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Über das Buch Shanghai 1926: Die eigenwillige Ai Ping verlässt ihr Heimatdorf, um nach ihrer verschollenen Enkelin zu suchen. Die Spur führt zu den Kurtisanenhäusern, ins Reich der »wilden Hennen« von Shanghai, doch dann verliert sie sich plötzlich. Hängt das Verschwinden der schönen Pflaumenblüte mit dem ermordeten Komprador Liu Er zusammen? Die starrköpfige Großmutter lässt nicht locker. Sie betraut einen aufmüpfigen Studenten mit Nachforschungen und legt sich dabei arglos mit mächtigen Widersachern an … Skorpils ungleiches Ermittlerduo, die Großmutter vom Lande und der weltmännische junge Möchtegern-Revolutionär, wachsen dem Leser sofort ans Herz. Durch ihre Augen sehen wir Shanghai vor neunzig Jahren: ein faszinierender Ort voller Widersprüche, wo Kulturen aufeinanderprallen, wo die industrielle Revolution tobt, der Opiumhandel blüht, während ›fremde Teufel‹ und heimische Gangster absahnen. Wir tauchen ein in eine rasante Zeit und entdecken einen faszinierenden Ort voller Widersprüche, wo das Verbrechen blüht. Historische Akkuratesse, lebensechte Figuren und leiser, kluger Humor zeichnen Clementine Skorpils Roman aus. All das gebündelt in einem mitreißenden Krimiplot. »Ein spannender, atmosphärisch dichter Krimi, der ein Fenster zu einer anderen Welt öffnet.« Deutschlandradio Kultur Mit einem Vorwort von Else Laudan
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Seitenzahl: 466
Shanghai 1926: Die eigenwillige Ai Ping verlässt ihr Heimatdorf, um nach ihrer verschollenen Enkelin zu suchen. Die Spur führt zu den Kurtisanenhäusern, ins Reich der »wilden Hennen« von Shanghai, doch dann verliert sie sich plötzlich. Hängt das Verschwinden der schönen Pflaumenblüte mit dem ermordeten Komprador Liu Er zusammen? Die starrköpfige Großmutter lässt nicht locker. Sie betraut einen aufmüpfigen Studenten mit Nachforschungen und legt sich dabei arglos mit mächtigen Widersachern an ...
Skorpils ungleiches Ermittlerduo, die Großmutter vom Lande und der weltmännische junge Möchtegern-Revolutionär, wachsen dem Leser sofort ans Herz. Durch ihre Augen sehen wir Shanghai vor neunzig Jahren: ein faszinierender Ort voller Widersprüche, wo Kulturen aufeinanderprallen, wo die industrielle Revolution tobt, der Opiumhandel blüht, während ›fremde Teufel‹ und heimische Gangster absahnen.
»Ein spannender, atmosphärisch dichter Krimi, der ein Fenster zu einer anderen Welt öffnet.« Deutschlandradio Kultur
Wir tauchen ein in eine rasante Zeit und entdecken einen faszinierenden Ort voller Widersprüche, wo das Verbrechen blüht. Historische Akkuratesse, lebensechte Figuren und leiser, kluger Humor zeichnen Clementine Skorpils Roman aus. All das gebündelt in einem mitreißenden Krimiplot.
Clementine Skorpil
Gefallene Blüten
Historischer Kriminalroman
Mit einem Vorwort von Else Laudan
eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2015
Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg
Tel. +4940 31108081, [email protected]
www.culturbooks.de
Alle Rechte vorbehalten
Printausgabe: © Ariadne Verlag 2013
Lektorat: Else Laudan
eBook-Cover: Magdalena Gadaj
eBook-Herstellung: CulturBooks
Erscheinungsdatum: 01.02.2015
ISBN 978-3-944818-72-6
Ein Mädchen mit großen Füßen kann gehen, wohin es will ...
China, damit verbindet mein Alltagsverstand Chop Suey, alternative Heilkunde und Teezeremonien, Billigkleidung, schikanierte Künstler, drohende Umweltkatastrophen. Historisch denke ich an hauchdünne Vasen, Konfuzius, Laotse. Shanghai weckt weitere Assoziationen: Koloniale Handelsmetropole, Zufluchtshafen der Nazizeit, Opium, Piraten und rivalisierende Triaden. Aldous Huxley schrieb 1926, er habe »in keiner Stadt der Welt je einen solchen Eindruck von einem dichten Morast üppig verflochtenen Lebens« gehabt. Und just in dieses Jahr entführt uns die Sinologin Clementine Skorpil.
Die eigenwillige Ai Ping verlässt ihr Heimatdorf, um in Shanghai nach ihrer verschollenen Enkelin zu suchen. Auf schmerzenden (gebundenen) Füßen wandert sie durch die riesige Stadt und verzweifelt bald an ihrer mangelnden Eignung zur Detektivin. Zum Glück stößt sie auf den kommunistischen Studenten Lou Mang, der unermüdlich versucht, die Fabrikarbeiter zu agitieren. Ein Weltverbesserer, wie Ai Ping messerscharf erkennt. Damit ist Skorpils Ermittlerduo geboren: eine alte Frau vom Lande und ein weltmännischer junger Möchtegern-Revolutionär. Beide wachsen mir sofort ans Herz. Durch ihre Augen sehe ich Shanghai in den Zwanzigern, ein faszinierender Ort voller Widersprüche, wo Kulturen aufeinanderprallen, wo die industrielle Revolution tobt, während ›fremde Teufel‹ und heimische Gangster absahnen.
Mit historischer Akkuratesse, liebenswürdigen Figuren und Humor strickt die Autorin den mitreißenden Krimiplot um eine verschwundene Kurtisane. Und zeigt uns ganz nebenbei Traditionen und Denkweisen, soziale Gefälle, Alltagsformen und Utopien dieses so exotischen Schauplatzes. Tucholsky schrieb: »Wer die Enge seiner Heimat ermessen will, reise. Wer die Enge seiner Zeit ermessen will, studiere Geschichte.« In diesem Sinne ist Skorpils Krimi ein wirklich nahrhafter Leckerbissen für den Horizont – und dabei spannende Unterhaltung.
Für Helmut, Josefine und Antonin und alle anderen, die mein Leben schöner machen
Hauptpersonen sind Ai Ping und Lou Mang.
Historische Persönlichkeiten:
Erfundene Figuren:
He Jingru, Sohn des MilitärgouverneursMeiling, Tochter des Wirts vom Stillen BambushainPflaumenblüte, Schöne mit besonderen BegabungenWei Long, ehemaliger Kreisbeamter, arbeitet notgedrungen für die Green GangXiaohua, jüngere Tochter des Wirts vom Stillen BambushainDer Zahnlose, Expolizist, der dem Opium verfallen ist und sich als Spitzel für verschiedene Verbrecherbanden betätigtsowie opiumsüchtige Kulis, ein ungeschickter Sekretär, mehr oder weniger dümmliche Ganoven, zwei Studenten, anständige Japaner, durchtriebene und naive Kurtisanen
Ai Ping hält sich nicht an die Regeln, heißt es im Dorf. Wenn andere Frauen in den Frauengemächern des ersten Stockes sitzen und sticken oder weben, ihren Kindern Geschichten erzählen oder darauf achten, dass die Bediensteten keine Eier stehlen oder ein Stück Stoff in die Taschen stecken, läuft Ai Ping im Dorf die Gassen auf und ab. Den ganzen Tag. Das war immer so. Sie lässt sich nicht einmal tragen. Abends tun ihr die blutenden Füße weh. Sie isst nichts mehr, sondern legt sich aufs Bett und schläft ein. Doch am nächsten Tag rennt sie wieder durch die Gassen. Wie es den Kindern des Schusters geht, die Bluthusten haben? Frag Ai Ping, sie weiß es. Worüber sich der Bäcker mit seiner Frau streitet? Ai Ping hört beiden zu.
Sie redet nicht nur mit den Damen aus ihrer Schwesternschaft, der Frau des Apothekers – immerhin einer geborenen Zhou – oder der Frau des Schulmeisters, nein, auch mit dem Lehrer selbst, mit den Schulkindern, mit den Eltern der Schulkinder. Warum der Kaiser neue Steuern erheben muss. Weshalb der Präfekt im Gericht diese oder jene Entscheidung getroffen hat. Männerangelegenheiten, allesamt.
Natürlich hat die Familie versucht, ihr die Flausen auszutreiben. Vergeblich. Lieber lässt sie sich totprügeln, als den ganzen Tag im Haus eingesperrt zu sein.
Jeden Tag geht sie den gleichen Weg. Am Garten des alten Mo bleibt sie stehen und atmet den Duft der Rosen. Dann läuft sie die Dorfstraße entlang zur Wiese neben dem Prüfungsgelände, auf der der kleine Lu Jia den Wasserbüffel des Privatgelehrten Zhen Daping hütet. Von dort wandert sie zum Teich und beobachtet die Wildenten, die nach Süden ziehen.
Abends kommt sie nach Hause und schreibt Gedichte. Bildet sich ein, sie kann berühmt werden wie einst Li Qingchao. Anfangs entsprachen ihre Gedichte den Regeln. Dann wurden sie immer seltsamer. Wer will Poesie über Wasserbüffel auf grünen Wiesen lesen?
Erst als Shuli anfing Blut zu husten, blieb sie eine Zeit lang zu Hause. Dann trieb es sie wieder auf die Straße. Sie ging zum Schuster. Der schickte sie mit Shuli in die Stadt zu einem englischen Arzt. Drei Monate später standen wir an seinem Grab. Ai Ping schloss sich in ihrem Zimmer ein, aß fast nichts, wurde krank. Kaum gesund, begann sie wieder durch die Straßen zu wandern. Da war Shuli noch kein Jahr tot. Sie ging zur Weide, gab Lu Jia Geld für die Schule und bewachte den Wasserbüffel für ihn. Dass Jia nie zur Schule ging, sondern sich Naschereien kaufte und in den Bergen herumtrieb, wusste jeder im Dorf. Trotzdem hütete sie den Büffel. Bis Zhen Daping sie vertrieb. Es schickt sich nicht für eine Dame, Rinder zu weiden.
Ai Ping hält sich nicht an die Regeln. Dass sie uns jetzt wieder zum Gespött im Dorf macht, kann ich ihr nicht verzeihen. Ich hasse sie. Ich hasse meine Mutter. Ich hasse meine Mutter!
Regen. Wenn es im dritten Monat regnet, hört es den ganzen Sommer nicht mehr auf, sagt die Großmutter. Lou Mang drückte die Morgenzigarette im bereits vollen Aschenbecher aus, nahm das Hemd von der Stuhllehne, zog es an und nestelte an den Manschettenknöpfen. Er verrenkte den Arm, um zu sehen, ob das Ende mit dem Haken durch das Knopfloch geschlüpft war.
In Frankreich regnete es auch im dritten Monat – au mois d’avril, wie die Leute dort sagten. Dort fand es niemand ungewöhnlich, wenn es schüttete, als hätte der Höllenfürst – den es natürlich nicht gab – seine Mandarine angewiesen, alles Wasser der Hölle auf die Erde zu schicken.
Lou sah aus dem Fenster. Die Backsteinhäuser gegenüber verwehrten den Blick auf den bleigrauen Himmel. Auf der Straße stand die Vermieterin und redete mit einem Mädchen, das einen Regenschirm aus bedrucktem Ölpapier hielt. Hübsch, proletarische Gesichtszüge.
Lou knöpfte die Jacke zu, nahm den Hut und spähte aus der Tür. Der Flur war leer. Er ging die Stufen hinunter und sah in die Wohnung des Vermieters. Glück gehabt. Gao saß auf seinem Stuhl in der Kammer, die Pfeife lag auf dem Tisch. Mit halb gesenkten Lidern starrte er auf den Boden.
Die Wirtin draußen stand mit dem Rücken zu ihm. Also schnell hinter ihr vorbei, dann bei der nächsten kleinen Gasse nach rechts, und mit etwas Glück war er gleich mitten im Getümmel der Chengdu-Straße. Er hatte eben die Seitengasse erreicht, als er einen harten Griff an seinem Ellbogen spürte. »Wann bekomme ich die Miete? Der Herr ist seit dem Qingming-Fest im Rückstand.«
Lou drehte sich um. Frau Gao ließ seinen Arm los und stemmte die Hände in die Hüften. Hinter ihr stand das Mädchen, drehte den Schirm und musterte ihn neugierig. Als sein Blick sie traf, senkte sie die Lider.
»Die Miete, ja«, sagte er langsam. »Ich zahle nächste Woche. Da bekomme ich Arbeit in einer Fabrik.«
»So? In welcher denn?«
»In einer Stahlfabrik«, antwortete Lou und wischte sich Regentropfen von den Schultern.
Frau Gao drehte sich zu dem Mädchen um. »Was hatte dieser Liu für eine Fabrik?«
Das Mädchen verzog den Mund. »Weiß ich nicht. Eine große Fabrik mit vielen Arbeitern.«
»Zu diesem Liu braucht Ihr jedenfalls nicht zu gehen. Seine Fabrik wird geschlossen«, verkündete die Gao wichtigtuerisch.
»Geschlossen? Warum das?«
»Liu ist tot«, antwortete Gao und sah dabei das Mädchen an. »Unter ...«, sie räusperte sich, »seltsamen Umständen gestorben.«
»Wie ist er denn gestorben?« Solange die Gedanken der Zimmerwirtin um diesen Kapitalisten kreisten, vergaß sie offensichtlich die Miete.
»Sein Herz hat aufgehört zu schlagen.«
»Nicht ungewöhnlich bei einem Todesfall«, meinte Lou trocken.
»Aber Liu Er war erst achtundvierzig. Außerdem ist er keineswegs in seinem Bett gestorben.«
»Wo dann? Im Haus der biegsamen Weiden etwa?«
»Jawohl! Was für ein unehrenhafter Tod!«
Das Mädchen trat näher und hielt den Schirm über die Gao.
»Die gerechte Strafe für so einen Ausbeuter.« Lou reckte das Kinn.
»Ach, Ihr mit Eurer Politik! Passt auf, was Ihr sagt. Ihr redet Euch noch um Kopf und Kragen.«
Lou verneigte sich. »Die Revolution fordert Opfer. Erst in der klassenlosen Gesellschaft werden wir uns nicht mehr fürchten müssen, unsere Meinung zu äußern. Woher wisst Ihr das mit dem Bordell?«
»Aus sicherer Quelle«, antwortete die Wirtin und deutete auf das Mädchen.
Die sichere Quelle hob die Hand. »Nicht, was Ihr denkt. Ich mache sauber. Da bekommt man einiges mit. Auch wenn man nicht lauscht!« Sie wurde bis über beide Ohren rot.
»Ihr macht also sauber. Ein wichtiger Beruf«, sagte er und streckte dem Mädchen die Hand entgegen, wie man es in Frankreich machte. »Ich bin Lou Mang. Student auf Arbeitssuche.«
»Han Yueniang.«
Lou zog seine Hand zurück. Er hatte es eilig. Sehr eilig sogar, wenn er nicht zu spät zur Zellensitzung kommen wollte. Doch Gao und Han redeten weiter über den seltsamen Todesfall. Es waren Schüsse gefallen, der Master hatte aber von Herzstillstand gesprochen.
»Meine Damen«, warf Lou ein, »seit die Green Gang diese Stadt eingenommen hat, wird ständig irgendwo geschossen.«
»Ihr müsst mir nicht glauben.« Das Mädchen schob die Unterlippe vor.
Lou trat von einem Fuß auf den anderen. In Frankreich hätte er jetzt seine Taschenuhr gezückt. Dort hätte man den Wink verstanden. Hier musste er fürchten, dass Frau Gao die Uhr statt der Miete kassierte.
Als er endlich ging, war es kurz nach elf. Die Sitzung hatte begonnen. Sie fand in Chen Duxius Wohnzimmer statt. Rauchwolken stiegen auf, sanken wieder herab und begannen von neuem, an die Zimmerdecke zu wandern. Genosse Wu stand auf und öffnete ein Fenster. Die Studenten Lu Dongpo und Li Yan, die Lou flüchtig aus Paris kannte, saßen auf Bambushockern. Andere Genossen kauerten auf Transportkisten oder Zeitungsstapeln. Bei Lous Eintreffen beendete Parteigründer Chen Duxiu gerade seine Rede über die Fortschritte des Bolschewismus in der Sowjetunion. Die russischen Emissäre nickten beifällig. Lou hatte stattdessen dem Vortrag über die moralischen Verfehlungen des Klassenfeindes Liu gelauscht, welche Zeitverschwendung.
Er klopfte das Wasser von der Jacke, rutschte neben der Tür die Wand hinunter, hockte sich auf seine Fersen, zog eine verknitterte Packung Zigaretten und Streichhölzer aus der Rocktasche und zündete sich eine an. Links von ihm saß ein junger Mann, den Lou vom Sehen kannte und der, soweit er sich erinnerte, Mao hieß. Lou ließ den Blick durch den Raum schweifen und entdeckte Zhou Enlai gleich neben dem Rednerpult. Er und Zhou waren in Paris Studienkollegen gewesen.
Am Ende der Sitzung wurde besprochen, wer wo agitieren sollte. Als alle bereits im Gehen waren, stand Mao auf und richtete einen flammenden Appell an die Genossen, sich beim Akquirieren neuer Mitglieder noch mehr ins Zeug zu legen. »Chiang Kai-shek und der Guomindang ist nicht zu trauen. Es soll Hinweise auf einen Hinterhalt oder eine Verschwörung geben.« Die Genossen raunten Zustimmendes. Zhou warf ein, dass die Einheitsfront zurzeit noch notwendig war. Die russischen Emissäre nickten. Einer von ihnen, ein Bärtiger mit Lederkappe, sah finster in Lous Richtung. Lou senkte den Blick. Mao bedankte sich für die Aufmerksamkeit und schloss die Sitzung, als wäre er der Generalsekretär der Partei. Lou Mang knetete seinen Hut wie einen Nudelteig, dabei konnte der nichts dafür, dass er auch diesmal nichts gesagt, keine Frage gestellt hatte, nicht aufgefallen war.
Straßen so breit wie Flüsse durchzogen diese Stadt. Die Häuser standen ohne Zwischenraum nebeneinander. Die Straßen waren überfüllt mit Rikschas und Menschen und Gefährten aller Art, auch kleinen Eisenwürmern. Es gab noch mehr Geschäfte als damals. Und mehr Ausländer, viel mehr Ausländer. Ihre Viertel waren durch Zäune von denen der Chinesen getrennt. Außerdem sah Ai Ping mehr Madennester als damals. Als sie mit Shuli da war, hatte sie überhaupt keine bemerkt.
Ai Ping setzte sich an den Straßenrand. Sie konnte nicht mehr laufen und sehnte sich nach ihrer kleinen Kammer im oberen Stockwerk des Hauses. Ihre Füße brannten, als hätte sie sie ins offene Feuer gehalten. Diese Füße waren zu klein, um die langen Straßen zu durchwandern. Zu klein und zu schwach.
Ai Ping stützte den Kopf in die Hände. Welcher Dämon hatte sie nur in diese Stadt gelockt? Damals, das war etwas anderes. Der Junge war bald darauf gestorben, aber es war dennoch eine ehrenhafte Tat gewesen: Eine Mutter bringt sich in Gefahr, um ihren Sohn zu retten. Sie fährt zu einem Wunderheiler. Der Junge wird nicht mehr gesund und stirbt in den Armen der Frau, die sich daraufhin zu Tode hungert ...
Sie starb nicht. Nach wenigen Wochen war sie abgemagert und wurde krank, aber sie starb nicht. Im Inneren wurde sie hart wie Stein. Ihre Seele war mit Shuli mitgegangen.
Natürlich schlief Ai Ping nicht den ganzen Tag. Sie hielt die Augen offen. Aber ihr Haus, die Familie, die Kinder, das Dorf, die Straßen, der Wasserbüffel – alles lag hinter einem Vorhang, den sie nicht zur Seite schieben konnte. Sie fing an, Gedichte zu schreiben. Doch es waren immer die gleichen Verse über den Jungen und den Wasserbüffel. Die Wiese mit dem Büffel war das Ende der Welt. Ai Ping war nicht hinübergegangen, denn dort – hinter Lu Jia und dem Büffel – hatte alles die Farbe von Schlamm.
Dann kam das Leben zurück. Langsam und träge. Da war dieses Kind. Das sechste ihres Sohnes. Unerwünscht und dann auch noch weiblich. Pflaumenblüte wurde es genannt, weil der Schwiegertochter kein Name mehr einfallen wollte.
Ai Ping saß im Hof, ein kleines Mädchen spielte in der Nähe. Es war etwa drei Jahre alt. Da sah sie es: Die Kleine hatte die gleichen Zähne wie der Junge. Groß, mit einer Lücke zwischen den Schneidezähnen. Und sie standen ein ganz klein wenig nach außen. Ping rief das Kind zu sich und fragte nach seinem Namen. Es sah sie erstaunt an und sagte: »Pflaumenblüte heiße ich, Großmutter.«
Ai Ping blinzelte. Konfuzius! Ja, sie war die Großmutter dieses Mädchens.
An einem der folgenden Tage stand die Kleine da und riss die Blüten der dunkelroten Päonien aus. Es regnete in Strömen. Ai Ping lief hinaus, packte Pflaumenblüte und holte sie ins Zimmer. Das Kind war völlig durchnässt. Ping nahm ein Kleid aus dem Schrank, schnitt es ab und nähte es um. Das Kleid passte nicht, aber sie konnte es tragen, bis das ihre wieder trocken war.
Es regnete noch viele Tage. Das war der erste Regen, seit der Junge tot war. Und als die Sonne schien, war es endlich wieder sonnig im Hof. Und in der Nacht leuchteten die Sterne, der Nebel lichtete sich. Später schmeckte der Reis nach Reis und das Gemüse nach Gemüse und der gebratene Doufu nach gebratenem Doufu.
Als Pflaumenblüte fünfzehn war, reckten die Jungen die Hälse nach ihr, gingen zum Tempel, wenn sie dort war, patrouillierten vor dem Haus. Ai Ping flehte den Herdgott an, sie zu beschützen.
Kurz nach ihrem sechzehnten Geburtstag war sie verschwunden. Ai Ping öffnete nachts das Fenster und schrie in die Dunkelheit: »Ich lasse dir nicht, was du verlangst!«
Als nach einem Jahr kein Brief eintraf, war sie sicher. Sie tobte nicht mehr, hob nicht mehr die Fäuste gegen die Ahnentafel der Schwiegermutter. Der Geomant berechnete ihr den glückverheißenden Tag für eine lange Reise. Ai Ping stellte sich vor den Schrein, nahm ein Glas Schnaps, schüttete es über die Tafel und erzählte dem Dämon, dass sie nach Shanghai fahren werde, um Pflaumenblüte zu suchen. Die Tafel rührte sich nicht.
Anping verbot es ihr natürlich. Seine Tochter war tot, sie zu suchen hatte keinen Sinn. Überhaupt war es die Idee einer Wahnsinnigen, nach Shanghai zu fahren. Ai Ping sollte sich um ihre anderen Enkel kümmern. Damit hatte sie genug zu tun.
Sie ging in die Frauenkammer im Obergeschoss, nahm das Drachenamulett aus dem Schrank und trug es zum Pfandleiher. Das Geld reichte für die Reise. Zuerst mit der Kutsche, dann mit dem Zug, dem eisernen schwarzen Wurm, der auf einer Leiter fuhr, die man auf den Boden gelegt hatte. Der Wurm plagte sich beim Vorankommen und schnaufte, dass Ai Ping dachte, er werde verenden. Das tat er – glücklicherweise – erst in Shanghai. Die Fahrgäste saßen im Bauch des Wurms und kümmerten sich nicht um seine Not. Sie sahen aus dem Fenster oder verspeisten mitgebrachtes Essen. Ai Ping sah auch aus dem Fenster und aß, was sie in der Tasche hatte. Vielleicht kränkte es den Wurm, wenn man das Essen verweigerte.
In der Stadt drängten sich Rikschakulis an sie heran und fragten, wo sie hinwollte. »In eine Herberge«, sagte sie.
Ein Kuli stand genau vor ihr. »Welche?«, fragte er ungeduldig und nickte kundig, als Ai Ping sagte, dass sie billig sein sollte. Sie stieg bei ihm ein.
Die Kaschemme, in die er sie brachte, hieß Im stillen Bambushain. Sie verdiente den Namen nicht. Das Zimmer war klein und das Fenster öffnete sich zur Straße. Ai Ping bezweifelte, dass sie hier schlafen konnte. In jedem Dorf der Präfektur hätte sie sich geweigert, für so ein lausiges Zimmer so viel Geld zu bezahlen, doch in Shanghai traute sie sich das nicht. In einigen Stunden kam die Nacht, und wo sollte sie dann hin? Sie war schließlich kein Mann, sie konnte nicht auf der Straße schlafen, wie es so viele taten. Also nickte sie stumm, als der Wirt, der ein Cousin des Kulis war, den unverschämten Preis nannte. Beide Männer verschwanden, ohne ihre Reisekiste in den ersten Stock zu tragen. Seufzend öffnete sie sie und trug den Inhalt einzeln hinauf, Stück für Stück, bevor sie die leere Kiste hochzerrte. Als sie endlich allein in ihrem Zimmer war, breitete sie ihren Mantel über das schmutzige Bettzeug und legte sich hin.
An der Zimmerdecke brummten schwarze Fliegen. Sie konnte nicht schlafen. Der Lärm auf der Straße flaute erst gegen Morgen ab.
Plötzlich war es hell. Sie stand auf und ging zum Fenster. Die Arme taten ihr weh von der Schlepperei. Es regnete. Schwere Tropfen trommelten auf das Fensterpapier. Ai Ping bestellte Frühstück. Wenig später stand ein scheues Mädchen mit langen dünnen Beinen an der Tür. Hatte die Kleine schon gegessen? Sie nickte, doch Ai Ping bemerkte den sehnsüchtigen Blick auf Nudelsuppe und Eier. »Setz dich zu mir, zu zweit schmeckt es besser.«
Den ganzen Tag hörte es nicht auf zu regnen. Ai Ping aß mit der Wirtstochter zu Mittag und zu Abend und erzählte ihr Märchen über Drachen und Füchsinnen. Das Mädchen hieß Meiling.
Auch am nächsten und am übernächsten Tag goss der Himmel sein Wasser aus. Erst am vierten Morgen nach ihrer Ankunft war das Zimmer sonnendurchflutet. Ai Ping stand auf, frühstückte mit Meiling und machte sich auf den Weg.
Sie rief nach einer Rikscha und ließ sich zur Stadtverwaltung des International Settlement bringen. Eine Ausländerin mit strohgelbem Haar und steiler Nase saß am Empfang. Als Ai Ping ihr Anliegen vorbrachte, hob die dicke Frau die Hand und rief in einen hinteren Raum: »Pay my book, chop, chop!« Ein chinesischer Beamter mit angegrautem Haar kam mit einem Buch und stellte sich neben die Ausländerin. Ai Ping begann noch einmal.
Der Beamte zog die Brauen nach oben. »Prostitution ist bei uns seit Jahren verboten«, sagte er arrogant. »Wir wollen das Viertel sauber halten. Über Kurtisanen und wilde Hennen werden die schlimmsten Krankheiten übertragen.«
Ai Ping schloss die Augen. »Aber die Kurtisanen, die es gibt, müssen sich bei Euch registrieren lassen«, sagte sie. »Das hat man mir gesagt.«
»Wir haben seit Jahren keine Neuzulassungen mehr«, antwortete der Chinese.
»Kann ich die alten Zulassungen sehen? Es ist wichtig. Ich muss jemanden finden.«
Der Chinese blätterte in dem dicken Buch. »Name?«
»Pflaumenblüte.«
»Wie außergewöhnlich«, sagte der Chinese spitz. »Familienname?«
»Ai, der Familienname ist Ai.«
Der Mann legte den Finger auf alle Zeichen, die sich Ai aussprachen, und nickte. »Haben wir nicht«, sagte er amtlich. »Was natürlich nichts bedeutet. Viele haben sich nie registrieren lassen. Oder die Dame ist in der Französischen Konzession tätig. Dorthin sind die meisten Madennester ausgewandert, nachdem sie bei uns geschlossen wurden.« Der Mann nahm ein Stück Papier und schrieb die Adresse auf.
Doch auch in der Registratur der Französischen Konzession fand sich Pflaumenblütes Name nicht, und die Beamten des Chinesischen Viertels wussten ebenfalls nichts.
Ai Ping ließ sich zum Hafen bringen. Dort lagen die Schiffe der Ausländer, große, bauchige Ungetüme, die grauen Rauch ausspien. Auf den Stegen tummelten sich Kulis und Träger. Sie brachten Kohle, Holz und Lebensmittel auf die Schiffe. Keuchend und schwitzend liefen sie die schwankenden Planken auf und ab. Die Brandung schlug klatschend gegen die Mauer. Wenn sich die Wellen zurückzogen und das Meer für kurze Zeit ruhig war, konnte sie tote Fische, Algen, abgenagte Hühnerknochen und Essensreste sehen, die im Wasser dahintrieben. Hier am Hafen vermutete Ai Ping das Blumenviertel. Wenn die Seeleute an Land gingen, verlangte es sie nach Frauen. Sie inspizierte die Häuser, an deren Wänden die Damen mit Namenschildchen feilgeboten wurden. Pflaumenblüte war nicht dabei.
Der Kuli riet ihr, in die Fuzhou-Straße zu fahren. »Da sind die meisten Kurtisanenhäuser.«
Er zerrte die Rikscha zurück in die Stadt. Am Anfang der langen Straße stieg Ai Ping aus. Die Fuzhou verlief westlich des Bund und war das Herz des International Settlement. Stoffe und Kleider, Pillen und Wässerchen, Zeitungen und Bücher gab es hier zu kaufen. Opernhäuser, Theater und Kinos lockten mit grell-bunten Plakaten. Von den Häusern wehten Fahnen, die die Vorzüge der Ware priesen. Aus den Garküchen roch es nach gebratenem Doufu, nach Fleisch und Gemüse und nach gefüllten Teigtaschen. Darunter mischte sich der süßliche Geruch von Vanille und Bohnenpaste. Unzählige Kurtisanenhäuser, aus denen der bitter-süße Gesang der Damen auf die Straße drang, standen dicht an dicht. So sah es also aus, wenn die Ausländer etwas verboten!
Der Kuli kam ihr nachgelaufen und deutete auf eine kleine Seitengasse. »Huileli«, sagte er.
Sie trippelte in die Gasse hinein. Auch hier Madennest neben Madennest. Die Häuser waren weiß getüncht mit Holzbalkonen über der Eingangstür. Eine Rikscha rollte an ihr vorbei, darin eine alte Frau, auf deren Schoß eine schlafende junge Frau saß, den Kopf auf die Schulter der Alten gelegt.
Endlich kam sie an ein Haus, dessen Tür offen stand. Sie spähte ins Innere. Im Erdgeschoss saßen Männer an Tischen und schlürften Tee oder tranken Gaoliang. In der hinteren linken Ecke konnte Ai Ping eine schmale Treppe ausmachen, die in den ersten Stock führte. Männer stiegen die Stufen hinauf oder kamen herunter. Wo war die Sängerin? Pflaumenblüte war es sicher nicht, die sang nicht, sie krächzte. Schon als Kind wurde sie von den Nachbarn ausgelacht, weil sie alle Melodien verwechselte. Schließlich hörte sie auf zu singen.
Ai Ping beugte sich ein wenig vor, um das Treiben im Haus besser beobachten zu können. Doch sie bekam keins der Mädchen zu Gesicht.
Stundenlang war sie gelaufen. Das Ende der Gasse war nicht zu sehen. Die Salbe für die Knie lag im Stillen Bambushain. Kulis stürmten heran, redeten auf sie ein. Sie ließ sich den Rest der Straße fahren. Aus jedem Madennest erklang eine andere Melodie. Nach einer Ewigkeit stieg sie aus, sah sich um und setzte sich an den Straßenrand. Zu Hause war es nun Zeit, den Reis auf den Herd zu stellen.
So viele Jahre hatte sie nicht geweint. Warum jetzt? Ai Ping zog ein Tuch aus ihrem Parfumbeutel und tupfte sich die Wangen trocken. Plötzlich stand ein schwarzer Sikh-Polizist vor ihr. Was sie hier tat? Sie traute sich nicht, ihm ins Gesicht zu sehen, murmelte etwas von Schwächeanfall. Die Hände aufstützend rappelte sie sich hoch und rief nach einer Rikscha.
Überall standen müde Frauen in bunten Kleidern. Die Gesichter waren faltenlos und doch schlaff und fahl. Stumpfe Augen lagen in tiefen Höhlen. War Pflaumenblüte auch eine dieser alten Jungen?
Das Abendessen nahm Ai Ping allein ein. Meiling schrubbte den Boden in der Empfangshalle. Sie kniete auf den Holzdielen und ihre rissigen Hände hielten eine Bürste umklammert, während ihr Vater sie mit Füßen trat oder auf das Ende ihres Rückens klopfte.
Meiling kam auch am nächsten Tag nicht. Das Frühstück brachte Meilings jüngere Schwester, die ohne ein Wort wieder hinauslief.
Nach dem Frühstück ließ sich Ai Ping auf die Nanjing-Straße ziehen. Sie wollte ein Armband oder eine Kette für Pflaumenblüte kaufen. Auch hier liefen die wilden Hennen auf und ab. Sie riefen den Vorübergehenden hinterher, drängten sich an sie, flüsterten ihnen ins Ohr. Schmutzige Hände fassten Männer am Arm und zogen sie in enge Seitengassen. Eine der Frauen hob fluchend den Arm, als ein Zeitungsverkäufer sie abwimmelte, drehte sich um und lief auf einen Jungen in westlichem Anzug und Schuhen mit Gamaschen zu. Er stieß sie zur Seite. Die Frau rief ihm nach, sie mache es französisch.
Ai Ping betrat einen Juwelierladen. Die Armbänder kosteten so viel wie ein Pferd. Sie ging zurück auf die Straße, setzte sich in eine Rikscha und fuhr am Fluss entlang. Die Bordelle hier sahen schäbiger aus als die auf der Fuzhou-Straße. Ihre Wände waren aus billigen Lehmziegeln, die Bambuszäune löchrig und ungepflegt. Ai Ping rieb sich die müden Augen. »Ich will nach Hause«, sagte sie.
»Zhabei, Settlement oder Konzession?«, fragte der Kuli.
Die Arbeiter der Fabrik standen um ihn herum. Lou Mang und ein kleiner Junge, den er dafür bezahlte, hielten ein Transparent mit Hammer und Sichel hoch. Solange Lou auf die Fabrikbesitzer schimpfte und höhere Löhne forderte, waren sie alle auf seiner Seite. Wenn er vorschlug, einen Streik zu organisieren, gingen sie weg.
Die Frauen blieben abseits. Die jungen steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Und kicherten. Einmal war es ihm gelungen, eine der Frauen zum Tee einzuladen. Er fragte, worüber sie geredet hatten. Sie zog den Kopf zwischen die Schultern und wurde rot. »Eure Ohren«, murmelte sie, »sie sind zu klein für einen Mann.«
Lou packte seine Sachen ein. Die Flugblätter waren alle noch da, obwohl er nichts dafür verlangte. Der Junge rollte das Transparent zusammen. Lou zündete sich eine Zigarette an. Der Kleine kam zu ihm, fasste ihn am Ellbogen und deutete mit dem Kopf Richtung Straße. »Die Dame will was von dir«, sagte er.
Lou drehte sich um. Sie sah aus wie seine Großmutter. Ihr sandfarbenes Kleid streifte fast den Boden. Darüber trug sie eine Jacke aus dunkler Seide mit weiten Ärmeln. Die Haare hatte sie hochgesteckt. Ihr Gesicht war faltig und – seltsam für eine Frau ihres Standes – braungebrannt. Sie hielt sich so gerade, als hätte sie einen Stock verschluckt.
Er näherte sich der Frau und betrachtete sie. Sie sah kurz zu Boden, begann dann aber gleich zu sprechen. »Ihr seid Lou Mang, nicht wahr?«
»Der bin ich.«
Es ginge ihr nicht um die Befreiung des Proletariats, erklärte sie. Sie fand es sogar falsch, dass man den Kaiser davongejagt hatte. Aber sie hatte Lou sprechen gehört und verstanden, dass er sich um die Armen und Ausgestoßenen bemühte.
Lou stemmte die Hände in die Hüften. Was wollte die Alte von ihm?
Sie sprach von ihrer Enkelin Pflaumenblüte, einer Schönheit vom Lande. Die war auf einen Heiratsschwindler hereingefallen und mit diesem Mann nach Shanghai gezogen. Seither gab es kein Lebenszeichen mehr von ihr. Die Frau wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Lou sah schnell zur Seite. Sie fing sich wieder und erzählte weiter: »In unserem Dorf gab es einen Jungen, Li Chenyi, der Pflaumenblüte heiraten sollte. Dazu kam es nicht. Li lebt jetzt in Shanghai. Vor dreimal zehn Tagen kam er auf den Hof und berichtete, dass er Pflaumenblüte in einem Kurtisanenhaus gesehen hat. Anping, ihr Vater, erklärte sie daraufhin für tot.« Die Dame zog ein Tuch aus ihrem altmodischen Parfumbeutel und drückte es an die Nase. »Er weigert sich, nach ihr zu suchen. Deshalb ...«, sie schniefte, schnäuzte sich in das Tuch, steckte es ein, »muss ich sie suchen. Und ich bitte Euch, mir zu helfen.«
Hatte er sich verhört? Sie wollte, dass er in den zehntausenden Bordellen von Shanghai nach einer Kurtisane suchte? Er verbeugte sich leicht. »Ich verstehe Eure Sorge. Aber was soll ich in dieser Angelegenheit tun?«
»Geht in die Weidenhäuser und seht Euch nach ihr um.«
Lou schluckte, zog die Mundwinkel nach oben, was hoffentlich wie ein Lächeln aussah. »Geehrte Dame Ai«, sagte er, »das ist ein verschwiegenes Gewerbe. Niemand wird mir ein Sterbenswörtchen verraten. Die meisten Mädchen haben Hausnamen. Sie nennen sich anders als in ihrer Familie, und ich kann nicht alle Kurtisanen fragen, ob sie in Wirklichkeit Pflaumenblüte heißen und eine Großmutter namens Ai Ping haben.«
»Natürlich nicht. Aber wenn Ihr Euch öfter in diesen Etablissements zeigt, wird man Vertrauen schöpfen. Sagt, Ihr habt durch einen Freund von Pflaumenblüte erfahren und wollt sie kennenlernen.«
Er wollte sie keineswegs kennenlernen. »Ich habe weder Zeit noch Möglichkeit, Eure Enkelin zu suchen.«
»Das Geld bekommt Ihr von mir! Ich bezahle natürlich auch für die Mühe.«
»Es geht nicht um Geld.« Er ließ den Zigarettenstummel auf die Straße fallen und trat mit dem Fuß darauf. Ziemlich verwegen, das Angebot abzulehnen, wenn er bedachte, dass er Frau Gao inzwischen drei Monatsmieten schuldete.
Dame Ai schüttelte den Kopf. »Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwierig ist, einen Mann zu überreden, sich Wind und Regen hinzugeben.«
Na eben. Hier gab es doch genug Männer, die diesen Auftrag liebend gern annehmen würden. Wieso ließ sie ihn nicht endlich in Ruhe? »Ich muss gehen«, sagte er und bückte sich nach den Flugblättern.
Sie fasste ihn am Ärmel. »Ihr habt gesagt, dass Ihr Euch für die Armen einsetzt.«
Er ließ den Stapel liegen, richtete sich auf. »Ich habe von der Befreiung des Proletariats gesprochen, nicht von ...« Er sah in den Himmel. »Die Prostitution ist ein Auswuchs des ungezügelten Kapitalismus, der arme junge Mädchen dazu zwingt, ihren Körper als Ware einzusetzen. Sobald die klassenlose Gesellschaft errichtet ist, wird es keine Prostitution mehr geben. Deshalb müssen wir die Revolution vorantreiben und können uns nicht um das Schicksal eines einzelnen Mädchens kümmern!«
Die Alte blieb stehen, die Hände ineinandergelegt. »Ich kann nicht warten, bis ihr eure Revolution gemacht habt, ich muss Pflaumenblüte jetzt finden.«
Diese Ai Ping war genauso hartnäckig wie seine Amme, die ihn erst vom Tisch aufstehen ließ, wenn er alle Bambussprossen gegessen hatte. »Ich kann Euch nicht helfen!«, knurrte er, klemmte sich das Transparent unter den Arm, nahm die Flugblätter und ging.
Auf dem Platz vor dem Nordbahnhof liefen die Menschen wie aufgescheuchte Hühner durcheinander. Ein Taxifahrer drohte Lou die Zähne auszuschlagen, weil er mit dem Transparent gegen die Beifahrertür gestoßen war. Er winkte eine Rikscha heran, lieferte Flugblätter und Transparent in der Zentrale ab und schlenderte nach Hause.
Am Eingang der Kating-Straße begegnete ihm Caoan, der Nachbarjunge, dem er Französisch-Nachhilfe gab. »Hast du wieder versucht, die Arbeiter zu Kommunisten zu machen?«, fragte er keck.
Lou brummte.
»Mein Vater sagt, dass das mit dem Kommunismus Blödsinn ist«, setzte Caoan nach.
Lou blieb stehen. Caoan war genauso ein bourgeoiser Schnösel wie sein Vater. Er kleidete sich wie die westlichen Geschäftsleute und achtete beim Gehen darauf, nicht in eine Pfütze zu treten, damit die weißen Galoschen nicht schmutzig wurden – während andere aus ebendiesen Pfützen Wasser tranken.
»Komm mit«, sagte Lou. »Ich zeig dir etwas.«
Sie kletterten in eine Rikscha und ließen sich nach Pudong ziehen. Auf der anderen Seite des Flusses drängten sich so viele Leute auf den buckligen, steinigen Wegen, dass Lou und der Junge ausstiegen und zu Fuß weitermarschierten.
Caoan betrachtete die schmutzverschmierten Gesichter der Kinder, die in Lumpen gehüllt oder fast nackt am Wegrand kauerten und sich um die Schalen von Erdnüssen rauften, die sie gierig in den Mund steckten.
Am Eingang der Fabrik stand ein bewaffneter Mann, der Lou nicht vorbeilassen wollte. »Die Firma gehört meinem Vater«, zischte er. Der Mann trat zur Seite.
Caoans Augen weiteten sich. Die weiß getünchte Halle wurde von Gaslampen matt erleuchtet. Am Rand standen die Kessel, in denen die Seide gekocht wurde. Frauen rührten in der Seifenlauge, Kinder griffen in die kochende Brühe, um die Fäden herauszuholen. Die Fünf-, Sechsjährigen schrien, wenn die Frauen ihre Hände packten und in die kochende Lauge drückten. Die Älteren wimmerten leise. Schlieren von Blut schwammen in der gelblich-grünen Lauge. Caoan rannte hinaus, Lou folgte ihm. Der Junge kotzte neben den Eingang.
Lou legte ihm die Hand auf die Schulter. Caoan richtete sich auf und sah ihm ins Gesicht. »Wie kannst du das zulassen?«
»Das ist nur eine kleine Fabrik«, sagte Lou statt einer Antwort. »Die großen stehen dort hinten.« Er deutete mit dem Kopf in Richtung der brennenden Schlote in seinem Rücken. »Die meisten davon gehören Engländern oder Amerikanern.«
Caoan wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab. »Warum jagen wir diese Teufel nicht aus dem Land?«
Lou hob die Schultern. »Es gibt noch zu wenige, die kotzen«, sagte er.
Sie fuhren schweigend zurück.
Als Lou das Haus betrat, lächelte die Gao ihn freundlich an, statt sich wie üblich keifend auf ihn zu stürzen. Sie war froh, den jungen Herrn ein weiteres halbes Jahr beherbergen zu dürfen.
Lou war natürlich auch froh, konnte sich den Sinneswandel aber nicht erklären.
»Eure Tante war da«, sagte sie strahlend. »Sie hat die ganze Miete bezahlt und gleich noch die nächsten sechs Monate dazu. Eine feine Frau, Eure Tante!«
Lou schüttelte den Kopf. »Meine Tante hat die Miete bezahlt?«
»Jawohl! Ihr seid ihr Lieblingsneffe, hat sie gesagt.«
»Wie sah sie denn aus, meine Tante?«
»Krank«, sagte die Gao bekümmert, »sie hat braune Flecken auf der Iris. Bestimmt hat sie Sorgen mit der Familie. Dann staut sich das Qi in der Leber und verursacht Hitze. Ihr solltet auf sie achtgeben.«
»Hat sie gesagt, dass sie wiederkommt?«
Frau Gao zog die Brauen nach oben. »Weiß ich nicht.«
Lou sog die Luft durch die Nase ein. Woher wusste diese Ai Ping, wo er wohnte? Wahrscheinlich hatte der Junge mit dem Transparent geplaudert. Die Alte war tatsächlich noch hartnäckiger als seine Amme: Als er zum dritten Mal ohne Hut von der Schule kam, gab sie auf und nähte keinen neuen mehr.
Ai Ping kam nicht persönlich, sondern schickte einen Boten mit einem Brief, in dem sie ihn um eine Unterredung bat. Lou ließ ihn auf den überfüllten Schreibtisch neben Georgi Walentinowitsch Plechanows Sozialismus und der politische Kampf fallen.
Als er sich umdrehte, stand die Wirtin in seinem Zimmer und meldete, dass eine Rikscha wartete. Die Tante wünschte ihn gleich zu sprechen.
Dame Ai logierte in einer heruntergekommenen Herberge in Zhabei. Ihr Zimmer lag im ersten Stock. Am Eingang stand der Wirt und beobachtete das Treiben auf der Straße. Er roch nach Gaoliang und Schweiß. Als Lou nach Ai Ping fragte, nickte er, rülpste und rief ein Mädchen, das ihn zu ihrem Zimmer führte.
Lou verbeugte sich, nahm auf einem wackeligen Stuhl Platz und zog die Zigaretten aus der Tasche.
Dame Ai hielt sich nicht mit Höflichkeiten auf. »Ich habe die Gazetten studiert und das hier gefunden«, sagte sie und hielt ihm eine Ausgabe der Shenbao unter die Nase. Lou nahm sie und suchte mit den Augen die aufgeschlagene Seite ab. Ai Ping deutete auf einen Artikel über eine Seidenspinnerei, die drauf und dran war, Konkurs anzumelden.
Lou zuckte die Schultern. »Was hat das mit Eurer Enkelin zu tun?«, fragte er.
Ai Ping reichte ihm einen Teller als Aschenbecher. »Diese Fabrik gehört einem gewissen Liu Er. Oder besser: Sie hat ihm gehört. Das weiß ich aus einer anderen Zeitung. Und dieser Liu Er«, sie räusperte sich, »ist vor kurzem unter mysteriösen Umständen gestorben.«
»Im Orchideenpalast, ja, ich habe davon gehört.«
»Ich glaube, dass er Pflaumenblüte gekannt hat.«
»Hochwohlgeborene Dame Ai, Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie viele Lasterhöhlen es gibt.«
»Kann ich«, widersprach Ai Ping. »Ich war im Blumenviertel und habe mir die Madennester angesehen, eines nach dem anderen.« Sie setzte sich auf das Bett und ließ eine Buddhistenkette durch ihre Finger gleiten. »Ich habe Li, dem jungen Mann aus unserem Dorf, einen Boten geschickt, um zu fragen, wo er Pflaumenblüte getroffen hat. Es war im Orchideenpalast.«
»Ja, aber ...«
Ai Ping hob gebieterisch die Hand. »Einmal in den Orchideenpalast gehen und nachfragen, ob sie Pflaumenblüte kennen, kann nicht so schwierig sein.«
Lou betrachtete seine abgewetzten braunen Schuhe. »Ich kann hingehen. Ja. Aber seid Ihr sicher, dass Ihr Eure Enkelin wiedersehen wollt? Sie wird nicht mehr das Mädchen sein, das von zu Hause fortgegangen ist.«
Ai Ping presste die Lippen aufeinander. Dann schlug sie mit der flachen Hand auf die Bettdecke. »Kommt morgen zur Stunde des Hundes wieder und berichtet mir«, sagte sie.
»Ich habe nichts anzuziehen.« Für den Abend hatte er sich eigentlich Trotzkys Werke vorgenommen. Er brauchte Stoff für seine Reden. Und nun sollte er in einem Bordell nach einer Kurtisane suchen!
»Hier«, sagte Dame Ai und reichte Lou zehn Yuan. »Geht zum Pfandleiher und lasst Euch einen Anzug geben.«
»Fujing Lu«, sagte Lou und zündete sich noch eine Zigarette an.
Ai Ping zwinkerte.
»Dort gibt es Läden mit getragener Kleidung. Die sind billiger als der Pfandleiher.«
»Wie Ihr wollt. Mit dem Rest des Geldes könnt Ihr Euch einen vergnüglichen Abend bereiten.«
Lou starrte die Alte ungläubig an. Sie wurde nicht einmal rot. Solche Sitten kannte er nur von den Frauen im Westen, die sich in die Gespräche der Männer einmischten und laut sagten, was sie dachten, wie vulgär es aus ihrem Mund auch klingen mochte.
»Fünf Yuan genügen«, sagte er. »Um eine Tasse Tee zu öffnen, braucht man kein Geld.«
Ai Ping wehrte ab. Er sollte vorerst alles behalten.
Pflaumenblüte saß im Hof und schnitt Kraut. Ai Ping trat hinaus, setzte sich neben ihr auf die Bank. »Warum bist du zum Drachenbootfest nicht mitgegangen?«
»Sie haben mich nicht mitgenommen«, murmelte das Kind mit zusammengezogenen Augenbrauen.
»Was hast du denn angestellt?«
Das Mädchen warf das Messer in den Topf. »Ich hab gar nichts gemacht. Binglin hat mir die Puppe weggenommen. Ich wollte sie zurückhaben, da hat er sie in den Teich geworfen.«
Ai Ping streichelte Pflaumenblütes Haar, aber sie entzog sich. »Und dann?«
»Ich hab geweint und er hat gelacht. Er ist so blöd!«
»Er ist dein älterer Bruder.«
»Er ist dumm wie ein ... Frosch! Und ich habe ihn überhaupt nicht fest gebissen!«
Ai Ping nahm das Messer und schnitt Kraut. »Geh zum Bäcker und sag ihm, er soll mit dem Wagen herüberkommen.«
Sie fuhren zum Fest. Ai Ping gab der Kleinen eine Schnur Kupferkäsch. Pflaumenblüte kaufte sich Reisbällchen mit Dattelfüllung, Honigmandeln, Zuckerstangen. Als das Rennen begann, schlängelte sie sich durch die Schaulustigen. Ai Ping blieb im Schatten eines Nudelstandes sitzen, bis sie wieder nach Hause fuhren.
Ai Pings Schwiegertochter schimpfte. Das Kraut war nicht fertig geschnitten.
»Es war nicht recht«, sagte Ai Ping am nächsten Tag zu dem Bonzen im Tempel.
Er lächelte. »Nein«, sagt er. »Es ist nicht recht, den Bruder zu beißen und ihn dumm zu nennen.«
»Ich hätte etwas sagen sollen.«
»Nun«, sagte der Bonze. »Es ist auch nicht recht zu lügen.«
»Gut, Binglin ist nicht sehr gescheit. Aber er ist ihr älterer Bruder. Sie ist zu ungestüm.«
Der Bonze stocherte mit einem Stäbchen zwischen den Zehen. »Ich kannte ein Mädchen, das war sehr wild. Sie brachen ihr die Füße, aber es half nichts. Sie spielte sogar noch mit den Buben, als wir längst zur Schule gingen, und sie erzählte die lustigsten Geschichten. Leider blieb sie bambusdünn. Trotzdem heiratete sie den Sohn des Präfekten, und ein anderer ging ins Kloster.«
Ai Ping biss sich auf die Lippen.
Es war längst Morgen. Sie drehte sich zur Seite. Was Pflaumenblüte jetzt wohl tat? Ob sie bei einem Mann gelegen hatte?
Sie stand auf, zog sich an, rief nach einer Rikscha und ließ sich zum Perlfluss bringen. Dort setzte sie sich ans Ufer. Träge wälzte sich der gewaltige Strom durch die Stadt. Ein paar einsame Segel von kleinen Dschunken durchpflügten die Luft. Wenn man die Straße weiterging, wurde sie breit und grau und groß, und die Häuser, die die fremden Teufel gebaut hatten, wuchsen in den Himmel. Hier wohnten die Reichen.
Ai Ping sah hinauf. Dunkelgraue Wolken hingen über der Stadt und verschmolzen am Horizont mit dem Fluss. Es stimmte, was der Student gesagt hatte. Die kleine Pflaume gab es nicht mehr.
Sie fuhr zurück in den Stillen Bambushain. Es war wieder Meilings Schwester, die das Frühstück brachte. Ai Ping hatte keinen Hunger. Das Mädchen aß hastig.
Am späten Vormittag hörte sie jemanden die Treppe herauflaufen. Der Student stürmte ins Zimmer. Die Zigarette klebte an seiner Unterlippe. Ai Ping wies auf den Stuhl neben dem Bett und brachte den Teller, den Lou Mang schon beim letzten Mal als Aschenbecher benutzt hatte.
»Ihr hattet recht«, sagte er, noch ganz außer Atem. »Liu Er und Eure Nichte pflegten Kontakt. An dem Abend, als Liu starb, war sie bei ihm. Sie ist ... tot.«
Ai Ping hielt sich an der Tischkante fest. Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder, schluckte, wartete auf das Brennen in der Brust und das Würgen. Am Hals und an den Schläfen pulsierte es so laut, dass sie den Studenten kaum noch hörte. »Wie?«
Lou drehte die Zigarette zwischen seinen Fingern. »Dieser Liu wurde erschossen. Mit einem Revolver.«
Ai Ping legte den Kopf in den Nacken und bedeckte das Gesicht mit ihren Händen.
»Er war bei Eurer Enkelin, als er getötet wurde. Der Mörder wollte wohl keine Zeugin hinterlassen.«
»Wer war es?«
»Die Polizei ermittelt.«
»Wo ist Pflaumenblüte?«
Lou steckte die Zigarette in die Packung zurück. »Ich weiß nicht.«
»Ihre Leiche, wo hat man sie hingebracht? Ist sie ... beerdigt worden?«
»Ich denke nicht. Sie ist verschwunden.«
»Verschwunden? Wie kann das sein?«
Der Student zog die Schultern hoch. »Ehrenwerte Dame Ai. Ich kann Euch nicht mehr sagen. Die Leiche Eurer Enkelin ist weg. Liu wurde von der Polizei fortgeschafft.«
Der Dämon hatte also gesiegt. Schon als sie noch lebte, war die Schwiegermutter eine mächtige, böse Frau gewesen. Nun, tot, konnte sie sich an den Lebenden vergehen, wie es ihr passte. Ai Ping presste die Hände auf die Ohren. Das Triumphgeheul des Dämons hallte in ihrem Kopf. Als der Geist endlich müde wurde und sie die Hände sinken ließ, war Lou gegangen.
»Ich habe hier nichts mehr zu tun«, sagte sie zu den Wänden, dem Bett und dem Stuhl. Aber das stimmte nicht. Sie musste Pflaumenblüte nach Hause bringen und wissen, wer das Mädchen getötet hatte.
Gegen Mittag stand sie in der Kating-Straße. Lou saß am Schreibtisch. Sanft legte er das Buch nieder, das er gerade las, und stützte die Hände auf die Oberschenkel. Ai Ping warf einen Blick auf den Einband, eine alte Gewohnheit. Es war ein westliches Buch, übersät mit diesen kleinen Zeichen, die alle gleich aussahen.
Er rückte seine Brille zurecht. »Ihr seid noch da, ehrenwerte Dame Ai?«
»Es gibt Arbeit. Ihr sagtet, die Leiche meiner Enkelin sei verschwunden. Das ergibt keinen Sinn. Warum sollte der Mörder Liu dort liegen lassen und Pflaumenblütes Körper verstecken? Sie war ein unbedeutendes Mädchen vom Land.«
Lou kratzte sich am Hinterkopf. »Ihr seid klug und scharfsinnig, Dame Ai.«
»Lasst die Höflichkeiten«, sagte sie. Sie war so müde. »Vielleicht ist Pflaumenblüte noch am Leben. Vielleicht wurde sie verschleppt, aber nicht getötet.«
Lou fuhr über den Tisch und fegte Haare auf den Boden. »Möglich ist das, ja. Wenn sie so schön war, wie Ihr sagt, könnte man in einem anderen Bordell einen guten Preis für sie erzielen. Nur: Wie sollen wir das herausfinden?«
»Ihr müsst noch einmal hingehen«, sagte Ai Ping.
Lou schnaubte und schob wieder die Brille zurecht.
»Mit wem habt Ihr gesprochen?«
»Mit einer Bekannten. Han Yueniang. Sie arbeitet dort als Putzfrau.«
»Was genau hat sie gesagt?«
»Dass Liu erschossen wurde und Pflaumenblüte am gleichen Tag verschwunden ist.«
»Redet noch einmal mit ihr. Berichtet mir morgen zur gleichen Stunde wie letztes Mal.«
»Das geht nicht«, antwortete Lou. »Ich kann heute Abend nicht in den Orchideenpalast gehen. Ich muss zu einer Sitzung. Es sind Streiks geplant. Die Arbeiter stehen in den Fabriken und atmen giftige Luft ein, bis sie Blut husten und ersticken. Und das alles für einen Lohn, der zu gering ist, um sich eine Schale Reis dafür zu kaufen. Das muss ein Ende haben.«
Ai Ping hörte ihm zu und legte ihre Hand auf seine. »Ja, das muss es. Und wenn Eure Partei etwas dagegen unternimmt, dass sich Väter an ihren Töchtern vergreifen, trete ich bei«, sagte sie.
»Das wird sie. Wenn erst die klassenlose Gesellschaft herrscht, wird es das alles nicht mehr geben: diesen Schmutz, die Ausbeutung, die Opiumhöhlen und Bordelle.« Der junge Mann ballte die Hände zu Fäusten.
Ai Ping dachte an die Zeit in der Schule, in der sie die konfuzianischen Schriften von Tugend und Ehre gelesen hatten. »Ja«, sagte sie, »als junger Mensch mag man so etwas glauben.«
Er musste wieder in die Fujing-Straße. Im Orchideenpalast konnte er sich nicht zweimal mit derselben Kleidung zeigen. Beim letzten Mal war er in einem weißen Leinenanzug mit Hemd und lindgrüner Krawatte aufgetreten. Diesmal wollte er in traditioneller chinesischer Tracht erscheinen: schwarze Seidenhose und graue Robe. Den Hut, den er für den ersten Besuch gekauft hatte, konnte er noch einmal benutzen. Weiße Strümpfe, schwarze Schuhe zum Binden. Mit dem Leinenanzug hatte er ausgesehen wie einer dieser englischen Dandys, die im British Club an der Bar herumstanden, an ihren Longdrinks nippten und mit einer Zigarre in der Hand dem Pianisten lauschten oder eine Partie Poker spielten. Lou mied diese Orte, die Bars und Clubs. Sie waren verkommen und bourgeois. Die meisten standen nur Europäern und Amerikanern offen.
Natürlich konnte er nicht allein ein Bankett ausrichten. Das war das größte Problem. Lou ging im Geiste alle möglichen Kandidaten durch. Am ehesten traute er Zhou Enlai und Chen Duxiu zu, sich entsprechend zu benehmen. Doch die beiden anzusprechen war ihm peinlich. Der großspurige Mao wäre wohl mitgegangen, der war einem feucht-fröhlichen Abend im Kreise schöner Frauen sicher nicht abgeneigt, aber er war bereits nach Hunan zurückgefahren. Lu Dongpo und Li Yan fielen ihm ein. Sie saßen meist still in einer Ecke und lauschten den Worten der anderen. Genau wie Lou. Und dann der Onkel, der musste ihm helfen!
Die beiden Studenten ließen sich schnell überreden. Auch Herr Gao war sofort dabei, als Lou ihm Gratispfeifen in Aussicht stellte. Sein Onkel Xiyuan hingegen lehnte ab: »Du weißt, dass ich dem schnatternden Weibsvolk nichts abgewinnen kann. Ich habe nie geheiratet«, sagte er. Sie saßen in seiner Wohnung am Suzhou Creek.
»Du musst gar nichts tun außer dort sein, ein bisschen plaudern, etwas trinken, Majiang spielen. Ich brauche dich, Onkel. Dir muss ich nicht erklären, wie man sich in Gegenwart von Damen benimmt!«
»Was willst du in diesem Kurtisanenhaus?«
»Es geht um etwas Persönliches, zu kompliziert, es zu erklären. Nimm den alten Lai mit. Wir sehen uns um Mitternacht im Orchideenpalast.«
»Um Mitternacht?« Der Onkel stellte sich auf die Zehenspitzen und sah Lou vorwurfsvoll ins Gesicht. »Da bin ich längst im Bett mit einem warmen Stein an meinen Füßen!«
»Heute nicht, Onkel. Heute bist du im Orchideenpalast mit einem warmen Wein in deinen Händen!«
Xiyuan brummte etwas von Nötigung. Lou war erleichtert. Der Alte würde kommen.
Zhou Enlai und der Onkel konnten ihre Roben anziehen, die Studenten und Herr Gao aber mussten eingekleidet werden. Die Verkäufer der Fujing erinnerten sich an Lou. Von weitem schallte es ihm entgegen: »Krawatte von einem Fabrikbesitzer aus Paris, beste Seide, modernes Muster ...« – »Gilet, feinste Wolle, hinten reine Seide, hervorragende Qualität ...« – »Beamtenrobe mit Phönixstickerei von einem Pfauenmandarin. Nur fünf Kuai. Kommt herein, großer Herr, lasst Euren edel geformten Körper in nobler Kleidung erstrahlen.«
Lou eilte zu dem Laden, in dem er neulich eine graue Robe gesehen hatte. Nach zähem Feilschen erstand er sie mitsamt einer schwarzen Hose für zwei Yuan. Für Lu, Li und Gao kaufte er blaue Mäntel, von denen nur ein einziger an sichtbarer Stelle geflickt war, und eilte heimwärts.
Gao saß zusammengesunken auf seinem Stuhl, die Pfeife lag auf dem Tisch. Seine Frau kreischte. Sie hatte endgültig genug davon, zuzusehen, wie alles Geld im Großen Rauch aufging. Ihre schrille Stimme verfolgte Lou bis in sein Zimmer. Auch Lous Vater rauchte. Angeblich nur mit Geschäftspartnern und nur dann, wenn sie es wünschten. Doch der Vater hatte beinah täglich geschäftliche Besprechungen.
Lou warf die gekauften Sachen auf den Stuhl. Dieses alte, verfaulte, System musste endlich weg! Er zündete sich eine Zigarette an und betrachtete das abgewetzte Sofa, das an der Wand stand. Vergilbte Rosen rankten sich um das inzwischen blassrosafarbene Möbel. »Es zeigt Gebrauchsspuren«, hatte Genosse Zhou einst in Paris gesagt, als sie sich in dessen Zimmer auf ein ähnlich »antikes« Stück setzten.
Lou breitete die neuen Kleider aus und setzte sich an den Schreibtisch. Den Abend verbrachte er mit Lenin, Borodin und einer Packung Zigaretten. Vor allem Borodins Einschätzung der Lage in China interessierte ihn. Von ihm als Berater der Guomindang in Kanton und Vertrautem Stalins hing es ab, ob die Schwesterpartei in der Sowjetunion finanzielle Unterstützung gewährte.
Die Bücher blieben stumm und unzugänglich wie die Goldfische im Teich seines Vaters. Lou nahm die letzte Ausgabe der Neuen Jugend in die Hand und blätterte darin. Dort einmal einen Artikel veröffentlichen! Einmal den eigenen Namen neben jenen der Großen lesen. Li Dazhao, Chen Duxiu, Zhou Enlai, Lou Mang ...
Die Diskussion betraf die alte Frage: Revolution von oben, schnell und effizient, oder langsam über Erziehung und Bildung, wie es Bertrand Russell vorschlug, als er vor Jahren Shanghai besuchte und einen Vortrag hielt. Lou dachte an die Kinder in Vaters Fabrik, an die ausgemergelten Männer und Frauen in den Stahlwerken und Kleiderfabriken, an die Buben auf den Straßen, die nichts zu essen hatten und sich kriminellen Banden anschlossen, um zu überleben. Wir haben keine Zeit mehr, dachte er. Jetzt muss etwas geschehen, bevor uns der Sumpf mit Haut und Haaren hinunterzieht. Er nahm die letzte Zigarette aus der Packung, zerknüllte die Schachtel und warf sie in den Aschenbecher. Dann ging er zum Fenster, sah auf die Straße.
An der Ecke zur Chengdu hielt ein Wagen, der Fahrer stieg aus und baute einen Essensstand auf. Lou ging hinunter, ließ sich Nudeln und Gemüse einpacken und kehrte auf sein Zimmer zurück.
Nach dem Essen zog er sich um. Die Robe reichte ihm bis zu den Waden und ließ ihn dicker und ehrenwerter aussehen. Die Stoffschuhe gaben keinen Halt und die Sohlen waren dünn. Er war es nicht mehr gewohnt, chinesisches Schuhwerk zu tragen. Zu Fuß marschierte er zur Straßenbahn. Sie kam quietschend zum Stehen, als Lou an der Station eintraf. Er ließ sie fahren, es war noch zu früh für den Orchideenpalast. Ins Kino? Die Lichtspieltheater zeigten fast nur Filme aus dem kapitalistischen Amerika. Chen Duxiu erzählte oft von den russischen Filmen des Regisseurs Eisenstein, Geschichten über das Leben der Proletarier. Doch die erreichten China nicht.
Lou entschied sich für einen chinesischen Schinken über eine Prostituierte. Die Shanghaier Version der Kameliendame – peinlich! Er ging hinaus, atmete stickige Stadtluft, stieg in die Straßenbahn und fuhr die Bubbling Well Road hinunter. Zur Linken erstreckte sich die Pferderennbahn, auf der rechten Straßenseite reckten sich vierschrötige Hochhäuser in den Himmel.
Lou stieg aus und wanderte den breiten Boulevard entlang. An der Stelle, an der die Rennbahn endete, bog er in eine stille Seitengasse ab, wandte sich nach links und stand vor dem Orchideenpalast, einem Haus wie jedes andere in der Straße, ohne Schilder, ohne Reklame. Lou drückte auf den Knopf neben dem Namenschild von Pflaumenblüte. Es dauerte eine Weile, bis geöffnet wurde. In der Empfangshalle saß ein schläfriger Portier. Es war zum Glück ein anderer als tags zuvor.
Lou sah sich hoffnungsvoll nach der Putzkolonne um, konnte jedoch keines der Mädchen entdecken. Wie beiläufig fuhr er mit der Hand über den Tresen, besah sich seine Finger und zog die Brauen nach oben. »Wird denn hier nicht sauber gemacht?«
»Selbstverständlich, hoher Herr. Wir bemühen uns, alles rein zu halten und den erlesenen Wünschen unserer erlauchten Gäste in jeder Weise gerecht zu werden.« Der Portier lächelte.
So sind wir, dachte Lou. Wir lächeln die an, die uns ins Gesicht schlagen. Warum werden wir nicht endlich wütend? Er räusperte sich und fragte nach Pflaumenblüte.
Aus dem eben noch devoten Lächeln des Mannes wurde ein anzügliches. »Oh, der hohe Herr ist ein Connaisseur!«
»Ich bin geschäftlich in Shanghai«, sagte er mit tiefer Stimme, »und suche etwas Zerstreuung. Meine Freunde und ich wollen Pflaumenblüte ein Bankett ausrichten. Einer meiner Geschäftspartner, Liu Er, hat sie mir empfohlen.«
Bei der Erwähnung des Ermordeten zuckte der Portier zusammen, hatte sich jedoch gleich wieder im Griff. »Pflaumenblüte ist die biegsamste, zarteste Weide, die der Himmel jemals wachsen ließ. Leider ist sie zurzeit unabkömmlich. Ich kann dem hohen Herrn aber ein anderes Mädchen anbieten, das über ebensolche Grazie und Schönheit verfügt.«
Lou lehnte ab. »Ich will zu Pflaumenblüte. Wenn sie beschäftigt ist, werde ich warten.«
Der Portier schaute noch unglücklicher drein als zuvor. Er presste die Lippen aufeinander. »Es ist ein Jammer«, sagte er, »ein großes Elend. Pflaumenblüte ist nicht mehr bei uns.« Der Mann senkte die Lider. »Es gab einen unerfreulichen Zwischenfall.«
»Was ist geschehen?« Lou trommelte mit den Fingern auf das glatt polierte Holz.
Der Portier schien beinah hinter dem Tresen zu verschwinden. »Euer Freund Liu Er ist tot. Er starb in ihren Armen. Seither ...«, der Portier schluckte, »ist Pflaumenblüte nicht mehr hier.«
Lou zog in gespielter Empörung die Brauen zusammen. »Was hat sie denn mit ihm gemacht?«