dieses Pappzeug klebt immer so an meinem Gaumen. Und für dich kann ich nur hoffen, dass die Salmonellen auf dem Ding heute ihren freien Tag haben.«

Kaugummikauend starrte ich auf die Landschaft, die an uns vorbeizog. Erstaunlich viele Seen und viel Grün. Ganz anders als in Kalifornien.

Irgendwann wachte ich mit steifem Nacken auf. Meine Stirn donnerte seitlich gegen die Fensterscheibe. Noch etwas verwirrt von dem Traum, in dem ich vor einer Horde Wassermonster durch einen Sumpf davongewatet war, richtete ich mich auf. Autsch. Sobald mein Unterarm bei dem Versuch, mir die schmerzende Schläfe zu massieren, meine Haare streifte, klebte ich an etwas fest. Was? O nein, der Kaugummi! Igitt. Hastig versuchte ich, das weiße Zeug aus meinem Haar zu klauben, was nicht gerade von Erfolg gekrönt war. Wie einen dunklen Vorhang breitete ich die Strähnen vor meinem Gesicht aus, pulte daran herum. Himmel, da war es ja einfacher, Spachtelmasse aus dem Fell eines Pudels zu kratzen! Als ich vor Anspannung schluckte, musste ich beinahe würgen. Was war das für ein Geschmack in meinem Mund? Erst beim nächsten Atemzug fiel mir die Zwiebelsuppe wieder ein.

»Seht doch, da, der Wegweiser!« Mom, begeistert wie eine Zwölfjährige, deutete auf ein geschnitztes Holzschild. »Swanlake Academy. Pfeil nach rechts«, las sie vor.

Wow, besser als jedes Navi. Und jetzt wurde mir auch klar, warum ich aufgewacht war. Wir hatten den Highway verlassen und würden jede Minute bei der Schule ankommen.

Nein, nein, nein! Hektisch zupfte ich an meinen Haaren. »Mom, Dad? Könnten wir vorher noch an einer Tankstelle halten?«

Mit erhobenen Augenbrauen wandte sich Mom zu mir um. »Liebling, was hast du mit deinen Haaren angestellt?«

Darauf erwartete sie nicht wirklich eine Antwort, oder?

Wieder legte sich ihre sonst fast makellose Stirn in Falten. »Warte, in meiner Reisetasche habe ich eine Nagelschere …«

»Nein!« Hastig hob ich eine Hand. Schließlich hatte ich immer noch den hässlichsten Vokuhila-Haarschnitt der Welt vor Augen, den sie mir zu meiner Einschulung verpasst hatte. Mom mit einer Schere in den Händen konnte man nicht trauen.

»Wie du willst. Dann sehe ich mal nach, wo die nächste Tankstelle liegt …« Sie tippte auf unserem Navi herum. »Hm, merkwürdig. Hier scheint weit und breit keine zu liegen, auch kein Supermarkt oder so. Da ist der See, die Akademie, ein Forschungsinstitut und ein Sommercamp. Das war’s. Aber mach dir keine Sorgen, das erledigen wir zuerst, wenn wir an der Schule sind. Schere, Kamm, Wasser, Taschentücher …« Mom kramte im Seitenfach des Transporters.

Nein, oder? Das konnte nicht wahr sein. Sollte so mein grandioser Auftritt an meiner neuen Schule aussehen?

»Schaut euch diesen überirdisch schönen See an.« Dad drosselte das Tempo, sodass wir in Schrittgeschwindigkeit vorankrochen. Die Straße führte durch einen dichten Wald direkt auf eine türkisblaue Wasseroberfläche zu, hinter der eine Schule wie ein Märchenschloss aus dem Mittelalter aufragte. Ich erkannte sie von dem Prospekt wieder, den ich trotz meiner Mühen nicht vollständig hatte ignorieren können. Doch in echt sah das Internat irgendwie noch verwunschener aus.

»Wow, der See sieht atemberaubend aus!« stimmte Mom zu, die aufgehört hatte, in ihrer Tasche zu kramen. »Man nennt ihn auch Blue Hole. Und schaut mal, was sind das für Felsen in der Mitte?« Mom klebte praktisch an der Scheibe, ließ dann das Fenster herunterfahren, um den Kopf aus dem Lieferwagen zu strecken.

Ich folgte ihrem Blick und betrachtete das Steinungetüm in der Mitte des Sees. Wirkte ein wenig wie eine halb aus dem Wasser ragende Steinkrone. Wie die Krone einer Riesin.

»Und der Flieder. Sieh nur!« Mom deutete auf eine steinerne Brücke, die über einen Bach zur Schule führte und von blühendem Flieder eingerahmt wurde.

Ja, die Landschaft um die Academy herum hatte tatsächlich etwas von einer Postkartenidylle. Die vielen Türme und Brücken erinnerten mich immer mehr an eine Touristenfalle, aber ich würde nicht vorschnell über dieses Internat urteilen.

Dad parkte ein Stück abseits der Schule im Schatten, damit wir die Kaugummi-Katastrophe noch in den Griff bekamen.

Mom rutschte vom Beifahrersitz, knallte die Tür zu und sah mich scharf an. »Adam, du hältst sie fest, ich hole die Schere.«

Wie bitte? »Keine Gewalt«, sagte ich betont ernst. »Oder ich rufe das Jugendamt an.«

Dieser bewährte Running Gag ließ Dad schmunzeln. »Danielle, wieso holen wir dir nicht erst mal einen Energydrink aus dem Kühlfach und lassen Graylee die Zeit, ihr Problem selbst zu lösen? Wie selbstständige Teenager das tun.«

Bevor es sich einer von ihnen anders überlegen konnte, schnappte ich mir mein Handy samt der Kette, an der es hing, sowie eine Wasserflasche und lief los. In Richtung See. Vielleicht fand ich dort ein ruhiges Plätzchen, um mir die Haare zu entwirren.

Irgendwo schrie ein Falke. Aber zum Glück war sonst niemand zu sehen. Der See lag in der Nachmittagshitze verlassen da. Ob die Schule so etwas wie Teatime hatte und alle drinnen versammelt waren? Außerhalb meiner Sichtweite klapperte und platschte es, als würden Kanus ins Wasser gelassen werden. Na großartig, hoffentlich entdeckten mich die Wassersportler nicht. Ich verzog mich ans Ufer, direkt neben einen steinernen Pier, der die Sicht auf mich verdecken und mir gleichzeitig Schatten spenden würde. Mich auf den Kiesboden zu hocken, war zwar nicht die gemütlichste Stelle am See, aber immerhin die privateste. Perfekt. Sanft schlugen die Wellen nahe meinen Füßen gegen den Kies. Aber nicht so nahe, dass ich Spritzer abbekommen hätte.

Eine Weile zog ich mir Kaugummifaden um Kaugummifaden aus den Haaren. Bis ich etwas fauchen hörte. Sofort erstarrte ich und maß gleichzeitig die Entfernung zum Wasser ab. Nein, hier konnte kein Monster auf mich lauern. Was war das da hinten? Der dunkle Umriss eines Ungeheuers unter der Wasseroberfläche … Eindeutig. Dort, um den Pier herum, bewegte sich ein Schatten, so groß wie ein Seehund.

Schnell stand ich auf, machte einen Schritt zurück, wobei ich den dunklen Fleck im Wasser nicht aus den Augen ließ.

Geflatter ertönte. Gefolgt von dem Geräusch von Flügeln, die aufs Wasser klatschten. Aus dem Schatten, den der Pier über seine Steinbögen warf, schälte sich ein Schwan. Das Tier zupfte mit seinem Schnabel an einem Plastikring um seinen Hals. Der Ring eines Sixpackhalters, wie ich sofort erkannte. Einer der äußeren Ringe war eingerissen, der Rest leider noch komplett intakt. O nein. Das Tier kämpfte mit dem Müll, in den es geraten war. Nur leider kam der Schwan nicht richtig unter den Ring, um ihn nach oben zu befördern.

Ich sah mich um. Sollte ich Mom rufen? Aber wahrscheinlich würde sie zu spät kommen. Der Schwan trieb mehr, als dass er schwamm, unter dem zweiten Steinbogen, etwa zehn große Schritte vom Ufer entfernt. Von dem Monsterschatten war zum Glück nichts mehr zu sehen.

Gut, wir waren also allein. Hätte schlimmer kommen können. Nachdem ich erneut in Richtung Wasser geschielt hatte, fasste ich mir ein Herz. Der Schwan brauchte meine Hilfe.

Da ich auf keinen Fall mit den Monstern und dem, was immer auch sonst noch im türkisgrünen Seewasser lauerte, Bekanntschaft machen wollte, blieb mir nur der Weg über das Geländer am Pier. Um beide Hände frei zu haben, schlang ich mir die Handykette um den Hals und zog mich dann – nachdem ich den Ekel vor den Bazillen hinuntergeschluckt hatte – ohne weiter zu zögern am Geländer hoch. Die Metallstäbe fühlten sich kalt unter meinen Fingern an. Nur ganz wenige Stellen wiesen Rost auf, der Rest war glatt und mit schwarzer Farbe bestrichen.

»Ganz ruhig«, murmelte ich, wobei ich nicht wusste, wen von uns beiden ich damit beschwichtigen wollte: den Schwan oder mich. Der Schwan knabberte unterdessen immer noch an seinem unfreiwilligen Halsschmuck herum.

Okay, nicht ins Wasser schauen. Da schwamm bloß ein einzelner Schwan, sonst nichts. Wenn es Schwäne gab, konnte nichts Fleischfressendes im See hausen. Gab es Enten, gab es keine Alligatoren, richtig? So lautete zumindest die Regel bei meiner Cousine in Florida.

Der zweite Steinbogen stützte sich auf einen breiten Betonpfeiler, auf dessen Vorsprung ich ohne Problem stehen konnte, ich musste mich lediglich vom Geländer nach unten auf diesen Betonsims fallen lassen. Mit klopfendem Herzen klammerte ich mich an den Metallstangen fest, löste die Beine davon und versuchte, mich wie ein Bergsteiger nach unten abzuseilen. Nur ohne Seil. Nach einer gefühlten Ewigkeit berührten meine Fußspitzen endlich den Vorsprung. Gut, geschafft. Jetzt nur nicht den Schwan erschrecken. Ganz langsam wandte ich mich um.

»Hey, Kleiner.« Ich ging in die Knie.

Kurz ließ der Schwan von seiner Halsfessel ab.

Ich sah ihn an.

Er starrte zurück.

Hm, wie bekam ich ihn dazu, näher an mich heranzuschwimmen? Auf die Entfernung hätte ich schon ausgestreckt nach vorn springen müssen, um ihn zu erreichen, was ich definitiv nicht vorhatte.

Kurz entschlossen rieb ich meine Fingerspitzen aneinander. »Schau, was ich hier für dich habe, yummy, yummy.« Natürlich bluffte ich nur. Aber vermutlich wurde dieses Tier von den Schülern mit Krümeln gefüttert, weshalb der Schwan hoffentlich auf meinen Trick hereinfallen würde.

Der Schwan fixierte zwar mit seinem Blick meine Hände, bewegte sich allerdings kein Stück. Gut, das Glück war also ein weiteres Mal an diesem Tag nicht auf meiner Seite. Damit würde ich leben müssen. Also beugte ich mich noch ein wenig weiter nach vorn und streckte den Arm näher an das Tier heran. »Komm, komm, komm.« Wenn ich jetzt das Gleichgewicht verlor …

Der Schwan beäugte mich weiterhin kritisch, paddelte aber schließlich doch auf mich zu.

Es funktionierte! Nun ja, jedenfalls fast. Denn kurz bevor er in meine Reichweite gelangte, schien er es sich anders zu überlegen. Ob er bemerkt hatte, dass ich gar kein Leckerli für ihn in der Hand hielt? Jedenfalls stoppte er auf dem Wasser. Eine Miniwelle schob ihn sogar wieder ein wenig zurück. So knapp! Da mir langsam die Geduld ausging und ich mich irgendwie mutig fühlte, schlang ich das Ende meiner Handykette um einen Metallring, der am Brückenpfeiler angebracht war, und zog den Rest der Kette hindurch, was einen soliden Knoten ergab.

Jetzt oder nie.

Damit der Schwan nicht vorgewarnt war, lehnte ich mich ruckartig nach vorn, wobei ich mich an der Handykette festhielt. Panisch begann der Schwan mit den Flügeln zu schlagen, versuchte, nach hinten auszuweichen. Gerade so bekam ich den intakten äußeren Ring des Sixpackhalters zu fassen, doch sofort warf sich der Schwan kreischend nach hinten.

»Warte mal, ich will bloß …«

Schon fuhr das Tier seinen Hals samt Kopf nach vorn aus, um nach mir zu schnappen, weswegen ich reflexartig die Hand zurückzog. Allerdings ging der Schwan jetzt komplett auf Angriffsmodus über, stürzte sich auf mich.

Mir blieb nichts anderes übrig, als den Sixpackhalter in seinem Nacken zu packen und so seinen Schnabel außerhalb der Reichweite meiner Füße zu halten, auf die er es abgesehen hatte.

Der Schwan duckte sich, tauchte nach unten ab, wodurch sein Kopf durch die Schlaufe rutschte. Er war frei.

So ging es natürlich auch.

»Moment mal, hättest du das nicht schon eher tun können?« Nicht zu fassen. Während ich wieder einen sicheren Stand auf dem Betonpfeiler einnahm, sah ich dem Tier hinterher, das schimpfend mehr und mehr Abstand zwischen uns brachte. »Keine Dankbarkeit, verstehe …« Ich wischte mir übers Gesicht.

Als ich den Kopf hob, meinte ich, am gegenüberliegenden Ufer, auf das der Schwan nun zuschoss, einen menschlichen Schatten zu erkennen. Die Zweige eines Baumes bewegten sich, und ich erkannte einen Mann, den ich auf Mitte vierzig schätzte. Irgendwie erinnerte er mich mit seinem wachen Blick und den kurz rasierten Haaren an einen Elite-Soldaten. Hatte er mich etwa beobachtet? Doch der Schwan schien ihn zu vertreiben, denn der Unbekannte machte einige hastige Schritte rückwärts. Bevor er tiefer im Wald verschwand, wandte er noch einmal den Kopf in meine Richtung. Ich schluckte schwer, denn über seine gesamte rechte Gesichtshälfte verlief eine Narbe, wie von einem Messer gezogen. Und dann war er weg. Ich schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich spielte mir das Sonnenlicht nur einen Streich, und in Wirklichkeit war da gar niemand. Aber der Mann hatte schon irgendwie unheimlich gewirkt, und auf unheimlich und gruselig konnte ich echt verzichten.

Damit der Sixpackhalter nicht wieder im See landete, warf ich ihn mit Schwung über das Brückengeländer nach oben. Nur wie kam ich nun selbst hinterher? Springen und klettern? Das Geländer war ganz schön weit oben.

»Soll das witzig sein?« Eine fremde Stimme von oben ließ mich innehalten.

Ein Junge, etwa in meinem Alter, beugte sich über das Brückengeländer. Die Sonne blendete mich, sodass ich ein Auge zukniff. Was ich sah, reichte mir auch so. Der Junge hatte breite Schultern, den typisch gelangweilten Gesichtsausdruck eines reichen Erben aufgesetzt, und ja, er besaß etwas von einem leidenden Model. Kurzum: Ich konnte ihn auf den ersten Blick nicht ausstehen. So ein Klischee von einem Möchtegern-Schulschönling mit dunklem Geheimnis. Der Mädchen das Herz brach, um sie danach zurückzuerobern. Genau wie in den Romanen, die ich diesen Sommer verschlungen hatte.

»Ja, weißt du, ich habe mein Frisbee vergessen, mit dem ich normalerweise auf Jungs werfe, da dachte ich mir, ich nehme einfach mal Müll.« In meiner besten Bridget-Jones-Imitation hob und senkte ich beide Schultern.

Der Typ glotzte mich an, was mich aber nicht weiter störte. Stattdessen entknotete ich die Handykette vom Anlegering, löste ein Ende aus seiner Verankerung und warf das so entstandene Seil nach oben. Leider schlang es sich nicht so um das Geländer oben am Pier, wie erhofft. Mist. Noch mal. Nach mehreren Versuchen, bei denen ich zu meinem Leidwesen immer noch angestarrt wurde, wickelte sich die Kette endlich um das Metallgestänge. Ich hielt mich mit der linken Hand daran fest und versuchte, mich mit der rechten an den Steinfugen des Pfeilers emporzuziehen, wobei ich auch mit den Füßen nach Halt suchte. Blöderweise rutschte ich sofort wieder ab. Okay, zweiter Versuch. Leider misslang der auch. Himmel, wie schwer konnte das sein?

»Brauchst du Hilfe?«, fragte der Klischeetyp.

Ich schnaubte. Eigentlich wollte ich absolut nichts mit ihm zu tun haben, aber wenn er mir mit einem Handgriff half und dann verschwand, wäre das andererseits auch nicht übel. Ehe ich den Gedanken ganz zu Ende gedacht hatte, vernahm ich ein Fauchen. Sobald ich mich nach hinten umdrehte, bemerkte ich, wie der Schwan erneut auf mich zuschoss. Wütend wie eine Rachegöttin mit ausgefahrenen Flügeln, mit denen das Tier um sich schlug. Verdammt. Hatte der Angriff vorhin nicht gereicht?

»Äh ja, etwas Hilfe wäre nett.«

Eigentlich hatte ich erwartet, dass er mir einfach die Hand entgegenhielt, doch im nächsten Moment schwang er sich über das Geländer, wo er wie Tarzan hing und sich mit den Füßen an der Mauer abstützte, bevor er den Arm ausstreckte. »Nimm meine Hand.«

Der Schwan nutzte die Gelegenheit, flatterte aus dem Wasser und hackte mit dem Schnabel auf meinen rechten Fuß ein, der nur in einem Turnschuh aus Segeltuch steckte. Hastig wich ich zurück.

»Mach schon«, forderte der Typ. »Wenn möglich, bevor dein Verehrer dich zum zweiten Mal anfällt.«

Der Schönling hatte ja echt Nerven. Dennoch ging ich auf sein Angebot ein – es blieb mir schlichtweg nichts anderes übrig. Also streckte ich meine freie rechte Hand in seine Richtung. Aber wie wollte er mich jetzt nach oben über das Geländer hieven? Ich wog bestimmt beinahe so viel wie er, und … Schneller, als ich blinzeln konnte, schwebte ich schon an den Metallbarren, schwang ein Bein darüber und ließ mich auf den Pier fallen. Puh. Warum war ich auf einmal so außer Atem? Eine Hand immer noch an der Handykette, lag ich einfach nur da, versuchte, mich und meine Atmung zu beruhigen.

Der Junge schüttelte seinen braunen Haarschopf. »Womit hast du den Schwan bloß derart verärgert? So was hab ich noch nie erlebt.«

Pff. Konnte ich was dafür, dass er nie etwas Aufregendes durchmachte? Ich holte tief Luft, beschloss dann aber, mir den Atem dafür zu sparen. »Ich hab ihn davon befreit«, sagte ich deswegen nur, griff nach dem Sixpackhalter und warf ihn in Richtung des Klischeetypen. »Das war alles.«

Natürlich wich er geschickt aus, das war vorherzusehen gewesen bei seinen Reflexen. Trainiert war er ja. Mir entging auch nicht, wie sich die Muskeln unter seinem weißen Poloshirt bewegten.

»Du wolltest es wissen«, keuchte ich, als er mich verwirrt ansah.

»Mein lieber Schwan«, sagte der Typ vollkommen ruhig.

Wirklich witzig.

»Aber seltsam«, fuhr er fort. »Wir achten an der Schule auf Naturschutz, niemand würde absichtlich Müll in den See werfen. Wahrscheinlich hat es jemand bei der letzten Party übertrieben.« Er schüttelte den Kopf.

Warum er nicht endlich abhaute, war mir ein Rätsel. Wartete er vielleicht darauf, dass ich mich bedankte?

Ich räusperte mich. »Danke?« Es kam mir mehr als Frage über die Lippen. Zumindest schaffte ich es, den bissigen Ton in meiner Stimme zu unterdrücken. Eigentlich verstand ich selbst nicht ganz, warum mich dieser Kerl so aufregte. Konnte es mir nicht egal sein, ob mich da ein Klischee hoch zehn anstarrte? Irgendetwas an ihm ließ meinen Puls gewaltig nach oben schießen.

Womöglich regte ich ihn ebenfalls auf, denn er sog scharf die Luft durch die Nasenlöcher ein, sagte ansonsten jedoch nichts. Erst jetzt fiel mir auf, dass er unter seinem Polohemdkragen ein rotes Satinband zu einer lockeren Schleife gebunden trug. An den Enden, die wie bei einer Geschenkschleife eine Handbreit herunterhingen, war je ein goldener, siebenzackiger Stern eingewebt.

Da er immer noch schwieg, nutzte ich die Zeit, um mich aufzurappeln, mein Handy vom Geländer zu lösen und an meinen Jeansshorts zu ziehen. Etwas undamenhaft beugte ich mich nach hinten und zog am Saum der Hose. Wieso klebten die auf einmal an mir wie Kaugummi? Kaugummi! Mitten in der Bewegung hielt ich inne. Oh, verdammt.

»Was hast du da eigentlich in den Haaren?«, fragte der Schönling in dem Moment auch schon.

Toll, ganz toll. Mein erster Tag an der Schule, und er hatte bereits genug Stoff für eine ganze Klatschzeitschrift gesammelt …

»Hat sich der Schwan etwa sooo sehr gefreut, dich zu sehen?« Die Stimme des Typen vibrierte. Machte er sich über mich lustig?

»Du würdest dich wundern.« Ich richtete mich zu meiner vollen Körpergröße auf. Was fiel ihm eigentlich ein?

Offensichtlich nicht mehr viel daraufhin. Stattdessen musterte er mich von oben bis unten, wobei sein Blick länger an meinem Shirt hängen blieb. »Mermaids don’t do homework?«, las er vor.

Wow, und lesen konnte er auch noch. »Ja, und das können nur Meermädchen lesen, also Glückwunsch, Arielle.« Ich applaudierte lautlos.

Der Typ blinzelte. »Soll das eine Anspielung sein? Zu welcher Familie gehörst du? Dir ist schon klar, dass du dir damit keinen Gefallen tust, oder?«

Was waren das für merkwürdige Fragen? Am liebsten hätte ich zwei Mittelfinger gereckt und geantwortet: »Zu der Familie mit den zwei Mittelfingern«, doch genau jetzt näherten sich uns Schritte. Oh, bitte nicht meine Eltern.

Als ich aufsah, betraten drei Mädchen hintereinander den Pier. Diejenige von ihnen, die das Trio anführte, wiegte sich dermaßen intensiv in den zugegeben beeindruckenden Hüften, dass ihr dunkelrot gefärbtes Haar hin und her schwang. Eine Art Kylie Jenner mit roter Perücke. Hinter ihr folgten eine Blondine mit krausem Lockenkopf und ein Mädchen, das vermutlich aus Südostasien stammte. Alle drei trugen diese Bänder unter den Polohemdkragen, genau wie der Klischeetyp. Nur ihre waren blau und grün.

Der Schönling hatte sie auch bemerkt und stieß einen Fluch aus. Seine Nasenflügel blähten sich. Auf einmal wirkte er angespannt. »Ich hab doch sicher etwas gut bei dir«, flüsterte er mir zu. Gleichzeitig trat er ganz nah an mich heran, sodass ich einen Schritt zurückmachte. »Bitte spiel mit und tu so, als wäre das hier ein Date.«

Ich hörte wohl nicht richtig! »Was?«

Er griff in meine Haare, beugte sich zu mir und versuchte, den Kaugummi zu lösen, weshalb ich ihm das durchgehen ließ. »Bitte. Ich erzähle auch niemandem von deinem Schwan.«

Beinahe hätte ich den Mund aufgerissen und ihm eine Predigt gehalten, aber die Mädchen hatten uns beinahe erreicht, selbst in diesem lasziven langsamen Gang, bei dem sie immer einen Fuß diagonal vor den anderen setzten.

Also gut, mein Helfersyndrom setzte sich ja doch immer durch. Einen Gefallen gegen einen Gefallen. Von mir aus. Der Typ musste ganz offensichtlich vor diesen Hyänen gerettet werden, das hätte er mir nicht mal sagen müssen.

Ich stieß ein gackerndes Lachen aus, was alle auf der Brücke verwundert innehalten ließ. Oh, zu viel? Schnell legte ich dem Typ eine Hand auf die Schulter. »Du bist so witzig, wirklich. Wollen wir irgendwo hingehen, wo wir ungestört sind? Nur wir zwei?«, hauchte ich dann auffällig laut. Auf die Schnelle war mir nichts Besseres eingefallen.

Zuerst glotzte mich der Typ nur an. Seine Augen glänzten wie schimmernder Onyx. Fast schwarz. Wie konnte man fast schwarze Augen haben? Meine waren grau. Nicht blau, nicht grün, eher wie ein Eisnebel am Nordpol.

»Mach weiter«, wisperte ich ihm zu. »Ich will den Kaugummi loswerden.«

Einen Herzschlag später grinste der Typ und widmete sich wieder meinen Haaren. Winzige Lachfältchen zeigten sich um seine Augen. Okay, das war irgendwie süß. Lachte er etwa viel? So war er mir überhaupt nicht vorgekommen. Was ich allerdings bemerkte, war, dass er mich mit seinem Körper vor den Mädchen abzuschirmen versuchte. Eindeutig. Wollte er meinen Kaugummi-Unfall kaschieren? Ziemlich aufmerksam.

»Hudson?«, rief ihm die Rothaarige zu. »Wolltest du nicht mit London und mir zum Falkentraining, bevor die Führung der Neuen ansteht?« Da sie auf ihre Freundin mit dem makellosen Porzellan-Teint wies, nahm ich an, dass das London war.

Über seine Schulter wandte er sich gerade so weit wie nötig unserem Publikum zu. »Eigentlich hatte ich dir doch gesagt, dass ich jemanden treffe.«

Die Rothaarige kniff ihre beeindruckend hellgrünen Augen zusammen. Gut, das unterschied sie von Kylie Jenner. Und die Tatsache, dass ihr Blick sich in meinen bohrte, als wollte sie mich grillen.

»Du bist wohl komplett durch, oder? Hier vor allen Leuten machst du mit deiner Campschlampe rum?«

Das hatte sie nicht gesagt! Schnaubend neigte ich den Kopf. Campschlampe? Sollte das ein lokales Schimpfwort darstellen, von dem ich nichts wusste?

»Kennst du diese Furie, Süßer?«, fragte ich zuckersüß, während ich Hudson, wie er anscheinend hieß, über den Arm strich. Inzwischen schien er den Kaugummi größtenteils aus meinen Haaren geschält zu haben. »Ist das diese nervige Ex, von der du erzählt hast?«

Offenbar hatte ich mit dieser Vermutung ins Schwarze getroffen, denn wieder wirkten sämtliche Anwesende auf der Brücke für mehrere Herzschläge lang wie eingefroren. Einerseits gruselte mich diese Situation wie ein Besuch eines Wachsfigurenkabinetts, andererseits hatte ich sicher seit einer Woche nicht mehr so viel Spaß gehabt. Mit einer Hand griff ich nach Hudsons, um die Scharade aufrechtzuerhalten, mit der anderen hängte ich mir mein Handy locker über die Schulter.

»Viv, bitte. Gönn uns etwas Privatsphäre«, bat Hudson in auffallend ruhigem Tonfall, den ich so wahrscheinlich nicht hinbekommen hätte.

»Willst du uns damit provozieren?« Mit hochrotem Gesicht deutete das Mädchen, das wohl Viv hieß, auf mein Shirt. Ihre dick nachgezogenen Augenbrauen hatte sie so weit zusammengezogen, dass sie sich fast berührten.

Was hatten sie nur alle mit meinem Outfit? Verstand niemand den Mermaid-Spruch? Langsam gab ich diese Schule echt auf.

»Ich glaub es ja nicht.« Viv warf beide Hände in die Luft. »Die Campschlampe trägt das mit Absicht.«

Ja, dieses T-Shirt hatte ich heute Morgen im vollen Bewusstsein ausgewählt und angezogen. Stirnrunzelnd musterte ich Viv. Womöglich war ich hier tatsächlich an einer Schule für Jugendliche mit sehr großen psychischen Problemen gelandet. »Ich habe einen eigenen Willen«, sagte ich langsam und überdeutlich. »Und ja, ich trage immer, was ich will.« Ich zupfte an meinem Mermaid-Shirt. »Solange es Hudson gefällt.« Ich zwinkerte ihm zu. Diese Rolle war mir wie auf den Leib geschneidert.

Komischerweise lachte Hudson nicht. Im Gegenteil, er wirkte auf einmal blass und schien meilenweit entfernt zu sein.

Mir drängte sich der Gedanke auf, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Doch da wandte sich Viv schon ab, spazierte zwischen ihren Freundinnen hindurch. Allerdings nicht, ohne mir zum Abschied zuzurufen: »Wenn ich dich noch einmal hier sehe, Campschlampe, informiere ich euren Leiter, und dann wirst du ja sehen.«

»Okay, sie hat wirklich Probleme«, murmelte ich.

»Was?« Hudson blinzelte, als hätte ich ihn aus einem Traum gerissen.

Ja, das war wohl mein Stichwort. Besser, ich brachte so viel Abstand zwischen mich und diesen Typen, dass er mir nichts mehr zuflüstern konnte. Jedenfalls nicht ohne Megafon. Mit einem verkniffenen Lächeln schob ich mich an ihm vorbei.

»Warte. Zu welcher Familie gehörst du?« Hudsons Stimme hielt mich zurück.

»Wieso? Spielt ihr hier Mafia, oder wie?« Ein letztes Mal wandte ich mich zu ihm um, und in dem Moment ging mir ein Licht auf. Campschlampe … So hatte Vivienne mich vorhin genannt. Und hier gab es doch irgendwo ein Sommercamp. Ich wandte den Kopf, erkannte am Ende des Sees, rechts von der Schule, ein graues Gebäude mit einem Industrieschornstein. Das musste das Forschungsinstitut sein, von dem meine Eltern gesprochen hatten. Ein Steg führte dort zum Wasser. Mein Blick schweifte weiter. Dort, fast exakt gegenüber der Schule am anderen Ende des Sees entdeckte ich einen weiteren Steg aus Brettern. Vermutlich lag dort hinter den Bäumen das Camp.

»Viv denkt, ich komme aus dem Sommercamp, oder?«

Statt zu antworten, rieb sich Hudson mit einer Hand übers Gesicht. Womöglich wollte er prüfen, ob er sich mich nur einbildete.

Da nicht weit entfernt gerade meine Mutter nach mir rief, nahm ich das nur zu gern zum Anlass, endgültig zu verschwinden. Runter von diesem Pier voller Teenager, die noch größere Probleme zu haben schienen als ich. Obwohl inzwischen nur noch Hudson darauf verweilte.

Was ihm wohl fehlte?

Kapitel 3

»Befremdlich«, sagte Dad.

»Meinst du den Typen, den unnatürlich blauen See oder meine Schwan-Geschichte?«

»Alles drei. Aber schau mal, dort. Wie Venedig.«

Ich folgte seinem ausgestreckten Arm. Auf den ersten Blick erkannte ich einen Innenhof, recht versteckt zwischen Weidenbäumen, erst auf den zweiten Blick verstand ich, dass das kein grüner Boden war, sondern Seewasser. Eine Lagune, wenn man das so nannte, direkt am Schulgebäude mit einer Statue in der Mitte. Nur war das Wasser hier moosgrün. Wirklich hübsch.

Je näher wir dem Haupteingang kamen, desto mehr Statuen passierten wir. Wobei die meisten lässig gegen eine Mauer lehnten. Allerdings in einer merkwürdigen Pose. Gehörte Bildhauerei hier zur Therapie und das waren Anfänger-Skulpturen? Hinter der Schule ragte ein Turm empor, der wie der aus dem Märchen Rapunzel wirkte.

Vor der Eingangstür, die man über drei halbrunde Stufen erreichte und die mich an den Eingang eines Märchenschlosses erinnerte, hing eine goldene Glocke.

Ernsthaft? Ich stupste sie mit dem Fingernagel an. Keine Attrappe. Eindeutig. »Könnte das die Klingel sein, oder lösen wir damit einen Feueralarm aus, was meint ihr?«

Dad räusperte sich. »Da wegen deiner Kochkunst sowieso demnächst die Feuerwehr anrücken muss, sollten wir das Risiko eingehen. So könnten sie schon mal für den Ernstfall üben.«

»Haha«, sagte ich. »Und das war nur einmal.«