Wo das Licht herkommt - Clementine Skorpil - E-Book

Wo das Licht herkommt E-Book

Clementine Skorpil

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Beschreibung

Philippine soll den Seppel heiraten, das haben sich ihr Vater und der Vater vom Seppel nach der Sonntagsmesse ausgemacht. Aber das geht nicht, denn der Seppel ist ein böser Bub, der den Hendln die Flügel ausreist und Frosche bei lebendigem Leib zerschneidet. Philippine läuft davon – nicht leicht für ein Mädchen im 18. Jahrhundert. Der Weg von ihrem Dorf nach Wien ist weit. Sie verkleidet sich als Bub, wird von einem Jesuitenpater aufgelesen, besucht das Gymnasium. Studiert in Rom Medizin, in Coimbra Kartografie. Sie will ins Reich der Mitte, wie so viele Jesuiten vor ihr. Immer wieder droht sie aufzufliegen. Aus Rom muss sie fliehen. In Coimbra begegnet sie einem jungen Mann, Adam aus Regensburg. Als er erfährt, dass Philipp eine Philippine ist, stößt er sie von sich. Die junge Frau ist auf sich selbst zurückgeworfen. Sie muss weg, weit weg, am besten nach China, mit brennenden Fragen im Gepäck: Wer ist sie wirklich? Sind Frauen den Männern wirklich intellektuell unterlegen? Ist die Aufklärung der Ausweg aus dem Unglück?

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leykam:seit 1585

CLEMENTINE SKORPIL

Wo das Licht herkommt

Roman

Copyright © Leykam Buchverlagsgesellschaft m.b.H. Nfg. & Co. KG,

Graz – Wien 2021

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Covergestaltung: Annalena Weber, Buchdesign, Hamburg

Coverfoto: by zyldou on shutterstock.com

Lektorat: Gundi Jungmeier

Satz: Gerhard Gauster

Druck: Finidr, s.r.o.

Gesamtherstellung: Leykam Buchverlag

www.leykamverlag.at

ISBN 978-3-7011-8208-4

eISBN 978-3-7011-8215-2

Die Drucklegung des vorliegenden

Bandes wurde unterstützt durch:

Gefördert von der Stadt Wien Kultur

Inhalt

Wo die Sonne untergeht

Wo die Sonne aufgeht

Wo die Sonne untergeht

1. Ohne Lieb und ohne Wein

»Der einfache Mann wird das Einfache suchen,und er wird sagen, es ist gut.Der Edle aber wird suchen und suchen,bis er seine Mitte findet.«Fei Lipu: »Gespräche über das nördliche Baumland«Abschnitt 1.1

Er flieht vor sich selbst, sagt Theodor über Franz Keller. Franz ist der Nervöse mit den dunklen Augen, der Stupsnase und dem langen Kinn. Er erscheint, wenn die Vorlesung begonnen hat, setzt sich neben mich in die letzte Reihe, breitet Papier, Stifte, Feder aus, holt immer Neues aus seiner alten Ledertasche wie die Gaukler auf den Märkten, die den staunenden Mädchen eine Münze hinter ihrem Ohr hervorzaubern. Ich rücke zur Seite, raffe meine Schreibutensilien zusammen, bevor sie in Franz’ speckigem Federetui verschwinden. Theodor sitzt deshalb immer vorn, er ist heikel mit seiner Aachener Stahlfeder, einem Wunderwerk neuer Schreibtechnik, bei dem die Tinte wie von selbst von der Feder auf das Papier fließt. Viel öfter, als er meine Gänsekiele einsteckt, fehlt Franz, versumpft zwischen Bier, Wein und Schnaps in den Bodegas der Stadt. Dann zieht ihn Theodor an seinem Zopf heraus, wischt Schlamm und Erde von Rockschößen und Beinkleidern, Gesicht und Hals, hängt Franzens Kleider zum Trocknen auf, bürstet die letzten Reste des Schlicks aus. Zwei, drei Tage hockt Franz dann rotäugig und muffelnd neben mir. Während meine Feder über den Bogen kratzt, wandern seine Blicke zum Fenster.

Ich fliehe nicht vor mir selbst, sondern vor meinem Geschlecht und der Bestimmung, die mir mit diesem Geschlecht eingeimpft wurde. Aus Rom rannte ich davon nur mit dem, was ich am Leib trug. Pass und Schmuck raffte ich in letzter Minute zusammen. Zitternd wartete ich bis zum Morgengrauen, wagte nicht, mich ins Bett zu legen, kauerte die Knie umschlingend auf dem Stuhl in meiner Dachkammer und starrte an der Schräge vorbei in den Nachthimmel, bis das erste Licht müde aus der Finsternis kroch. Ich lief zum Kutschenstandplatz, war nicht die Erste. Ein Kardinal und ein junger Mann gaben Anweisungen, wie ihre Gepäckstücke zu verladen seien. Beide hatten eine Neigung zu konturloser Fettleibigkeit, das Kinn rutschte in den Hals. Die Äuglein verloren sich im umliegenden Polster. Kardinal und Neffe wollten zum Hafen. Ich fragte, ob ich mitfahren könne. Es sei kein Platz in der Kutsche, sagte der Neffe und hob einen Vogelbauer in die Höhe.

»Oh, das Vögelchen«, sagte ich. »Das kann ich auf den Schoß nehmen.«

Zum Hafen, ja, zum Hafen wollte ich und dort das nächste Schiff besteigen. Ich hoffte auf Frankreich oder England. Deutschland gar, Bremen oder Hamburg. Von dort wäre ich weiter nach Berlin gereist. Oder Le Havre, schließlich Paris, Stadt der Sorbonne, an der die größten Ärzte ihr Wissen preisgaben.

Die Kutsche rollte an, ich saß eingepfercht zwischen Schachteln, Kisten und Koffern. Wie lang wollte der Kardinal in der Fremde weilen, wie viele Messgewänder brauchte er? Ich umklammerte den Vogelbauer, mühte mich, Schläge und Poltern abzufangen. Wurde einem Vogel übel? Wurde er ohnmächtig? Aufgeregt schlug er mit den Flügeln, hob sich wenige Zoll von der Stange, flatterte in seinem Käfig, stieß sich an den Stäben, tschilpte in höchsten Tönen.

Kaum waren wir unterwegs, begann der Neffe, Dosen und Taschen umzuschlichten, zu meinen Füßen wuchs der Turm in gefährliche Höhen, drohte zu kippen und mich und den Vogel zu begraben.

»Du weißt, ich esse nicht viel, aber oft«, sagte sein Oheim.

Der Neffe hatte endlich den Korb gefunden, förderte Schüsseln und Teller zutage. Der Kardinal hielt eine Wachtel am Bein, zernagte das Vögelchen und dann noch eines. Ich fand es ungebührlich, ja rücksichtslos, dass der gelbe Sittich dem Verspeisen von Vettern und Basen beiwohnen musste. Der Vogel tschilpte.

»Sind Sie satt?«, fragte der Neffe, während er sich das restliche Brot in den Mund stopfte.

»Ach, woher«, sagte der Kardinal. »Wer könnte von drei Bissen satt sein? Haben wir sonst nichts mehr?«

Der Neffe listete auf: Fleischpastete, Makrele geräuchert, Wachteleier, zwei Dutzend, Pandoro. Den Kardinal verlangte es nach einer Scheibe vom Schweinernen. Das Schneidbrett schwankte auf den Knien, das Messer rutschte ab, fuhr ins Leere. Der Neffe wickelte den Braten in grobes Leinen, zog gekochte Krabben aus dem Korb. Der Kardinal saugte an rötlichen Scheren, warf leere Panzer auf den Boden, schoppte weißes Fleisch zwischen die glänzenden Lippen.

Der Körper sei nach einem Stufenplan geordnet, hatte Monsignore Maur im Knochencolloquium gesagt. Die nicht stoffliche Seele steuere das Stoffliche, die weichen Organe, die härteren Muskeln, die ganz harten Knochen. Wer das Stoffliche gesund erhalten will, muss das Nichtstoffliche reinigen. »Lernen Sie zu entsagen«, donnerte er durch den Hörsaal, ein kleiner, dürrer Mann mit Hakennase und fliehendem Kinn. »Beginnen Sie mit der Nahrung. Hören Sie auf, Fleisch zu essen. Gewöhnen Sie Ihren Körper daran, Hunger und Durst zu ertragen. Hungern Sie abends, meine Herren, mittags, morgens. Und dann!« Sein Blick heftete sich an die Decke, bohrte sich durch sie hindurch. »Dann gewöhnen Sie Ihren Körper daran, auf die Triebe des Unterleibs zu verzichten! Denken Sie daran: Ihre nicht stoffliche Seele steuert das Harte und das Weiche!«

Ich sah hinaus, der Morgen spuckte die Menschen aus, junge Frauen warfen den Hühnern Körner vor die Krallen, sie pickten in den Sand, ich umarmte den Vogelkäfig. Was, wenn das Schiff mich an die Küste Afrikas schwemmte oder durch die Meerenge von Gibraltar in den Atlantik flutschte und von dort weiter nach Amerika? War das nicht der Kontinent der großen Hoffnung? Das Land für alle, die neu anfangen wollten? Je näher wir dem Hafen kamen, desto mehr ahnte ich, dass mich das Schicksal genau dorthin, in das Land des selbstgemachten Glücks, bringen würde. Warum es gerade einen verfressenen Kardinal und seinen ihm ebenbürtigen Neffen in das großteils protestantische Amerika ziehen sollte, überlegte ich mir nicht. Theologische Fragen wurden von praktischen übertüncht. Würde ich mir die Überfahrt leisten können? Würde der Kapitän meinen Schmuck als Bezahlung akzeptieren? Wie lang dauerte die Fahrt? Was würde geschehen, wenn Mannschaft oder Passagiere mein wahres Sein entdeckten? Ich war nachlässig geworden, unvorsichtig. Hatte zu sehr auf meine Camouflage vertraut. Endlich hatte ich geglaubt, auf festem Grund zu stehen, auch wenn die Scholle klein und morastig war. Dass es eine Scholle im Eismeer war, auf der ich trieb, merkte ich zu spät. In Amerika würde ein neues Leben beginnen, als Mann oder als Frau, wer vermochte das zu sagen? Die Reise über das Meer musste ich als Mann überstehen. Eine Frau allein auf einem Schiff, da konnte ich mich ebenso gut ins Crobotendörfl an die Bordsteinkante stellen und den Rock heben. Und wenn ich auch nicht über die Maßen hübsch und anziehend wirkte, sich mein Busen kaum merklich wölbte, mein Hintern eher fest als rund war und meine Wangen schon zu lang gespannt waren, um meinem Antlitz jene weibliche Weichheit, jene vollen Lippen zu schenken, die Frauen schön machen, so verfügte ich dennoch über die notwendigen Organe. Auf hoher See ist das ausreichend.

Das Meer breitete seine Weite vor uns aus, schon glaubte ich, Salz und Fisch zu riechen. Die Kutsche blieb stehen, es dauerte, bis die Gepäckstücke auf der Pier standen und wir daneben. Fischerboote schaukelten in den Wellen, in denen Unrat und Gras auf- und niedergeworfen wurden, ohne zu versinken. Zwei kleinere Briggs und ein einziger Dreimaster lagen vor Anker. Ich legte den Kopf in den Nacken. Würden die Masten halten, bis wir drüben waren? Würde ein Sturm aufkommen, der uns auf offenem Meer in die Tiefe spülte, wo wir von Walen, Haien, Seeschlangen verschlungen würden? Wie lang würde ich schwankenden Schrittes über rutschige Planken gehen und den Horizont nach rettendem Land absuchen? Dann aber, dann war ich auf immer sicher. Niemand mehr würde mich vertreiben, in dieser riesigen Wildnis, die es dort zu erkunden gab. Die Engländer und die Amerikaner, sagt man, suchten nach schnellen Kurieren, verschlagenen Spionen, um Nachrichten weiterzuleiten und auszuspähen, wo die feindlichen Truppen standen. Einen schnelleren, unauffälligeren Mann wie mich werden sie nicht finden. Ich soll mich verkleiden? Oh, ich bin in Verkleidung aufgewachsen. Manchmal dünkt mich, ich wäre darin geboren.

Das Schiff segelte nach Lissabon.

Der Kapitän inspizierte meine Ware, nickte, hielt den Ring gegen das Sonnenlicht, der Smaragd schillerte wässrig grün. Er biss in das Gold, fragte nach meinem Gepäck. Der dicke Neffe machte sich wichtig, erzählte, dass ich ganz ohne Reisekiste dahergelaufen gekommen sei. Dass sich einer wie ich keinen Ring mit solch einem Klunker leisten konnte, dass das Diebesgut sei, der Kapitän gut daran täte, meinen Leib zu visitieren. Bevor mir der Kapitän an die Wäsche ging, verlangte ich, den Kardinal zu sprechen.

Er saß in einer gemütlichen Kajüte an einem massiven Tisch. Seine dicken Finger glitten über die Pelzverbrämung eines roten Mantels. Der Vogelbauer stand auf einem Kästchen neben dem Bett. Ohne Unterlass stieg der Sittich auf der Stange hin und her, pfiff schrill, als ich eintrat. Dann drehte er sich um, sah hinaus auf den braunen Bauch einer kleinen Brigg, schloss den Schnabel, froh, der schaukelnden Kutsche entronnen zu sein. Hast du es nicht gesehen, Vögelchen? Das Kästchen ist auf dem Boden festgenagelt. Armer Sittich.

»Ihr solltet Euch von Eurem Sohn verabschieden, Hochwürden«, sagte ich.

»Was erlaubst du dir?«

»Ich studiere Medizin. Die Flecken auf Eurem Handrücken sind die Beulen der Franzosenkrankheit. Bald werdet Ihr nur noch lallen. Dann ist es vorbei.«

Der Kardinal schluchzte, Tränen tropften auf das Pelzchen. Er war auf dem Weg nach Santiago de Compostela, alldorten ein Eremit Heilwasser vom letzten Abendmahl gegen die Lustseuche verkaufte.

»Ach, ist das die neueste Legende über die wundersame Heilung von der Syphilis? Tut, was Ihr für richtig haltet, aber medizinisch gibt es nur die Quecksilbertherapie.«

Der Kardinal jaulte wie ein getretener Hund, die Finger krallten sich in den toten Silberfuchs.

»Wollt Ihr die Behandlung überstehen, sollte Euer Sohn an Eurer Seite sein. Ihr werdet seinen Beistand brauchen. Redet mit ihm.«

Der Kardinal nickte, die Finger lösten sich aus dem Tierhaar, der Kardinal klopfte auf den Pelz, er hatte verstanden.

»Und legt beim Kapitän ein gutes Wort für mich ein.«

Nachts hielt der Sohn die Hand des Vaters. Tagsüber hielt ich die Hand des Sohns. Wir saßen an Deck, rauer Seewind strich uns um die Nase, zerrte am Zopf der Perücke. Der Sohn des Kardinals war bei einer Tante groß geworden. Seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben, wo sich der Vater aufhielt, war ungewiss. Die Familie der Tante wohnte in Florenz. Selten kam Onkel Eduardo aus Rom und brachte Heiligenbildchen und Zuckerwerk für die Kinder. Erst als der angebliche Waisenknabe die Universität besuchte, erfuhr er, dass Eduardo nicht sein Onkel, sondern der leibliche Vater war. Wenige Monate nachdem Vater und Sohn die gemeinsame Liebe zu gotischen Kathedralen, gutem Essen und weichen Sitzmöbeln entdeckt hatten, zeigten sich die fatalen Flecken. Hautfäule, behauptete der Kardinal, die er mit heiligem Wasser und Exerzitien zu heilen gedenke. Auf hoher See gestand der kirchliche Würdenträger, was es mit der faulen Haut auf sich hatte. Ich tröstete den Sohn, so gut ich es vermochte, erzählte, was ich über die Behandlung wusste, wie wichtig es war, das Quecksilber richtig zu dosieren. Zwischendurch kotzte ich über die Reling.

Beim Abschied umarmte mich der Sohn, der nun wieder Neffe war, drückte mich an seine weiche Brust, die tränennasse Wange an meine gepresst.

»Ich bin eine Frau«, flüsterte ich ihm ins Ohr. Er ließ mich abrupt los und folgte seinem Vater.

Der Vogelkäfig blieb auf der Hafenmauer stehen, der Sittich trieb tot im Wasser. Auf der Überfahrt hatte der Kardinal vergessen, ihn zu füttern. Achtlos hatte ihn der Neffe ins Meer geworfen.

2. Das Leben ist ein Traum

»Die Kinder mögen spielen, die Adulten aber schaffen.«Fei Lipu »Gespräche über das nördliche Baumland«,Abschnitt 3.17

Was war das für ein Sommer. Alle erinnern sich an diesen Sommer. Angefangen hat er schon im Frühjahr. Weil er nämlich nicht angefangen hat. Noch im Juni hat uns Wasser ins Gesicht gespritzt, im April und sogar noch im Mai war es gefroren, Graupel, dann Regen. Und nimmer aufgehört hat es zu regnen. Statt dass die Mutter mit der Kathi in der Stube gesessen wäre und die Wintermäntel ausgebessert und ausgebürstet und in die Truhe gelegt hätte, haben wir die Mäntel morgens angezogen und bis zum Abend nicht mehr ausgezogen. Selbst drin im Haus war es klamm. Der Holzstoß an der Hauswand war bis auf das letzte Scheit verbrannt und was der Vater aus dem Wald geholt hat, war nass und ist noch vor der Ofentür vermorscht. Ostern kam im März am Ultimo. Die Fastenzeit ist uns noch länger vorgekommen als sonst. Der Pfarrer hat die veilchenfarbene Stola umgehängt gehabt wie wir unsere Wintermäntel. Und die Stimmung im Dorf war violett. Zur Abendmesse an Sonnwend haben wir alle das Gleiche gebetet, die Männer auf der einen, die Frauen auf der anderen Seite. Dass es endlich aufhören möchte zu regnen. Nur die Lechner Annerl neben mir hat was anderes gebetet. Sie war wieder guter Hoffnung, aber gehofft hat sie, dass der Herrgott das Kindl wieder zurücknimmt. Weil das Dutzend schon voll war und der Hof keinen Platz hatte für die vielen Kinder, die meisten auch noch Mentscha. Das mit dem Dutzend hat nicht gestimmt. Der Bartel ist in den Brunnen gefallen, als er vier war. Und die Mirli, die so alt war wie mein Bruder Karl, hat vor Weihnachten so viel Schleim und gelbe Galle gespuckt, dass sie der Deibel geholt hat.

Als es dann im August noch immer wie aus Schaffeln geschüttet hat, haben sie sich das ausgemacht. Sie sind beim Frühschoppen zusammengesessen, der Vater und der Vater vom Geisberger Seppl. Traurige Frühschoppen waren das in dem Sommer. Und dann hab ich gebetet.

Es hat wirklich aufgehört zu regnen. Die Anni ist niedergekommen, der Bub hat die Nabelschnur um den Hals gewickelt gehabt und war ganz blau und obwohl die Hebamme ihn fest gehaut hat, also richtig durchgehaut hat sie ihn, hat er nicht geatmet. Die Anni hat einen bösen, stinkigen Wochenfluss gehabt, und wir haben geglaubt, dass sie dem Buben nachgeht, aber sie ist wieder gesund geworden. Jetzt ist sie trocken und hat eine Ruh. Und im Sommer drauf war der Bauch flach. Der Hafer auf dem Feld ist wieder reif geworden und mich hat er gestochen. Nur der Seppl war kerngesund. Er hat nicht gehustet, nicht gespuckt, und in den Brunnen gefallen ist er auch nicht.

Ich erwache. Es ist der 17. April. Der 17. April. Jessas, ich muss zum Schiff. Schnell. Ich springe auf, ich habe nicht gepackt, ich brauche eine Reisekiste, ich habe keine Kiste. Das Schiff wird ohne mich auslaufen. Ich muss packen ohne Kiste. Da: Apfelsteige. Sie hat keinen Deckel. Trotzdem packen. Was soll ich mitnehmen? Ich habe keine Kleidung. Bücher. Ich werfe Bücher in die Kiste. Papier, Feder, Tintenfass. Tinte ausleeren. Ich schütte sie hinunter auf die Straße. Sie kommt nicht am Boden an, klebt an der Hausmauer, ein langer schwarzer Klecks auf der gelben Wand. Gleich wird die Zimmerwirtin in der Tür stehen. Es ist nicht die Wirtin, es ist Karl. Ich laufe hinunter. Schnell zum Hafen. Wie spät ist es? Keine Turmuhr, keine Glocken. Ich stehe vor dem Eingang zur Bibliothek. Falsche Richtung. Der Hafen ist ganz unten. Ich mache kehrt. Höre endlich Glocken. Es sind die Glocken der Sé Velha. Wieder falsch. Ich drehe um, andere Straße. Ich laufe, laufe. Wo ist die Kiste? Ich habe sie stehen lassen, muss zurück, die Kiste holen. Die Straße endet, da steht ein Haus. Vorher war hier kein Haus.

Ich erwache. Es ist hell. Mein Lebtag lang bin ich früh aufgestanden. Zu Haus ist die Mutter ins Zimmer gekommen, zum Fenster gegangen, hat es geöffnet und die Läden nach außen gestoßen. Im Winter hat uns die kalte Luft die Nasen vereist, im Sommer lag milchiges Licht im Zimmer.

»Steh auf, Philli, es geht auf fünfe«, hat die Mutter gesagt. Da war es Viertel nach vier.

Heute ist nicht der 17. April. Es ist Mai, Ende Mai. Dienstag, 28. Mai anno 1776, nicht 1777. Ich wasche mir das Gesicht. Albträume kenne ich kaum. In den schlimmen Nächten träume ich von der Universität. Ich bin beim Examen durchgefallen, weil ich eine Frau bin. Ich darf nicht in die Studiensäle, weil ich eine Frau bin. Ich darf mich nicht inskribieren, weil ich eine Frau bin. Sie reißen mir die Robe vom Leib. Sie lachen mich aus. Ich renne und renne und bleibe doch, wo ich bin. Anderntags träumte mir, ich sei in Wien. Ich ging mit Jakob den Graben entlang. Plötzlich saßen wir in einer feinen Kutsche, fuhren in die Vorstadt hinaus, stiegen einen Hügel hinan. Über uns mühten sich Pegasoi durchs dunkle Firmament. Wir schauten hinunter auf einen breiten Strom, ein Schiff versank vor unseren Augen. Ich drehte mich um, Jakob war verschwunden.

Selten, ganz selten träume ich vom Fliegen.

Am 17. April 1777 werden die Anker gelichtet. Die Sonne ist aufgegangen. Die Schiffsleute sind an Bord, der Kapitän steht am Bug. Ein junger Mann klettert hinauf in die Wanten. Ich balanciere mein Gepäck an Bord. Mit ohrenbetäubendem Knirschen und Rattern wird der schwere Anker hinaufgezogen. Das Schiff taumelt. Der Kapitän gibt Befehle in einer fremden Sprache, an die ich mich nicht gewöhnen werde. Das offene Meer empfängt uns mit steifer Brise, himmelwärts ist es blau mit kleinen weißen Wolken, das Schiff pflügt durch weiße Gischt, unter grünen Wellen lauern Riesentintenfische mit langen Greifarmen. Nach wenigen Stunden werden wir Afrikas ansichtig. Baumlose Gebirge, Steppen mit versengtem Gras, blickdichte Wälder zur Linken, grüne Wogen bis zum Horizont, hinter dem in weiter Ferne Amerika verborgen liegt – so werden wir den schwarzen Kontinent umrunden, bis wir auf seinen südlichsten Zipfel stoßen, der uns mit gutem Wind nach Goa schießt, alldorten wir rasten werden. Weiter nach Macao, jenem Eiland, das das Tor zum Tatarenreich ist. Die Insel wird von Menschen aller Herren Länder bewohnt. Von quirligen Südchinesen ebenso wie von tüchtigen portugiesischen Händlern und tranigen Malaien, kleinwüchsigen Ceylonesen und durchtriebenen Kashmiri, die allesamt darauf aus sind, den Reisenden im Glücksspiel ihr Geld aus der Tasche zu ziehen. In Macao hält mich nichts, ich will nach Beijing, der Nördlichen Hauptstadt. Für die Tataren sehen wir alle gleich aus.

Warum ich aus Coimbra verschwinde? Da ist kein langes Wiegen nötig. Vier, fünf Freunde in der einen Waagschale, die Kirche, die Gerichte, die Universität in der anderen. Sie wollen mich in die Pfanne hauen. In Antwerpen haben sie wieder eine erwischt. Sie werden sie henken, wegen falschen Zeugnisses und Sodomie. Schiffspassagen sind gefährlich, keine Fluchtmöglichkeit. Vor Monaten ging ich zum Hafen, suchte nach jenem Schiff, das im April kommenden Jahres ins Tatarenreich aufbrechen wird. Der Kapitän blieb reserviert. Zivile Passagiere mitzunehmen, lohnt die Mühe nicht. Ich fragte nach dem Preis. Selbst wenn ich all mein Erspartes zusammennehme und den Schmuck versetze, werde ich keine 300 Louis d’or aufbringen. Er studierte meinen Pass: Philipp Moosleitner. Sein Erster Offizier hieß mich an den Fockmast stellen. Schätzungen mit quergestelltem Daumen. Größe stimmt. Besondere Merkmale, Narben? Keine. Ich ging von Bord, gönnte mir süßen Malagawein. Die Nornen zogen meinen Faden weiter. Das Leben wird nicht aus Wolle und Flachs gesponnen, sondern auf Papier geschrieben. Ein Pass sagt mir, wer ich bin.

An lauen Sommerabenden bin ich mit der Hinteregger Berta und der Stanzi vom Schmied auf der Wiese hinter dem Haus gesessen. Groß war das Haus, jedenfalls größer als das vom Schmied. Der Großvater hat es gebaut. Dicke schiefe Wände, weiß verputzt. Waren keine Maurer und Zimmerleut unter den Vorfahren. Der Vater konnte aufrecht durch die Tür gehen. Der Bader, der Riesenlackel, musste sich ducken, wenn er der Mutter das Kräuterelixier gegen die Gicht brachte. Sind aber selten Leute gekommen, die mehr als sechs Fuß maßen. Die Stanzi und ich haben Gänseblümchen ausgerupft und Kranzeln geflochten. Wir haben Brombeeren genascht und im weichen Moos nach Heidelbeeren gesucht. Blumengeschmückt sind wir auf dem umgefallenen Baumstamm gehockt, beinüberkreuzt, wie es die Türken machen. Stanzi hat geredet. Über die verrückte Cilli und ihre griesgrämige Katze. Und über die Kaiserin. Die frisst den ganzen Tag, während bei uns Armen das Brot kaum bis zum Abend reicht. Ich hab die Hosen meiner Brüder aufgetragen. Erst für die Schul sollte ich ein Kleid bekommen. Ich wollte ein rotes mit einer weißen Bluse. Das Kleid war blau, an den Seiten braun, ausgebleicht von tausendmaligem Auswringen. Vor mir hat es meine Cousine Maria getragen und vor ihr die Susanne. Und alle haben ihre klebrigen Kinderhände in die Schoß gewischt, ich auch, da, wo das Kleid schon braun war.

Vor neun Jahren bin ich davon. Sie haben gesagt, ich werde die Frau vom Seppl, dem Sohn vom Geisberger Joseph. Er war ein böser Bub. Hat den Hasen den Stummelschwanz angezündet und gelacht, wenn sie wie verrückt herumgehoppelt sind. Den Küken hat er die Flügel gebrochen. Am hochheiligen Pfingstsonntag hat er Frösche bei lebendigem Leib zerschnitten. Ich hab ihn angeschrien, ihm auf den Oberarm gehaut. Da hat er das Messer zu mir gedreht. An solcherlei mutwilliger Bosheit hatte er seine Freude.

»Den heirat ich nicht«, hab ich zum Vater gesagt. »Eher lauf ich davon.«

Der Vater hat gesagt: »In drei Tagen bist du wieder da, früh genug für die Verlobung.«

Die Mutter ist vor dem Stall gestanden, hat nach dem Wetter geschaut. Kommt ein Gewitter, wird die Milch sauer. Der Himmel war blau, nur harmlose Schäfchenwolken. Sie hat sich auf den Schemel gesetzt und gemolken. Ich soll keine Faxen machen. Lieber froh sein, dass ich auf einen großen Hof komm. Der Geisberger hat nicht nur eine Magd, sondern zwei und einen Knecht. Da brauche ich nicht mehr arbeiten, nur anschaffen. Ich arbeite lieber, hab ich gesagt.

In der Früh hat sie mich zum Milchholen geschickt. Eilen soll ich mich, sie will dem Vater noch eine Rahmsuppe machen, bevor er aufs Feld geht. Ich hab den Kübel vollgemacht, bin zum Haus gelaufen, gestolpert, der Länge nach hingefallen. Die Hände hab ich mir aufgeschürft, aus der Nase ist das Blut geronnen. Die Milch ist über den Weg gelaufen. Der Vater ist gleich krawutisch geworden. Seine riesige Hand klatschte auf meine Wange, erwischte mein Ohr. Im Fallen hörte ich die Mutter schreien. Selbst schuld, wie oft hab ich gesagt, schau, wo du hinsteigst.

Auf dem Schulweg hat mir der Alois den Ranzen getragen, ich habe meine Hände im Bach gekühlt. Der Lehrer sprach über die Tiere des Waldes. Diese Stunden waren mir die liebsten. Die Fibel hatte ich oft genug gelesen, dass ich sie auswendig sagen konnte. Schnell hatte ich verstanden, dass das Multiplizieren ein schnelles Addieren des Immergleichen ist, dass es auch ein schnelles Subtrahieren geben muss, mit dem das Große in Kleines geteilt wird. Von den Waldtieren hatte ich nur gewusst, ob sie essbar waren oder bloß Feinde. Alois stand an der Tafel mit hochroten Ohren, sagte das Einmaleins her. Bei sechs mal sieben begann er zu stottern, hörte nicht mehr auf bis zu den Zehnern. Ich sah aus dem Fenster, hinaus ins Grün, am Feldrain stand das Reh mit dem Kitz, tief drin im Wald schlief der Dachs in seinem Bau. Ich merkte erst, dass der Lehrer neben mir stand, als sein Rohrstock meine Haut zerfetzte. Der Hermann konnte die Siebenerreihe so wenig wie Alois. Den Hans, Hermanns älteren Bruder, hat der Lehrer nicht gestraft. Zu Hause behauptete die Kathi, ich hätte ihr blaues Band aus der Lade genommen. Sie hatte es vor einer Woche bei der Bandlkramerin gekauft. Die Bandlkramerin konnte mir mit ihren Bändern und ihren Geschichten über alle anderen gestohlen bleiben. Das fehlende Stück Apfelbrot hat der Karl gegessen. Die Mutter ließ mich auf dem Besenstiel knien. Mein Gewicht zermalmte meine Knie. Ich dachte: Jetzt könnt ihr allein weiterbeschuldigen, wen ihr wollt.

Neben mir schnarchte der kleine Bernhard. Ich schob seinen Kopf von meiner Schulter, stieg aus dem Bett. Er grunzte. Mit der Stoffschere aus der Speis schnitt ich mir den Zopf ab. Schau her, Vater, mit den schirchen Haaren heiratet mich der Seppl nimmer. Ich zog Karls verschossene Hosen an. Vier ältere Brüder habe ich und einen jüngeren. Nach dem Karl kam der Alois, dann Lukas, Johann und nach mir Bernhard. Der Kleine ist mein Liebling.

Ich schlug Brot, Käse und ein hartes Ei in ein Tuch. Nicht genug für den Weg nach Wien. Gebührt hätte es ihnen, dass ich das Apfelbrot mitnehme. Zum Schluss steckte ich den Zettel mit den Dörfern ein, die ich bis Wien zu passieren hatte. Die Dörfer hatte ich von der Karte in der Schul abgeschrieben. Schon damals mochte ich Karten.

Es war eine helle Nacht kurz vor Vollmond. Ich floh durch das Küchenfenster.

Ich möcht sagen, dass das Durchsfenstersteigen gefährlich war, weil die Kathi neben der Küche geschlafen hat und sie leicht aufwachte. Ich bin schnurstracks losgelaufen. Nach Anzbach, wo die Tante Gusti wohnte. Ich schlich zu ihrem Haus. Als ich erwachte, zwitscherten die Vögel. Es ging auf fünfe. Die Knechte schliefen noch. Hinter dem Schulhaus setzte ich mich ins Gras, aß das Ei. In den Wald dürfen wir nicht hinein, am Waldrand und auf den Wiesen fand ich Beeren und Hammelmöhren und den guten Sauerampfer. Hinter Hutten ließ mich einer auf einem Wagen mitfahren. Auf der nächsten Anhöhe blickte ich hinunter auf Dörfer, die so aussahen wie jene, durch die ich gerade gekommen war. In Pichlberg saß ein Knecht mit Pfeife vor dem Ausgedinge. Die Wienerstadt werde ich nie erreichen. Sie ist von einem reißenden Fluss umgeben, über den es keine Brücke gibt, im Auwald lauern die Wölfe. Viele kräftige Männer sind von ihnen angefallen und zerfleischt worden. Da hab ich einen Schrecken gekriegt. Dann ist mir eingefallen, dass unser Pfarrer Wiesinger oft nach Wien gefahren ist und dort in der großen Kirche zu St. Stephan die Messe gehört hat – zur Erbauung. Und der Schmied hat in der Hauptstadt die Nägel für die Hufeisen gekauft, die gab es nur dort. Der Lehrer war auch schon in Wien und wenn ich lang nachgedacht hätte, wären mir noch viele andere in den Sinn gekommen. Ich geh da hin, hab ich mir gedacht, zur Erbauung.

Stadt-Hutten war enttäuschend. Ein paar einsame Katen zwischen den Streuwiesen, niemand, der mir ein Stück Brot schenkte, Wien lag noch einen Tagesmarsch entfernt. Ich folgte dem Lauf des Wienflusses. Die Fischer aßen ihren Fang selbst. Bloß ein verschrumpelter Apfel lag am Wegesrand. Abends rollte ich mich unter einer Haselstaude zusammen. In der Finsternis fielen Beelzebub und Deibel über mich her. Am schwarzen Himmel kreisten die Nachtvögel.

Jemand kam mit einem Fuhrwerk. Wer wandert zu nachtschlafender Stund auf dem Treppelweg dahin außer Räubern und Mördern und der Muhme Ludmilla? Böse Buben haben ihr nach der Kirchweih die Beine abgesägt, als sie im Heu eingeschlafen ist. Kathi hat es uns erzählt, am Abend auf der Ofenbank. Seither fährt die Ludmilla auf einem Wägelchen herum, das sie mit den Händen schiebt. Wenn sie ein Kind findet, fällt sie es von hinten an, würgt es, beißt es tot, reißt es in Fetzen wie ein wildes Tier. Jetzt beißt mich die Ludmilla tot und dann fahr ich hinab in die Höll.

Ich faltete die Hände. Morgen früh kehre ich um. Ich werde nicht weinen, wenn mir der Vater die Detschn gibt. Ich geh in den Stall zum Ausmisten. Und beim Versteckenspielen und Vater, Vater leih mir d’Scher werde ich nicht betteln, dass ich zu den Buben hinausdarf. Ich entsteine die Marillen, schneide mit der Kathi das Kraut für den Sauerkohl. Am Waschtag schlepp ich das heiße Wasser kübelweise in die Waschstube, ich schwemme die Hemden und Röcke und Hosen von meinen Brüdern, bis keine Seife mehr drin ist und das Wasser klar. Ich nehm von allein das Stopfholz und die Nadel und flicke alle Socken. Und ich sag nicht mehr die Rechnungen vor, wenn der Alois und ich die Aufgab machen.

In der Haselstaude über mir tschilpte ein Sperling. Vor meiner Nase blühte blaues Vergissmeinnicht. Ich steckte zwei Blüten ins oberste Knopfloch.

Am Hintereingang des Klosters Mariabrunn standen bucklige Frauen und Männer, armselig, zerlumpt, mit leeren Augen, langen Bärten, dreckigen Füßen. So sah ich aus, nur kleiner. In der Bettlersuppe schwammen zwei Karottenscheiben und wenige müde Salbeiblätter.

Endlich Wien. Ich war verrückt vor Hunger, konnte nicht mehr laufen, hatte Blasen an den Füßen, stolperte durch fremde Gassen. Auf einem Wagen lagen Rüben, daneben ein Krautkopf. Ich streckte die Hand aus. Die Kaiserin frisst den ganzen Tag, sagte die Stanzi auf der Wiese. Mein Bauch wölbte sich nach innen.

Hinter den Turmspitzen der großen Kirche ging die Sonne unter. In der Dämmerung begann es zu nieseln. Schafskälte und Nässe tränkten den dünnen Stoff von Hose und Jacke. Ich drückte mich an ein Tor, das in die Mauer versenkt war. Jemand öffnete, ich knallte auf meinen Hintern, sah hinauf – in das Gesicht eines alten Mannes in einem langen Rock.

»Bub, was machst du da?«

»Nix.«

Er schleifte mich durch enge Gassen, zog mich in ein Gebäude. Die Küche war so groß wie unser Haus.

»Jessas, wen haben wir da?« Dicker Pfarrer mit großen Händen.

»Anselm, das ist der …« Dünner Pfarrer zu mir. »Wie heißt du?«

»Moosleitner«

»Der Moosleitner …«

»Philipp.«

»Der Moosleitner braucht eine warme Milch. Gehab dich wohl!«

»Wie viele verdreckte, verlauste Dummköpfe wird er noch anschleppen? Bass! Heiße Milch. Mit Honig natürlich! Süße Milch für den König der Straße. Will der Herr Florentiner Leber dazu?«

Ich zog den Kopf zwischen die Schultern, vor mir eine schwarze Wand – Anselms Rücken.

Die Milch schlug Blasen, Anselm fluchte. »Florentiner Leber – wo gibt es sowas? Dafür braucht es das serbische Gemüse. Da sag mir einer, wo ich es hernehm, im frühen Sommer.«

Er goss Milch in einen Becher, holte den Honigtopf. Goldgelb sank der dicke Honig ins Weiße.

»Kann ich noch hierbleiben?«

Er brummte, es war unfreundlich, glaub ich.

»Du bist mir ein Kerl«, sagte Anselm. »Schnarcht bis Mittag. Und jetzt wieder hungrig, was?«

Er schöpfte Eintopf in einen Napf. Ich suchte mit dem Löffel nach Leber und serbischem Gemüse.

»Was stocherst du herum?«

Ich kaute.

»Bist nicht von hier, was? Wo kommst du her? Waisenhaus?«

Ich kratzte den Napf aus.

»Kannst du sprechen oder bist du taub?«

Jetzt schon.

»Waisenhaus, was? Traurige Sache. Was sie die Kinder dort quälen und schlagen. Ich sage: Eine ordentliche Ohrfeige zur rechten Zeit macht einen demütigen Christenmenschen aus einem jungen Spund. Aber nicht zuschlagen, wenn die Galle übergeht. Strafe will überlegt sein. Eine Frage der Angemessenheit.«

Er kaute ein Stück Brot.

»Dieser Schweizer, dem sie nachlaufen wie einer läufigen Hündin! Wenn das nicht bloß eine Mode ist: Der Mensch wird durch Erziehung verdorben. Ei der Daus! Wer soll ihn geradebiegen, wenn er ins Kraut schießt. Der Spülstein ist nebenan.«

Ich trug die Schüssel zur Abwasch.

»Schau an! Versteht mich doch, der Knabe. Was willst du machen, Bub?«

»Arbeit suchen.«

»Was willst du arbeiten?« Er zwickte mich in den dürren Arm. »Einer wie du ist hier besser aufgehoben.«

»Aber das Schulgeld.«

»Was? Was hast du gesagt?« Sein Hieb in die Seite machte mich taumeln. »Du musst den Mund aufmachen. Verstehst du? So!«

Er quetschte mir die Wangen, als wären es Bretter in der Schraubzwinge.

»Brauchst kein Schulgeld zahlen. Der Präfekt ist ein barmherziger Mann. Kannst du lesen und schreiben?«

»Ich war auf der Landschul.«

»Latein?«

»Agnus dei qui tollis peccata mundi. Credo in unum deum.«

»Wollen’s hoffen! Im nächsten Schuljahr kannst du anfangen. Sofern du die Prüfung schaffst.«

»Prüfung?«

»Bass! Wir nehmen nur die Besten.«

Ich schrubbte mit fettverkrusteter, schiefborstiger Bürste grindige Kessel. Mutters Brennnessel-Zinnkraut-Tinktur hätte gutgetan, es gab bloß ein verbeultes Stück grauer Seife. Alle Küchen haben ihre Geheimnisse. Bei uns hat es süß gerochen, nach Milch und Äpfeln. Hier roch es nach frischen Kräutern, etwas Herbem, Scharfem. Serbischem Gemüse? Bloß die Töpfe hingen über dem Herd wie überall. Ich fegte die Küche. Knorriges Reisig kratzte über rauen Stein. Zehntausend Schritte schwerer Mönche haben sanfte Täler in den Boden gedrückt. In den Ecken kugelte sich der Staub zu dicken Knäueln. Ich leerte Kehricht in den Bottich. Beim Geschirrwaschen musste ich achtgeben. Zu schnell rutschen nasse Becher aus der Hand und zerschellen auf dem Boden. Beim Kehren ist gut nachdenken. Sollte ich hier in die Schule gehen? Mit lauter Buben? Oder eine Lehre beginnen als Kesselschmied oder Nadelmacher, Weißgerber, Flickschuster, Glasbläser, Armbrustmacher? Verkaufen konnte ich. Stell den Alois auf den Wochenmarkt. Da kommt die Frau vom Hufschmied und verlangt drei Pfund Karotten, Suppengemüse, zwei Pfund Birnen und vier Pfund Rinderknochen für Markknödel. Ein Pfund Knochen kostet sieben Kreuzer. Alois kann die Siebenerreihe nicht. Bis er alles addiert hat, ist der Mittag um. Schneiderin oder Kammerzofe hätte ich werden können, das kam mir nicht in den Sinn.

Die Kathi hat gesagt, ich soll ruhig sein, nicht so viel schwätzen, dann wird mich der Seppl in Ruh lassen. Die waren jetzt traurig, dass ich nicht mehr da war, weinten sich die Augen aus. Ich hab das mit dem Seppl nicht ausgemacht! Die Hasen und die Frösche haben nicht geschwätzt, Kathi, nur jämmerlich gequiekt, wenn sie der Seppl malträtiert hat.

Anselm fischte duftendes Brot aus dem Ofen. »Vor zehn Tagen hat sich ein anderer Bub für das Konvikt angemeldet. Bis Mariä Lichtmess wird entschieden, wer von euch bleibt. Lass dir die Haare schneiden, schaust aus wie ein Vagabund. Was weinst du wie ein Mädchen?!«

»Sie werden den anderen nehmen.«

»Woher will der junge Herr das wissen?«

»Ich kann den Barbier nicht bezahlen.«

Anselm drückte mich auf einen Stuhl.

»Das Handwerk ist eine Frage des richtigen Werkzeugs! Schließ die Augen.«

Ich spürte Schweres auf meinem Kopf, dann Leichteres.

Er trällerte ein Soldatenlied, während ich den Rest meiner Mädchenfrisur zum Kehricht warf.

Anselm stellte den Milchtopf in den Schrank.

3. Auf’s Gassl bin i ganga, war’s Fenster verfrorn

»Der Langsame macht sich zur Beute,der Edle lässt die Beute laufen.«Fei Lipu: »Baumland«, Abschnitt 16.3

Die Stadt brüllt in der Hitze, Fuhrwerke, Marktschreier, kreischende Möwen, die Sonne versengt die Gemüter, bei Tag und bei Nacht, kein Windhauch, keine Kühle, kaum Schatten. Die Luft flirrt, die Steine der Häuser atmen Hitze, die Menschen wringen ihre schweißnassen Tücher aus, die Herren zerren an den Krägen ihrer Hemden, die Damen fächeln, was das Zeug hält. Nacht für Nacht fressen mich Gelsen, die hier Mosquitos heißen.

Auf der Universität zu Coimbra wird Tatarisch nicht unterrichtet. Dann schreibe ich mich für Astronomie ein. Das studieren hier alle, sagte der Mann an der Inskriptionsstelle.

»Wofür habt Ihr eine Neigung?«

»Die weite Welt.«